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( 48. .. Nächsten ..) 8.

Zweifeln der Nächstenliebe in einem sinnlichen bildhaften Eindruck wiederholte und ungeteilt durch ihn beantwortete, beugte sich Ulrich zu seiner Schwester Agathe vor, um ihr Gesicht zu sehen, und fragte sie: „Bringst du es denn anders als schattenhaft fertig, jemand zu lieben, wenn weder eine moralische Überzeugung noch ein sinnliches Begehren dabei ist?"

Es geschah, seit sie diese Ausgänge unternahmen, zum erstenmal, daß er so unverschleiert fragte.

Agathe gab zuerst keine Antwort darauf.

Ulrich fragte: „Und was geschähe, wenn wir jetzt einen hier anhielten und zu ihm sagten: ‚Bleib bei uns, Bruder!’ oder: ‚Halte still, vorbeieilende Seele! Wir wollen dich lieben wie uns selbst!’?

"Er sollte uns verblüfft anschauen" erwiderte Agathe. „Und dann seine Schritte verdoppeln."

"Oder grob werden und einen Schutzmann herbeirufen" ergänzte Ulrich. „Denn entweder wird er meinen, gutmütige Irre vor sich zu haben, oder Leute, die sich mit ihm einen Witz erlauben."

"Und wenn wir ihn nun gleich mit den Worten: ‚Sie, verbrecherisches und gemeines Subjekt!’ anschrien?" schlug Agathe versuchsweise vor.

"So könnte es sein, daß er uns weder für Irre noch für witzig hielte, sondern bloß für das, was man Andersdenkende nennt; Parteig egn äng er, die sich in ihm geirrt haben. Denn offenbar haben die Blindenverbände des Nächstenhasses zusammen nicht viel weniger Mitglieder als der der Nächstenliebe!"

Agathe nickte einverständlich; dann schüttelte sie den Kopf und blickte in die Luft. Die Luft war noch genauso wie vorher. Sie blickte zu Boden, und eine irgendeine demütige Einzelheit, ein Kellerfenster, ein verlorengegangenes Blatt Gemüse, er schien ihr als vom Licht des Himmels sanft gefärbt zu flammen. Schließlich sah sie sich nach etwas um, das ihr einfach von selbst gefiele, ein Gesicht oder ein Schaustück in einer Auslage, und fand es. Solches wirkliche Gefallen war aber bloß doch wieder ein blinder Fleck in dem Glanz des Tages; was Ulrich schon ähnlich ausgesprochen hatte, nur fiel ihr jetzt der Widerspruch noch stärker auf. Es störte die allgemeine Welt= und Menschenliebe, statt sie durch seinen kleinen Beitrag zu vermehren. So antwortete Agathe: "Ich weiß auch doch nicht weder, ob ich etwas Wirkliches wirklich etwas liebe, noch, ob ich etwas Wirkliches liebe!"

"Soll das die Antwort auf meine Frage sein, "Es ist alles sehr unwirklich! Auch ich weiß heute nicht, ob ich die wirklichen Men schen und Dinge, noch ob ich wirklich etwas liebe!"

"Soll das die Antwort auf meine Frage sein," verlangte Ulrich zu wissen „ob ohne sinnliches Begehren - welcher Art immer" immer es auch wäre" , - , fügte er diesmal hinzu , - " selbst die heftigste Liebe mehr als der Schatten einer Liebe sein kann? In aller Liebe ohne Sinnlichkeit sinnlich erreich bezeichen bestimm bares Ziel ist eine schweigende Trauer!"