MoE 2 | Erstes Buch | Zweiter Teil | Kapitel 110-119

Moosbrugger saß noch immer im Gefängnis und wartete auf die Wiederholung seiner Untersuchung durch die Irrenärzte. Das ergab eine geschlossene Menge von Tagen. Der einzelne trat wohl hervor, wenn er da war, aber er sank schon gegen Abend wieder in die Menge zurück. Moosbrugger kam wohl mit Sträflingen, Aufsehern, Gängen, Höfen, mit einem kleinen Stück blauen Himmels, mit ein paar Wolken, die dieses Stück durchquerten, mit Speisen, Wasser und hie und da mit einem Vorgesetzten in Berührung, der nach ihm sah, aber diese Eindrücke waren zu schwach, um sich dauernd durchzusetzen. Er hatte weder Uhr noch Sonne, weder Arbeit noch Zeit. Er war immer hungrig. Er war immer müde, von dem Herumirren auf seinen sechs Quadratmetern, das müder macht als das Herumirren über Meilen. Er langweilte sich bei allem, was er tat, als ob er einen Topf mit Papp umrühren müßte. Wenn er aber das Ganze überdachte, dann kam es ihm so vor, als ob Tag und Nacht, Essen und wieder Essen, Visite und Kontrolle unaufhörlich und rasch hinter einander drein schnurren würden, und er unterhielt sich damit. Seine Lebensuhr war in Unordnung geraten; man konnte sie vor- und zurückdrehen. Er mochte das gern; es paßte zu ihm. Weit Zurückliegendes und Frisches wurde nicht länger künstlich auseinandergehalten, sondern wenn es das gleiche war, dann hörte das, was man »zu verschiedener Zeit« nennt, auf, daran zu haften wie ein roter Faden, den man aus Verlegenheit einem Zwilling um den Hals binden muß. Das Unwesentliche verschwand aus seinem Leben. Wenn er über dieses Leben nachdachte, so sprach er innerlich langsam mit sich selbst und legte dabei auf die Nebensilben das gleiche Gewicht wie auf die Hauptsilben; das war ein ganz anderer Gesang des Lebens als der, den man alle Tage hört. Er blieb oft bei einem Wort eine lange Weile stehn, und wenn er es schließlich verließ, ohne recht zu wissen wie, kam ihm das Wort nach einiger Zeit mit einemmal wieder anderswo entgegen. Er lachte vor Vergnügen, weil niemand wußte, was ihm begegnete. Es ist schwer, einen Ausdruck für diese Einheit seines Wesens zu finden, die er in manchen Stunden erlangte. Man kann sich wohl leicht vorstellen, daß das Leben eines Menschen wie ein Bach dahinfließt; aber die Bewegung, die Moosbrugger in dem seinen wahrnahm, floß wie ein Bach durch ein großes stehendes Wasser. Vorwärts treibend, verflocht sie sich auch rückwärts, und der eigentliche Lauf des Lebens verschwand fast darin. Er selbst hatte einmal in einem halbwachen Traum davon die Empfindung, daß er den Moosbrugger des Lebens wie einen schlechten Rock am Leib getragen hätte, aus dem jetzt, wenn er ihn zuweilen etwas öffnete, in wäldergroßen Seidenwellen das wunderlichste Futter quoll.
Er wollte nicht mehr wissen, was draußen vor sich ging. Irgendwo war Krieg. Irgendwo war eine große Hochzeit. Der König von Beludschistan kommt jetzt an – dachte er. Überall exerzierten die Soldaten, wandelten die Huren, standen die Zimmerleute in den Dachstühlen. In den Wirtshäusern von Stuttgart quoll das Bier aus den gleichen krummen gelben Hähnen wie in Belgrad. Wenn man wandert, frägt einen überall der Gendarm nach den Papieren. Überall drücken sie einem einen Stempel hinein. Überall gibt es entweder Wanzen oder keine. Arbeit oder nicht. Die Weiber sind alle gleich. Die Ärzte in den Spitälern sind alle gleich. Wenn man abends von der Arbeit kommt, sind die Menschen auf den Straßen und tun nichts. Immer und überall ist es das gleiche; es fällt den Leuten nichts ein. Als der erste Aeroplan durch den blauen Himmel über Moosbruggers Kopf flog, das war schön gewesen; aber dann kam ein solches Flugzeug nach dem andern, und eines sah wie das andere aus. Das war ein anderes Einerlei als das der Wunder seiner Gedanken. Er begriff nicht, wie es zuwege kam, und es war ihm überall im Weg gewesen! Er schüttelte den Kopf. »Hol der Teufel« dachte er »diese Welt!« Oder mochte der Henker ihn holen, er verlor nicht viel dabei...
Trotzdem ging er zuweilen wie in Gedanken zur Tür und versuchte leise an der Stelle herum, wo außen das Schloß saß. Dann sah vom Gang durch die Guckscheibe ein Auge herein, und eine böse Stimme folgte, die ihn schalt. Vor solchen Beleidigungen wich Moosbrugger rasch in die Zelle zurück, und es geschah dann, daß er sich eingesperrt und beraubt fühlte. Vier Wände und eine eiserne Tür sind nichts Besonderes, wenn man aus und ein geht. An einem Gitter vor einem fremden Fenster ist auch nicht viel daran, und daß eine Pritsche oder ein Holztisch ihren festen Standplatz haben, ist nur in Ordnung. In dem Augenblick aber, wo man damit nicht mehr umgehen kann, wie man will, entsteht eben etwas, das ganz unsinnig ist. Diese Dinge, vom Menschen gemacht, Diener, Sklaven, von denen man nicht einmal weiß, wie sie aussehen, werden frech. Sie gebieten Halt. Wenn Moosbrugger bemerkte, wie die Dinge mit ihm herumbefahlen, hatte er nicht übel Lust, sie auseinanderzureißen, und mußte sich mühevoll überzeugen, daß ein Kampf mit diesen Dienern der Justiz seiner nicht würdig sei. Aber das Zucken in seinen Händen war so stark, daß er sich fürchtete, krank zu werden.
Man hatte sechs Quadratmeter der weiten Welt ausgewählt, und Moosbrugger ging darauf hin und her. Das Denken der gesunden, nicht eingesperrten Menschen glich übrigens sehr dem seinen. Obgleich sie vor kurzem noch lebhaft von ihm beschäftigt worden waren, hatten sie ihn rasch vergessen. Er war auf seinen Platz gebracht worden wie ein Nagel, der in die Wand geschlagen wird; wenn er einmal darin steckt, nimmt ihn niemand mehr wahr. Andere Moosbruggers kamen an die Reihe; sie waren nicht er, sie waren nicht einmal die gleichen, aber sie leisteten den gleichen Dienst. Es war ein Sexualverbrechen gewesen, eine dunkle Geschichte, ein grauenhafter Mord, die Tat eines Wahnsinnigen, die Tat eines nur halb Unzurechnungsfähigen, eine Begegnung, vor der sich eigentlich jeder Mensch in acht nehmen müßte, ein befriedigendes Zugreifen des Kriminaldienstes und der Justiz...: solche allgemeinen, inhaltsarmen Begriffe und Erinnerungsbereitschaften spannen den leergesogenen Vorfall an irgendeiner Stelle ihres weiten Netzes ein. Man vergaß Moosbruggers Namen, man vergaß die Einzelheiten. Er war »ein Eichhörnchen, ein Hase oder ein Fuchs« geworden, die genauere Unterscheidung hatte ihren Wert verloren; das Bewußtsein der Öffentlichkeit bewahrte keinen bestimmten Begriff von ihm, sondern nur die matten, weiten Felder sich vermengender allgemeiner Begriffe, die so waren wie die graue Helle in einem Fernglas, das auf eine zu große Entfernung eingestellt ist. Diese Zusammenhangsschwäche, die Grausamkeit eines Denkens, das mit den ihm genehmen Begriffen schaltet, ohne sich um das Gewicht von Leid und Leben zu kümmern, das jede Entscheidung schwer macht: solches hatte die Seele der Allgemeinheit mit der seinen gemeinsam; aber was in seinem Narrengehirn Traum war, Märchen, schadhafte oder sonderbare Stelle im Spiegel des Bewußtseins, die das Bild der Welt nicht zurückwarf, sondern das Licht hindurchließ, das fehlte ihr, oder es war höchstens da und dort in einem einzelnen Menschen und seiner unklaren Erregung etwas davon enthalten.
Und was sich genau auf Moosbrugger bezog, auf diesen und keinen anderen Moosbrugger, den man auf bestimmten sechs Quadratmetern der Welt einstweilen untergebracht hatte, seine Ernährung, Überwachung, aktenmäßige Behandlung, Weiterbeförderung zum Zuchthausleben oder zum Tode, war einer verhältnismäßig kleinen Gruppe von Menschen übertragen, die sich ganz anders verhielt. Hier spähten Augen mißtrauisch in Ausübung ihres Dienstes, rügten Stimmen den geringsten Verstoß. Nie traten weniger als zwei Wächter bei ihm ein. Fesseln wurden ihm angelegt, wenn er über die Gänge geführt wurde. Man handelte da unter dem Einfluß einer Angst und Vorsicht, die sich dem bestimmten Moosbrugger in diesem kleinen Bezirk anhängte, aber irgendwie in seltsamem Widerspruch zu der Behandlung stand, die er im Allgemeinen erfuhr. Er beschwerte sich oft über diese Vorsicht. Aber dann machte der Aufseher, der Direktor, der Arzt, der Pfaffe, wer immer seine Proteste hörte, ein unzugängliches Gesicht und antwortete ihm, seine Behandlung entspräche der Vorschrift. So war die Vorschrift nun der Ersatz für die verlorene Teilnahme der Welt, und Moosbrugger dachte: »Du hast einen langen Strick um den Hals und kannst nicht sehen, wer daran zieht.« Er war gleichsam um eine Ecke herum an der Außenwelt angebunden. Leute, die zum größern Teil gar nicht an ihn dachten, ja nicht einmal etwas von ihm wußten oder für die er höchstens so viel bedeutete wie eine gewöhnliche Henne auf einer gewöhnlichen Dorfstraße für einen Universitätsprofessor der Zoologie, wirkten zusammen, um das Schicksal zu bereiten, das er unkörperlich an sich zerren fühlte. Ein Bürofräulein schrieb an einem Zusatz zu seinem Akt. Ein Registrator behandelte diesen nach kunstvollen Gedächtnisregeln. Ein Ministerialrat bereitete die neueste Weisung für den Strafvollzug vor. Einige Psychiater führten einen Fachstreit über die Abgrenzung bloß psychopathischer Veranlagung von bestimmten Fällen der Epilepsie und ihrer Vermischung mit anderen Krankheitsbildern. Juristen schrieben über das Verhältnis der Milderungs- zu den Minderungsgründen. Ein Bischof sprach sich gegen die allgemeine Lockerung der Sitten aus, und ein Jagdpächter klagte Bonadeas gerechtem Gatten das Überhandnehmen der Füchse, wodurch in diesem hohen Funktionär die Stimmung zugunsten der Unbeugsamkeit von Rechtsgrundsätzen verstärkt wurde.
Aus solchen unpersönlichen Geschehnissen setzt sich in einer Weise das persönliche Geschehen zusammen, die vorläufig unbeschreiblich ist. Und wenn man Moosbruggers Fall alles individuell Romantischen entkleidete, das nur ihn und die paar Menschen anging, die er ermordet hatte, so blieb von ihm nicht mehr als ungefähr das übrig, was sich in dem Verzeichnis von zitierten Schriften ausdrückte, das Ulrichs Vater einer jüngsten Zuschrift an seinen Sohn beigelegt hatte. Ein solches Verzeichnis sieht folgendermaßen aus: AH. – AMP. – AAC. – AKA. – AP. – ASZ. – BKL. – BGK. – BUD. – CN. – DTJ. – DJZ. – FBgM. – GA. – GS. – JKV. – KBSA. – MMW. – NG. – PNW. – R. – VSgM. – WMW. – ZGS. – ZMB. – ZP. – ZSS. – Addickes a. a. O. – Aschaffenburg a. a. O. – Beling a. a. O. usw. usw. – oder in Worte übersetzt: Annales d’Hygiène Publique et de Médicine légale, hgb. v. Brouardel, Paris; Annales Médico-Psychologiques, hgb. v. Ritti... usw. usw. in kürzesten Abkürzungen eine Seite lang. Die Wahrheit ist eben kein Kristall, den man in die Tasche stecken kann, sondern eine unendliche Flüssigkeit, in die man hineinfällt. Man denke sich an jede dieser Abkürzungen einige Hundert oder Dutzend Druckseiten geknüpft, an jede Seite einen Mann mit zehn Fingern, der sie schreibt, an jeden Finger zehn Schüler und zehn Gegner, an jeden Schüler und Gegner zehn Finger, und an jeden Finger den zehnten Teil einer persönlichen Idee, so gewinnt man eine kleine Vorstellung von ihr. Ohne sie kann selbst der bekannte Sperling nicht vom Dach fallen. Sonne, Wind, Nahrung haben ihn hingeführt, Krankheit, Hunger, Kälte oder eine Katze ihn getötet; aber alles das hätte nicht ohne biologische, psychologische, meteorologische, physikalische, chemische, soziale usw. Gesetze geschehen können, und es ist eine rechte Beruhigung, wenn man solche Gesetze bloß sucht, statt daß man sie, wie in der Moral und Rechtsgelehrtheit, selbst erzeugt. Was übrigens Moosbrugger persönlich angeht, so hatte er, wie man weiß, großen Respekt vor dem menschlichen Wissen, von dem er einen leider nur so kleinen Teil besaß, aber er würde seine Lage niemals ganz begriffen haben, auch wenn er sie gekannt hätte. Er ahnte sie dunkel. Sein Zustand kam ihm unfest vor. Sein mächtiger Körper hielt nicht ganz zu. Der Himmel schaute zuweilen in den Schädel hinein. So, wie es früher oft auf den Wanderungen gewesen war. Und niemals, wenn sie jetzt auch zuweilen geradezu unangenehm war, verließ ihn eine gewisse wichtige Gehobenheit, die ihm durch die Kerkermauern aus der ganzen Welt zuströmte. So saß er als die wilde, eingesperrte Möglichkeit einer gefürchteten Handlung wie eine unbewohnte Koralleninsel inmitten eines unendlichen Meeres von Abhandlungen, das ihn unsichtbar umgab.
Immerhin, ein Verbrecher läßt es sich oft sehr leicht werden, im Vergleich mit der anstrengenden Denkarbeit, zu der er die Gelehrten nötigt. Der Inkulpant macht es sich einfach zunutze, daß die Übergänge von der Gesundheit zur Krankheit in der Natur gleitend sind; wogegen der Jurist in solchem Fall behaupten muß, daß »sich die Bejahungs- und Verneinungsgründe in bezug auf die freie Selbstbestimmung oder die Einsicht in den verbrecherischen Charakter der Tat derart durchkreuzen und aufheben, daß nach allen Denkregeln nur ein problematisches Urteil herauskommt.« Denn der Jurist hält sich aus logischen Gründen vor Augen, daß man »in betreff derselbigen Tat niemals ein Mischungsverhältnis zweier Zustände zugeben dürfe«, und er läßt nicht zu, daß sich »das Prinzip der sittlichen Freiheit im Verhältnis zu den körperlich bedingten Seelenzuständen in die nebelhafte Unbestimmtheit des Erfahrungsdenkens auflöse«. Er holt seine Begriffe nicht aus der Natur, sondern durchdringt die Natur mit der Flamme des Denkens und dem Schwert des Sittengesetzes. Und daran hatte sich in dem vom Justizministerium zur Erneuerung des Strafgesetzbuches einberufenen Ausschuß, dem Ulrichs Vater angehörte, ein Streit entzündet; aber es hatte etlicher Zeit und einiger Mahnungen, die ihn zur Erfüllung kindlicher Pflicht antrieben, bedurft, ehe sich Ulrich die Darstellung seines Vaters samt allen Beilagen ganz zu eigen machte.
Sein »Dich liebender Vater« – denn als solcher unterschrieb er sich noch auf den bittersten Briefen – hatte die Behauptung und Forderung aufgestellt, daß eine teilweise kranke Person nur dann freizusprechen sei, wenn sich nachweisen lasse, daß unter ihren Wahnvorstellungen solche vorgekommen seien, die – wenn sie keine Wahnvorstellungen wären – die Handlung rechtfertigen oder ihre Strafbarkeit aufheben würden. Professor Schwung dagegen – vielleicht, weil er seit vierzig Jahren der Freund und Kollege des alten Herrn war, was schließlich doch einmal zu einem heftigen Gegensatz führen muß – hatte die Behauptung und Forderung aufgestellt, daß ein solches Individuum, worin die Zustände der Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit, da sie juridisch nicht nebeneinander zu bestehen vermögen, nur in schnellem Wechsel aufeinander folgen können, bloß dann freizusprechen sei, wenn sich in bezug auf das einzelne Wollen nachweisen lasse, daß es dem Inkulpanten gerade im Augenblick dieses Wollens unmöglich gewesen sei, es zu beherrschen. Dies war der Ausgangstatbestand. Es ist für den Laien leicht zu erkennen, daß es dem Verbrecher dabei nicht weniger schwierig sein mag, keinen Augenblick gesunden Willens in der Sekunde der Tat zu übersehen, wie keine Vorstellung, die vielleicht seine Strafbarkeit begründen könnte; aber die Aufgabe der Rechtspflege ist es ja nicht, dem Denken und sittlichen Handeln ein Faulbett zu bieten! Und weil beide Gelehrte von der Würde des Rechts in gleichem Maße überzeugt waren und keiner die Mehrheit des Ausschusses auf seine Seite bringen konnte, warfen sie einander zuerst Irrtum, dann aber in rascher Aufeinanderfolge Unlogik, gewolltes Mißverstehen und mangelnde Idealität vor. Sie taten dies zuerst im Schoß des unentschlossenen Ausschusses; dann aber, als darüber die Sitzungen zu stocken begannen, vertagt werden mußten und endlich gar lange aussetzten, schrieb Ulrichs Vater zwei Broschüren »§ 318 StGB. und der wahre Geist des Rechts« sowie »§ 318 StGB. und die getrübten Quellen der Rechtsfindung«, und Professor Schwung kritisierte sie in der Zeitschrift »Die gelehrte Juristenwelt«, die Ulrich gleichfalls unter den Beilagen vorfand.
Es kamen in diesen Streitschriften viele Und und Oder vor, denn es mußte die Frage »bereinigt« werden, ob man die beiden Auffassungen durch ein Und verbinden könne oder durch ein Oder trennen müsse. Und als nach langer Pause der Ausschuß wieder einen Schoß bildete, hatte sich in diesem bereits eine Und- und eine Oderpartei getrennt. Außerdem gab es aber auch eine Partei, die sich für den einfachen Vorschlag einsetzte, das Maß der Zurechnung und Zurechnungsfähigkeit im gleichen Verhältnis steigen und fallen zu lassen, wie die Größe des Aufwands an psychischer Kraft steige und falle, die unter den gegebenen Krankheitsumständen zur Selbstbeherrschung hinreichen würde. Dieser Partei stand eine vierte entgegen, die darauf beharrte, daß vorerst voll und ganz entschieden werden müsse, ob ein Täter überhaupt zurechnungsfähig sei; denn die Verminderung der Zurechnungsfähigkeit setze begrifflich das Vorhandensein der Zurechnungsfähigkeit voraus, und sei der Täter in einem Teil zurechnungsfähig, so müsse er voll und ganz bestraft werden, weil man diesen Teil anders nicht strafrechtlich erfassen könne. Gegen diese Partei wandte sich eine neue, die das Prinzip zwar zugab, aber hervorhob, daß die Natur sich nicht daran halte, die auch halbverrückte Menschen erzeuge; weshalb man diesen die Wohltat des Rechts nur in der Form zuwenden könne, daß man zwar von einer Minderung ihrer Schuld absehe, aber den Umständen durch eine Milderung der Strafe Rechnung trage. So bildete sich auch noch eine Zurechnungsfähigkeitspartei und eine Zurechnungspartei, und als auch diese sich genügend geteilt hatten, wurden erst die Gesichtspunkte frei, über deren Anwendung man sich noch nicht entzweit hatte. Natürlich macht kein Fachmann heute seine Streitigkeiten von den Streitigkeiten der Philosophie und Theologie abhängig, aber als Perspektiven, das heißt so leer wie der Raum und doch wie er die Dinge zusammenschiebend, mengen sich diese beiden Nebenbuhlerinnen um die letzte Weisheit überall in die Fachoptik ein. Und so bildete schließlich hier auch noch die sorgsam umgangene Frage, ob man jeden Menschen für sittlich frei ansehen dürfe, mit einem Wort die gute alte Frage der Willensfreiheit ein perspektivisches Zentrum aller Meinungsverschiedenheiten, obgleich sie außerhalb ihrer Erörterung lag. Denn ist der Mensch sittlich frei, so muß man durch die Strafe einen praktischen Zwang auf ihn ausüben, an den man theoretisch nicht glaubt; sieht man ihn aber nicht für frei an, sondern hält ihn für das Stelldichein unabänderlich verknüpfter Naturvorgänge, so kann man zwar durch die Strafe eine wirksame Unlusttendenz in ihm erregen, aber man darf ihm nicht sittlich anrechnen, was er tut. Wegen dieser Frage entstand also noch eine neue Partei, die vorschlug, den Täter in zwei Teile zu teilen; einen zoologisch-psychologischen, der den Richter nichts angehe, und einen juridischen, der zwar nur eine Konstruktion, aber rechtlich frei sei. Glücklicherweise beschränkte sich das auf die Theorie.
Es ist schwer, der Gerechtigkeit in Kürze Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Kommission bestand aus ungefähr zwanzig Gelehrten, denen es möglich war, einige tausend Standpunkte zueinander einzunehmen, wie sich leicht nachrechnen läßt. Die Gesetze, die verbessert werden sollten, standen seit dem Jahre 1852 in Anwendung, es handelte sich also überdies um eine sehr dauerhafte Sache, die man nicht leichtfertig durch eine andere ersetzen darf. Und überhaupt kann die ruhende Einrichtung des Rechts nicht allen Gedankensprüngen der jeweilig herrschenden Geistesmode folgen, – wie ein Teilnehmer richtig bemerkte. Mit welcher Gewissenhaftigkeit gearbeitet werden mußte, geht am besten daraus hervor, daß nach statistischen Erhebungen ungefähr siebzig vom Hundert aller Menschen, die zu unserem Schaden Verbrechen begehn, die Sicherheit haben, den Einrichtungen unserer Gerechtigkeit zu entschlüpfen; es ist naheliegend, daß man über das eingefangene Viertel um so genauer nachdenken muß! Natürlich mag alles das seither ein wenig besser geworden sein, und es wäre außerdem falsch, die eigentliche Absicht dieser Berichterstattung in einer Verspottung der Eisblumen zu sehn, die der Verstand in den Köpfen der Rechtsklugen zur schönsten Blüte treibt, worüber sich schon viele Menschen mit Tauwetter im Kopf lustig gemacht haben; im Gegenteil, es waren männliche Strenge, Hochmut, moralische Gesundheit, Unangefochtenheit und Bequemlichkeit, also lauter Eigenschaften des Gemüts und zu einem großen Teil Tugenden, die wir, wie man sagt, hoffentlich nie verlieren werden, was die gelehrten Teilnehmer hinderte, ihre Verstandeskräfte vorurteilslos zu gebrauchen. Sie behandelten den Knaben Mensch nach der Art älterer Schulpräzeptoren als einen ihrer Obhut Anvertrauten, der nur aufmerksam und willig zu sein braucht, um gut durchzukommen, und was dies bewirkte, war nichts als das vormärzliche politische Gefühl des vor dem ihren vergangenen Menschenalters. Gewiß, die psychologischen Kenntnisse dieser Juristen waren etwa um fünfzig Jahre zurückgeblieben, aber das kommt leicht vor, wo man ein Stück seines eigenen Wissensfelds mit des Nachbars Gerät bearbeiten muß, und wird bei günstiger Gelegenheit auch rasch wieder nachgeholt; was jedoch beständig hinter seiner Zeit zurückbleibt, weil es sich noch dazu auf seine Beständigkeit etwas einbildet, ist das Herz des Menschen, und zwar besonders des gründlichen Menschen. Nie ist der Verstand so dürr, hart und verzwickt, wie wenn er eine kleine alte Herzschwäche hat!
Diese führte schließlich zu einem leidenschaftlichen Ausbruch. Als die Kämpfe alle Teilnehmer genügend geschwächt und das Fortschreiten der Arbeit gehindert hatten, mehrten sich die Stimmen, die ein Übereinkommen vorschlugen, das ungefähr so aussehen sollte, wie alle Formeln aussehen, wenn ein nicht zu schließender Gegensatz mit einem schönen Satz verklebt werden soll. Es bestand Geneigtheit, sich auf jene bekannte Definition zu einigen, nach der man zurechnungsfähig jene Verbrecher nennt, die nach ihren geistigen und sittlichen Eigenschaften eben fähig seien, ein Verbrechen zu begehn; das heißt, beileibe nicht ohne diese Eigenschaften, was eine außerordentliche Definition ist, die den Vorteil bietet, daß sie den Verbrechern sehr viel Arbeit macht und geradezu erlauben würde, das Recht auf die Zuchthauskleidung mit dem Doktortitel zu verbinden. Da aber vollzog Ulrichs Vater, angesichts der drohenden Milde des Jubiläumsjahrs und einer Definition, die so rund wie ein Ei war, das er für eine gegen ihn geschleuderte Handgranate hielt, das, was er seine Aufsehen erregende Wendung zur sozialen Schule nannte. Die soziale Auffassung sagt uns, daß der verbrecherisch »Entartete« überhaupt nicht moralisierend, sondern nur nach seiner Schädlichkeit für die menschliche Gesellschaft zu beurteilen sei. Daraus folgt, daß er desto zurechnungsfähiger sein muß, je schädlicher er ist; und daraus folgt weiter auf zwingend logischem Wege, daß die scheinbar unschuldigsten Verbrecher, nämlich die geistig kranken, die vermöge ihrer Natur dem verbessernden Einfluß der Strafe am wenigsten zugänglich sind, mit den härtesten Strafen bedroht werden müssen und jedenfalls mit härteren als Gesunde, damit die Abschreckungskraft gleich groß sei. Man durfte billig erwarten, daß Kollege Schwung nun weit und breit nichts finden werde, um es gegen diese soziale Auffassung einzuwenden. Und so schien es auch zu sein, aber eben darum griff er zu Mitteln, die den unmittelbaren Anlaß für Ulrichs Vater bildeten, den Weg des Rechts, der in neuen endlosen Streitigkeiten im Ausschuß zu versanden drohte, auch seinerseits zu verlassen und sich an seinen Sohn zu wenden, um die Verbindung mit hohen und höchsten Kreisen, in die er ihn gesetzt hatte, nun für die Sache des Guten auszunützen. Denn was Kollege Schwung getan hatte, bestand darin, daß er statt jedes Versuchs einer sachlichen Widerlegung sich sofort bösartig an das Wort »sozial« geklammert hatte und dieses in einer neuen Publikation als »materialistisch« und »preußischen Staatsgeist« verdächtigte.
»Mein lieber Sohn,« schrieb Ulrichs Vater »ich habe zwar sogleich auf die romanische und somit ganz und gar nicht preußische Herkunft der Gedanken der sozialen Rechtsschule hingewiesen, aber das wird gegenüber dieser Denunziation und Verleumdung möglicherweise vergeblich bleiben, die mit infernalischer Gehässigkeit auf den höheren Orts abstoßen müssenden Eindruck spekuliert, der sich mit den Vorstellungen Materialismus und Preußen nur zu leicht verbindet. Das sind keine Vorwürfe mehr, gegen die man sich verteidigen kann, sondern ist die Ausstreuung eines derart unqualifizierbaren Gerüchts, daß man es höheren Orts kaum prüfen wird und die Notwendigkeit, sich damit überhaupt befassen zu müssen, dem unschuldigen Opfer ebenso verübeln kann wie dem gewissenlosen Denunzianten. Der ich im Leben stets alle Hintertreppen verschmäht habe, sehe mich also gezwungen, Dich aufzufordern ...« Und so weiter schloß dieser Brief.
Arnheim hatte geschellt und ließ Soliman suchen. Es war lange nicht mehr vorgekommen, daß er das Bedürfnis empfand, sich mit ihm zu unterhalten, und der Schlingel trieb sich augenblicklich irgendwo im Hotel umher.
Es war Ulrichs Widerspruch endlich gelungen, Arnheim zu verletzen.
Natürlich war es Arnheim niemals entgangen, daß Ulrich gegen ihn arbeite. Ulrich arbeitete selbstlos; er wirkte wie Wasser auf Feuer, Salz auf Zucker; er trachtete Arnheim um die Wirkung zu bringen, beinahe ohne es zu wollen. Arnheim war sicher, daß Ulrich sogar das Vertrauen Diotimas mißbrauchte, um heimlich über ihn ungünstige oder spöttische Bemerkungen zu machen.
Er gestand sich ein, daß ihm etwas Ähnliches lange nicht widerfahren sei. Die gewöhnliche Methode seiner Erfolge versagte dagegen. Denn die Wirkung eines großen und ganzen Mannes ist wie die der Schönheit: sie verträgt so wenig eine Leugnung, wie man einen Ballon anbohren darf oder einer Statue einen Hut auf den Kopf setzen. Eine schöne Frau wird häßlich, wenn sie nicht gefällt, und ein großer Mann, wenn man ihn nicht beachtet, wird vielleicht etwas Größeres, aber er hört auf, ein großer Mann zu sein. Das gestand sich Arnheim nun allerdings nicht mit diesen Worten ein, aber er dachte: »Ich vertrage keinen Widerspruch, weil nur der Verstand durch Widerspruch gedeiht, und wenn jemand nur Verstand hat, so verachte ich ihn!«
Arnheim nahm an, daß es ihm nicht schwer fallen würde, seinen Gegner auf irgendeine Weise unschädlich zu machen. Aber er wollte Ulrich gewinnen, beeinflussen, erziehen und seine Bewunderung erzwingen. Um sich das zu erleichtern, hatte er sich eingeredet, daß er ihn mit einem tiefen und widerspruchsvollen Gefallen liebe, und hätte nicht gewußt, womit er es begründen solle. Er hatte von Ulrich nichts zu fürchten und nichts zu erwarten; an Graf Leinsdorf und Sektionschef Tuzzi besaß Arnheim ohnehin keinen Freund, das wußte er, und im übrigen gingen die Dinge, wenn auch etwas langsam, den Gang, den er wünschte. Die Gegenwirkung Ulrichs verschwand vor der Wirkung Arnheims und blieb gleichsam ein unirdischer Einspruch; das einzige, was sie zu vermögen schien, bestand vielleicht darin, daß sie die Entscheidung Diotimas hinausschob, indem sie die Entschlossenheit der wunderbaren Frau ein klein wenig lähmte. Arnheim hatte es vorsichtig bloßgelegt und mußte nun darüber lächeln. Geschah das wehmütig oder boshaft? – solche Unterschiede haben in solchen Fällen nichts auf sich; er hielt es für gerecht, daß seines Gegners Verstandeskritik und Widerspruch, ohne es zu wissen, in seinem Dienst arbeiten mußten; es war ein Sieg der tieferen Sache, eine der wunderbar klaren, sich selbst lösenden Verwicklungen des Lebens. Arnheim fühlte, daß dies die Schicksalschlinge war, die ihn mit dem jüngeren Mann verband und ihn zu Zugeständnissen verleitete, die jener nicht verstand. Denn Ulrich war der Werbung nicht zugänglich; er war wie ein Narr unempfindlich gegen soziale Vorteile und schien das Freundschaftsangebot entweder nicht zu bemerken oder nicht zu würdigen.
Es gab etwas, das Arnheim Ulrichs Witz nannte. Zum Teil meinte er damit diese Unfähigkeit eines geistvollen Mannes, die Vorteile zu erkennen, die das Leben bietet, und seinen Geist den großen Gegenständen und Gelegenheiten anzupassen, die ihm Würde und Standfestigkeit verleihen könnten. Ulrich zeigte die lächerliche gegenteilige Gesinnung, das Leben müsse sich dem Geist anpassen. Arnheim sah ihn vor sich; ebenso groß wie er selbst, jünger, ohne die Weichheiten, die er an seinem eigenen Körper sich nicht verbergen konnte; etwas bedingungslos Unabhängiges war im Gesicht; er führte es, nicht ganz ohne Neid, auf den Abkömmling asketischer Gelehrtengeschlechter zurück, denn so stellte er sich Ulrichs Herkunft vor. Unbesorgter um Geld und Wirkung war dieses Gesicht, als eine aufstrebende Dynastie von Veredlungsverkehrfachleuten es ihren Nachkommen gestattet! Aber in diesem Gesicht fehlte etwas. Das Leben fehlte darin, die Spuren des Lebens fehlten erschrecklich! Es war das in dem Augenblick, wo Arnheim es überdeutlich vor sich sah, ein so beunruhigender Eindruck, daß er daran seine ganze Neigung für Ulrich wieder erkannte; fast hätte man diesem Gesicht ein Unheil vorhersagen können. Er grübelte diesem zwiespältigen Empfinden von Neid und Sorge nach; es war eine traurige Genugtuung, wie sie jemand empfinden mag, der sich selbst mit Feigheit in Sicherheit gebracht hat, und plötzlich warf eine heftige Aufwallung von Neid und Mißbilligung den Gedanken empor, den er unbewußt gesucht und gemieden hatte. Es war ihm eingefallen, Ulrich wäre wohl ein Mann, der nicht nur die Zinsen, sondern das ganze Kapital seiner Seele zum Opfer bringen würde, wenn die Umstände es von ihm verlangten! Ja, das war es, was Arnheim merkwürdigerweise auch unter Ulrichs Witz verstand. Es wurde ihm in diesem Augenblick, wo er sich der von ihm selbst geprägten Worte entsann, vollkommen klar: die Vorstellung, ein Mann könnte sich von seiner Leidenschaft gleichsam über den atembaren Raum hinausreißen lassen, kam ihm wie ein Witz vor!
Als sich Soliman ins Zimmer schlich und vor seinem Herrn stehenblieb, hatte dieser größtenteils vergessen, weswegen er ihn kommen geheißen, aber er spürte die Beruhigung, die von einem lebendigen und ergebenen Wesen ausging. Er schritt mit verschlossener Miene im Zimmer auf und ab, und die schwarze Scheibe des Gesichts drehte sich ihm nach. »Setz dich« befahl Arnheim, blieb in der Ecke so, wie er sich auf dem Absatz gewendet hatte, stehen und begann: »Der große Goethe gibt an einer Stelle des Wilhelm Meister mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit eine Vorschrift des richtigen Lebens, sie heißt: ›Denken, um zu tun; tun, um zu denken!‹ Verstehst du das? Nein, das kannst du wohl doch nicht verstehn...« beantwortete er sich diese Frage selbst und verstummte wieder. »Es ist ein Rezept, das alle Weisheit des Lebens enthält,« dachte er »und der mein Gegner sein möchte, kennt davon nur die eine Hälfte, Denken!« Es war ihm eingefallen, daß man auch das noch unter »bloß Witz haben« verstehen könne. Er erkannte die Schwäche Ulrichs. Witz kommt von wissen, eine sprachliche Weisheit, denn sie bezeichnet die intellektuelle Herkunft dieser Eigenschaft, ihre gespenstische, gefühlsarme Natur; der Witzige ist immer vorwitzig, er setzt sich über die gegebenen Grenzen hinweg, an denen der voll Fühlende haltmacht. So war die Angelegenheit mit Diotima und der Kapitalssubstanz der Seele unter einen erfreulicheren Gesichtspunkt gebracht, und zu Soliman sagte Arnheim, indes er das dachte: »Es ist eine Vorschrift, die alle Weisheit des Lebens enthält, und ihretwegen habe ich dir die Bücher entzogen und halte dich zur Arbeit an!«
Soliman erwiderte nichts und machte ein tiefernstes Gesicht.
»Du hast einigemal meinen Vater gesehn,« fragte Arnheim plötzlich »erinnerst du dich an ihn?«
Soliman fand es angebracht, das Weiße seiner Augen hervorzukugeln, und Arnheim sagte nachdenklich: »Siehst du, mein Vater liest fast niemals Bücher. Was meinst du, wie alt mein Vater ist?« Er wartete die Antwort wieder nicht ab und setzte selbst hinzu: »Er ist schon über siebzig Jahre alt und hat seine Hand noch überall, wo für unser Haus etwas auf dem Spiel steht!« Dann ging Arnheim wieder schweigend auf und ab. Er empfand ein unbezwingliches Bedürfnis, über seinen Vater zu reden, aber er konnte nicht alles sagen, was er dachte. Niemand wußte besser als er, daß auch seinem Vater zuweilen Geschäfte fehlschlugen; aber niemand würde es ihm geglaubt haben, denn sobald jemand im Rufe steht, ein Napoleon zu sein, gewinnt er auch seine verlorenen Schlachten. Es hatte für Arnheim darum nie eine andere Möglichkeit gegeben, sich neben seinem Vater zu behaupten, als die von ihm gewählte, Geist, Politik und Gesellschaft in den Dienst des Geschäftes zu stellen. Den alten Arnheim schien es auch zu freuen, daß der junge Arnheim so viel wußte und konnte; aber wenn eine wichtige Frage zu entscheiden war, und man hatte sie tagelang produktions- und finanztechnisch, geist- und wirtschaftspolitisch erörtert und dargelegt, so dankte er, befahl nicht selten das Gegenteil von dem, was man ihm vorschlug, und hatte auf alle Einwendungen, die man ihm machte, nur ein hilflos eigensinniges Lächeln zur Antwort. Oft schüttelten sogar die Direktoren die Köpfe darüber, aber über kurz oder lang stellte es sich jedesmal heraus, daß der Alte auf die eine oder andere Weise recht hatte. Es war ungefähr so, wie wenn ein alter Jäger oder Bergführer eine Konferenz von Meteorologen anhören müßte und sich dann schließlich doch nach den Weissagungen seines Rheumatismus entscheidet; und im Grunde war das gar nicht verwunderlich, denn der Rheumatismus ist nun einmal noch in mancher Frage sicherer als die Wissenschaft, und es kommt auch nicht ausschließlich auf die Genauigkeit der Voraussicht an, weil die Dinge doch immer anders kommen, als man es sich vorgestellt hat, und die Hauptsache ist, daß man sich schlau und zäh mit ihrer Widerspenstigkeit abfindet. Es hätte Arnheim also eigentlich nicht schwerfallen dürfen, zu verstehen, daß ein alter Praktikus eine Menge weiß und kann, was sich theoretisch nicht vorhersehen läßt, aber es kam trotzdem ein folgenschwerer Tag, wo er entdeckte, daß der alte Samuel Arnheim Intuition habe.
»Weißt du, was Intuition ist?« fragte Arnheim aus seinen Gedanken heraus, als tastete er nach dem Schatten einer Entschuldigung für sein Verlangen, davon zu reden. Soliman blinzelte angestrengt, wie er es tat, wenn er wegen eines Auftrags verhört wurde, den er vergessen hatte, und Arnheim verbesserte sich abermals rasch. »Ich bin sehr nervös heute,« sagte er »du kannst das natürlich nicht wissen! Aber gib acht auf das, was ich dir jetzt sagen werde: Geld erwerben bringt uns, wie du dir denken kannst, in Lagen, die nicht immer vornehm sind. Diese ewigen Bemühungen, zu rechnen und aus allem einen Vorteil zu ziehen, widersprechen der großen Lebensgestaltung, wie sie glücklichere Zeitalter haben ausbilden dürfen. Man hat aus dem Mord die adelige Tugend der Tapferkeit machen können, aber es erscheint mir fraglich, ob mit dem Rechnen etwas Ähnliches gelingen wird; es ist keine rechte Güte darin, keine Würde, keine tiefe Natur, das Geld macht alles zum Begriff, es ist unangenehm rational; wenn ich Geld sehe, muß ich, ob du es verstehst oder nicht, jedesmal an ungläubig prüfende Finger, viel Geschrei und viel Verstand denken, Vorstellungen, die mir gleichermaßen unerträglich sind.« Er brach ab und versank wieder ins Alleinsein. Er erinnerte sich an seine Verwandten, wie sie ihm, als er ein Kind war, über den Kopf strichen und dabei sagten, daß er ein gutes Köpfchen hätte. Ein Rechenköpfchen. Er haßte diese Gesinnung! In den blanken Goldstücken spiegelte sich die Vernunft einer Familie, die sich emporgearbeitet hatte! Er würde es verachtet haben, sich seiner Familie zu schämen, im Gegenteil, er beharrte gerade in den höchsten Kreisen vornehm bescheiden auf seiner Herkunft; aber die Vernunft seiner Familie fürchtete er, als wäre sie wie allzu lebhaftes Sprechen und flatternde Gebärden eine Familienschwäche, die ihn auf den Höhen der Menschheit unmöglich mache.
Wahrscheinlich hatte seine Verehrung für das Irrationale hier ihren Ursprung. Der Adel war irrational: fast klang das wie ein Scherz über Mängel adeligen Verstandes, aber Arnheim wußte, wie er es meinte. Er brauchte bloß daran zu denken, wie er als Jude nicht Reserveoffizier geworden war; da er als Arnheim aber auch nicht die geringe Stellung eines Unteroffiziers einnehmen konnte, hatte man ihn kurzerhand für untauglich zum Soldaten erklärt, und noch heute lehnte er es ab, darin nur den Mangel an Verständigkeit zu erblicken, ohne die mit ihm verknüpfte Ehrenhaftigkeit zu würdigen. Diese Erinnerung gab ihm den Anlaß, seine Rede an Soliman um einige Sätze zu bereichern. »Es ist möglich« fuhr er dort fort, wo er stehen geblieben war, denn trotz aller Abneigung dagegen war er bis in die Abschweifungen hinein methodisch, »es ist möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß Adel nicht immer gerade das bezeichnet hat, was wir heute eine adelige Gesinnung nennen. Um die Ländermassen zusammenzubekommen, auf denen sich später seine Vornehmheit aufbaute, wird er nicht weniger berechnend und beflissen gewesen sein, als es heute ein Kaufmann ist, ja möglicherweise vollzieht sich das Geschäft des Kaufmanns sogar ehrlicher. Aber im Boden liegt eine Kraft, verstehst du, ich meine, in der Ackerscholle lag sie, in der Jagd, im Krieg, im Glauben an den Himmel und im Bauernhaften, mit einem Wort in dem körperlichen Leben dieser Menschen, die weniger ihren Kopf regten als ihre Arme und Beine, in der Nähe der Natur lag die Kraft, die sie schließlich würdig, vornehm und allem Gemeinen abgeneigt gemacht hat.«
Er überlegte, ob er sich durch seine Stimmung nicht habe verleiten lassen, zuviel zu sagen. Wenn Soliman den Sinn nicht verstand, war dieser Junge imstande, durch die Worte seines Herrn seine Ehrerbietung vor dem Adel herabmindern zu lassen. Aber da geschah etwas Unerwartetes. Soliman war schon eine Weile unruhig hin und her gerutscht, und nun unterbrach er seinen Herrn mit einer Frage. »Bitte,« fragte Soliman »mein Vater ist ein König?«
Arnheim sah ihn verblüfft an. »Ich weiß nichts davon« antwortete er halb streng, halb belustigt. Aber während er in Solimans ernstes, fast zorniges Gesicht blickte, gewann etwas wie Rührung Macht über ihn. Er liebte es, daß dieser Junge alles ernst nahm; »er ist ganz witzlos« dachte er »und eigentlich voll Tragik«; irgendwie schien ihm Witzlosigkeit mit Schwere und Erfülltheit eines Lebens das gleiche zu sein. Mit sanfter Belehrung gab er dem Knaben weiter Antwort: »Es spricht wenig dafür, daß dein Vater ein König sei, ich glaube eher, er wird irgendeinen untergeordneten Beruf ausgeübt haben, denn ich habe dich in einer Truppe von Gauklern in einer Küstenstadt gefunden.«
»Was habe ich gekostet?« unterbrach Soliman forschend.
»Aber mein Lieber, wie kann ich das heute noch wissen! Keinesfalls viel, nehme ich an. Gewiß nicht viel! Aber was kümmert dich alles das? Wir werden geboren, um uns unser Königreich selbst zu schaffen! Ich werde dich vielleicht nächstes Jahr einen Handelskurs mitmachen lassen, und danach könntest du als Lehrling in irgendeinem unserer Büros beginnen. Es wird natürlich von dir abhängen, was du erreichst, aber ich werde ein Auge auf dir haben. Du könntest zum Beispiel später unsere Interessen dort vertreten, wo die Farbigen schon etwas mitzureden haben; man müßte da natürlich sehr vorsichtig vorgehen, aber immerhin könnte sich aus der Tatsache, daß du ein schwarzer Mann bist, mancher Vorteil für dich ergeben. In der Tätigkeit würdest du auch erst ganz erkennen, wieviel dir die Jahre genützt haben, die du unter meiner unmittelbaren Aufsicht zugebracht hast, und das eine kann ich dir jetzt schon sagen: du gehörst einer Rasse an, die noch etwas vom Adel der Natur besitzt. In den mittelalterlichen Rittersagen haben schwarze Könige immer eine ehrenvolle Rolle gespielt. Wenn du das in dir pflegst, was geistig adelig ist, deine Würde, deine Güte, Offenheit, den Mut zur Wahrheit und den noch größeren Mut, dich der Unduldsamkeit, Eifersucht, Mißgunst und der kleinen nervösen Gehässigkeit zu enthalten, von denen die meisten Menschen heute gezeichnet sind, wenn du das zustande bringst, wirst du sicher auch deinen Weg als Kaufmann gehen, denn es ist unsere Aufgabe, der Welt nicht nur Waren zu bringen, sondern auch eine bessere Form des Lebens.«
Da Arnheim lange nicht so vertraut mit Soliman gesprochen hatte, fühlte er, daß es ihn vor einem Zuhörer lächerlich machen würde, aber es war keiner da, und überdies war das, was er sagte, nur die Decklage tieferer Gedankenverbindungen, die er für sich behielt. So bewegte sich gleich das, was er von adeliger Gesinnung und dem Werden des Adels vorbrachte, weiter innen genau in der entgegen gesetzten Richtung zu der seiner Worte. Da drängte sich ihm der Gedanke auf, daß noch niemals seit Bestehen der Welt etwas aus geistiger Reinheit und guter Gesinnung allein entstanden sei, sondern alles nur aus Gemeinheit, die sich mit der Zeit die Hörner abläuft, und am Schluß entsteht sogar die große und reine Gesinnung aus ihr! Ganz offenbar, dachte er, ruht das Werden der Adelsgeschlechter ebensowenig wie das einer Müllabfuhr zum weltumspannenden Wirtschaftskonzern nur auf Beziehungen, deren Zusammenhang mit einer erhöhten Humanität sicher ist, und doch ist aus dem einen die silberne Kultur des Dixhuitième und aus dem anderen war Arnheim entstanden. Das Leben stellte ihm somit eindeutig eine Aufgabe, die er am richtigsten in die tief zwiespältige Frage fassen zu können glaubte: welches Maß von Gemeinheit ist notwendig und zulässig, um Größe der Gesinnung zu schaffen? – In einer anderen Schichte hatten seine Gedanken aber inzwischen von Zeit zu Zeit das weiter verfolgt, was er Soliman über Intuition und Rationalismus gesagt hatte, und mit großer Lebhaftigkeit erinnerte sich Arnheim plötzlich daran, wie er zum erstenmal seinem Vater erklärt hatte, daß dieser seine Geschäfte durch Intuition mache. Intuition zu haben, war damals bei allen Leuten an der Zeit, die ihr Tun mit der Vernunft nicht recht verantworten konnten; es spielte ungefähr die gleiche Rolle, die es augenblicklich innehat, Tempo zu besitzen. Alles, was man falsch machte oder was einem zu innerst nicht restlos gelang, wurde dadurch gerechtfertigt, daß es für die Intuition oder durch sie geschaffen sei, und man benutzte Intuition sowohl zum Kochen wie zum Bücherschreiben; aber dem alten Arnheim war nichts davon bekannt, und er ließ sich wahrhaftig verleiten, überrascht zu seinem Sohn aufzublicken. Es war das ein großes Frohlocken für diesen gewesen. »Gelderwerben« sagte er »zwingt uns zu einem Denken, das nicht immer vornehm ist. Dabei ist es wahrscheinlich, daß wir großen Geschäftsleute dazu berufen sind, bei der nächsten Wendung der Geschichte die Führung der Massen zu übernehmen, ohne daß wir wissen, ob wir seelisch dazu imstande sein werden! Wenn es aber etwas auf der Welt gibt, das mir dazu Mut machen kann, so bist es du, denn du hast eine Gabe des Gesichts und Willens, wie sie in den alten großen Zeiten die Könige und Propheten besessen haben, die noch von Gott geleitet wurden. Wie du ein Geschäft anpackst, ist ein Geheimnis, und ich möchte sagen, alle Geheimnisse, die sich der Berechnung entziehen, sind vom gleichen Rang, ob es das Geheimnis des Mutes, der Erfindung oder das der Sterne ist!« Kränkend deutlich sah Arnheim vor sich, wie des alten Arnheim Blick, der zu ihm erhoben gewesen war, nach seinen ersten Sätzen sich wieder in die Zeitung senkte, aus der er sich nicht mehr erheben sollte, so oft der Sohn auch von Geschäften und Intuition sprach. Dieses Verhältnis zwischen Vater und Sohn hatte immer bestanden, und in einer dritten Gedankenschicht, gleichsam in der Leinwand dieser Erinnerungsbilder, kontrollierte es Arnheim auch jetzt. Er sah in der überlegenen Geschäftsbegabung seines Vaters, die ihn beständig bedrückte, etwas wie eine Urkraft, die dem komplizierteren Sohn unerreichbar bleiben mußte, womit er das Vorbild aus dem Bereich vergeblicher Anstrengungen entrückte und sich gleichzeitig einen Adelsbrief seiner Abstammung schuf. Er kam durch diesen Doppelkunstgriff gut davon. Das Geld wurde zu einer überpersönlichen, mythischen Macht, der nur die Ursprünglichsten ganz gewachsen sind, und er versetzte seinen Urahn unter die Götter, genau so, wie es die alten Krieger getan hatten, denen ihr mythischer Vorfahr trotz allen Schauers wahrscheinlich auch ein wenig primitiv vorgekommen sein dürfte im Vergleich mit ihnen selbst. In einer vierten Schicht wußte er aber nichts von dem Lächeln, das über dieser dritten lag, und dachte ganz den gleichen Gedanken noch einmal ernst, indem er sich die Rolle überlegte, die er auf Erden noch zu spielen hoffte. Solche Schichten des Denkens sind natürlich nicht wörtlich zu verstehen, als wären sie wie verschiedene Tiefen und Böden übereinander gelagert, sondern sie sind nichts als ein Ausdruck für die durchlässige, aus verschiedenen Richtungen flutende Bewegung des Denkens, wenn sie unter der Wirkung starker Gefühlsgegensätze steht. Zeit seines Lebens hatte Arnheim ja auch eine fast krankhaft empfindliche Abneigung gegen Witz und Ironie besessen, die wahrscheinlich von einer nicht gerade geringen ererbten Anlage zu beiden herrührte. Er hatte sie unterdrückt, weil sie ihm immer für den Inbegriff des Unadeligen und pöbelhaft Intellektuellen gegolten hatte, aber gerade jetzt, wo seine Gefühle am adeligsten und geradezu intelligenzfeindlich waren, meldete sie sich im Verhältnis zu Diotima, und wenn seine Empfindungen gleichsam schon auf den Zehen standen, lockte ihn oft die höllische Möglichkeit, durch einen jener treffsicheren Witze über die Liebe, die er nicht selten aus dem Munde untergeordneter oder roher Personen gehört hatte, seiner erhabenen Gemütsbewegung zu entrinnen. Und durch alle diese Schichten emportauchend, blickte er mit einemmal erstaunt in das finster aufmerksame Gesicht Solimans, das wie ein schwarzer Boxball aussah, auf den unverständliche Lebensweisheit niedergeprasselt war. »Welch lächerliche Lage, der ich mich aussetze!« dachte Arnheim.
Solimans Körper schien bei wachen Augen auf dem Stuhl eingeschlafen zu sein, als sein Herr diese einseitige Unterredung beendete; die Augen setzten sich in Bewegung, aber der Körper wollte sich nicht rühren, als wartete er noch auf das erweckende Wort. Arnheim bemerkte es, und das gierige Verlangen, Genaueres darüber zu erfahren, durch welche Intrigen aus einem Königssohn ein Diener werde, sprach zu ihm aus dem Blick des Schwarzen. Dieser wie mit Krallen hervor greifende Blick bewirkte es, daß er sich im gleichen Augenblick an jenen Gärtnergehilfen erinnerte, der seine Sammlungen bestohlen hatte, und er sagte sich seufzend, daß ihm der einfache Erwerbstrieb wohl immer fehlen werde. Es kam ihm plötzlich vor, daß dieser Einfall auch seine Beziehungen zu Diotima mit einem einzigen Wort kennzeichne. Schmerzlich bewegt, fühlte er sich auf der Höhe seines Lebens von allem, was er berührt hatte, durch einen kalten Schatten getrennt. Es war das kein einfacher Gedanke für einen Mann, der soeben erst den Grundsatz ausgesprochen hatte, man müsse denken, um zu tun, und immer bestrebt gewesen war, sich alles Große anzueignen und allem Kleinen seine eigene Bedeutung einzuprägen. Aber der Schatten hatte sich zwischen ihn und die Gegenstände seines Verlangens trotz des Willens gelegt, an dem er es nie hatte fehlen lassen, und zu seiner Überraschung glaubte Arnheim mit Sicherheit zu erkennen, daß er mit jenen lichtzarten Schauern zusammenhing, die seine Jugend umschleiert hatten; geradeso, als ob durch falsche Behandlung aus ihnen eine hauchdünne Eisschicht entstanden wäre. Nur die Frage, warum diese nicht einmal vor dem weltabgewandten Herzen Diotimas schmolz, vermochte er sich nicht zu beantworten; aber wie ein sehr unangenehmer Schmerz, der bloß auf eine Berührung gewartet hat, fiel ihm da wieder Ulrich ein. Arnheim wußte mit einemmal, daß auf dem Leben dieses Mannes der gleiche Schatten lag wie auf dem seinen, dort aber eine andere Wirkung hatte! Man stellt unter den Leidenschaften der Menschen die eines Mannes, den das Wesen eines anderen Mannes eifersüchtig reizt, selten auf den richtigen Platz, der ihr nach ihrer Stärke gebührt, und die Entdeckung, daß sein ohnmächtiger Ärger über Ulrich in einem tieferen Grunde der feindlichen Begegnung zweier Brüder ähnle, die sich nicht erkannt haben, war ein sehr starkes und zugleich wohltuendes Gefühl. Neugierig musterte Arnheim ihrer beider Wesen in dieser Vergleichung. Der grobe Erwerbstrieb für die Vorteile des Lebens fehlte Ulrich noch mehr als ihm, und der sublime Erwerbstrieb, der Wunsch, sich die Würden und Wichtigkeiten des Daseins zu eigen zu machen, fehlte ihm in einer geradezu ärgerlichen Weise. Dieser Mensch war ohne Bedürfnis nach Gewicht und Substanz des Lebens. Sein sachlicher Eifer, der nicht zu bestreiten war, eiferte nicht nach dem Besitz der Sache; Arnheim würde sich geradezu an seine Angestellten erinnert gefühlt haben, wenn die Selbstlosigkeit ihrer Berufshaltung in Ulrichs Anwendung nicht etwas ungemein Hochmütiges an sich gehabt hätte. Man konnte eher sagen, ein Besessener, der kein Besitzender sein will. Man konnte vielleicht auch den Gedanken an einen Streiter in freiwilliger Armut bilden. Auch schien es möglich zu sein, von einem ganz und gar theoretischen Menschen zu sprechen; nur stimmte das wieder nicht, weil man ihn eigentlich überhaupt nicht einen theoretischen Menschen nennen konnte. Arnheim erinnerte sich da, ihm einmal ausdrücklich erklärt zu haben, daß seine denkerischen Fähigkeiten hinter seinen praktischen zurückstünden. Sah man ihn aber praktisch an, so war dieser Mensch völlig unmöglich. So dachte Arnheim hin und her, wie es nicht zum erstenmal geschah, aber trotz der Zweifel an sich selbst, die ihn heute beherrschten, war es ihm unmöglich, in irgendeiner einzelnen Frage Ulrich den Vorrang einzuräumen, und er kam zu dem Schluß, der entscheidende Unterschied bestehe am wahrscheinlichsten darin, daß Ulrich etwas abgehe. Dennoch war an diesem Menschen im ganzen etwas Unverbrauchtes und Freies, und Arnheim gestand sich zögernd ein, daß es ihn geradezu an das »Geheimnis des Ganzen« erinnere, das er selbst besaß und durch diesen anderen in Frage gestellt fühlte. Wie wäre es sonst, wenn es sich bloß um das dem messenden Verstand Zugängliche gehandelt haben würde, auch möglich gewesen, das gleiche unbehagliche Gefühl »Witz« auf einen solchen Unwirklichkeitsmenschen anzuwenden, das Arnheim an einem allzu genauen Kenner der Wirklichkeit, wie es sein Vater war, fürchten gelernt hatte! »Diesem Menschen fehlt also im ganzen etwas!« dachte Arnheim, aber als wäre dies nur die andere Seite dieser Gewißheit, fiel ihm fast im gleichen Augenblick und ganz ohne seinen Willen ein: »Dieser Mann hat Seele!«
Dieser Mann besaß noch unverbrauchte Seele: da es sich um eine intuitive Eingebung handelte, hätte Arnheim nicht genau angeben können, was er damit meinte; aber irgendwie war es so, daß jeder Mensch, wie er wußte, seine Seele mit der Zeit in Verstand, Moral und große Ideen auflöst, was ein unwiderruflicher Vorgang ist; und bei seinem Freundfeind war der nicht bis zu Ende geraten, so daß etwas übrig blieb, dessen zweideutigen Reiz man nicht recht bezeichnen konnte, aber daran erkannte, daß dieses Etwas ungewöhnliche Verbindungen mit Elementen aus der Sphäre des Seelenlosen, Rationalen und Mechanischen einging, die sich nicht mehr recht zu den Kulturinhalten zählen ließen. Arnheim hatte, während er das alles überlegte und sogleich der Ausdrucksweise seiner philosophischen Werke anpaßte, übrigens nicht einen Augenblick Zeit gehabt, etwas davon Ulrich als ein Verdienst, und sei es auch nur dessen einziges, zugute zu schreiben, so stark war der Eindruck, eine Entdeckung gemacht zu haben; er selbst war es, der diese Vorstellungen schuf, und kam sich wie der Meister vor, der in einer noch ungehobenen Stimme den möglichen Glanz entdeckt. Seine Gedanken kühlten sich erst an Solimans Gesicht ab, der ihn offenbar schon lange angestarrt hatte und nun die Gelegenheit gekommen glaubte, weiter zu fragen. Das Bewußtsein, daß es nicht jedermann gegeben sei, seine Erkenntnisse mit Hilfe eines solchen kleinen stummen Halbwilden zu fassen, erhöhte Arnheims Glück, der einzige zu sein, der seines Widersachers Geheimnis kannte, obgleich da manches noch nicht klar und in den Folgen zu erkennen war, die es haben werde. Er fühlte bloß die Liebe, die ein Wucherer für sein Opfer empfindet, in dem er sein Kapital stecken hat. Und vielleicht war es da Solimans Anblick, der ihm plötzlich den Vorsatz eingab, diesen Mann, der ihm das anders verkörperte Abenteuer seiner selbst zu sein schien, um jeden Preis an sich zu ziehen, und sei es, daß er ihn dazu an Sohnes Statt annehmen müßte! Er lächelte über diese voreilige Bekräftigung einer Absicht, deren Gestalt erst ausreifen mußte, und schnitt Soliman, dessen Gesicht vor tragischer Wissensbegierde zuckte, gleichzeitig das Wort mit der Eröffnung ab: »Ich habe jetzt genug, und du mußt die Blumen zu Frau Tuzzi tragen, die ich bestellt habe. Wenn du noch etwas zu fragen hast, so können wir ja vielleicht ein andermal daran denken.«
Ulrich wußte wahrhaftig nicht, was er tun sollte, um den Wunsch seines Vaters zu erfüllen, der von ihm verlangte, daß er einer persönlichen Rücksprache mit Sr. Erlaucht und anderen hohen Patrioten aus Begeisterung für die soziale Schule vorarbeite, und so suchte er Gerda auf, um das gründlich zu vergessen. Er traf Hans bei ihr an, und Hans ging sofort zum Angriff über. »Sie haben Direktor Fischel in Schutz genommen?«
Ulrich antwortete mit der ausweichenden Gegenfrage, ob ihm Gerda davon erzählt habe?
Ja; Gerda hatte ihm erzählt.
»Was weiter? Wollen Sie hören, weshalb?«
»Ich bitte darum!« verlangte Hans.
»Das ist nicht so einfach, lieber Hans.«
»Sagen Sie nicht, lieber Hans!«
»Also dann, liebe Gerda,« er wandte sich an sie »es ist gar nicht einfach. Ich habe schon so furchtbar viel davon gesprochen, daß ich dachte, Sie verstünden mich?«
»Ich verstehe Sie auch, aber ich glaube Ihnen nicht« antwortete Gerda, bemühte sich jedoch, durch die Art, wie sie es sagte und ihn dabei ansah, ihrer Kampfstellung an der Seite Hansens etwas für Ulrich Versöhnendes zu geben.
»Wir glauben Ihnen nicht,« unterbrach Hans sofort diese freundlichere Gestaltung des Gesprächs »daß Sie das ernst meinen können; Sie haben sich das irgendwie angeeignet!«
»Was?! Sie meinen doch das, was man... nicht recht ausdrücken kann?« fragte Ulrich, der sofort begriff, daß sich Hansens Unverschämtheit auf das bezog, was er mit Gerda unter vier Augen gesprochen hatte. »Oh, man kann es sehr gut ausdrücken, wenn man es ernst meint!«
»Mir will es nicht gelingen. Aber ich kann Ihnen eine Geschichte erzählen.«
»Schon wieder eine Geschichte! Sie erzählen, scheint es, Geschichten wie der Vater Homer!« rief Hans noch unverschämter und selbstbewußter aus. Gerda sah ihn bittend an. Aber Ulrich ließ es sich nicht anfechten und fuhr fort: »Ich war einmal sehr verliebt; ich mag ungefähr ebenso alt gewesen sein, wie Sie es jetzt sind. Ich war eigentlich in meine Liebe damals verliebt, in meinen veränderten Zustand, weniger in die Frau, die dazu gehörte; damals habe ich alles das kennengelernt, woraus Sie, Ihre Freunde und Gerda Ihre großen Geheimnisse machen. Das ist die Geschichte, die ich Ihnen erzählen wollte.«
Die beiden waren davon verblüfft, daß die Geschichte so kurz ausfiel. Gerda fragte zögernd: »Sie waren einmal sehr verliebt...?« und ärgerte sich im gleichen Augenblick darüber, daß sie so vor Hans mit der gruseligen Neugier eines jungen Mädchens fragte.
Aber Hans unterbrach. »Was sollen wir von solchen Sachen überhaupt sprechen! Erzählen Sie uns lieber, was Ihre, in die Hände geistiger Bankerottierer gefallene Kusine treibt?«
»Sie sucht eine Idee, in der sich der Geist unserer Heimat vor aller Welt herrlich darstellen soll. Wollen Sie ihr nicht mit einem Vorschlag zu Hilfe kommen? Ich bin durchaus bereit, den Vermittler zu machen« erwiderte Ulrich.
Hans lachte höhnisch auf. »Warum tun Sie, als wüßten Sie nicht, daß wir dieses Unternehmen stören werden!«
»Ja warum sind Sie eigentlich so sehr dagegen aufgebracht?«
»Weil es eine große, gegen das deutsche Wesen in diesem Staat geplante Niedertracht darstellt!« sagte Hans. »Wissen Sie wirklich nicht, daß eine aussichtsreiche Gegenbewegung im Werden ist? Man hat den deutschen Nationalverband auf die Absichten Ihres Grafen Leinsdorf aufmerksam gemacht. Die Turnerschaft hat gegen die Verletzung des deutschen Geistes bereits Verwahrung eingelegt. Das Kartell waffentragender Verbindungen an den österreichischen Hochschulen wird dieser Tage gegen die angedrohte Verslawung Stellung nehmen, und der Bund deutscher Jugend, dem ich angehöre, wird nicht ruhen, selbst wenn wir auf die Straße gehen müßten!« Hans hatte sich aufgerichtet und erzählte das einigermaßen mit Stolz. Trotzdem fügte er hinzu: »Aber auf alles das kommt es ja freilich nicht an! Diese Leute überschätzen die äußeren Bedingungen. Das Entscheidende ist, daß hier überhaupt nichts gelingen kann!«
Ulrich fragte nach dem Grund. – Die großen Rassen hätten sich alle schon zu Beginn ihren Mythos geschaffen; ob es etwa einen österreichischen Mythos gebe? fragte Hans dem entgegen. Eine österreichische Urreligion? ein Epos? Weder die katholische noch die evangelische Religion sei hier entstanden; die Buchdruckerkunst und die Überlieferungen der Malerei seien aus Deutschland gekommen; das Herrscherhaus habe die Schweiz, Spanien, Luxemburg geliefert; die Technik England und Deutschland; die schönsten Städte, Wien, Prag, Salzburg seien von Italienern und Deutschen erbaut, das Militärwesen nach dem Muster Napoleons eingerichtet worden: Ein solcher Staat solle nichts Eigenes unternehmen wollen; für ihn gebe es überhaupt nur eine Rettung und das sei der Anschluß an Deutschland. – »So nun wissen Sie wohl alles, was Sie von uns hatten erfahren wollen!« schloß Hans.
Gerda war es nicht klar, ob sie auf ihn stolz sein oder sich schämen solle. Ihre Neigung für Ulrich war in der letzten Zeit wieder lebhaft erwacht, wenn auch der so menschliche Wunsch, selbst eine Rolle zu spielen, durch den jüngeren Freund viel besser befriedigt wurde. Das Merkwürdige war, daß dieses junge Mädchen von den zwei einander widersprechenden Neigungen verwirrt wurde, ein altes Fräulein zu werden und sich Ulrich hinzugeben. Diese zweite Neigung war die natürliche Folge der Liebe, die sie schon seit Jahren empfand, einer Liebe allerdings, die nicht zum Flammen kam, sondern mutlos in ihr glühte; und ihre Empfindungen waren denen der Liebe zu einem Unwürdigen ähnlich, wo die beleidigte Seele von einem verächtlichen Hang nach körperlicher Unterwerfung geplagt wird. In seltsamem Gegensatz dazu, aber vielleicht doch einfach und natürlich als eine Sehnsucht nach Frieden damit zusammenhängend, befand sich die Ahnung, daß sie niemals heiraten und am Ende aller Träume ein einsam ruhig tätiges Leben führen werde. Es war das kein aus Überzeugungen geborener Wunsch, denn Gerda sah, was sie anging, nicht klar; eher eine der Ahnungen, wie sie unser Leib mitunter weit früher hat als unser Verstand. Auch der Einfluß, den Hans auf sie ausübte, hing damit zusammen. Hans war ein unscheinbarer Junge, knochig, ohne groß oder kräftig zu sein, wischte sich seine Hände im Haar oder an den Kleidern ab und sah bei jeder Gelegenheit in einen kleinen, runden, blechgefaßten Taschenspiegel, weil ihn auf seiner ungepflegten Gesichtshaut immer irgendeine Pustel beunruhigte. Aber genau so stellte sich Gerda die ersten römischen Christen vor, die sich, den Verfolgungen trotzend, unter der Erde in den Katakomben zusammenfanden; den Taschenspiegel wahrscheinlich ausgenommen. Genau so, hieß ja auch nicht Übereinstimmung in allen Einzelheiten, wohl aber in einem allgemeinen Grund- und Schreckensgefühl, das sie mit den Vorstellungen von Christentum verband; die gebadeten und gesalbten Heiden hatten ihr immer besser gefallen, aber sich zu den Christen zu bekennen, bedeutete ein Opfer, das man seinem Charakter schuldig war. Die höheren Erfordernisse hatten damit für Gerda einen muffigen leichten Abscheugeruch gewonnen, und dieser war sehr geeignet, sich mit der mystischen Gesinnung zu verbinden, deren Gefilde Hans vor ihr eröffnete.
Ulrich kannte diese Gesinnung sehr gut. Man muß es vielleicht dem Spiritismus danken, daß er durch seine komischen, an den Geist verstorbener Köchinnen erinnernden Rapporte aus dem Jenseits das grobe metaphysische Bedürfnis befriedigt, das wenn nicht Gott, so wenigstens die Geister wie eine Speise löffeln will, die im Dunkel eiskalt den Hals hinunterrinnt. In älteren Zeiten bildete dieses Bedürfnis, mit Gott oder seinen Gefährten persönlich in Berührung zu kommen, was angeblich im Zustand der Ekstase geschah, trotz seiner zarten und teilweise wunderbaren Ausgestaltung doch eine Vermengung grob irdischen Verhaltens mit den Erlebnissen eines äußerst ungewöhnlichen und unbestimmbaren Ahnungszustandes. Das Metaphysische war das in diesen Zustand hineingelegte Physische, ein Abbild irdischer Wünsche, denn man glaubte in ihm das zu sehen, wovon die zeitgemäßen Vorstellungen lebhaft erwarten machten, daß man es sehen könne. Nun sind es aber gerade die Vorstellungen der Intelligenz, was sich mit den Zeiten ändert und unglaubwürdig wird; wenn jemand heute erzählen wollte, Gott habe mit ihm gesprochen, habe ihn schmerzhaft an den Haaren gepackt und zu sich emporgezogen oder sei in einer nicht recht begreiflichen, aber lebhaft süßen Weise in seine Brust hineingeschlüpft, so würde diesen bestimmten Vorstellungen, in die er sein Erlebnis kleidet, niemand glauben, am wenigsten natürlich die amtlichen Gottesmänner, weil sie als Kinder eines vernünftigen Zeitalters eine recht menschliche Angst davor haben, von exaltierten und hysterischen Anhängern bloßgestellt zu werden. Das hat zur Folge, daß man entweder Erlebnisse, die im Mittelalter wie im antiken Heidentum zahlreich und deutlich vorhanden gewesen sind, für Einbildungen und Krankheitserscheinungen halten muß oder vor die Vermutung gestellt wird, daß in ihnen etwas enthalten sei, was unabhängig von der mythischen Verbindung ist, in die man es bisher immer gebracht hat; ein reiner Erlebniskern, der auch nach strengen Erfahrungsgrundsätzen glaubwürdig sein müßte und dann selbstverständlich eine überaus wichtige Angelegenheit bedeuten würde, bei weitem ehe man an die zweite Frage kommt, welche Schlüsse daraus auf unsere Beziehungen zur Überwelt zu ziehen seien. Und während der in die Ordnung der theologischen Vernunft gebrachte Glaube überall einen argen Kampf mit Zweifel und Widerspruch der heute herrschenden Vernunft zu bestehen hat, scheint es, daß sich in der Tat das nackte, aller überkommenen begrifflichen Glaubenshüllen entschälte, von den alten religiösen Vorstellungen losgelöste, vielleicht kaum noch ausschließlich religiös zu nennende Grunderlebnis des mystischen Erfaßtwerdens ungeheuer ausgebreitet hat, und es bildet die Seele jener vielförmigen irrationalen Bewegung, die wie ein Nachtvogel, der sich in den Tag verloren hat, durch unsre Zeit geistert.
Ein skurriles Teilchen dieser mannigfachen Bewegung war auch der Kreis und Wirbel, in dem Hans Sepp seine Rolle spielte. Wenn man die Ideen zusammenzählte – was man aber nach den dort geltenden Grundanschauungen nicht dürfte, denn diese waren Zahl und Maß abgeneigt – die einander in dieser Gesellschaft ablösten, so würde man die schüchterne erste und durchaus platonische Forderung der Probe- und Kameradschaftsehe, ja der Polygamie und Polyandrie angetroffen haben; dann weiter in Kunstfragen die ungegenständliche, auf das Allgemeingültige und Ewige gerichtete Gesinnung, die sich damals unter dem Namen Expressionismus von der groben Erscheinung und Hülle, der »platten Außenschau« verächtlich abwendete, deren getreue Abschilderung unbegreiflicherweise ein Menschenalter zuvor für revolutionär gegolten hatte; verträglich vereint mit dieser abstrakten Absicht, ohne viel äußere Umstände unmittelbar eine »Wesenschau« des Geistes und der Welt hinzubildern, fand sich aber auch die konkreteste und beschränkteste vor, nämlich die der Heimatkunst, wozu diese jungen Leute sich durch ihre deutschen Seelen und deren dienende Ehrfurcht verpflichtet glaubten; und so würde man in bunter Reihe noch die herrlichsten auf den Wegen der Zeit aufgeklaubten Halme und Gräser gefunden haben, aus denen sich dem Geist ein Nest bauen läßt, worunter aber namentlich üppige Vorstellungen von Recht, Pflicht und schöpferischer Kraft der Jugend eine so große Rolle spielten, daß sie eingehender zu erwähnen sind. Die Gegenwart kenne, hieß es, kein Recht der Jugend, denn bis zu seiner Volljährigkeit sei der Mensch so gut wie rechtlos. Vater, Mutter, Vormund können ihn kleiden, herbergen, nähren, wie sie wollten, züchtigen und nach Hans Seppens Ansicht zugrunderichten, soweit sie nur eine ferne Paragraphengrenze nicht überschritten, die dem Kinde höchstens eine Art Tierschutz gewährt. Es gehöre den Eltern wie der Sklave dem Herrn und sei durch seine wirtschaftliche Abhängigkeit Eigentum, Objekt des Kapitalismus. Dieser »Kapitalismus am Kinde«, dessen Darstellung Hans ursprünglich irgendwo erwähnt gefunden, dann aber selbst ausgebildet hatte, war das erste, was er seiner erstaunten und bisher zu Hause recht wohlgeborgen gewesenen Schülerin Gerda beibrachte. Das Christentum habe nur das Joch des Weibes gemildert, nicht das der Tochter; die Tochter vegetiere, denn sie werde dem Leben mit Gewalt entfremdet: nach dieser Vorbereitung lehrte er sie das Recht des Kindes, seine Erziehung nach den Gesetzen seines eigenen Wesens aufzubauen. Das Kind sei schöpferisch, weil es Wachstum sei und sich selbst schaffe. Es sei königlich, weil es der Welt seine Vorstellungen, Gefühle und Phantasien vorschreibe. Es wolle von der zufälligen fertigen Welt nichts wissen, sondern baue seine eigene Welt der Ideale. Es habe seine eigene Sexualität. Die Erwachsenen begehen eine barbarische Sünde, indem sie das Schöpfertum des Kindes durch den Raub seiner Welt zerstören, unter herangebrachtem, totem Wissensstoff ersticken und auf bestimmte, ihm fremde Ziele abrichten. Das Kind sei unzweckhaft, sein Schaffen Spiel und zärtliches Wachsen; es nehme, wenn man es nicht durch Gewalt stört, nichts an, als was es wahrhaft in sich hineinnimmt; jeder Gegenstand, den es berührt, lebe, das Kind sei Welt, Kosmos, es sehe das Letzte, Absolute, wenn es das auch nicht ausdrücken kann: aber man töte das Kind, indem man es Zwecke begreifen lehre und es an das gemeine Jedesmalige feßle, das man lügnerischerweise das Wirkliche nennt! – So Hans Sepp. Er war, als er diese Lehre in das Haus Fischel einzupflanzen begann, schon einundzwanzig Jahre alt gewesen, und Gerda nicht jünger. Außerdem besaß Hans längst keinen Vater mehr und war mit seiner Mutter, die ein kleines Geschäft betrieb, von dem sie ihn und seine Geschwister ernährte, jederzeit herzbefreiend grob, so daß ein unmittelbarer Anlaß zu einer solchen Philosophie der Unterdrückten für die armen Kinder eigentlich nicht bestand.
Gerda schwankte denn auch bei deren Aufnahme zwischen einem sanften pädagogischen Hang, zukünftige Menschen zu erziehen, und der unmittelbar kämpferischen Ausnützung im Verhalten zu Leo und Klementine. Hans Sepp dagegen behandelte es viel grundsätzlicher und gab die Losung aus: »Wir alle sollten Kinder sein!« Daß er so hartnäckig an der Kampfstellung des Kindes festhielt, mochte seine Ursache in frühen Selbständigkeitsbedürfnissen haben; in der Hauptsache kam es aber davon, daß die Sprache der Jugendbewegung, die damals in Schwang gekommen, die erste Sprache war, die seiner Seele zum Wort verhalf und, wie es eine rechte Sprache tun muß, von einem Wort zum andern führte und in jedem mehr sagte, als man eigentlich wußte. So entfaltete auch der Satz, wir alle sollten Kinder sein, die wichtigsten Erkenntnisse. Denn das Kind soll nicht sein Wesen verkehren und ablegen, um Vater und Mutter zu werden; es geschieht das nur, um »Bürger« zu sein, Sklave der Welt, gebunden und »gezweckt«. So ist es recht das Bürgerliche, was alt macht, und das Kind wehrt sich dagegen, zum Bürger gemacht zu werden: wodurch die Schwierigkeit, daß man sich nicht mit einundzwanzig Jahren wie ein Kind gehaben dürfe, weggeblasen ist, denn dieser Kampf dauert von der Geburt bis zum Greisenalter und findet seine Beendigung erst in der Zerstörung der bürgerlichen Welt durch die Welt der Liebe. Das war sozusagen die höhere Stufe von Hans Seppens Lehre, und alles das hatte Ulrich im Lauf der Zeit von Gerda erfahren.
Er war es, der einen Zusammenhang zwischen dem, was diese jungen Leute ihre Liebe, mit einem anderen Wort auch die Gemeinschaft nannten, und den Folgen eines sonderbaren, wildreligiösen, unmythologisch mythischen oder vielleicht doch nur einfach verliebten Zustands entdeckt hatte, der ihm naheging, ohne daß sie es wußten, weil er sich darauf beschränkte, seine Spuren in ihnen lächerlich zu machen. In dieser Weise ging er auch jetzt auf Hans ein und fragte ihn unmittelbar, warum er nicht den Versuch machen wolle, die Parallelaktion zur Förderung der »Gemeinschaft der vollendet Ichlosen« zu benützen?
»Weil das nicht angeht!« erwiderte Hans.
Es ergab sich daraus ein Gespräch zwischen den beiden, das auf einen Fernstehenden einen sonderbaren Eindruck gemacht haben müßte, nicht unähnlich der Unterhaltung in einem Verbrecherjargon, obwohl dieser kein anderer war als eben die Mischsprache weltlich-geistlicher Verliebtheit. Es ist darum vorzuziehen, diese Unterredung mehr dem Sinn nach wiederzugeben als in ihrem Wortlaut: die Gemeinschaft der vollendet Ichlosen, das war ein von Hans entdecktes Wort, es ist aber trotzdem zu verstehen, denn je selbstloser sich ein Mensch fühlt, desto heller und stärker werden die Dinge der Welt, je leichter er sich macht, desto mehr fühlt er sich gehoben, und Erfahrungen von solcher Art kennt wohl jeder; man darf sie bloß nicht mit Fröhlichkeit, Heiterkeit, Sorglosigkeit oder dergleichen verwechseln, denn das sind nur ihre Ersätze für den niederen Gebrauch, wenn nicht gar für den verdorbenen. Vielleicht sollte man den echten Zustand überhaupt nicht Gehobenheit nennen, sondern Entpanzerung; Entpanzerung des Ich, so erklärte es Hans. Man müsse zwischen zwei Umwallungen des Menschen trennen. Die eine wird schon dann jedesmal überstiegen, wenn er etwas Gutes und Uneigennütziges tut, aber das ist nur die kleine Mauer. Die große besteht in der Selbsthaftigkeit noch des selbstlosesten Menschen; das ist schlechtweg die Erbsünde; jeder Sinneseindruck, jedes Gefühl, selbst das der Hingabe, ist in unserer Ausführung mehr ein Nehmen als ein Geben, und diesem Panzer von Durchtränkung mit Eigensucht kann man kaum in irgendeiner Weise entrinnen. Hans zählte auf: So ist Wissen nichts als An-Eignung einer fremden Sache; man tötet, zerreißt und verdaut sie wie ein Tier. Begriff, das reglos gewordene Getötete. Überzeugung, die nicht mehr veränderliche erkaltete Beziehung. Forschung gleich fest Stellen. Charakter gleich Trägheit, sich zu wandeln. Kenntnis eines Menschen soviel wie nicht mehr von ihm bewegt werden. Einsicht eine Sicht. Wahrheit der erfolgreiche Versuch, sachlich und unmenschlich zu denken. In allen diesen Beziehungen ist Tötung, Frost, ein Verlangen nach Eigentum und Erstarren und ein Gemisch von Eigensucht mit einer sachlichen, feigen, heimtückischen, unechten Selbstlosigkeit! »Und wann wäre« fragte Hans, obgleich er nur die unschuldige Gerda kannte, »die Liebe selbst etwas anderes als der Wunsch nach Besitz oder Hingabe auf Gegenrechnung?!«
Ulrich stimmte diesen nicht ganz einheitlichen Behauptungen vorsichtig und abändernd bei. Es sei richtig, daß auch das Erleiden und Sichentäußern einen Sparpfennig für uns selbst übriglasse; ein blasser, sozusagen grammatikalischer Schatten von Egoismus bleibe auf allem Tun haften, solange es keine Prädikate ohne Subjekt gebe.
Aber Hans lehnte heftig ab. Er und seine Freunde stritten, wie man leben solle. Manchmal nahmen sie an, daß jeder zunächst für sich und dann erst für alle leben müsse; ein andermal waren sie überzeugt, daß jeder ganz wahrhaft nur einen Freund haben könne, aber dieser doch wieder einen anderen Freund brauche, wonach sich ihnen die Gemeinschaft als eine Seelenverbindung im Kreis, nach Art des Farbenspektrums oder anderer gliedweisen Verkettungen darstellte; am liebsten aber glaubten sie daran, daß es ein seelisches, von der Ichsucht bloß überschattetes Gesetz des Gemeinschaftsinns gebe, eine innere, ungeheure, noch nicht ausgenützte Lebensquelle, der sie abenteuerliche Möglichkeiten zuschrieben. Nicht ungewisser kann sich der Baum, im Walde kämpfend und vom Wald gehegt, vorkommen, als empfängliche Menschen heute die dunkle Wärme der Masse, ihre Bewegungskraft, die molekular unsichtbaren Vorgänge ihres unbewußten Zusammenhaltens empfinden, die sie bei jedem Atemzug daran erinnern, daß der Größte wie der Kleinste nicht allein sei; so erging es auch Ulrich; er sah wohl klar, daß der gezähmte Egoismus, aus dem sich das Leben aufbaut, ein geordnetes Gefüge ergibt, wogegen der Atem der Gemeinsamkeit nur ein Inbegriff unklarer Zusammenhänge bleibt, und er war für seine Person sogar ein zur Absonderung neigender Mensch, aber es ging ihm eigentümlich nahe, wenn die jungen Freunde Gerdas ihre ausschweifende Behauptung von der großen Mauer aufstellten, die überstiegen werden müsse.
Hans spulte, bald leiernd, bald stoßend, die Augen, ohne zu sehen, vorausgerichtet, seine Glaubenssätze ab. Eine unnatürliche Trennung laufe durch die Schöpfung und teile sie wie einen Apfel, dessen beide Hälften daran austrocknen. Man müsse sich darum auf künstliche und widernatürliche Weise heute aneignen, womit man vordem eins war. Man könne aber diese Trennung aufheben, durch irgendein Sichöffnen, ein geändertes Verhalten, denn je mehr jemand sich vergessen, auslöschen, von sich abrücken könne, desto mehr Kraft für die Gemeinschaft werde in ihm frei, so als würde sie aus einer falschen Verbindung befreit; und zugleich müsse er, je mehr er sich der Gemeinschaft nähere, desto eigener werden; denn folgte man Hans, so erfuhr man auch, daß der Grad der wahren Originalität nicht im eitlen Besonderssein beschlossen liege, sondern durch das Sichöffnen entstehe, in steigende Grade des Teilnehmens und der Hingabe hinein, vielleicht bis zu dem höchsten Grad einer Gemeinschaft der ganz von der Welt aufgenommenen, vollendet Ichlosen, den man auf diese Weise zu erreichen vermöchte!
Diese scheinbar durch nichts auszufüllenden Sätze ließen Ulrich träumen, wie man ihnen einen wirklichen Inhalt geben könnte, aber er fragte Hans bloß kühl, wie er es mit diesem Sichöffnen und dergleichen wohl in der Ausführung anstellen möchte?
Hans hatte dafür unermeßliche Worte; das transzendente an Stelle des Sinnenichs, das gotische Ich an Stelle des naturalistischen, das Reich der Wesenheit an Stelle der Erscheinung, das unbedingte Erlebnis und ähnliche gewaltige Substantiva, die er seinem Inbegriff unbeschreiblicher Erfahrungen unterschob, wie das, nebenbei bemerkt, zum Schaden der Sache und Erhöhen ihrer Würde eine verbreitete Gepflogenheit ist. Und weil sich der Zustand, der ihm zuweilen, vielleicht auch oft vorschwebte, niemals länger als über Augenblicke kurzen sich Versinnens halten ließ, tat er auch noch das übrige, zu behaupten, das Jenseitige offenbare sich eben heute nicht deutlicher als sprunghaft, in überkörperlicher, begreiflicherweise schwer festzuhaltender Schauung, deren Niederschlag höchstens große Kunstwerke seien; er kam auf sein Lieblingswort Symbol für diese und andere übernatürlich aufgerichtete Zeichen des Lebens zu sprechen und schließlich auf das germanische, den Trägern versprengten Germanenbluts zugeeignete Erlebnis, solches zu schaffen und schauen; auf diese Weise einer sublimen Variante nach dem Muster »Gute alte Zeit« gelang es ihm, bequem zu erklären, daß das dauernde Ergreifen des Wesenhaften der Vergangenheit angehöre und der Gegenwart entzogen sei, und die Auseinandersetzung war ja gerade von dieser Behauptung ausgegangen.
Ulrich war ärgerlich über dieses abergläubische Geschwätz. Es war lange Zeit für ihn eine unentschiedene Frage gewesen, wodurch Hans eigentlich Gerda anziehe. Sie saß blaß dabei, ohne an dem Gespräch tätigen Anteil zu nehmen. Hans Sepp hatte eine große Theorie der Liebe, und wahrscheinlich fand sie darin den tieferen Sinn ihrer selbst. Ulrich lenkte nun das Gespräch weiter, indem er behauptete – mit allerhand Verwahrungen dagegen, daß man sich überhaupt auf derlei Gespräche einlassen solle! – die höchste Steigerung, die ein Mensch fühle, entstünde weder in dem gewöhnlichen egoistischen Verhalten, wo man sich alles aneigne, was einem begegne, noch, wie die Freunde behaupteten, in dem, was man Steigerung des Ich durch Eröffnung und Abgabe nennen könne, sondern sei eigentlich ein ruhender Zustand, in dem sich nie etwas ändere, wie ein stehendes Wasser.
Gerda belebte sich und fragte, wie er das meine.
Ulrich antwortete ihr darauf, daß Hans die ganze Zeit über, wenn auch zum Teil in sehr gewaltsamen Einkleidungen, von nichts als Liebe gesprochen habe; von der Heiligenliebe, der Einsiedlerliebe, der aus den Ufern der Wünsche getretenen Liebe, die immer als eine Auflösung, Auflockerung, ja als eine Verkehrung aller weltlichen Beziehungen beschrieben worden sei und jedenfalls nicht bloß ein Gefühl, sondern eine Veränderung des Denkens und der Sinne bedeute.
Gerda sah ihn an, als wolle sie prüfen, ob er, mit seinem das ihre übersteigenden Wissen, auch das irgendwie in Erfahrung gebracht habe, oder ob von diesem heimlich geliebten Menschen, wie er hier, ohne sich viel merken zu lassen, neben ihr saß, jene seltsame Ausschickung ausgehe, die zwei Wesen bei getrennten Körpern vereint.
Ulrich fühlte die Probe. Ihm war zumute, wie wenn er in einer fremden Sprache reden würde, in der er geläufig weitersprechen konnte, aber äußerlich, ohne daß die Worte in ihm Wurzeln hatten. »Man versteht in diesem Zustand,« sagte er »wo man aus den Grenzen tritt, die dem Verhalten sonst gezogen sind, alles, weil die Seele nur das annimmt, was zu ihr gehört; in gewissem Sinn weiß sie alles schon vorher, was sie erfahren wird. Liebende können sich keine Neuigkeiten sagen; es gibt auch kein Erkennen für sie. Denn der Liebende erkennt von dem Menschen, den er liebt, nichts, als daß er in einer unbeschreiblichen Weise durch ihn in innere Tätigkeit versetzt wird. Und einen Menschen erkennen, den er nicht liebt, heißt für ihn, jenen in die Liebe einbeziehen wie eine tote Mauer, auf der das Licht der Sonne liegt. Und ein lebloses Ding erkennen, heißt nicht, seine Eigenschaften eine nach der anderen auszuspähen, sondern es heißt, daß ein Schleier fällt oder eine Grenze aufgehoben wird, die der wahrnehmbaren Welt nicht angehören. Auch das Leblose tritt, unbekannt wie es ist, aber voll Vertrauen, in die Kameradschaft der Liebenden ein. Die Natur und der eigentümliche Geist der Liebenden blicken einander in die Augen; es sind das zwei Richtungen der gleichen Handlung, es ist ein Fließen in zwei Richtungen und ein Brennen von zwei Enden. Und einen Menschen oder ein Ding ohne Beziehung zu sich zu erkennen, das ist dann überhaupt nicht möglich; denn Kenntnis nehmen, das nimmt etwas von den Dingen, sie behalten ihre Gestalt, aber scheinen darin zu Asche zu zerfallen, es verdunstet etwas von ihnen, und es bleiben nur ihre Mumien. Darum gibt es auch keine Wahrheit für Liebende; sie wäre eine Sackgasse, ein Ende, der Tod des Gedankens, der, solange er lebt, dem atmenden Rand einer Flamme gleicht, daran Licht und Dunkel Brust an Brust liegen. Wie kann etwas einzelnes einleuchten, wo alles leuchtet?! Wozu das Almosen der Sicherheit und Eindeutigkeit, wo alles eine Überfülle ist? Und wie kann man noch etwas für sich allein begehren, sei es auch gerade das Geliebte selbst, wenn man erlebt hat, wie Liebende nicht mehr sich selbst gehören, sondern allem, was ihnen, den vieräugig Verflochtenen, entgegenkommt, sich schenken müssen?«
Man vermag, wenn man diese Sprache beherrscht, in ihrer Anwendung mühelos fortzufahren. Man geht wie mit einem Licht in der Hand, dessen zarter Strahl auf eine Beziehung des Lebens nach der anderen fällt, und alle sehen sie aus, als wären sie in ihrer gewöhnlichen Erscheinung, die sie im festen Alletaglicht haben, nur rohe Mißverständnisse gewesen. Wie unmöglich erscheint zum Beispiel sogleich die Gebärde des Wortes »besitzen«, wenn man sie auf Liebende anwendet! Aber verrät es schöner anmutende Wünsche, daß man Grundsätze besitzen möchte? die Achtung seiner Kinder? Gedanken? sich selbst? Diese plumpe Angriffsgebärde eines schweren Tiers, das seine Beute mit dem ganzen Körper niederdrückt, ist jedoch berechtigterweise der Grund- und Leibausdruck des Kapitalismus, und so zeigt sich darin der Zusammenhang zwischen den Besitzenden des bürgerlichen Lebens und den Besitzern von Erkenntnissen und Fertigkeiten, zu denen es seine Denker und Künstler gemacht hat, während abseits Liebe und Askese als ein einsames Geschwisterpaar stehen. Und sind diese Geschwister, wenn sie beisammen stehn, nicht ziellos und zwecklos, im Gegensatz zu den Zielen und Zwecken des Lebens? Es stammen aber die Namen Ziel und Zweck aus der Sprache der Schützen: Bedeutet also ziellos und zwecklos in seinem ursprünglichen Zusammenhang nicht soviel wie kein Tötender sein? So kommt man bloß dadurch, daß man die Spur der Sprache verfolgt – eine verwischte, aber verräterische Spur! – schon darauf, wie sich allerorten der roh veränderte Sinn an die Stelle von bedachtsameren Beziehungen gedrängt hat, die ganz verlorengegangen sind. Es ist das wie ein überall zu fühlender, nirgends zu fassender Zusammenhang; Ulrich verzichtete darauf, ihm noch weiter redend zu folgen, aber es war Hans nicht zu verdenken, daß er glaubte, wenn man irgendwo anziehe, müsse sich das ganze Gewebe umstülpen, bloß sei die Ahnung der richtigen Stelle verlorengegangen. Er hatte Ulrich wiederholt unterbrochen und ergänzt. »Wenn Sie diese Erlebnisse als Forscher betrachten wollen, werden Sie nichts anderes darin sehen als ein Bankbeamter! Alle empirischen Erklärungen sind nur scheinbare und führen aus dem Kreis der niederen, sinnlich faßbaren Erkenntnisse nicht hinaus! Ihr Wissenwollen möchte die Welt auf nichts anderes als ein mechanisches Daumendrehen sogenannter Naturkräfte zurückführen!« Von solcher Art waren seine Einwände; Einwürfe. Er war bald grob, bald flammend. Er fühlte, daß er seine Sache schlecht vorgetragen habe, und machte es der Anwesenheit dieses fremden Mannes zum Vorwurf, der ein Alleinsein mit Gerda verhinderte, denn Aug in Auge mit ihr wären die gleichen Worte ganz anders, schimmernden Wassern, kreisenden Falken gleich in die Höhe gestiegen, das wußte er; er fühlte, daß er eigentlich einen großen Tag hatte. Zugleich war er sehr erstaunt und böse darüber, Ulrich so leicht und eingehend an seiner Stelle sprechen zu hören. Ulrich sprach in Wahrheit keineswegs wie ein exakter Forscher, sondern redete weit mehr, als er verantworten wollte, und hatte trotzdem nicht den Eindruck, etwas zu sagen, was er nicht glaube. Ihn beflügelte eine unterdrückte Wut darüber. Es gehört eine sonderbar gehobene, leicht brennende Stimmung dazu, so zu sprechen, und die Ulrichs befand sich zwischen ihr und dem Anblick Hans', mit seinem fett gesträubten Haar, der schlecht gepflegten Haut, den häßlich eindringlichen Bewegungen, dem Wortschwall, in dessen Geifer doch ein Schleier von etwas Innerstem hing, das wie vom Herzen gezogene Haut war; aber streng genommen, hatte sich Ulrich sein ganzes Leben lang zwischen zwei solchen Eindrücken von dieser Sache befunden, er war seit je imstande gewesen, so geläufig darüber zu sprechen, wie er es heute tat, und halb daran zu glauben, doch war er über diese spielerische Fertigkeit nie hinausgegangen, weil er nicht an ihren Inhalt glaubte, auf welche Weise auch jetzt Lust und Unlust des Gesprächs miteinander Schritt hielten.
Aber Gerda achtete nicht auf die spöttischen Einwände, die er deshalb zuweilen wie ein Parodist einflocht, sondern stand nur unter dem Eindruck, daß er jetzt sich selbst geöffnet habe. Sie sah ihn beinahe ängstlich an. »Er ist viel weicher, als er es zugibt« dachte sie, wenn er sprach, und ein Gefühl wie von einem kleinen Kind, das an der Brust tastet, machte sie wehrlos. Ulrich fing ihren Blick auf. Er wußte fast alles, was zwischen ihr und Hans vor sich ging, weil sie davon geängstigt wurde und das Bedürfnis hatte, sich wenigstens in andeutenden Erzählungen davon zu befreien, die Ulrich leicht zu ergänzen vermochte. Sie sahen in der Besitzergreifung, die jungen Liebenden sonst als Ziel gilt, den Anfang des seelischen Kapitalismus, den sie verabscheuten, und glaubten die Leidenschaft der Körper zu verachten, verachteten aber auch die Besinnung, die ihnen als bürgerliches Ideal für verdächtig galt. So entstand ein un- und halbkörperliches Ineinanderverschlungensein; sie suchten einander zu bejahen, wie sie das nannten, und fühlten die zitternd zarte Vereinigung der Wesen, die daraus entsteht, daß man einander betrachtet, sich in das unsichtbare Wellenspiel hinter Brust und Stirn des anderen gleiten läßt und in dem Augenblick, wo man sich zu verstehen glaubt, fühlt, daß man gegenseitig sich in sich trägt und eins ist. In Stunden, die nicht ganz so hochgemut waren, begnügten sie sich jedoch auch mit gewöhnlicher Bewunderung für einander; sie erinnerten sich dann gegenseitig bloß an berühmte Bilder oder Szenen und staunten, wenn sie sich küßten, daß – um ein stolzes Wort zu wiederholen – Jahrtausende auf sie herabsahen. Denn sie küßten einander; sie erklärten in der Liebe das grobe Gefühl des sich im Körper krümmenden Ichs zwar für ebenso niedrig wie ein Magenkrümmen, aber ihre Glieder kümmerten sich nicht ganz um die Anschauungen der Seelen und preßten sich auf eigene Verantwortung aneinander. Sie waren nachher jedesmal beide ganz verstört. Ihre zarte Philosophie hielt vor dem Bewußtsein, daß niemand in der Nähe sei, dem Dämmern der Zimmer, der rasend wachsenden Anziehungskraft zusammengeschmiegter Körper nicht stand, und namentlich Gerda, als Mädchen die ältere von beiden, empfand dann das Verlangen nach vollendeter Umarmung so arglos stark, wie ein Baum empfinden könnte, den irgendetwas hindert, im Frühling zu blühen. Diese halben Umarmungen, so salzlos wie Kinderküsse und ohne Grenzen wie die Liebkosungen von Greisen, ließen sie jedesmal zerschmettert zurück. Hans fügte sich besser darein, denn er sah es, so wie es vorbei war, als eine Prüfung auf die Gesinnung an. »Uns ist es nicht gegeben, Besitzende zu sein,« lehrte er »wir sind Wanderer, die von Stufe zu Stufe schreiten«; und wenn er bemerkte, wie Gerda vor Unbefriedigung am ganzen Leibe zitterte, so stand er nicht an, ihr das als Schwäche, wenn nicht gar als einen Rest ungermanischer Abkunft anzurechnen, und kam sich wie der gottgefällige Adam vor, dessen Männerherz abermals von seiner gewesenen Rippe dem Glauben entfremdet werden soll. Gerda verachtete ihn dann. Und wahrscheinlich war das der Grund, warum sie Ulrich wenigstens früher so viel wie möglich davon erzählt hatte. Sie ahnte, ein Mann würde mehr und weniger tun als Hans, der sein tränenüberströmtes Gesicht, nachdem er sie beleidigt hatte, wie ein Kind zwischen ihren Beinen verbarg; und ebenso stolz auf ihre Erlebnisse wie ihrer überdrüssig, bot sie Ulrich davon Kenntnis an, in der ängstlichen Hoffnung, er werde mit seinen Worten diese qualvolle Schönheit zerstören.
Ulrich sprach jedoch selten so zu ihr, wie sie es erwartete, sondern kühlte sie gewöhnlich spöttisch ab, denn obgleich ihm Gerda deshalb ihr Vertrauen verweigerte, wußte er gut, daß sie sich ihm gegenüber in einem dauernden Verlangen nach Ergebenheit befand und weder Hans noch sonst wer solche Macht über ihr Gemüt hatte, wie er sie hätte haben können. Er entschuldigte sich damit, daß jeder andere wirkliche Mann an seiner Stelle, nach dem unklaren Schmutzfink Hans, auch als Erlösung auf sie wirken müßte. Aber während er alles das überlegte und mit einemmal versammelt gegenwärtig fühlte, hatte sich Hans besonnen und versuchte, noch einmal zum Angriff überzugehn. »Alles in allem« sagte er »haben Sie den größten Fehler begangen, den man überhaupt begehen kann, indem Sie versuchen, es in Begriffen auszudrücken, was einen Gedanken zuweilen um ein etwas über die Begriffe hebt; aber das ist wohl der Unterschied zwischen einem Herrn von der Gelehrsamkeit und uns. Erst muß man es leben lernen, und dann lernt man es vielleicht denken!« fügte er stolz hinzu, und als Ulrich lächelte, fuhr es wie der strafende Blitz aus ihm: »Jesus war mit zwölf Jahren sehend und hat nicht erst das Doktorat gemacht!«
Ulrich ließ sich dadurch, mit einem Verstoß gegen die Pflicht der Verschwiegenheit, dazu hinreißen, ihm einen Rat zu geben, der Kenntnisse verriet, in deren Besitz er nur durch Gerda gekommen sein konnte. Denn er entgegnete ihm: »Ich weiß nicht, warum Sie nicht, wenn Sie es leben wollen, damit bis zu Ende gehn. Ich würde Gerda in die Arme schließen, alle Bedenken meiner Vernunft entfernen und die Arme so lange geschlossen halten, bis unsere Körper entweder zu Asche zerfallen oder der Verwandlung des Sinns folgen und sich in sich selbst umkehren, wie wir uns das eben nicht vorstellen können!«
Hans, dem die Eifersucht einen Stich gab, sah nicht ihn, sondern Gerda an. Gerda wurde blaß und verlegen. Die Worte »Ich würde Gerda in meine Arme schließen und festhalten« hatten auf sie den Eindruck eines geheimen Versprechens gemacht. Es war ihr in diesem Augenblick ganz gleichgültig, wie man sich das »andere Leben« am folgerichtigsten vorstelle, und sie war sicher: wenn Ulrich richtig wollte, er würde alles so ausführen, wie es sein müßte. Hans, zornig über den Verrat Gerdas, den er fühlte, bestritt, daß das gelingen müsse, wovon Ulrich rede; die Zeit sei nicht geeignet, und die ersten Seelen müßten genau so wie die ersten Flugzeuge von einem Berg abfliegen und nicht von einer Talzeit. Vielleicht müsse erst ein Mensch kommen, der die anderen aus ihrer Verfangenheit erlöse, ehe das Höchste gelingen könne! Es erschien ihm nicht ausgemacht, daß keinesfalls er dieser Erlöser sein könnte, aber das war seine Sache, und davon abgesehen bestritt er, daß der gegenwärtige Tiefstand imstande sei, einen hervorzubringen.
Nun sagte Ulrich etwas davon, wieviele Erlöser es heute schon gebe. Jeder bessere Vereinsobmann gelte für einen solchen! Er war überzeugt, wenn selbst Christus wiederkäme, er träfe es schlechter an als ehedem; die sittlich gesinnten Zeitungen und Buchgemeinschaften würden seinen Ton zu wenig gemütvoll finden, und die große Weltpresse würde sich ihm kaum öffnen! – Alles war somit wieder wie am Beginn, das Gespräch war in die Lage seines Anfangs zurückgekehrt, und Gerda sank in sich zusammen.
Aber eines war anders, Ulrich hatte sich, ohne es zu zeigen, ein wenig verfangen. Seine Gedanken waren nicht bei seinen Worten. Er sah Gerda an. Ihr Körper war scharf, ihre Haut ermüdet und trüb. Die altjüngferliche Überhauchtheit ihres Wesens wurde ihm mit einemmal deutlich, obgleich sie wahrscheinlich immer die Hauptrolle in der Hemmung gespielt hatte, die ihn mit diesem jungen Mädchen, das ihn liebte, nicht eins werden ließ. Darauf wirkte ja offenbar auch Hans mit dem Halbkörperlichen seiner Gemeinschaftsahnungen ein, die gleichfalls etwas der altjüngferlichen Gefühlslage nicht ganz Fernliegendes an sich haben mochten. Gerda mißfiel Ulrich, und doch hatte er das Verlangen, das Gespräch mit ihr fortzusetzen. Das erinnerte ihn daran, daß er sie eingeladen habe, ihn zu besuchen. Sie hatte durch nichts erkennen lassen, ob sie diesen Vorschlag vergessen habe oder noch daran denke, und er fand keine Gelegenheit mehr, sie heimlich danach zu fragen. Es ließ ein unruhiges Bedauern in ihm zurück und eine Erleichterung, wie wenn man eine Gefahr an sich vorbeigehen fühlt, die man zu spät erkannt hat.
Seine Erlaucht hatte dringend gewünscht, daß sich Diotima über den berühmten Makart-Festzug unterrichte, der in den Siebzigerjahren ganz Österreich in Begeisterung vereint hatte; er erinnerte sich noch genau an die teppichbehängten Wagen, die schwer beschirrten Pferde, die Trompeter und den Stolz, den die Leute über ihre mittelalterliche Tracht empfanden, die sie dem Alltagsleben entriß. So kam es, daß Diotima, Arnheim und Ulrich aus der Hofbibliothek traten, die sie nach zeitgenössischen Darstellungen durchsucht hatten. Wie es Diotima lippenrümpfend Sr. Erlaucht vorausgesagt hatte, war das Ergebnis ein unmögliches; mit solchem Seelenplunder konnte man die Menschen nicht mehr ihrem Alltagsleben entreißen, und die schöne Frau verkündete ihren Begleitern das Bedürfnis, sich des hellen Sonnen scheins und des Jahres 1914 zu freun, das in weiter Entfernung von jener vermoderten Zeit schon seit etlichen Wochen begonnen hatte. Diotima hatte auf der Treppe erklärt, daß sie zu Fuß nach Hause zu gehen wünsche, sie waren aber kaum ans Licht getreten, so stießen sie auf den General, der zum Tor der Bibliothek hinein wollte und sich, weil er nicht wenig stolz war, bei solcher wissenschaftlichen Tätigkeit angetroffen zu werden, sofort bereit erklärte, umzukehren und das Gefolge Diotimas auf dem Heimweg um seine Person zu vermehren. Darum fand Diotima schon nach einigen Schritten heraus, daß sie müde sei, und wünschte einen Wagen. Es kam aber nicht gleich ein freies Fuhrwerk vorbei, und so standen sie alle auf dem Platz vor der Bibliothek, der ein trogförmiges Rechteck bildete, dessen drei Seiten von herrlichen alten Wänden begrenzt wurden, während auf der vierten, vor einem langgestreckten niederen Palais, die wie eine Eisbahn schimmernde Asphaltstraße mit Autos und Gespannen vorbeischoß, von denen keines den Winken und Zeichen folgte, die sie wie Schiffbrüchige abgaben, bis sie es müde wurden oder vergaßen und nur zeitweilig noch ermattend wiederholten.
Arnheim trug persönlich ein großes Buch unter dem Arm. Es war das eine Gebärde, die ihn freute; herablassend und achtungsvoll zugleich vor dem Geist. Er sprach angeregt mit dem General. »Ich freue mich, auch in Ihnen einen Bibliotheksbesucher anzutreffen; man soll von Zeit zu Zeit den Geist in seinem eigenen Hause aufsuchen,« erläuterte er »aber das ist heutzutage unter Männern von Stellung eine Seltenheit geworden!«
General Stumm erwiderte, daß er mit dieser Bibliothek sehr vertraut sei.
Arnheim fand es anerkennenswert. »Es gibt jetzt fast nur noch Schriftsteller und keine Menschen mehr, die Bücher lesen« fuhr er fort. »Haben Sie sich, Herr General, schon einmal gefragt, wieviel Bücher jährlich gedruckt werden? Ich glaube mich zu erinnern, daß es über hundert Bücher täglich allein in Deutschland sind. Und mehr als tausend Zeitschriften werden jährlich gegründet! Jeder schreibt; jeder bedient sich jedes Gedankens als seines eigenen, wenn es ihm paßt; niemand denkt an eine Verantwortung für das Ganze! Seit die Kirche ihren Einfluß verloren hat, gibt es keine Autorität mehr in unserem Chaos. Es gibt kein Bildungsvorbild und keine Bildungsidee. Es ist unter diesen Umständen nur natürlich, daß Gefühle und Moral ohne Anker gleiten und der festeste Mensch zu wanken beginnt!«
Dem General wurde trocken im Munde. Man konnte nicht sagen, daß Dr. Arnheim eigentlich zu ihm sprach; er war ein Mann, der auf einem Platz stand und laut dachte. Der General erinnerte sich, daß viele Menschen auf der Straße mit sich sprechen, während sie irgend wohin eilen; richtiger gesagt, viele Zivilisten, denn einen Soldaten würde man einsperren und einen Offizier auf die psychiatrische Station schicken. Es machte auf Stumm einen peinlichen Eindruck, sozusagen mitten in der Haupt- und Residenzstadt öffentlich zu philosophieren. Außer den beiden Männern stand nur noch ein stummer Mann auf dem Platz in der Sonne, und dieser war aus Erz und stand auf einem großen Stein; der General erinnerte sich nicht, wen er darstellte, und bemerkte ihn jetzt überhaupt zum erstenmal. Arnheim, der darauf aufmerksam wurde, erkundigte sich, wer das sei. Der General entschuldigte sich. »Und man hat ihn hierher gestellt, damit wir ihn verehren!« bemerkte der Gewaltige. »Aber so ist es wohl! Wir bewegen uns ja in jeder Minute zwischen Einrichtungen, Fragen und Forderungen, von denen wir nur das letzte Stück kennen, so daß die Gegenwart unaufhörlich in die Vergangenheit greift; wir brechen, wenn Sie mir erlauben, es so zu sagen, bis über die Knie in unterkellerte Zeit ein und empfinden das als höchste Gegenwart!«
Arnheim lächelte, er machte Konversation. Seine Lippen spielten in der Sonne unaufhörlich auf und ab, in den Augen wechselten die Lichter wie auf einem signalisierenden Dampfer. Stumm wurde unheimlich zumut; er fand es schwer, seine Aufmerksamkeit bei so zahlreichen und ungewöhnlichen Wendungen immer von neuem zu erkennen zu geben, während er vor allen Leuten auf der Präsentierplatte von Platz in Uniform stand. In den Ritzen zwischen den Pflastersteinen wuchs Gras; es war vom Vorjahr und sah unwahrscheinlich frisch aus, wie eine Leiche, die im Schnee gelegen hat; es war überhaupt außerordentlich merkwürdig und störend, daß da zwischen Steinen Gras wuchs, wenn man bedachte, daß wenige Schritte davon entfernt der Asphalt von Autos zeitgemäß blank geputzt wurde. Der General begann unter der ängstlichen Eingebung zu leiden, es könnte sich, wenn er noch lange zuhören müsse, ereignen, daß er sich auf die Knie werfe und vor allen Leuten Gras fresse. Es war ihm unklar, warum; aber er sah sich Schutz suchend nach Ulrich und Diotima um.
Diese hatten sich in einen dünnen Schattenschleier gerettet, der um eine Mauerecke spann, und man hörte nur ihre unverständlich leisen Stimmen in einem Streit, der zwischen ihnen entbrannt war.
»Das ist eine trostlose Auffassung!« sagte Diotima.
»Was?« fragte Ulrich, mehr mechanisch als neugierig.
»Es gibt im Leben doch auch Individualitäten!«
Ulrich bemühte sich, ihr von der Seite ins Auge zu sehn. »Du lieber Himmel,« meinte er »wir haben davon schon gesprochen!«
»Sie haben kein Herz! Sonst könnten Sie nicht immer so sprechen!« Sie sagte es sanft. Von den Steinplatten stieg die erwärmte Bodenluft längs ihrer Beine hoch, die von den langen Röcken, unnahbar und für die Welt nicht vorhanden, wie die Beine einer Statue umschlossen wurden. Kein Zeichen verriet, daß sie etwas bemerkte. Es war eine Zärtlichkeit, zu der kein Mensch und Mann gehörte. Ihre Augen wurden blaß. Es mochte das aber vielleicht bloß der Eindruck ihrer Zurückhaltung sein, in einer Lage, wo sie den Blicken der Vorübergehenden ausgesetzt war. Sie wandte sich Ulrich zu und sagte mit Mühe: »Wenn eine Frau zwischen Pflicht und Leidenschaft wählen muß, worauf sollte sie sich denn stützen, wenn nicht auf ihren Charakter?!«
»Sie müssen nicht wählen!« entgegnete Ulrich.
»Sie erlauben sich zu viel; ich habe nicht von mir gesprochen!« flüsterte seine Kusine.
Da er darauf nichts erwiderte, blickten sie eine Weile gemeinsam und feindlich über den Platz. Dann fragte Diotima: »Halten Sie es für möglich, daß das, was wir unsere Seele nennen, aus dem Schatten hervortreten könnte, in dem es sich gewöhnlich befindet?«
Ulrich sah sie verblüfft an.
»In besonderen und bevorzugten Menschen« ergänzte sie.
»Sie suchen am Ende Rapporte?« fragte er ungläubig. »Hat Sie Arnheim mit einem Medium zusammengebracht?«
Diotima war enttäuscht. »Ich hätte nicht erwartet, daß Sie mich so mißverstehen werden!« warf sie ihm vor. »Wenn ich aus dem Schatten hervortreten gesagt habe, so meinte ich, aus der Uneigentlichkeit, aus dieser schimmernden Verstecktheit, in der wir das Ungewöhnliche manchmal empfinden. Es ist wie ein Netz ausgebreitet, das uns quält, weil es weder hält, noch losläßt. Glauben Sie nicht, daß es Zeiten gegeben hat, wo das anders war? Das Innere trat stärker hervor; einzelne Menschen gingen einen erleuchteten Weg; mit einem Wort, sie gingen, wie man früher gesagt hat, den heiligen Weg, und Wunder wurden Wirklichkeit, weil sie nichts sind als eine immer vorhandene andere Art von Wirklichkeit!«
Diotima staunte über die Sicherheit, mit der sich das auch ohne besondere Stimmung, gleichsam wirklichkeitsfest aussprechen ließ. Ulrich wütete im geheimen, aber eigentlich war er tief erschrocken. So weit ist es also gekommen, daß dieses Riesenhuhn genau so redet wie ich? fragte er sich. Er sah Diotimas und seine Seele wieder in der Gestalt eines großen Huhns vor sich, das einen kleinen Wurm aufpickt. Uralter Kinderschreck vor der Großen Frau griff nach ihm, vermischt mit einer anderen merkwürdigen Empfindung; er fand es angenehm, von der dummen Übereinstimmung mit einem ihm verwandten Menschen gleichsam seelisch aufgezehrt zu werden. Die Übereinstimmung war natürlich nur Zufall und Unsinn; er glaubte weder an die Magie der Verwandtschaft noch an die Möglichkeit, daß er seine Kusine, und sei es im trübsten Rausch, ernst nehmen könnte. Aber in der letzten Zeit gingen Veränderungen mit ihm vor sich; er erweichte, seine innere Form, die immer die des Angriffs gewesen war, ließ nach und zeigte Neigung, umzuschlagen und in das Verlangen nach Zärtlichkeit, Traum, Verwandtschaft oder weiß Gott was überzugehn, was sich auch so ausdrückte, daß die Gegenstimmung, die damit im Kampf lag, eine Stimmung des bösen Willens, manchmal unvermittelt aus ihm hervorbrach.
Darum spottete er auch jetzt über seine Kusine. »Ich halte es für Ihre Pflicht, wenn Sie das glauben, entweder öffentlich oder im geheimen, aber so rasch wie möglich Arnheims ›voll und ganz‹-Geliebte zu werden!« sagte er ihr.
»Bitte, schweigen Sie! Davon zu sprechen, habe ich Ihnen kein Recht gegeben!« wies das Diotima zurück.
»Ich muß davon sprechen! Es ist mir bis vor kurzem unklar gewesen, welche Beziehungen zwischen Ihnen und Arnheim eigentlich bestehen. Aber ich sehe jetzt klar, und Sie kommen mir vor wie ein Mensch, der ernstlich zum Mond fliegen will; ich hätte Ihnen so viel Verrücktheit gar nicht zugetraut.«
»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich maßlos zu sein vermag!« Diotima suchte kühn in die Luft zu blicken, aber die Sonne zog ihr Pupille und Lid zu einem beinahe lustigen Ausdruck zusammen.
»Das sind Delirien des Liebeshungers,« sagte Ulrich »die mit der Sättigung vergehen.« Er fragte sich, was Arnheim mit seiner Kusine vorhaben möge. Bereute er seinen Antrag und versuchte, den Rückzug durch eine Komödie zu decken? Aber da wäre es einfacher gewesen, abzureisen und nicht mehr wiederzukehren; die dazu nötige Rücksichtslosigkeit müßte ein Mann, der lebenslang mit Geschäften zu tun gehabt hat, doch leicht aufbringen können? Er erinnerte sich, an Arnheim gewisse Zeichen beobachtet zu haben, die bei einem älteren Mann auf Leidenschaft hindeuten; das Gesicht war manchmal graugelb, schlaff, müde, man blickte hinein wie in ein Zimmer, wo das Bett um die Mittagstunde noch nicht gemacht ist. Er erriet, daß dies am ehesten durch die Zerstörung zu erklären sei, die zwei ungefähr gleich starke Leidenschaften anrichten, wenn sie ergebnislos um die Vorherrschaft kämpfen. Aber da er sich die Machtleidenschaft in dem Ausmaß, wie sie Arnheim beherrschte, nicht vorstellen konnte, begriff er auch nicht die Stärke der Vorkehrungen, welche die Liebe dagegen traf.
»Sie sind ein sonderbarer Mensch!« sagte Diotima. »Immer anders, als man es erwarten dürfte! Haben Sie nicht selbst von der seraphischen Liebe zu mir gesprochen?«
»Und Sie glauben, daß man das wirklich tun kann?! « fragte Ulrich zerstreut.
»Natürlich kann man es nicht so tun, wie Sie es beschrieben haben!«
»Also Arnheim liebt Sie seraphisch?!« Ulrich begann leise zu lachen.
»Lachen Sie doch nicht!« bat Diotima ärgerlich; fast zischte sie ein wenig.
»Sie wissen ja nicht, warum ich lache« entschuldigte er sich. »Ich lache, wie man so sagt, erregt. Sie und Arnheim sind feinfühlige Menschen; Sie lieben Gedichte; ich bin vollkommen davon überzeugt, daß Sie manchmal von einem Hauch gestreift werden; einem Hauch von irgendetwas: es fragt sich eben, was das ist. Und nun wollen Sie dem in aller Gründlichkeit, deren Ihr Idealismus fähig ist, an den Leib rücken?!«
»Fordern Sie denn nicht immer, daß man genau und gründlich sein muß?!« gab Diotima zurück.
Ulrich war ein wenig verblüfft. »Sie sind verrückt!« sagte er. »Entschuldigen Sie das Wort, Sie sind verrückt! Und Sie dürfen das nicht sein!«
Arnheim hatte unterdessen dem General mitgeteilt, daß sich die Welt seit zwei Menschenaltern in der größten Umwälzung befinde: die Seele gehe zu Ende.
Dem General gab es einen Stich. Du lieber Himmel, das war ja nun wieder etwas Neues! Um die Wahrheit zu sagen, er hatte bis zu dieser Stunde trotz Diotima gedacht, daß es das »die Seele« überhaupt nicht gebe; in der Kadettenschule und beim Regiment hatte man auf solches Pfaffengerede geblasen. Da aber ein Kanonen- und Panzerplattenfabrikant so ruhig davon sprach, wie wenn er es in der Nähe stehen sähe, begannen des Generals Augen zu jucken und kugelten düster in der durchsichtigen Luft umher.
Aber Arnheim ließ sich nicht um Erklärungen bitten; die Worte flossen ihm von den Lippen, durch die blaß rosa Spalte zwischen einem kurz geschnittenen Schnurr- und Spitzbart hervor. Wie er sagte, war die Seele schon seit dem Zerfall der Kirche, also ungefähr im Beginn der bürgerlichen Kultur, in einen Prozeß der Einschrumpfung und Alterung geraten. Sie hat seither Gott verloren, die festen Werte und Ideale, und heute sei der Mensch schon so weit, daß er ohne Moral, ohne Grundsätze, ja eigentlich ohne Erlebnisse lebe.
Der General begriff nicht recht, warum man keine Erlebnisse haben sollte, wenn man keine Moral habe. Aber Arnheim schlug den großen Schweinslederband auf, den er in der Hand trug; er enthielt den kostbaren Nachdruck einer Handschrift, die außer Haus nicht einmal einem so ungewöhnlichen Sterblichen wie ihm mitgegeben werden konnte. Der General sah einen Engel, dessen wagrechte Flügel über zwei Seiten gingen, inmitten eines Blattes stehn, das sonst noch von dunkler Erde, goldenem Himmel und sonderbaren, wie Wolken gelagerten Farben bedeckt war; er blickte auf das Abbild einer der ergreifendsten und herrlichsten frühmittelalterlichen Malereien, aber da er das nicht wußte und sich auf Geflügeljagd und ihre Darstellungen vortrefflich verstand, kam ihm bloß vor, daß ein Wesen mit Flügeln und langem Hals, das weder ein Mensch noch eine Schnepfe ist, eine Verirrung bedeuten müsse, auf die ihn sein Begleiter aufmerksam machen wolle.
Indes, Arnheim wies mit dem Finger darauf und sagte nachdenklich: »Da sehen Sie vor sich, was die Schöpferin der österreichischen Aktion der Welt wiedergeben möchte...!«
»So, so?!« antwortete Stumm. Er hatte das also offenbar unterschätzt und mußte sich nun vorsichtig äußern.
»Diese Größe des Ausdrucks, bei vollkommenster Einfachheit,« fuhr Arnheim fort »führt deutlich vor Augen, was unserer Zeit verlorengegangen ist. Was bedeutet dagegen unsere Wissenschaft? Bruchwerk! Unsere Kunst? Extreme, ohne einen vermittelnden Körper! Das Geheimnis der Einheit fehlt unserem Geist, und sehen Sie, darum ergreift mich dieser österreichische Plan, der Welt ein vereinigendes Beispiel, einen gemeinsamen Gedanken zu schenken, wenn ich ihn auch nicht für ganz durchführbar halte. Ich bin Deutscher. In der ganzen Welt ist heute alles laut und plump; aber in Deutschland ist es noch lauter. In allen Ländern plagen sich die Menschen von früh bis spät, ob sie nun arbeiten oder sich vergnügen; aber bei uns stehen sie noch früher auf und gehen noch später zu Bett. In aller Welt hat der Geist des Rechnens und der Gewalt den Zusammenhang mit der Seele verloren; aber wir in Deutschland haben die meisten Kaufleute und das stärkste Militär.« Er blickte entzückt rund um den Platz. »In Österreich ist alles das noch nicht so entwickelt. Hier gibt es noch Vergangenheit, und die Menschen haben sich etwas von der ursprünglichen Intuition bewahrt. Wenn sie überhaupt noch möglich ist, so könnte nur von hier die Erlösung des deutschen Wesens vom Rationalismus ausgehen. Aber ich fürchte,« fügte er seufzend hinzu »es wird schwerlich gelingen. Eine große Idee findet heute zu viel Widerstände; große Ideen sind nur noch dazu gut, einander am Mißbrauchtwerden zu hindern, wir leben sozusagen im Zustand eines mit Ideen bewaffneten Moralfriedens.«
Er lächelte über seinen Scherz. Und dann fiel ihm noch etwas ein: »Sehen Sie, der Unterschied zwischen Deutschland und Österreich, von dem wir soeben gesprochen haben, erinnert mich immer ans Billardspiel: Auch beim Billard verfehlt man alles, wenn man es mit Berechnung machen will, statt mit dem Gefühl!«
Der General hatte erraten, daß er sich durch den Ausdruck bewaffneter Moralfriede geschmeichelt fühlen solle, und er wünschte seine Aufmerksamkeit zu beweisen. Vom Billardspiel verstand er etwas; »ich bitte,« sagte er darum »ich spiele Karambol und Kegel, aber ich habe noch nie davon gehört, daß es einen Unterschied zwischen der deutschen und der österreichischen Spieltechnik gibt?«
Arnheim schloß die Augen und dachte nach. »Ich selbst spiele nie Billard,« sagte er dann »aber ich weiß, daß man den Ball hoch oder tief, rechts oder links nehmen kann; man kann den zweiten Ball voll treffen oder streifen; man kann stark oder schwach stoßen; die ›Fälsche‹ stärker oder schwächer wählen; und sicher gibt es noch viele solcher Möglichkeiten. Ich kann mir nun jedes dieser Elemente beliebig abgestuft denken, so gibt es also nahezu unendlich viele Kombinationsmöglichkeiten. Wollte ich sie theoretisch ermitteln, so müßte ich außer den Gesetzen der Mathematik und der Mechanik starrer Körper auch die der Elastizitätslehre berücksichtigen; ich müßte die Koeffizienten des Materials kennen; den Temperatureinfluß; ich müßte die feinsten Maßmethoden für die Koordination und Abstufung meiner motorischen Impulse besitzen; meine Distanzschätzung müßte genau wie ein Nonius sein; mein kombinatorisches Vermögen schneller und sicherer als ein Rechenschieber; zu schweigen von der Fehlerrechnung, der Streuungsbreite und dem Umstand, daß das zu erreichende Ziel der richtigen Koinzidenz der beiden Bälle selbst kein eindeutiges ist, sondern eine um einen Mittelwert gelagerte Gruppe von eben noch genügenden Tatbeständen darstellt.«
Arnheim sprach langsam und zur Aufmerksamkeit zwingend, wie wenn aus einem Tropffläschchen etwas in ein Glas gegossen wird; er erließ seinem Gegenüber nicht eine einzige Einzelheit.
»Sie sehen also wohl,« fuhr er fort »daß ich lauter Eigenschaften haben und Dinge tun müßte, die ich unmöglich haben und tun kann. Sie sind sicher Mathematikers genug, um beurteilen zu können, welche lebenslängliche Aufgabe es wäre, wenn man auf diese Weise auch nur den Verlauf eines einfachen Karambolstoßes berechnen wollte; der Verstand läßt uns einfach im Stich! Trotzdem trete ich, mit einer Zigarette im Munde, einer Melodie im Sinn, sozusagen den Hut auf dem Kopf, an das Brett heran, gebe mir kaum die Mühe, die Situation zu betrachten, stoße zu und löse die Aufgabe! Herr General, das gleiche geschieht im Leben unzähligemal! Sie sind nicht nur Österreicher, sondern auch Offizier, Sie müssen mich verstehen: Politik, Ehre, Krieg, Kunst, die entscheidenden Vorgänge des Lebens vollziehen sich jenseits des Verstandes. Die Größe des Menschen wurzelt im Irrationalen. Auch wir Kaufleute rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben möchten: sondern wir – ich meine natürlich die führenden Leute; die kleinen mögen immerhin mit ihren Pfennigen rechnen – lernen unsere wirklich erfolgreichen Einfälle als ein Geheimnis betrachten, das jeder Berechnung spottet. Wer nicht das Gefühl liebt, die Moral, die Religion, die Musik, Gedichte, Form, Zucht, Ritterlichkeit, Freimut, Offenheit, Duldsamkeit –: glauben Sie mir, der wird auch nie ein Kaufmann von großem Ausmaß. Darum habe ich immer den Kriegerstand bewundert; besonders den österreichischen, der auf uralten Überlieferungen ruht, und ich freue mich sehr, weil Sie der gnädigen Frau zur Seite stehen. Es beruhigt mich. Ihr Einfluß ist neben dem unseres jüngeren Freundes überaus wichtig. Alle großen Dinge beruhen auf den gleichen Eigenschaften; große Pflichten sind ein Segen, Herr General!«
Er schüttelte unwillkürlich Stumms Hand und sagte noch: »Die wenigsten Menschen wissen, daß das wirklich Große immer unbegründet ist; ich meine: alles Starke ist einfach!« Stumm von Bordwehr war der Atem gestockt; er glaubte, kaum ein Wort zu begreifen, und fühlte das Bedürfnis, in die Bibliothek zurückzustürzen und stundenlang über alle diese Gesichtspunkte nachzulesen, durch deren Eröffnung der große Mann ihm offensichtlich schmeicheln wollte. Zum Schluß aber trat unter diesem Frühlingssturm in seinem Kopf mit einemmal eine überraschende Klarheit auf. »Zum Teufel, der will ja irgend etwas von dir!« sagte er sich. Er blickte auf. Arnheim hielt noch immer das Buch in beiden Händen, aber traf nun ernstlich Anstalten, einen Wagen herbeizuwinken; sein Gesicht war angeregt und leicht gerötet, wie es das eines Mannes ist, der soeben mit einem anderen Gedanken getauscht hat. Der General schwieg, so wie man aus Achtung schweigt, nachdem ein großes Wort gefallen ist; wenn Arnheim von ihm etwas wollte, dann konnte doch auch der General Stumm zum Vorteil des Allerhöchsten Dienstes von Arnheim etwas wollen! Dieser Gedanke eröffnete solche Möglichkeiten, daß Stumm fürs erste verzichtete, darüber nachzudenken, ob alles wirklich richtig sei. Aber wenn der Engel in dem Buch plötzlich seine gemalten Flügel gehoben hätte, um den klugen General Stumm ein wenig darunter blicken zu lassen, dieser hätte sich nicht verwirrter und glücklicher fühlen können!
In der Ecke Diotimas und Ulrichs war inzwischen folgende Frage gestellt worden: Soll eine Frau in der schwierigen Lage Diotimas entsagen, sich zu einem Ehebruch hinreißen lassen oder ein Drittes und Gemischtes tun, wobei die Frau vielleicht körperlich dem einen, seelisch dem anderen Mann angehören würde, vielleicht auch körperlich niemandem; von diesem dritten Zustand war eben sozusagen kein Text vorhanden, sondern nur das hohe Klingen einer Musik. Und Diotima hielt auch noch immer streng darauf, daß sie durchaus nicht von sich selbst, sondern von »einer Frau« spreche; zornbereit hinderte ihr Blick Ulrich jedesmal, wenn seine Worte die beiden in eins setzen wollten.
Also sprach auch er auf Umwegen. »Haben Sie schon je einen Hund gesehen?« fragte er. »Das glauben Sie bloß! Sie haben immer nur etwas gesehen, das Ihnen mit mehr oder weniger Recht als ein Hund vorkam. Es hat nicht alle Hundeeigenschaften, und irgendetwas Persönliches hat es, das wieder kein anderer Hund hat. Wie sollen wir da je im Leben ›das Richtige‹ tun? Wir können nur etwas tun, das niemals das Richtige und immer mehr und weniger als etwas Richtiges ist.
Und ist schon jemals ein Ziegel so vom Dach gefallen, wie es das Gesetz vorschreibt? Niemals! Nicht einmal im Laboratorium zeigen sich die Dinge so, wie sie sein sollen. Sie weichen regellos nach allen Richtungen davon ab, und es ist einigermaßen eine Fiktion, daß wir das als Fehler der Ausführung ansehen und in ihrer Mitte einen wahren Wert vermuten.
Oder man findet gewisse Steine und nennt sie wegen der ihnen gemeinsamen Eigenschaften Diamant. Aber der eine Stein ist aus Afrika und der andere aus Asien. Den einen gräbt ein Neger aus der Erde, den anderen ein Asiate. Vielleicht ist dieser Unterschied so wichtig, daß er das Gemeinsame aufheben kann? In der Gleichung ›Diamant plus Umstände bleibt Diamant‹ ist der Gebrauchswert des Diamanten so groß, daß der der Umstände daneben verschwindet; es lassen sich aber seelische Umstände denken, in denen sich das umgekehrt verhält.
Alles hat teil am Allgemeinen, und noch dazu ist es besonders. Alles ist wahr, und noch dazu ist es wild und mit nichts vergleichbar. Das kommt mir so vor, als ob das Persönliche eines beliebigen Geschöpfes gerade das wäre, was mit nichts anderem übereinstimmt. Ich habe Ihnen früher einmal gesagt, daß in der Welt desto weniger Persönliches übrigbleibt, je mehr Wahres wir entdecken, denn es besteht schon lange ein Kampf gegen das Individuelle, dem immer mehr Boden abgenommen wird. Ich weiß nicht, was zum Schluß von uns übrig bleiben wird, wenn alles rationalisiert ist. Vielleicht nichts, aber vielleicht gehen wir dann, wenn die falsche Bedeutung, die wir der Persönlichkeit geben, verschwindet, in eine neue ein wie in das herrlichste Abenteuer.
Wie wollen Sie sich also entscheiden? Soll ›eine Frau‹ nach dem Gesetz handeln? Dann kann sie sich gleich nach dem bürgerlichen Gesetz richten. Moral ist ein durchaus berechtigter Durchschnitts- und Kollektivwert, den man wörtlich und ohne Seitensprünge zu befolgen hat, wo man ihn anerkennt. Einzelfälle aber sind nicht moralisch zu entscheiden, sie haben genau so wenig Moral, genau so viel sie von der Unerschöpflichkeit der Welt besitzen!«
»Sie haben eine Rede gehalten!« sagte Diotima. Sie fühlte eine gewisse Befriedigung über die Höhe dieser an sie gestellten Zumutungen, wünschte aber ihre Überlegenheit dadurch zu zeigen, daß sie nicht ebenso ins Blaue rede. »Was soll also eine Frau in jener Lage, von der wir gesprochen haben, im wirklichen Leben tun?« fragte sie.
»Gewährenlassen!« erwiderte Ulrich.
»Wen?«
»Was kommt! Ihren Mann, ihren Geliebten, ihre Entsagung, ihre Gemische.«
»Haben Sie wirklich eine Vorstellung davon, was das bedeutet?« fragte Diotima, die sich schmerzlich daran erinnert fühlte, wie dem hohen Vorsatz, Arnheim vielleicht zu entsagen, durch die einfache Tatsache, daß sie mit Tuzzi in einem Raum schlief, allnächtlich die Flügel gestutzt wurden. Von diesem Gedanken mußte ihr Vetter etwas aufgefangen haben, denn er fragte kurzweg: »Wollen Sie es mit mir versuchen?«
»Mit Ihnen?« antwortete Diotima gedehnt; sie suchte sich durch harmlosen Spott zu schützen: »Wollen Sie mir vielleicht ein Offert darüber machen, wie Sie sich das eigentlich vorstellen?«
»Ohne weiteres!« erbot sich Ulrich ernst. »Sie lesen doch sehr viel, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Was tun Sie da? Ich will gleich die Antwort geben: Ihre Auffassung läßt aus, was Ihnen nicht paßt. Das gleiche hat schon der Autor getan. Ebenso lassen Sie im Traum oder in der Phantasie aus. Ich stelle also fest: Schönheit oder Erregung kommt in die Welt, indem man fortläßt. Offenbar ist unsere Haltung inmitten der Wirklichkeit ein Kompromiß, ein mittlerer Zustand, worin sich die Gefühle gegenseitig an ihrer leidenschaftlichen Entfaltung hindern und ein wenig zu Grau mischen. Kinder, denen diese Haltung noch fehlt, sind darum glücklicher und unglücklicher als Erwachsene. Und ich will gleich hinzufügen, auch die Dummen lassen aus; Dummheit macht ja glücklich. Ich schlage also als erstes vor: Versuchen wir einander zu lieben, als ob Sie und ich die Figuren eines Dichters wären, die sich auf den Seiten eines Buchs begegnen. Lassen wir also jedenfalls das ganze Fettgerüst fort, das die Wirklichkeit rund macht.«
Diotima drängte es, Einwände zu machen; sie wünschte jetzt das Gespräch aus dem allzu Persönlichen hinauszulenken, und zudem wollte sie zeigen, daß sie von den berührten Fragen etwas verstünde. »Sehr schön,« antwortete sie »aber man behauptet, daß die Kunst eine Erholung von der Wirklichkeit sei, mit dem Zweck, erfrischt zu dieser zurückzukehren!«
»Und ich bin so unverständig,« erwiderte ihr Vetter »daß ich behaupte, es dürfe keine ›Erholungen‘ geben! Welch ein Leben, das man zeitweilig mit Erholungen durchlöchern muß! Würden wir in ein Bild Löcher stoßen, weil es zu schöne Ansprüche an uns stellt?! Sind in der ewigen Seligkeit etwa Urlaubswochen vorgesehen? Ich gestehe Ihnen, daß mir sogar die Vorstellung des Schlafs manchmal unangenehm ist.«
»Oh, da sehen Sie,« unterbrach ihn Diotima, die sich des Beispiels bemächtigte, »wie unnatürlich das ist, was Sie sagen! Ein Mensch, ohne das Bedürfnis nach Ruhe und Aussetzen! Kein Beispiel beleuchtet den Unterschied zwischen Ihnen und Arnheim so gut wie dieses! Auf der einen Seite ein Geist, der den Schatten der Dinge nicht kennt, und auf der anderen einer, der sich aus der vollen Menschlichkeit, mit Schatten und Sonnenschein entwickelt!«
»Ohne Zweifel übertreibe ich« gestand Ulrich ungerührt ein; »Sie werden es noch klarer erkennen, wenn wir im einzelnen darauf eingehen. Lassen Sie uns etwa an große Schriftsteller denken. Man kann sein Leben nach ihnen richten, aber man kann nicht Leben aus ihnen keltern. Sie haben das, was sie bewegte, so fest gestaltet, daß es bis in die Zwischenräume der Zeilen wie gepreßtes Metall dasteht. Aber was haben sie eigentlich gesagt? Kein Mensch weiß es. Sie selbst haben es niemals ganz in einem gewußt. Sie sind wie ein Feld, über dem die Bienen fliegen; zugleich sind sie selbst ein Hin- und Herfliegen. Ihre Gedanken und Gefühle haben alle Grade des Übergangs zwischen Wahrheiten oder auch Irrtümern, die sich zur Not nachweisen ließen, und wandelbaren Wesen, die sich uns eigenmächtig nähern oder entziehen, wenn wir sie beobachten wollen.
Es ist unmöglich, den Gedanken eines Buchs aus der Seite zu lösen, die ihn umgibt. Er winkt uns wie das Gesicht eines Menschen, das in einer Kette anderer an uns vorbeigerissen wird und für kurze Weile bedeutungsvoll auftaucht. Ich übertreibe wohl wieder ein wenig; aber nun möchte ich Sie fragen: was geschieht denn in unserem Leben anderes als das, was ich beschrieben habe? Ich will schweigen von den genauen, meß- und definierbaren Eindrücken, aber alle anderen Begriffe, auf die wir unser Leben stützen, sind nichts als erstarren gelassene Gleichnisse. Zwischen wieviel Vorstellungen schwankt und schwebt nicht schon ein so einfacher Begriff wie der von der Männlichkeit! Das ist wie ein Hauch, der mit jedem Atemzug seine Gestalt ändert, und nichts ist fest, kein Eindruck und keine Ordnung. Wenn wir also, wie ich gesagt habe, in der Dichtung einfach auslassen, was uns nicht paßt, so tun wir damit nichts anderes, als daß wir den ursprünglichen Zustand des Lebens wiederherstellen.«
»Lieber Freund,« sagte Diotima, »mir kommen diese Erwägungen gegenstandslos vor.« Ulrich hatte einen Augenblick innegehalten, und dahinein fielen diese Worte.
»Ja, es scheint. Ich hoffe, daß ich nicht zu laut gesprochen habe« entgegnete er.
»Sie haben schnell, leise und lang gesprochen« ergänzte sie ein wenig spöttisch. »Aber Sie haben trotzdem kein Wort von dem gesprochen, was Sie sagen wollten. Wissen Sie, was Sie mir wieder erklärt haben? Daß man die Wirklichkeit abschaffen müßte! Ich gestehe Ihnen, daß ich diese Bemerkung, als ich sie zum erstenmal, ich glaube bei einem unserer Ausflüge, von Ihnen hörte, lange nicht habe vergessen können; ich weiß nicht, warum. Aber wie Sie es anstellen wollen, haben Sie leider wieder nicht gesagt!«
»Es ist klar, daß ich dann mindestens noch einmal so lange sprechen müßte. Aber erwarten Sie denn, daß es einfach sein würde? Wenn ich nicht irre, haben Sie davon gesprochen, daß Sie mit Arnheim in eine Art Heiligkeit davonfliegen möchten. Sie stellen sich das also als eine zweite Art Wirklichkeit vor. Was ich gesagt habe, heißt aber, man muß sich wieder der Unwirklichkeit bemächtigen; die Wirklichkeit hat keinen Sinn mehr!«
»Oh, da würde aber Arnheim kaum einverstanden sein!« meinte Diotima.
»Natürlich nicht; das ist ja der Gegensatz zwischen uns. Er möchte dem Umstand, daß er ißt, trinkt, schläft, der große Arnheim ist und nicht weiß, ob er Sie heiraten soll oder nicht, einen Sinn geben, und dazu hat er seit je alle Schätze des Geistes gesammelt.« Ulrich machte plötzlich eine Pause, die in Schweigen überging.
Nach einer Weile fragte er verändert: »Können Sie mir sagen, warum ich gerade mit Ihnen dieses Gespräch führe? Ich erinnere mich in diesem Augenblick an meine Kindheit. Ich war, was Sie nicht glauben werden, ein gutes Kind; so weich wie Luft in einer warmen Mondnacht. Ich konnte grenzenlos verliebt in einen Hund oder in ein Messer sein –« Er führte auch diesen Satz nicht zu Ende.
Diotima sah ihn zweifelnd an. Sie erinnerte sich wieder daran, wie sehr er seinerzeit für die »Genauigkeit des Gefühls« gewesen war, während er heute dagegen sprach. Er hatte sogar einmal Arnheim ungenügende Reinheit des Sinns vorgeworfen und sprach heute für Gewährenlassen. Und es beunruhigte sie, daß Ulrich für »Gefühle ohne Urlaub« war, während Arnheim zweideutig gesagt hatte, man solle nie ganz hassen oder ganz lieben! Sie fühlte sich mit diesen Gedanken sehr unsicher.
»Glauben Sie denn wirklich, daß es ein grenzenloses Empfinden gibt?« fragte Ulrich.
»Oh, es gibt grenzenloses Gefühl!« erwiderte Diotima und hatte wieder festen Boden unter den Füßen.
»Sehen Sie, ich glaube nicht recht daran« meinte Ulrich zerstreut. »Sonderbarerweise sprechen wir oft davon, aber es ist gerade das, was wir lebenslang vermeiden, als ob wir darin ertrinken könnten.« Er bemerkte, daß Diotima nicht zuhörte, sondern unruhig zu Arnheim hinüber sah, dessen Augen einen Wagen suchten. »Ich fürchte,« sagte sie »wir müssen ihn von dem General erlösen.«
»Ich werde einen Wagen anhalten und den General auf mich nehmen« bot sich Ulrich an, und in dem Augenblick, wo er ging, legte Diotima die Hand auf seinen Arm und sagte, um ihn freundlich für seine Anstrengungen zu belohnen, mit sanfter Zustimmung: »Jedes andere Gefühl als das grenzenlose ist wertlos.«
Nach dem Gesetz, daß auf Zeiten großer Festigkeit stürmische Umlagerungen folgen, erlitt auch Bonadea einen Rückfall. Ihre Annäherungsversuche an Diotima waren vergeblich geblieben, und es wurde nichts aus der schönen Absicht, Ulrich dadurch zu strafen, daß sich die beiden Nebenbuhlerinnen befreundeten und ihn beiseite stehen ließen, – eine Phantasie, der sie viele Träume gewidmet hatte. Sie mußte sich herabwürdigen, wieder an die Tür ihres Geliebten zu klopfen, aber dieser schien es so eingerichtet zu haben, daß sie unaufhörlich gestört wurden, und an seiner leidenschaftslosen Freundlichkeit zerrannen die Erzählungen, durch die sie ihm erklären wollte, warum sie wieder da sei, ohne daß er es verdiene. Das Verlangen, ihm dafür einen fürchterlichen Auftritt zu machen, bedrängte sie sehr, aber andererseits verbot ihr das ihre tugendhafte Haltung, so daß sie mit der Zeit große Abneigung gegen die Vorzüge empfand, die sie sich auferlegt hatte. In den Nächten saß der dicke Kopf, den unbefriedigte Wollust erzeugt, auf ihren Schultern wie eine Kokosnuß, deren affenhaarige Schale durch einen Irrtum der Natur nach innen gewachsen ist, und schließlich wurde sie so voll ohnmächtigen Zorns wie ein Trinker, dem man die Flasche entzogen hat. Sie schimpfte bei sich auf Diotima, die sie eine Schwindlerin, ein unerträgliches Frauenzimmer nannte, und ihre Phantasie versah die edel-frauliche Hoheit, deren Zauber Diotimas Geheimnis war, mit sachkundigen Anmerkungen. Die Nachahmung dieses Aussehens, die ihr solches Glück bereitet hatte, wurde Bonadea nun zum Gefängnis, aus dem sie in wüste Freiheit ausbrach; Brennschere und Spiegel verloren ihre Macht, ein Idealbild aus ihr zu schaffen, und damit fiel auch der künstliche Bewußtseinszustand zusammen, worin sie sich befunden hatte. Sogar der Schlaf, dessen sich Bonadea trotz ihrer Lebenskonflikte immer köstlich erfreut hatte, ließ jetzt abends manchmal ein wenig auf sich warten, was ihr so neu war, daß es ihr wie krankhafte Schlaflosigkeit vorkam; und in diesem Zustand fühlte sie, was alle Menschen fühlen, wenn sie ernsthaft krank sind, daß der Geist flieht und den Körper wie einen Verwundeten im Stich läßt. Wenn Bonadea in ihren Anfechtungen wie in glühendem Sand lag, kamen ihr alle klugen Redereien, die sie an Diotima bewundert hatte, meilenweit entfernt vor, und sie verachtete sie ehrlich.
Da sie sich nicht entschließen konnte, Ulrich noch einmal aufzusuchen, ersann sie abermals einen Plan, um ihn für natürliche Empfindungen zurückzugewinnen, und zuerst war das Ende davon fertig: Bonadea wird bei Diotima eindringen, wenn Ulrich bei der Verführerin ist. Die Unterredungen bei Diotima waren ja ersichtlich nur Vorwände, um miteinander schönzutun, statt wirklich etwas fürs Allgemeine zu leisten. Bonadea dagegen wird etwas fürs Allgemeine tun, und schon war damit auch der Anfang ihres Plans fertig: denn niemand kümmert sich mehr um Moosbrugger, und dieser geht zugrunde, während die anderen große Worte machen! Bonadea war nicht einen Augenblick erstaunt darüber, daß Moosbrugger wieder zum Retter in ihrer Not werden sollte. Sie würde ihn entsetzlich gefunden haben, wenn sie über ihn nachgedacht hätte; aber sie dachte nur: »Wenn Ulrich schon solche Teilnahme für ihn hat, dann soll er ihn auch nicht vergessen!« Bei weiterer Beschäftigung mit ihrem Plan fielen ihr sodann noch zwei Einzelheiten ein: Sie erinnerte sich, daß Ulrich im Gespräch über diesen Mörder behauptet habe, man besitze eine zweite Seele, die immer unschuldig sei, und ein zurechnungsfähiger Mensch könne immer auch anders, der unzurechnungsfähige aber nie; sie zog irgendetwas Ähnliches daraus wie den Schluß, daß sie unzurechnungsfähig sein wolle und dann unschuldig sein werde, ein Zustand, der auch Ulrich abging und ihm zu seinem Heil zu bringen war. – So gut gekleidet, als wolle sie in Gesellschaft, streifte sie, um das auszuführen, durch mehrere Abende vor den Fenstern Diotimas umher und brauchte nicht lange zu warten, bis diese, zum Zeichen innerer Tätigkeit, über die ganze Front erleuchtet waren. Ihrem Mann hatte sie erzählt, daß sie eingeladen sei, aber niemals lange bleibe; und während weniger Tage, wo es ihr noch an Mut fehlte, entstand durch dieses Lügen, durch dieses abendliche Auf- und Abgehen vor einem Haus, wohin sie nicht gehörte, ein wachsender Auftrieb, der sie bald die Treppen hinan führen sollte. Sie konnte von Bekannten gesehen, von ihrem zufällig vorbeikommenden Gatten beobachtet werden; sie konnte dem Hausmeister auffallen, ein Schutzmann vermochte auf den Einfall zu kommen, sie auszufragen: je öfter sich ihr Spaziergang wiederholte, desto größer erschienen ihr diese Gefahren, und desto wahrscheinlicher wurde es, daß sich einmal ein Zwischenfall ereignen werde, wenn sie noch lange zögere. Nun, Bonadea war nicht gerade selten in Tore gehuscht oder auf Wegen gegangen, wo sie nicht gesehen werden wollte, aber da hatte sie wie einen Schutzengel das Bewußtsein auf ihrer Seite gehabt, es gehöre unvermeidlich zu dem, was sie erreichen wolle, während sie diesmal in ein Haus eindringen sollte, wo sie nicht erwartet wurde und das, was ihr bevorstand, ungewiß war; es wurde ihr zumute wie einer Attentäterin, die sich die ganze Sache anfangs nicht so genau vorgestellt hat, aber durch die Nachhilfe der Umstände in den Zustand gehoben wird, wo der Knall einer Pistole, das Blitzen durch die Luft fliegender Salzsäuretropfen kaum mehr eine Erhöhung bedeutet.
Bonadea hatte keine solchen Absichten, aber sie befand sich in ähnlicher Abgeschiedenheit des Geistes, als sie endlich wirklich die Klingel drückte und eintrat. Die kleine Rachel hatte sich unauffällig Ulrich genähert und ihm gemeldet, daß man ihn draußen zu sprechen wünsche, ohne zu verraten, daß »man« eine fremde, tief verschleierte Dame sei, und als sie hinter ihm die Türe des Salons schloß, schlug Bonadea den Schleier von ihrem Antlitz zurück. Sie war in diesem Augenblick fest davon überzeugt, daß Moosbruggers Schicksal keinen Aufschub mehr dulde, und empfing Ulrich nicht wie eine von Eifersucht geplagte Geliebte, sondern atemlos wie ein Marathonläufer. Mühelos erlog sie die Ergänzung, daß ihr Mann ihr gestern mitgeteilt habe, an Moosbrugger werde bald nichts mehr zu retten sein. »Ich hasse nichts so sehr« schloß sie »wie diese obszöne Art von Mördern; aber ich habe mich trotzdem der Wahrscheinlichkeit ausgesetzt, hier als Eindringling empfunden zu werden, weil du jetzt sogleich zu der Dame des Hauses und den einflußreichsten Gästen zurückgehen und deine Angelegenheit zur Sprache bringen mußt, wenn du noch etwas erreichen willst!« Sie wußte nicht, was sie erwartete. Daß Ulrich gerührt danken, daß er Diotima herausrufen, daß Diotima sich mit ihr und ihm in ein abgelegenes Zimmer zurückziehen werde? Daß Diotima vielleicht schon durch den Laut der Stimmen ins Vorzimmer gelockt werde, wobei sie ihr wohl zu verstehen geben wollte, daß sie, Bonadea, nicht die Unberufenste sei, um sich Ulrichs edler Gefühle anzunehmen! Ihre Augen blitzten feucht, und ihre Hände zitterten. Sie sprach laut. Ulrich befand sich in großer Verlegenheit und lächelte andauernd, als verzweifeltes Mittel, um sie zu beruhigen und Zeit für die Überlegung zu gewinnen, wie er sie davon überzeugen könne, daß sie so rasch wie möglich fortgehen müsse. Die Lage war schwierig und hätte vielleicht auch mit einem Schrei- oder Weinkrampf Bonadeas enden können, wenn nicht Rachel zu Hilfe gekommen wäre. Die kleine Rachel hatte die ganze Zeit über mit glänzenden, weit aufgerissenen Augen nicht weit von den beiden gestanden. Sie hatte gleich einen abenteuerlichen Zusammenhang erraten, wie die fremde schöne, am ganzen Körper unruhige Dame Ulrich zu sprechen verlangt hatte. Sie hörte das Gespräch zum größeren Teil mit an, und der Name Moosbruggers fiel mit seinen Silben in ihr Ohr wie Schüsse. Die von Kummer, Verlangen und Eifersucht in mächtige Schwingungen versetzte Damenstimme riß sie mit, obgleich sie diese Gefühle nicht verstand. Sie erriet, daß diese Frau die Geliebte Ulrichs sei, und war augenblicklich doppelt so stark in ihn verliebt als sonst. Sie fühlte sich zu einer Tat hingerissen, so als ob aus ganzer Brust gesungen würde und sie müßte einstimmen. Und so öffnete sie mit einem um Verschwiegenheit bittenden Blick eine Türe und lud die beiden ein, in das einzige von der Gesellschaft nicht benützte Zimmer einzutreten. Es war die erste offenkundige Untreue gegen ihre Herrin, die sie beging, denn sie konnte nicht im Zweifel sein, wie eine Entdeckung aufgenommen werden würde; aber die Welt war so schön, und herrliche Aufregung ist ein so unordentlicher Zustand, daß sie nicht dazu kam, sich das zu überlegen.
Als das Licht aufflammte und Bonadeas Augen allmählich sahen, wo sie sich befand, hätten ihre Beine beinahe die Kraft verloren, sie zu tragen, und die Röte der Eifersucht stieg ihr in die Wangen, denn es war Diotimas Schlafzimmer, worin sie sich umsah; Strümpfe, Haarbürsten und vieles andere lag umher, was zurückbleibt, wenn eine Frau sich eilig von Kopf zu Fuß für eine Gesellschaft umkleidet und das Mädchen keine Zeit mehr hat aufzuräumen oder das unterläßt, wie in diesem Fall, weil am nächsten Morgen ohnehin alles gründlich gemacht werden soll; denn an den großen Festabenden mußte auch das Schlafzimmer als Möbelspeicher herhalten, um die übrigen Räume zu entleeren. Die Luft roch nach diesen eng aneinandergerückten Möbeln, nach Puder, Seife und Essenzen. »Die Kleine hat eine Dummheit gemacht; wir können hier nicht bleiben!« sagte Ulrich lachend. »Überhaupt, du hättest nicht kommen sollen, es läßt sich ja doch nichts für Moosbrugger tun.«
»Ich hätte mich nicht herbemühen sollen, sagst du?« wiederholte Bonadea fast stimmlos. Ihre Augen irrten umher. Wie wäre das Mädchen, fragte sie sich gequält, auf den Einfall gekommen, Ulrich ins Innerste des Hauses zu führen, wenn es das nicht gewöhnt wäre?! Sie brachte es aber nicht über sich, ihm diesen Beweis vorzuhalten, sondern sagte lieber mit tonlosem Vorwurf: »Du bringst es über dich, ruhig zu schlafen, wenn solches Unrecht geschieht? Ich schlafe nächtelang nicht, und darum habe ich mich entschlossen, dich zu suchen!« Sie hatte dem Zimmer den Rücken gekehrt, stand am Fenster und starrte in die spiegelnde Undurchsichtigkeit, die von außen an ihre Augen herantrat. Das mochten Baumkronen sein, oder die Tiefe eines Hofs. Soweit, um zu wissen, daß dieses Zimmer nicht auf die Straße sehe, kannte sie sich trotz ihrer Aufregung in der Örtlichkeit aus; man mochte von anderen Fenstern hereinblicken können, und wenn sie sich vergegenwärtigte, daß sie nun also gemeinsam mit ihrem ungetreuen Geliebten, bei aufgezogenen Vorhängen vom Licht bestrahlt, vor einem unbekannten dunkeln Zuschauerraum im Schlafzimmer ihrer Nebenbuhlerin stehe, so erregte sie das sehr. Sie hatte den Hut abgenommen und den Mantel zurückgeschlagen, ihre Stirn und die warmen Spitzen ihrer Brüste berührten die kalten Fensterscheiben; Zärtlichkeit und Tränen feuchteten ihre Augen. Sie machte sich langsam los und wandte sich wieder ihrem Freund zu, aber etwas von dem weichen, nachgiebigen Schwarz, in das sie geblickt hatte, blieb in ihren Augen, die jetzt eine unbewußte Tiefe hatten. »Ulrich!« sagte sie eindringlich »Du bist nicht schlecht! Du stellst dich nur so! Du machst dir Schwierigkeiten, gut zu sein, so viel du nur kannst!«
Die Lage wurde durch diese unverhältnismäßig klugen Worte Bonadeas von neuem gefährlich; das war einmal nicht die lächerliche Sehnsucht solcher von ihrem Körper beherrschten Frau nach Trost in geistiger Vornehmheit; sondern da sprach die Schönheit dieses Körpers selbst ihr Recht auf die sanfte Würde der Liebe aus. Er trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schulter; sie hatten sich wieder dem Dunkel zugekehrt und sahen gemeinsam hinaus. In der scheinbar unbegrenzten Finsternis hatte sich ein wenig Licht, das aus dem Haus kam, aufgelöst, und das sah aus, wie wenn dicker Nebel die Luft mit seiner Weichheit ausfüllte. Aus irgendeinem Grund hatte Ulrich auf das stärkste den Eindruck, in eine mildkalte Oktobernacht hinauszustarren, obgleich es Spätwinter war, und es kam ihm vor, die Stadt sei in sie eingehüllt wie in eine ungeheure Wolldecke. Dann fiel ihm ein, daß man ebensogut von einer Wolldecke sagen könnte, sie sei wie eine Oktobernacht. Er spürte eine sanfte Unsicherheit auf der Haut und zog Bonadea fester an sich.
»Wirst du jetzt hineingehen?« fragte Bonadea.
»Und das Unrecht verhindern, das Moosbrugger zugefügt werden soll? Nein; ich weiß ja nicht einmal, ob ihm wirklich Unrecht geschieht! Was weiß ich von ihm? Ich habe ihn einmal in einer Verhandlung flüchtig gesehen, und einiges andere, das über ihn geschrieben worden ist, habe ich gelesen. Es ist so, wie wenn ich von der Spitze deiner Brust geträumt hätte, sie sei wie ein Mohnblatt. Darf ich darum schon glauben, daß sie wirklich eines ist?«
Er dachte nach. Auch Bonadea dachte nach. Er dachte, »es ist doch wirklich so, daß ein Mensch, auch nüchtern betrachtet, für den anderen nicht viel mehr bedeutet als eine Reihe Gleichnisse.« Bonadea, nachdenkend, kam zu dem Ergebnis: »Komm, gehen wir fort!«
»Das ist unmöglich,« gab Ulrich zur Antwort »man würde fragen, wo ich geblieben sei, und wenn etwas von deinem Besuch durchsickern sollte, so würde das übles Aufsehen erregen.«
Schweigen, Hinaussehen und etwas, das ebensogut Oktobernacht, Jännernacht, Wolltuch, Schmerz oder Glück sein konnte, ohne daß sie es unterschieden, vereinigte die beiden wieder.
»Warum tust du nie das Nächstliegende?« fragte Bonadea.
Er erinnerte sich mit einemmal an einen Traum, den er in der letzten Zeit gehabt haben mußte. Er gehörte zu den Menschen, die selten träumen oder sich wenigstens nie des Träumens entsinnen, und es berührte ihn seltsam, wie sich diese Erinnerung unversehens öffnete und ihn einließ. Er hatte mehrmals vergeblich versucht, einen steilen Berghang zu überqueren, und war jedesmal von heftigen Schwindelgefühlen zurückgetrieben worden. Ohne weitere Erklärung wußte er jetzt, daß sich dieses Erlebnis auf Moosbrugger bezog, der aber nirgends darin vorkam. Es bedeutete auch, wie ein Traumbild oft mehrfachen Sinn hat, in körperlicher Weise die vergeblichen Versuche seines Geistes, die sich in letzter Zeit immer wieder in seinen Gesprächen und Beziehungen geäußert hatten und ganz einem Gehn ohne Weg glichen, das über irgendeinen Punkt nicht hinauskommt. Er mußte über die ungekünstelte Handfestigkeit lächeln, mit der sein Traum das dargestellt hatte: glatter Stein und abrutschende Erde, da und dort ein einzelner Baum als Halt oder Ziel und dazu das ungestüme Wachsen des Höhenunterschieds im Gehen. Er hatte es mit dem gleichen Mißerfolg höher und tiefer versucht, und es wurde ihm schon übel von Schwindel, als er jemand, der mit ihm ging, erklärte, wir lassen es sein, ganz unten in der Talsohle führt ohnehin der bequeme allgemeine Weg! Das war deutlich! Es kam Ulrich übrigens vor, daß die Person in seiner Gesellschaft ganz gut Bonadea gewesen sein konnte. Vielleicht hatte er wirklich auch davon geträumt, daß die Spitze ihrer Brust wie ein Mohnblatt sei; etwas Unzusammenhängendes, das für das suchende Gefühl recht wohl breite Zackigkeit, dunkel malvenfarbiges Blaurot sein konnte, löste sich aus einem noch nicht erhellten Winkel des Traumbilds wie ein Nebel.
In diesem Augenblick trat jene Helle des Bewußtseins ein, wo man mit einem Blick seine Kulissen sieht, samt allem, was sich dazwischen abspielt, auch wenn man diesen Eindruck beiweitem nicht darlegen kann. Die Beziehung, die zwischen einem Traum und dem, was er ausdrückt, besteht, war ihm bekannt, denn es ist keine andere als die der Analogie, des Gleichnisses, die ihn schon des öfteren beschäftigt hatte. Ein Gleichnis enthält eine Wahrheit und eine Unwahrheit, für das Gefühl unlöslich miteinander verbunden. Nimmt man es, wie es ist, und gestaltet es mit den Sinnen, nach Art der Wirklichkeit aus, so entstehen Traum und Kunst, aber zwischen diesen und dem wirklichen, vollen Leben steht eine Glaswand. Nimmt man es mit dem Verstand und trennt das nicht Stimmende vom genau Übereinstimmenden ab, so entsteht Wahrheit und Wissen, aber man zerstört das Gefühl. Nach Art jener Bakterienstämme, die etwas Organisches in zwei Teile spalten, zerlebt der Menschenstamm den ursprünglichen Lebenszustand des Gleichnisses in die feste Materie der Wirklichkeit und Wahrheit und in die glasige Atmosphäre von Ahnung, Glaube und Künstlichkeit. Es scheint, daß es dazwischen keine dritte Möglichkeit gibt; aber wie oft endet etwas Ungewisses erwünscht, wenn man ohne viel Überlegen damit beginnt! Ulrich hatte das Gefühl, in dem Gassengewirr, durch das ihn seine Gedanken und Stimmungen so oft geführt hatten, jetzt auf dem Hauptplatz zu stehen, von dem alles ausläuft. Und er hatte von alledem ein wenig zu Bonadea gesagt, als Antwort auf die Frage, warum er nie das Nächstliegende tue. Sie verstand es wohl nicht, aber sie hatte entschieden einen großen Tag; sie dachte eine Weile nach, schob ihren Arm fester in den Ulrichs und antwortete zusammenfassend: »Im Traum denkst du doch auch nicht, sondern du erlebst irgendeine Geschichte!« Das war beinahe wahr. Er drückte ihr die Hand. Sie hatte plötzlich wieder Tränen in den Augen. Ganz langsam rannen sie ihr ins Gesicht, und von der in ihrem Salz gebadeten Haut stieg der unbezeichenbare Duft der Liebe auf. Ulrich atmete ihn ein und fühlte große Sehnsucht nach diesem Schlüpfrig-Schleirigen, nach Nachgeben und Vergessen. Aber er nahm sich zusammen und führte sie zärtlich zur Türe zurück. Er war in diesem Augenblick sicher, daß er noch etwas vor sich habe und es nicht in halben Neigungen vertändeln dürfe. »Du mußt jetzt fortgehn,« sagte er leise »und sei mir nicht böse, ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen können, ich habe jetzt viel mit mir selbst zu tun!«
Und das Wunder geschah, Bonadea setzte dem keinen Widerstand entgegen und sagte nichts Ärgerlich-Hoheitsvolles. Sie war nicht mehr eifersüchtig. Sie fühlte, daß sie eine Geschichte erlebe. Sie hätte ihn in ihre Arme hüllen mögen; ihr ahnte, man müsse ihn auf die Erde hinabziehn; sie hätte am liebsten ein schützendes Kreuz auf seiner Stirn gemacht, wie sie es bei ihren Kindern tat. Und das kam ihr so schön vor, daß es ihr nicht einfiel, darin ein Ende zu sehn. Sie setzte den Hut auf und küßte ihn, und dann küßte sie ihn noch einmal durch den Schleier, dessen Fäden davon heiß wie glühende Gitterstäbe wurden.
Mit Hilfe des Mädchens, das an der Tür gewacht und gelauscht hatte, gelang es, Bonadea unbemerkt verschwinden zu lassen, obgleich im Hause schon der allgemeine Aufbruch begonnen hatte. Ulrich drückte Rachel dafür ein größeres Geldgeschenk in die Hand und sagte einige lobende Worte über ihre Geistesgegenwart; Rachel war von beidem so begeistert, daß ihre Finger, ohne es zu merken, mit dem Geld die längste Zeit über auch seine Hand festhielten, bis er lachen mußte und die nun plötzlich von ihrem Blut Übergossene freundlich auf die Schulter klopfte.
Es waren an diesem Abend nicht mehr soviel Gäste im Hause Tuzzi gewesen wie früher, die Beteiligung an der Parallelaktion ließ nach, und die, welche gekommen waren, entfernten sich früher als sonst. Selbst das Erscheinen Sr. Erlaucht im letzten Augenblick – der übrigens einen besorgten, umwölkten Eindruck machte und schlechter Laune war, weil er bestürzende Nachrichten über die nationalistischen Umtriebe gegen sein Werk empfangen hatte – vermochte dieses Abbröckeln nicht aufzuhalten. Man zögerte ein wenig, in der Erwartung, daß sein Kommen vielleicht besondere Neuigkeiten bedeute, aber als er nichts davon bemerken ließ und sich um die Anwesenden wenig kümmerte, verzogen sich auch die Letzten. Darum bemerkte Ulrich mit Schreck, als er wieder auftauchte, daß die Zimmer fast leer waren, und kurze Zeit danach befand sich der »engste Kreis« allein in den verlassenen Räumen, bloß durch Sektionschef Tuzzi erweitert, der inzwischen nach Hause gekommen war.
Se. Erlaucht wiederholte: »Man kann von einem achtundachtzigjährigen Friedensherrscher auch Symbol sagen; darin liegt ein großer Gedanke; aber man muß dem auch einen politischen Inhalt geben! Es ist ja ganz natürlich, daß sonst das Interesse nachläßt. Das heißt, was an mir liegt, sehen Sie, habe ich ja getan; die Deutschnationalen sind wütend wegen dem Wisnieczky, weil sie sagen, daß er ein Slawophile ist, und die Slawen sind auch wütend, weil sie sagen, daß er in seiner Ministerzeit ein Wolf im Schafspelz gewesen ist: aber daraus geht bloß hervor, daß er eine echt patriotische, über den Parteien stehende Persönlichkeit ist, und ich halt an ihm fest! Dagegen muß das jetzt auch raschestens nach der Kulturseite ergänzt werden, damit die Leute etwas Positives haben. Unsere Enquete in bezug auf die Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung kommt viel zu langsam vorwärts. Ein österreichisches Jahr oder ein Weltjahr ist ja sehr schön, aber ich möchte sagen, alles, was ein Symbol ist, muß nach und nach etwas Wahres werden; das heißt, solange es ein Symbol ist, lasse ich mein Gemüt davon erregen und weiß noch gar nichts, aber später wende ich mich von dem Spiegel des Gemüts ab und tue etwas ganz anderes, was inzwischen meine Billigung gefunden hat. Ist es verständlich, was ich damit ausdrücken will? Unsere liebe gnädige Frau gibt sich die erdenklichste Mühe, und es wird hier schon monatelang über die wirklich wissenswertesten Sachen geredet, aber die Beteiligung läßt trotzdem nach, und ich habe das Gefühl, daß wir uns bald für etwas entschließen werden müssen; ich weiß nicht für was, vielleicht für einen zweiten Turm an der Stefanskirche oder für eine kaiser- und königliche Kolonie in Afrika, das ist ziemlich gleichgültig. Denn ich bin überzeugt, daß dann vielleicht im letzten Moment noch etwas ganz anderes daraus wird: die Hauptsache ist, daß man die Erfindungsgabe der Beteiligten sozusagen rechtzeitig ins Geschirr nehmen muß, damit sie sich nicht verliert!«
Graf Leinsdorf hatte das Gefühl, nützlich gesprochen zu haben. Zur Erwiderung nahm für die anderen Arnheim das Wort. »Was Sie über die Notwendigkeit sagen, in gewissen Augenblicken das Nachdenken durch ein Handeln zu befruchten, und sei es auch nur ein vorläufiges, ist außerordentlich lebenswahr! Und in diesem Zusammenhang ist es tatsächlich von Bedeutung, daß in dem geistigen Kreis, der hier zusammenkommt, seit einiger Zeit eine veränderte Stimmung herrscht. Die Unübersichtlichkeit, unter der man anfänglich litt, ist verschwunden; es tauchen beinahe keine neuen Vorschläge mehr auf, und die älteren finden kaum noch Erwähnung, jedenfalls keine persistierende Verteidigung. Es macht den Eindruck, daß auf allen Seiten das Bewußtsein erwacht ist, durch die Annahme der Einladung die Verpflichtung auf sich genommen zu haben, zu einer Übereinstimmung zu kommen, so daß nun jeder einigermaßen annehmbare Vorschlag Aussicht hätte, allgemein gebilligt zu werden.«
»Lieber Doktor, wie ist das bei uns?« wandte sich Se. Erlaucht an Ulrich, den er inzwischen bemerkt hatte. »Tritt da auch schon eine Klärung ein?«
Ulrich mußte es verneinen. Der schriftliche Meinungsaustausch läßt sich viel genußvoller in die Länge ziehn als der persönliche, und auch der Einlauf an Verbesserungsvorschlägen schwoll nicht ab; so gründete er noch immer Vereine und wies sie im Namen Sr. Erlaucht an die verschiedenen Ministerien, deren Bereitwilligkeit, sich mit ihnen zu beschäftigen, in letzter Zeit allerdings merklich nachgelassen hatte. Das berichtete er.
»Kein Wunder!« meinte Se. Erlaucht, zu den Anwesenden gewandt. »Es steckt unglaublich viel Staatsgesinnung in unserem Volk; aber man müßte so gebildet sein wie ein Konversationslexikon, um sie nach allen Richtungen befriedigen zu können, in denen sie sich äußert. Es wird den Ministern einfach zuviel, und das beweist auch, daß der Zeitpunkt kommt, wo wir von oben eingreifen müssen.«
»In diesem Zusammenhang« nahm Arnheim abermals das Wort »dürfte es Ew. Erlaucht bemerkenswert erscheinen, daß Herr General von Stumm zuletzt in steigendem Maße die Aufmerksamkeit der Konferenzteilnehmer erregt hat.«
Graf Leinsdorf sah zum erstenmal den General an. »Womit denn?« fragte er und gab sich gar keine Mühe, die Unhöflichkeit dieser Frage zu verbergen.
»Aber das ist mir nur peinlich! Das war ganz und gar nicht meine Absicht!« wehrte Stumm von Bordwehr schamhaft ab. »Dem Soldaten ist im Konferenzzimmer nur eine bescheidene Aufgabe angemessen, und ich halte etwas auf dieses Wort. Aber Erlaucht erinnern sich, daß ich gleich in der ersten Sitzung und sozusagen nur in Erfüllung meiner soldatischen Pflicht, darum gebeten habe, daß der Ausschuß zur Fassung einer besonderen Idee, wenn ihm nichts anderes einfällt, daran denken möge, daß unsere Artillerie keine modernen Geschütze hat und daß auch unsere Marine keine Schiffe hat, das heißt, nicht genug Schiffe für die Aufgaben einer etwa bevorstehenden Landesverteidigung...«
»Und –?« unterbrach Se. Erlaucht und richtete einen erstaunt fragenden Blick auf Diotima, der unverhohlen sein Mißvergnügen zu erkennen gab.
Diotima hob die schönen Schultern und ließ sie entsagungsvoll sinken; sie hatte sich fast schon daran gewöhnt, daß der runde kleine General, von unbegreiflichen helfenden Kräften gelenkt, wie ein Angsttraum überall auftauchte, wohin sie sich wandte.
»Und da sind« fuhr Stumm von Bordwehr eilends fort, um nicht von seiner Bescheidenheit angesichts des Erfolges überwältigt zu werden »eben in der letzten Zeit Stimmen laut geworden, die das befürworten würden, wenn jemand mit einem solchen Vorschlag den Anfang machen wollte. Man hat eben gesagt, daß das Heer und die Marine ein gemeinsamer Gedanke wäre und ein großer Gedanke ja schließlich auch, und wahrscheinlich würde man auch Sr. Majestät eine Freude damit bereiten. Und die Preußen würden Augen machen – ich bitte um Entschuldigung, Herr von Arnheim!«
»Ach nein, die Preußen würden keine betroffenen Augen machen« wehrte Arnheim lächelnd ab. »Im übrigen versteht es sich von selbst, daß ich, wenn von solchen österreichischen Angelegenheiten die Rede ist, gar nicht anwesend bin und nur mit äußerster Bescheidenheit von der Erlaubnis Gebrauch mache, trotzdem zuhören zu dürfen.«
»Also jedenfalls,« schloß der General »es sind in der Tat Stimmen laut geworden, die es als das Einfachste bezeichnet haben, wenn man nicht mehr lang hin und her reden würde, sondern sich für ein militärisches Vorhaben entschlösse. Ich persönlich möchte ja meinen, daß man das noch mit einer zweiten, vielleicht irgendeiner großen Zivil idee verbinden könnte; aber wie gesagt, der Soldat soll nicht dreinreden, und die Stimmen, die gesagt haben, daß durch das zivile Nachdenken doch nichts Besseres herauskommen wird, sind gerade von höchster geistiger Seite laut geworden.«
Se. Erlaucht hatte zuletzt mit reglos geöffneten Augen zugehört, und nur unwillkürliche Ansätze zum Daumendrehen, deren er sich nicht enthalten konnte, verrieten die angestrengte und peinliche Arbeit seines Inneren.
Sektionschef Tuzzi, den man nicht gewohnt war zu hören, schaltete langsam und leise ein: »Ich glaube nicht, daß der Minister des Äußeren etwas dagegen einzuwenden hätte!«
»Ach, die Ressorts haben sich wohl schon verständigt?!« fragte Graf Leinsdorf ironisch und gereizt. Tuzzi gab mit liebenswürdigem Gleichmut zur Antwort: »Erlaucht scherzen über die Ressorts. Das Kriegsministerium würde eher die Weltabrüstung begrüßen, als sich mit dem Ministerium des Äußern ins Einvernehmen zu setzen!« Und dann erzählte er weiter: »Erlaucht kennen doch die Geschichte von den Befestigungsanlagen in Südtirol, die in den letzten zehn Jahren auf Betreiben des Generalstabschefs hergestellt worden sind? Sie sollen tadellos und das Neueste in der Ausführung sein. Natürlich hat man sie auch mit elektrisch geladenen Hindernissen und großen Scheinwerferanlagen ausgestattet, und zu deren Belieferung mit Strom sind sogar versenkte Dieselmotoren eingebaut worden; man kann nicht sagen, daß wir hinter irgendwas zurückstehn. Das Unglück ist nur, daß die Motoren durch die Artillerieabteilung bestellt worden sind, und das Brennmaterial liefert die Bauabteilung des Kriegsministeriums; das ist so nach der Vorschrift, und darum kann man die Anlagen nicht in Betrieb setzen, weil sich die beiden Abteilungen nicht darüber einigen können, ob das Zündholz, das man beim Anlaufenlassen braucht, als Brennmaterial aufzufassen und von der Bauabteilung beizustellen ist, oder ob es als Motorzubehör aufzufassen ist und in den Wirkungskreis der Artillerie gehört.
»Reizend!« sagte Arnheim, obgleich er wußte, daß Tuzzi den Dieselmotor mit einem Gasmotor verwechselte und selbst bei einem solchen Zündflammen längst nicht mehr verwendet wurden; es war eine jener Geschichten, wie sie in den Büros kreisen, voll von liebenswürdiger Selbstironie, und der Sektionschef hatte sie mit einer Stimme vorgetragen, die dem Malheur, das sie berichtete, erfreut nachging. Alle lächelten oder lachten, General Stumm war am fröhlichsten. »Daran sind aber nur die Herren von der Zivilregierung schuld« spann er den Scherz weiter; »denn wenn wir etwas anschaffen, wofür im Budget nicht die richtige Deckung ist, so sagt uns das Finanzministerium sofort, daß wir von einer konstitutionellen Regierungsweise nichts verstehen. Sollte darum, was Gott verhüten möge, vor Ablauf des Budgetjahres ein Krieg ausbrechen, so müßten wir gleich am ersten Mobilisierungstag bei Sonnenaufgang die Festungskommandanten telegraphisch ermächtigen, Zündhölzer einzukaufen, und wenn ihnen das in ihren Bergnestern nicht gelingt, bleibt nichts anderes übrig, als daß sie den Krieg mit den Streichhölzern ihrer Offiziersdiener führen!«
Der General hatte das wohl doch zu breit ausgesponnen; durch das dünne Gewebe des Scherzes setzte sich mit einemmal wieder der bedrohliche Ernst des Zustandes durch, in dem sich die Parallelaktion befand. Se. Erlaucht sagte nachdenklich: »Im Lauf der Zeit...«, besann sich aber dann darauf, daß es klüger ist, in schwierigen Lagen die anderen reden zu lassen, und führte den Satz nicht zu Ende. Die sechs Menschen schwiegen einen Augenblick, als stünden sie um ein Brunnenloch und blickten hinein.
Diotima sagte: »Nein, das ist unmöglich!«
»Was?« fragten die Blicke aller.
»Damit würden wir das tun, was man Deutschland vorwirft: Aufrüsten!« beendete sie ihren Satz. Ihre Seele hatte die Anekdoten überhört oder vergessen und war noch bei des Generals Erfolg stehen geblieben.
»Aber was soll geschehn?« fragte Graf Leinsdorf dankbar und bekümmert. »Wir müssen doch wenigstens etwas Vorläufiges finden!«
»Deutschland ist ein verhältnismäßig naives, von Kraft strotzendes Land« sagte Arnheim, als müßte er dem Vorwurf seiner Freundin mit einer Entschuldigung begegnen. »Man hat ihm das Schießpulver und den Schnaps gebracht.«
Tuzzi lächelte zu diesem Gleichnis, das ihm mehr als kühn vorkam.
»Es läßt sich nicht leugnen, daß Deutschland in den Kreisen, die von unserer Aktion erfaßt werden sollen, einer wachsenden Abneigung begegnet.« Graf Leinsdorf ließ sich die Gelegenheit nicht entgehen, diese Bemerkung einzuflechten. »Leider sogar auch in den Kreisen, die schon erfaßt sind!« fügte er mirakulös hinzu.
Er war überrascht, als ihm Arnheim erklärte, daß ihn das nicht wundere. »Wir Deutschen« entgegnete dieser »sind ein unseliges Volk; wir wohnen nicht nur im Herzen Europas, sondern wir leiden auch als dieses Herz...«
»Herz?« fragte Se. Erlaucht unwillkürlich. Er hätte Gehirn statt Herz erwartet und würde das auch lieber zugestanden haben. Aber Arnheim beharrte auf Herz. »Erinnern Sie sich,« fragte er »daß vor nicht langer Zeit die Gemeindeverwaltung von Prag eine große Bestellung nach Frankreich vergeben hat, obgleich wir selbstverständlich auch ein Angebot gemacht hatten und besser und billiger geliefert hätten. Das ist einfach gefühlsmäßige Abneigung. Und ich muß sagen, daß ich sie vollkommen begreife.«
Ehe er noch weiterreden konnte, meldete sich erfreut Stumm von Bordwehr zum Wort und erklärte das. »In der ganzen Welt plagen sich die Menschen, aber in Deutschland noch mehr« sagte er. »In der ganzen Welt machen sie heute Lärm, aber in Deutschland am meisten. Überall hat das Geschäft den Zusammenhang mit der tausendjährigen Kultur verloren, aber im Reich am ärgsten. Überall steckt man die beste Jugend natürlich in die Kasernen, aber die Deutschen haben noch mehr Kasernen als alle anderen. Und darum ist es in gewissem Sinn für uns eine Bruderpflicht,« schloß er »nicht zu weit hinter Deutschland zurückzustehen. Ich bitte um Verzeihung, wenn ich paradox sein sollte, aber der Intellekt hat eben heute solche Verwicklungen!«
Arnheim nickte zustimmend. »Vielleicht ist Amerika noch schlimmer als wir,« fügte er hinzu »aber es ist das wenigstens völlig naiv, ohne unsere geistige Zerrissenheit. Wir sind in jeder Hinsicht das Volk der Mitte, wo alle Motive der Welt sich kreuzen. Bei uns ist die Synthese am dringendsten. Wir wissen es. Wir haben eine Art Sündenbewußtsein. Aber indem ich das gleich zu Anfang vorausgeschickt habe, verlangt die Gerechtigkeit auch das Zugeständnis, daß wir für die anderen leiden, ihre Fehler gleichsam als Vorbild auf uns nehmen, in gewissem Sinn für die Welt gelästert oder gekreuzigt werden, oder wie man das ausdrücken will. Und eine Umkehr Deutschlands wäre wohl das Bedeutendste, was sich ereignen könnte. Ich vermute, daß in der geteilten und, wie es scheint, etwas leidenschaftlichen Stellungnahme gegen uns, von der Sie sprachen, eine Ahnung davon enthalten ist!«
Nun mischte sich auch Ulrich ein. »Die Herren unterschätzen die deutschlandfreundlichen Strömungen. Ich habe verläßlich die Nachricht, daß in allernächster Zeit eine heftige Kundgebung gegen unsere Aktion losbrechen wird, weil sie in heimatlichen Kreisen für deutschfeindlich gilt. Erlaucht werden das Volk von Wien auf der Straße sehn. Man wird gegen die Berufung des Barons Wisnieczky auftreten. Man nimmt an, daß die Herren Tuzzi und Arnheim in heimlichem Einvernehmen stehen, Erlaucht aber den deutschen Einfluß auf die Parallelaktion durchkreuzen.«
Graf Leinsdorfs Blick hatte jetzt etwas von der Ruhe eines Frosches und der Gereiztheit eines Stiers. Tuzzis Auge hob sich langsam und warm und heftete sich fragend an Ulrich. Arnheim lachte herzlich und stand auf; er hätte gewünscht, den Sektionschef höflich humoristisch ansehen zu können, um sich auf solche Weise wegen der ihnen gemeinsam zugemuteten Absurdität zu entschuldigen, aber da er seiner nicht habhaft werden konnte, wandte er sich an Diotima. Tuzzi hatte Ulrich inzwischen am Arm genommen und fragte ihn, wo er seine Neuigkeit her habe. Ulrich erwiderte, daß sie kein Geheimnis sei, sondern ein öffentlich verbreitetes und vielfach geglaubtes Gerücht, das er in einem Privathaus erfahren habe. Tuzzi näherte ihm sein Gesicht und zwang ihn, das seine aus dem Kreis zu beugen; so geschützt, flüsterte er ihm plötzlich zu: »Sie wissen noch immer nicht, warum Arnheim hier ist? Er ist ein intimer Freund von Fürst Mosjoutoff und Persona grata beim Zaren. Steht in Verbindung mit Rußland und soll die hiesige Aktion pazifistisch beeinflussen. Alles inoffiziell, sozusagen private Initiative der russischen Majestät. Ideologische Angelegenheit. Etwas für Sie, mein Freund!« schloß er spöttisch; »Leinsdorf hat keine Ahnung davon!«
Sektionschef Tuzzi hatte diese Nachricht durch seinen amtlichen Apparat erfahren. Er glaubte sie, weil er Pazifismus für eine Bewegung hielt, die gut zu der Gesinnung einer schönen Frau paßte und es erklärte, daß Diotima von Arnheim entflammt war und Arnheim sich mehr in seinem Hause aufhielt als anderswo. Er war vorher nahe daran gewesen, eifersüchtig zu werden. Er hielt »geistige« Neigungen nur bis zu einem gewissen Grad für möglich, aber es widerstrebte ihm, listige Mittel anzuwenden, um herauszubekommen, ob dieser Grad noch gewahrt sei, darum hatte er sich gezwungen, seiner Frau zu vertrauen; aber wenn sich darin das Gefühl für eine männlich-vorbildliche Haltung auch stärker erwies als die Geschlechtsgefühle, so erregten diese immerhin noch genug Eifersucht in ihm, um ihm zum erstenmal klarzumachen, daß ein Mann mit Beruf niemals die Zeit hat, seine Frau zu überwachen, wenn er die Aufgaben seines Lebens nicht vernachlässigen will. Er sagte sich zwar, wenn schon ein Lokomotivführer keine Frau auf der Maschine haben dürfe, so dürfe noch viel weniger ein Mann, der ein Reich lenkt, eifersüchtig sein, aber die edle Unwissenheit, in der er auf diese Weise verblieb, paßte wieder nicht zur Diplomatie und raubte Tuzzi etwas von seiner beruflichen Sicherheit. Darum fand er sein volles Selbstvertrauen mit großer Dankbarkeit wieder, als sich alles, was ihn beunruhigte, harmlos aufzuklären schien. Nun kam es ihm sogar wie eine kleine Strafe für seine Frau vor, daß er alles von Arnheim schon wußte, während sie noch nichts als den Menschen in diesem sah und nicht ahnte, daß er ein Sendling des Zaren sei; Tuzzi bat sie wieder mit großem Vergnügen um kleine Aufklärungen, die sie gnädig-ungeduldig übernahm, und er hatte sich eine ganze Reihe von scheinbar harmlosen Fragen ausgedacht, aus deren Beantwortung er seine Schlüsse ziehen wollte. Gerne würde der Gatte auch dem »Vetter« einiges davon erzählt haben und erwog gerade, wie er es tun könne, ohne seine eigene Frau bloßzustellen, als Graf Leinsdorf die Leitung des Gesprächs wieder in die Hand nahm. Er war als einziger sitzen geblieben, und niemand hatte beobachtet, was in ihm vorgegangen war, seit sich die Schwierigkeiten gehäuft hatten. Sein Kämpferwille schien sich aber gesammelt zu haben, er drehte seinen Wallensteinbart und sagte langsam und fest: »Es muß etwas geschehn!«
»Erlaucht haben einen Beschluß gefaßt?« fragte man ihn.
»Es ist mir nichts eingefallen« erwiderte er schlicht; »aber trotzdem muß etwas geschehn!« Und saß da wie ein Mann, der sich nicht wegrühren wird, ehe sein Wille erfüllt ist.
Es ging eine Kraft davon aus, so daß jeder die leere Anstrengung, etwas zu finden, in sich schlottern fühlte wie einen Pfennig, der sich in der Sparbüchse verloren hat und trotz allen Schüttelns nicht aus dem Schlitz heraus will.
Arnheim sagte: »Ach, man darf sich doch nicht nach solchen Vorkommnissen richten!«
Leinsdorf antwortete nicht.
Es wurde noch einmal die ganze Geschichte der Vorschläge wiederholt, die der Parallelaktion einen Inhalt hätten geben sollen.
Graf Leinsdorf antwortete darauf wie ein Pendel, das jedesmal eine andere Lage hat und immer wieder den gleichen Weg zurücklegt: »Das erlaubt die Rücksicht auf die Kirche nicht. Das erlaubt die Rücksicht auf die Freidenker nicht. Dagegen hat sich der Zentralverein der Architekten gewehrt. Dagegen hat das Finanzministerium Bedenken.« Es ging ohne Ende in der gleichen Weise weiter.
Ulrich, der sich nicht daran beteiligte, fand sich in einem Zustand, als ob die fünf Personen, die da sprachen, soeben aus einer flüssigen Trübung herauskristallisiert wären, die seine Sinne seit Monaten umfangen gehalten hatte. Was sollte es heißen, daß er zu Diotima gesagt hatte, man müsse sich der Unwirklichkeit bemächtigen, oder ein andermal, man solle die Wirklichkeit abschaffen?! Da saß sie nun, hatte solche Sätze in der Erinnerung und mochte allerhand von ihm denken. Und wie war er dazu gekommen, ihr zu erzählen, daß man wie eine Figur auf einer Buchseite leben sollte? Er nahm an, daß sie das längst schon Arnheim weitererzählt haben werde!
Er nahm aber auch an, daß er so gut wie jeder andere Mensch wisse, wieviel Uhr es sei oder was ein Regenschirm koste! Wenn er trotzdem in diesem Augenblick seinen Standpunkt zwischen sich und den anderen hatte, gleich weit von da und dort, so war dies nicht in die Form einer Wunderlichkeit gekleidet, wie sie ein gedämpfter und abwesender Bewußtseinszustand mit sich bringen mag, sondern er empfand im Gegenteil wieder jene in sein Leben eindringende Helle, die er schon zuvor in Bonadeas Gegenwart wahrgenommen hatte. Er erinnerte sich, wie er, vor gar nicht langer Zeit, im Herbst mit Tuzzis auf der Rennbahn gewesen war, als es einen Zwischenfall mit großen verdächtigen Wettverlusten gab und aus friedlichen Zuschauermassen im Nu eine See wurde, die in den Platz flutete und nicht nur alles, was in ihrem Bereich war, zerstörte, sondern auch die Kassen plünderte, ehe sie sich unter dem Einfluß der Polizei wieder zu einer Versammlung von Menschen zurückbildete, die einem harmlosen und gewohnten Vergnügen beiwohnen wollen. Angesichts solcher Geschehnisse war es lächerlich, an Gleichnisse und verschwimmende Grenzformen zu denken, die möglicher- oder auch unmöglicherweise das Leben annehmen könnte. Ulrich fühlte ein unbeschädigtes Verständnis dafür in sich, daß das Leben ein derber und notvoller Zustand sei, worin man nicht zu viel an das Morgen denken dürfe, weil man genug Mühe mit dem Heute hat. Wie könnte man übersehen, daß die Menschenwelt nichts Schwebendes ist, sondern nach gedrungenster Festigkeit verlangt, weil sie bei jeder Unregelmäßigkeit fürchten muß, gleich ganz aus den Fugen zu gehn! Ja noch mehr, wie könnte ein guter Beobachter nicht anerkennen, daß dieses Lebensgemisch von Sorgen, Trieben und Ideen, das die Ideen höchstens zu seiner Rechtfertigung mißbraucht oder als Reizmittel benützt, gerade so wie es ist, formend und bindend auf sie wirkt, die ihre natürliche Bewegung und Begrenzung davon erhalten! Man preßt wohl den Wein aus den Trauben, aber wieviel schöner, als es ein Teich voll Wein wäre, ist der Weinberg mitsamt seiner ungenießbaren, rohen Erde und seinen unübersehbar flimmernden Pflockreihen aus totem Holz! »Mit einem Wort, die Schöpfung« dachte er »ist nicht einer Theorie zuliebe entstanden, sondern« und er wollte sagen, aus Gewalt, doch da sprang ein anderes Wort ein, als er erwartet hatte, und sein Gedanke ging so zu Ende: »sondern sie entsteht aus Gewalt und Liebe, und die übliche Verbindung zwischen diesen beiden ist falsch!«
In diesem Augenblick waren Gewalt und Liebe für Ulrich wieder nicht ganz die gewöhnlichen Begriffe. Alles, was er an Neigung zum Bösen und Harten besaß, lag in dem Wort Gewalt, es bedeutete den Ausfluß jedes ungläubigen, sachlichen und wachen Verhaltens; hatte doch eine gewisse harte, kalte Gewalttätigkeit auch bis in seine Berufsneigungen hineingespielt, so daß er vielleicht nicht ganz ohne eine Absicht auf das Grausame Mathematiker geworden war. Das hing zusammen wie das Dickicht eines Baums, das den Stamm selbst verdeckt. Und wenn man von Liebe nicht bloß im üblichen Sinn spricht, sondern sich bei ihrem Namen nach einem Zustand sehnt, der bis in die Atome des Körpers anders ist als der Zustand der Liebesarmut; oder wenn man fühlt, daß man ebensogut jede Eigenschaft an sich hat wie keine; oder wenn man unter dem Eindruck steht, daß nur Seinesgleichen geschieht, weil das Leben – zum Platzen voll Einbildung auf sein Hier und Jetzt, letzten Endes aber ein sehr Ungewisser, ja ausgesprochen unwirklicher Zustand! – sich in die paar Dutzend Kuchenformen stürzt, aus denen die Wirklichkeit besteht; oder daß an allen Kreisen, in denen wir uns drehen, ein Stück fehlt; daß von allen Systemen, die wir errichtet haben, keines das Geheimnis der Ruhe besitzt: so hängt auch das, so verschieden es aussieht, zusammen wie die Äste eines Baums, die nach allen Seiten den Stamm verbergen.
In diesen beiden Bäumen wuchs getrennt sein Leben. Er konnte nicht sagen, wann es in das Zeichen des Baums des harten Gewirrs getreten war, aber früh war das geschehen, denn schon seine unreifen napoleonischen Pläne zeigten den Mann, der das Leben als eine Aufgabe für seine Tätigkeit und Sendung ansah. Dieser Drang zum Angriff auf das Leben und zur Herrschaft darüber war jederzeit deutlich zu bemerken gewesen, mochte er sich als Ablehnung bestehender oder als wechselndes Streben nach neuer Ordnung, als logisches, als moralisches oder sogar bloß als das Verlangen nach athletischer Vorbereitung des Körpers dargestellt haben. Und alles, was Ulrich im Lauf der Zeit Essayismus und Möglichkeitssinn und phantastische, im Gegensatz zur pedantischen Genauigkeit genannt hatte, die Forderungen, daß man Geschichte erfinden müßte, daß man Ideen-, statt Weltgeschichte leben sollte, daß man sich dessen, was sich nie ganz verwirklichen läßt, zu bemächtigen und am Ende vielleicht so zu leben hätte, als wäre man kein Mensch, sondern bloß eine Gestalt in einem Buch, von der alles Unwesentliche fortgelassen ist, damit sich das übrige magisch zusammenschließe, – alle diese, in ihrer ungewöhnlichen Zuspitzung wirklichkeitsfeindlichen Fassungen, die seine Gedanken angenommen hatten, besaßen das Gemeinsame, daß sie auf die Wirklichkeit mit einer unverkennbaren schonungslosen Leidenschaftlichkeit einwirken wollten.
Schwieriger zu erkennen, weil schatten- und traumhafter, waren die Zusammenhänge im anderen Baum, in dessen Bild sich sein Leben darstellte. Ursprüngliche Erinnerung an ein kindhaftes Verhältnis zur Welt, an Vertrauen und Hingabe mochte den Grund bilden; in der Ahnung, einmal als weite Erde gesehen zu haben, was sonst nur den Topf füllt, aus dem die kümmerlichen Gewächse der Moral sprießen, hatte das weitergelebt. Ohne Zweifel bildete jene leider etwas lächerliche Geschichte mit der Frau Major den einzigen Versuch zu voller Ausbildung, der auf der sanften Schattenseite seines Wesens entstanden war, und bezeichnete zugleich den Beginn eines Rückschlags, der nicht mehr endete. Blätter und Zweige des Baums trieben seither auf der Oberfläche umher, aber dieser selbst blieb verschwunden, und es ließ sich nur an solchen Zeichen erkennen, daß er doch noch vorhanden war. Am deutlichsten hatte sich diese untätige Hälfte seines Wesens vielleicht in der unwillkürlichen Überzeugung von der bloß vorläufigen Nützlichkeit der tätigen und rührigen Hälfte ausgeprägt, den sie wie einen Schatten auf diese warf. Bei allem, was er unternahm – körperliche Leidenschaften ebenso darunter verstanden wie geistige –, war er sich schließlich wie der Gefangene von Vorbereitungen vorgekommen, die nicht zu ihrem eigentlichen Ende kamen, und im Verlauf der Jahre war seinem Leben darüber das Gefühl der Notwendigkeit ausgegangen wie das Öl in einer Lampe. Seine Entwicklung hatte sich offenbar in zwei Bahnen zerlegt, eine am Tag liegende und eine dunkel abgesperrte, und der ihn umlagernde Zustand eines moralischen Stillstands, der ihn seit langem und vielleicht mehr als nötig bedrückt hatte, konnte von nichts anderem als davon kommen, daß es ihm niemals gelungen war, diese beiden Bahnen zu vereinen.
Nun erkannte Ulrich, in der Erinnerung daran, daß sich ihm ihre unmögliche Verbindung zuletzt in dem gespannten Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit, Gleichnis und Wahrheit dargestellt hatte, mit einemmal, daß alles das beiweitem mehr bedeute als nur eine zufällige Eingebung in einem der wie ziellose Wege verschlungenen Gespräche, die er in der letzten Zeit mit den unpassendsten Personen geführt hatte. Denn so weit die menschliche Geschichte zurückreicht, lassen sich diese beiden Grundverhaltensweisen des Gleichnisses und der Eindeutigkeit unterscheiden. Eindeutigkeit ist das Gesetz des wachen Denkens und Handelns, das ebenso in einem zwingenden Schluß der Logik wie in dem Gehirn eines Erpressers waltet, der sein Opfer Schritt um Schritt vor sich her drängt, und sie entspringt der Notdurft des Lebens, die zum Untergang führen würde, wenn sich die Verhältnisse nicht eindeutig gestalten ließen. Das Gleichnis dagegen ist die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum herrscht, es ist die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht; aber auch was es an gewöhnlicher Neigung und Abneigung, Übereinstimmung und Ablehnung, Bewunderung, Unterordnung, Führerschaft, Nachahmung und ihren Gegenerscheinungen im Leben gibt, diese vielfältigen Beziehungen des Menschen zu sich und der Natur, die noch nicht rein sachlich sind und es vielleicht auch nie sein werden, lassen sich nicht anders begreifen als in Gleichnissen. Ohne Zweifel ist das, was man die höhere Humanität nennt, nichts als ein Versuch, diese beiden großen Lebenshälften des Gleichnisses und der Wahrheit miteinander zu verschmelzen, indem man sie zuvor vorsichtig trennt. Hat man aber an einem Gleichnis alles, was vielleicht wahr sein könnte, von dem getrennt, was nur Schaum ist, so hat man gewöhnlich ein wenig Wahrheit gewonnen und den ganzen Wert des Gleichnisses zerstört; diese Trennung mag darum in der geistigen Entwicklung unvermeidlich gewesen sein, doch hatte sie die gleiche Wirkung wie das Einkochen und Eindicken eines Stoffes, dessen innerste Kräfte und Geister sich während dieses Vorgangs als Dampfwolke davonmachen. Es läßt sich heute manchmal nicht der Eindruck abweisen, daß die Begriffe und Regeln des moralischen Lebens nur ausgekochte Gleichnisse sind, um die ein unerträglich fetter Küchendampf von Humanität wallt, und wenn hier eine Abschweifung erlaubt ist, so kann es nur die sein, daß dieser undeutlich über alles ausgebreitete Eindruck auch das zur Folge hatte, was die Gegenwart ehrlich ihre Verehrung des Gemeinen nennen sollte. Denn man lügt heute weniger aus Schwäche als aus der Überzeugung, daß ein Mann, der das Leben meistert, lügen können muß. Man ist gewalttätig, weil die Eindeutigkeit der Gewalt nach langem ergebnislosen Reden wie eine Erlösung wirkt. Man vereinigt sich zu Gruppen, weil Gehorsam alles das zu tun erlaubt, was man aus eigener Überzeugung längst nicht mehr vermöchte, und die Feindseligkeit dieser Gruppen schenkt den Menschen die nimmer ruhende Gegenseitigkeit der Blutrache, während die Liebe sehr bald zum Einschlafen käme. Das hat mit der Frage, ob die Menschen gut oder böse seien, weit weniger zu tun als damit, daß sie die Verbindung von Höhe und Niederung verloren haben. Und nur eine widerspruchsvolle andere Folge dieses Auseinanderfallens ist auch der überladene geistige Schmuck, mit dem sich das Mißtrauen gegen den Geist heute behängt. Die Kuppelung von Weltanschauung mit Tätigkeiten, die nur wenig von ihr vertragen, wie die Politik; die allgemeine Sucht, aus jedem Gesichtspunkt gleich einen Standpunkt zu machen und jeden Standpunkt für einen Gesichtspunkt zu halten; das Bedürfnis von Eiferern jeder Abschattung, die eine Erkenntnis, die ihnen zuteil geworden ist, rundum wie in einem Spiegelkabinett zu wiederholen: alle diese so landläufigen Erscheinungen bedeuten nicht, was sie sein möchten, ein Streben nach Humanität, sondern deren Ausfall. Im ganzen entsteht so der Eindruck, daß aus allen menschlichen Beziehungen erst wieder die falsch darin sitzende Seele völlig entfernt werden müßte; und in dem Augenblick, wo Ulrich dies dachte, fühlte er, daß sein Leben, wenn es überhaupt Sinn besaß, keinen anderen hatte als diesen, daß sich die beiden Grundsphären der Menschlichkeit darin selbst zerlegt zeigten und einander in der Wirkung entgegenstanden. Solche Menschen werden offenbar heute geboren, aber sie bleiben noch allein, und allein war er nicht imstande, das Auseinandergefallene von neuem zusammenzubringen. Er gab sich keiner Täuschung über den Wert seiner Gedankenexperimente hin; wohl mochten sie niemals ohne Folgerichtigkeit Gedanke an Gedanke fügen, aber es geschah doch so, als würde Leiter auf Leiter gestellt, und die Spitze schwankte schließlich in einer Höhe, die weit entfernt vom natürlichen Leben war. Er empfand tiefe Abneigung dagegen.
Und vielleicht aus diesem Grund geschah es, daß er plötzlich Tuzzi ansah. Tuzzi sprach. Als öffnete sich sein Ohr den ersten Lauten des Morgens, hörte ihn Ulrich sagen: »Ich vermag nicht zu beurteilen, ob große menschliche und künstlerische Leistungen heute nicht vorhanden seien, wie Sie sagen; aber das eine darf ich behaupten, daß nirgends die Außenpolitik so schwierig ist wie bei uns. Es läßt sich einigermaßen voraussehen, daß die Politik der Franzosen auch im Jubiläumsjahr von den Gedanken der Revanche und des Kolonialbesitzes geleitet sein wird, die der Engländer von ihrem Bauernschach auf dem Weltbrett, wie man die Art ihres Vorgehens genannt hat, endlich die der Deutschen von dem, was sie in einer nicht immer eindeutigen Weise ihren Platz an der Sonne nennen: aber unsere alte Monarchie ist bedürfnislos, und darum weiß kein Mensch vorher, zu welchen Auffassungen wir bis dahin gezwungen werden können!« Es schien, daß Tuzzi bremsen und warnen wollte. Er redete offenbar ohne ironische Absicht; das Aroma der Ironie ging lediglich von der naiven Sachlichkeit aus, in deren trockener Schale er die Überzeugung darbot, daß weltliche Bedürfnislosigkeit eine große Gefahr sei. Ulrich fühlte sich davon ermuntert, als ob er auf eine Kaffeebohne gebissen hätte. Inzwischen hatte sich Tuzzi in seiner warnenden Absicht aber noch versteift und führte seine Rede zu Ende. »Wer darf sich heute« fragte er »denn überhaupt trauen, große politische Ideen zu verwirklichen?! Er müßte ein Stück Verbrecher und Bankerotteur in sich haben! Das wollen Sie doch nicht? Diplomatie ist dazu da, um zu konservieren.«
»Das Konservieren führt zum Krieg« erwiderte Arnheim.
»Das kann schon sein« meinte Tuzzi. »Wahrscheinlich bleibt es das einzige, was man tun kann, daß man den Augenblick, wo man hineingeführt wird, günstig wählt! Erinnern Sie sich an die Geschichte Alexanders des Zweiten? Sein Vater Nikolai war ein Despot, aber er ist eines natürlichen Todes gestorben; Alexander dagegen war ein hochherziger Herrscher, der seine Regierung sogleich mit liberalen Reformen begann; die Folge war, daß aus dem russischen Liberalismus der russische Radikalismus geworden ist und Alexander nach drei vergeblichen Mordversuchen einem vierten zum Opfer fiel.«
Ulrich sah Diotima an. Aufgerichtet, aufmerksam, ernst und üppig saß sie da und bekräftigte die Worte ihres Gatten. »Das ist richtig. Ich habe vom geistigen Radikalismus auch bei unseren Bestrebungen den Eindruck gewonnen: wenn man ihm einen Finger reicht, will er gleich die ganze Hand.«
Tuzzi lächelte; es kam ihm vor, er habe einen kleinen Sieg über Arnheim davongetragen.
Arnheim saß ungerührt dabei, die Lippen wie eine aufgesprungene Knospe atmend geöffnet. Wie ein verschlossener Turm des Fleisches sah Diotima über ein tiefes Tal zu ihm hinüber.
Der General putzte seine Hornbrille.
Ulrich sagte langsam: »Das kommt nur davon, daß die Bemühun  gen aller, die sich berufen fühlen, den Sinn des Lebens wiederherzustellen, heute das eine gemeinsam haben, daß sie dort, wo man nicht bloß persönliche Ansichten, sondern Wahrheiten gewinnen könnte, das Denken verachten; dafür legen sie sich dort, wo es auf die Unerschöpflichkeit der Ansichten ankommt, auf Schnellbegriffe und Halbwahrheiten fest!« Niemand antwortete darauf. Warum hätte auch jemand antworten sollen? Was man so spricht, sind doch nur Worte. Das Tatsächliche war, daß sie zu sechs Personen in einem Zimmer saßen und eine wichtige Unterredung hatten; was sie dabei redeten und auch was sie nicht redeten, gar aber Gefühl, Ahnung, Möglichkeit war in dieser Tatsächlichkeit eingeschlossen, ohne ihr gleichgestellt zu sein, es war etwa so darin eingeschlossen, wie es die dunklen Bewegungen von Leber und Magen in einer angekleideten Person sind, die soeben ihre Unterschrift unter eine wichtige Urkunde setzt. Und diese Rangordnung durfte man nicht verletzen, darin bestand die Wirklichkeit!
Ulrichs alter Freund Stumm war jetzt mit der Klärung seiner Brille fertig, setzte sie auf und sah ihn an.
Obgleich Ulrich mit allen diesen Personen immer nur gespielt zu haben glaubte, fühlte er sich mit einemmal sehr verlassen zwischen ihnen. Er erinnerte sich, vor einigen Wochen oder Monaten etwas Ähnliches gefühlt zu haben wie in diesem Augenblick: Widerstreben eines kleinen entlassenen Atemzuges der Schöpfung gegen die versteinte Mondlandschaft, in die er hineingerät; und es wollte ihm scheinen, daß alle entscheidenden Augenblicke seines Lebens von einem solchen Eindruck des Staunens und der Einsamkeit begleitet worden waren. Aber war es dieses Mal Angst, was ihn dabei belästigte? Er vermochte sich über sein Gefühl nicht klarzuwerden; es sagte ihm ungefähr, daß er sich noch nie im Leben wahrhaft entschieden habe und es bald werde tun müssen, aber das dachte er nicht in angemessenen Worten, sondern fühlte es eben nur in seinem Unbehagen, als wollte ihn etwas von diesen Menschen, zwischen denen er saß, wegreißen, und obwohl sie ihm doch ganz gleichgültig waren, stemmte sich sein Wille plötzlich mit Armen und Beinen dagegen!
Graf Leinsdorf, den das Schweigen, das inzwischen eingetreten war, an die Pflichten eines Realpolitikers erinnert hatte, sagte mahnend: »Also was soll geschehn? Wir müssen doch wenigstens vorläufig irgend etwas Entscheidendes tun, um den Gefahren für unsere Aktion vorzubeugen!«
Da unternahm Ulrich einen unsinnigen Versuch. »Erlaucht,« sagte er »es gibt nur eine einzige Aufgabe für die Parallelaktion: den Anfang einer geistigen Generalinventur zu bilden! Wir müssen ungefähr das tun, was notwendig wäre, wenn ins Jahr 1918 der Jüngste Tag fiele, der alte Geist abgeschlossen werden und ein höherer beginnen sollte. Gründen Sie im Namen Seiner Majestät ein Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele; alle anderen Aufgaben sind vorher unlösbar oder nur Scheinaufgaben!« Und Ulrich fügte einiges von dem hinzu, was ihn in den Minuten seiner Versunkenheit beschäftigt hatte.
Während er so sprach, schien es ihm, daß allen nicht nur die Augen aus den Höhlen traten, sondern vor Überraschung sogar die ganzen Oberkörper aus den Sitzflächen; man erwartete, daß nach dem Hausherrn nun er eine Anekdote zum besten geben wolle, und als der Witz nicht kam, saß er wie ein kleines Kind zwischen schiefen Türmen, die sein einfältiges Spiel etwas beleidigt betrachten. Nur Graf Leinsdorf machte ein freundliches Gesicht. »Das ist schon ganz recht,« meinte er erstaunt »aber wir haben doch die Pflicht, über die Andeutungen hinauszugelangen, bis wir was Wahres haben, und Besitz und Bildung haben uns da eben gründlich im Stich gelassen!«
Arnheim glaubte, den adeligen Herrn davor bewahren zu müssen, daß er auf Ulrichs Scherze hereinfalle. »Unser Freund wird von einer bestimmten Idee verfolgt« erläuterte er; »er glaubt daran, daß es eine Art synthetischer Erzeugung des richtigen Lebens gibt, so wie man einen synthetischen Kautschuk oder Stickstoff herstellen kann. Aber der menschliche Geist« – er wandte sich mit seinem ritterlich vollkommensten Lächeln Ulrich zu – »hat leider die Beschränkung, daß sich seine Lebensformen nicht wie die Versuchsmäuse im Laboratorium züchten lassen, sondern daß ein großer Kornboden höchstens ausreicht, um ein paar Mausfamilien zu tragen!« Er entschuldigte sich noch bei den übrigen für diesen gewagten Vergleich, aber er war zufrieden mit ihm, weil er etwas zu Graf Leinsdorf passendes Landwirtschaftlich-Grundadeliges hatte und doch den Unterschied zwischen Gedanken mit und ohne Verantwortlichkeit für die Ausführung lebhaft ausdrückte.
Aber Se. Erlaucht schüttelte ärgerlich den Kopf. »Ich versteh den Herrn Doktor schon ganz gut« meinte er. »Früher sind die Menschen in die Verhältnisse, die sie vorgefunden haben, hineingewachsen, und das war eine verläßliche Art, in der sie zu sich gekommen sind; aber heute, bei der Durcheinanderschüttelung, wo alles von Grund und Boden gelöst wird, müßte man schon sozusagen auch bei der Erzeugung der Seele die Überlieferung des Handwerks durch die Intelligenz der Fabrik ersetzen.« Es war dies eine jener bemerkenswerten Antworten, die dem hohen Herrn zuweilen überraschend unterliefen; denn er hatte während der ganzen Zeit, ehe er das sagte, Ulrich nur mit einem fassungslosen Ausdruck angestarrt.
»Aber alles das, was der Herr Doktor sagt, ist doch ganz undurchführbar!« stellte Arnheim mit Nachdruck fest.
»Aber warum nicht gar!« meinte Graf Leinsdorf kurz und kampflustig.
Diotima legte sich ins Mittel. »Aber Erlaucht,« sagte sie, als bäte sie ihn um etwas, das man nicht aussprechen will, nämlich zur Vernunft zu kommen, »alles, was mein Vetter sagt, haben wir doch schon längst versucht! Was sollten denn diese anstrengenden großen Besprechungen wie die heutige anderes sein?!« »Ja?« erwiderte die gereizte Erlaucht. »Und ich habe mir gleich gedacht, daß bei diesen gescheiten Männern nichts herauskommen wird! Diese Psychoanalyse und Relativitätstheorie, und wie das Zeug alles heißt, das ist ja alles nur Eitelkeit! Jeder möchte sich die Welt auf eine besondere Weise zurechtlegen! Ich sage Ihnen, der Herr Doktor hat sich vielleicht nicht ganz einwandfrei ausgedrückt, aber im Grund hat er ganz recht! Immer wird etwas Neues gemacht, kaum daß eine neue Zeit angefangen hat, und nie kommt etwas G`scheites heraus!« Die Nervosität, die der verfehlte Verlauf der Parallelaktion hervorrief, war durchgebrochen. Graf Leinsdorf drehte jetzt statt des Bartes gereizt einen Daumen um den anderen, ohne es zu gewahren. Vielleicht war auch die Abneigung gegen Arnheim durchgebrochen. Denn als Ulrich angefangen hatte von Seele zu sprechen, war Graf Leinsdorf sehr verwundert gewesen, aber was er dann hörte, gefiel ihm ganz gut. »Daß solche Leute wie der Arnheim so viel von ihr reden,« dachte er »ist ja doch nur Pflanz; das braucht man nicht, dafür ist schon die Religion da.« Aber auch Arnheim war bis in die Lippen blaß geworden. In einem solchen Ton wie jetzt mit ihm hatte Graf Leinsdorf bisher nur zum General gesprochen. Er war nicht der Mann sich das bieten zu lassen! Aber unwillkürlich hatte die Entschiedenheit, mit der Se. Erlaucht an die Seite Ulrichs getreten war, Eindruck auf ihn gemacht und rief nun wieder seine eigenen schmerzlichen Empfindungen für diesen wach. Es verwirrte ihn, daß er sich mit Ulrich aussprechen wollte und doch nicht die Gelegenheit dazu gefunden hatte, ehe es nun zu einem Zusammenstoß vor allen kommen mußte; und gerade auf diese Weise geschah es, daß er sich nicht gegen Graf Leinsdorf wandte, den er einfach beiseite ließ, sondern mit allen Zeichen heftiger körperlicher Erregung, die man an ihm nicht zu sehen gewohnt war, das Wort an Ulrich richtete. »Glauben Sie denn selbst an alles, was Sie gesagt haben?!« fragte er streng und alle Rücksicht der Höflichkeit übergehend. »Glauben Sie an die Durchführbarkeit? Sind Sie wirklich der Meinung, daß man bloß nach ›Gesetzen der Analogie‹ leben könne? Was würden Sie also tun, wenn Ihnen nun Seine Erlaucht völlig freie Hand ließe?! Sagen Sie es doch, ich bitte Sie eindringlich darum!«
Der Augenblick war peinlich. Diotima fiel merkwürdigerweise eine Geschichte ein, die sie vor einigen Tagen in der Zeitung gelesen hatte. Eine Frau war zu einer furchtbaren Strafe verurteilt worden, weil sie ihrem Geliebten die Gelegenheit geboten hatte, ihren alten Mann umzubringen, der seit Jahren die Ehe nicht mehr »vollzog« und doch in keine Trennung willigte. Dieser Vorfall hatte durch seine fast medizinische Körperlichkeit und eine gewisse gegensätzliche Anziehung ihre Aufmerksamkeit erregt; wie die Verhältnisse lagen, war alles so verständlich, daß man keine der Personen als schuldig empfand, in ihrer beschränkten Möglichkeit, sich zu helfen, sondern irgendwie ein widernatürliches Ganzes, das solche Zustände schuf. Sie begriff nicht, warum sie gerade daran jetzt denken mußte. Aber sie dachte auch daran, daß Ulrich in der letzten Zeit zu ihr viel »Schwankendes und Schwebendes« gesprochen habe, und ärgerte sich, weil er immer gleich eine Unverschämtheit damit verband. Und sie selbst hatte davon gesprochen, daß in bevorzugten Menschen die Seele aus ihrer Uneigentlichkeit hervorzutreten vermöchte, und darum kam ihr vor, daß ihr Vetter genau so unsicher sei wie sie selbst und vielleicht ebenso leidenschaftlich. Und das alles war in ihrem Kopf oder in ihrem Busen, dem verlassenen Sitz der gräflich Leinsdorfischen Freundschaft, augenblicklich mit der Geschichte der verurteilten Frau in einer Weise verflochten, daß sie mit geöffneten Lippen dasaß und das Gefühl hatte, es werde etwas Furchtbares geschehen, wenn man Arnheim und Ulrich gewähren lasse, aber vielleicht erst recht, wenn man nicht gewähren lasse und sich einmenge.
Ulrich aber hatte, während Arnheim ihn angriff, Sektionschef Tuzzi angesehn. Tuzzi verbarg nur mit Mühe eine fröhliche Neugierde zwischen den braunen Falten seines Gesichts. Nun komme ja, wie es scheine, das Getue in seinem Hause an seinen eigenen Gegensätzen zum Zerspringen, dachte er. Er hatte auch für Ulrich kein Mitgefühl; was dieser Mensch redete, ging ihm ganz gegen die Natur, denn er war überzeugt, daß der Wert eines Mannes im Willen liege,   oder im Beruf, und jedenfalls nicht in Gefühlen und Gedanken, und schon gar über Gleichnisse solchen Unsinn zu sprechen, fand er geradezu unanständig. Vielleicht ahnte Ulrich etwas davon, denn es fiel ihm ein, daß er Tuzzi einmal angekündigt habe, er werde sich töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche; er hatte das nicht gerade mit diesen Worten gesagt, aber immerhin peinlich deutlich, und fühlte sich beschämt. Und wieder hatte er den nicht recht begründeten Eindruck, eine Entscheidung sei nahe. Er dachte in diesem Augenblick an Gerda Fischel und erkannte die Gefahr, daß sie zu ihm kommen und das letzte Gespräch fortsetzen werde. Es wurde ihm plötzlich klar, daß sie, wenn er auch nur damit gespielt hatte, schon bis an die äußerste Grenze der Worte gekommen seien, und von da weiter gab es nur noch einen Schritt: auf die schwebenden Wünsche des Mädchens liebevoll einzugehen, sich geistig zu entgürten, die »zweite Umwallung« zu übersteigen. Aber das war verrückt, und er war überzeugt, daß es ihm immer unmöglich sein werde, mit Gerda so weit zu gehen, und daß er sich überhaupt nur deshalb mit ihr eingelassen habe, weil er bei ihr sicher war. Er befand sich in einem eigentümlichen Zustand nüchterner, gereizter Gehobenheit, sah darin Arnheims erregtes Gesicht, faßte auf, wie ihm dieser noch vorwarf, daß er keine »Wirklichkeitsgesinnung« habe und daß – »verzeihen Sie, solche krasse Entweder-Oder allzu jugendlich« – seien, hatte aber völlig das Bedürfnis, darauf zu antworten, verloren. Er sah nach seiner Uhr, lächelte beschwichtigend und bemerkte, daß es sehr spät geworden sei und zu spät, um zu erwidern.
Damit hatte er zum erstenmal wieder Verbindung mit den anderen gefunden. Sektionschef Tuzzi stand sogar auf und bemäntelte diese Ungezogenheit nachträglich nur flüchtig, indem er irgendetwas tat. Auch Graf Leinsdorf hatte sich inzwischen beruhigt; es hätte ihn gefreut, wenn Ulrich imstande gewesen wäre, den »Preußen« abblitzen zu lassen, aber da es nicht geschah, war er es auch so zufrieden. »Wenn einem jemand gefällt, dann gefällt er einem eben!« dachte er. »Da kann der andere noch so gescheit reden!« Und in einer kühnen, aber unbewußten Annäherung an Arnheim und dessen »Geheimnis des Ganzen« fügte er, während er Ulrichs im Augenblick durchaus nicht geistreichen Gesichtsausdruck betrachtete, aufgeräumt hinzu: »Beinahe möchte man ja sagen, daß ein netter, sympathischer Mensch überhaupt nichts ganz Dummes reden oder tun kann!«
Man brach schleunig auf. Der General versorgte seine Hornbrille in der Revolvertasche seiner Hose, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie in die Schöße seines Waffenrocks zu schieben, denn er hatte für dieses zivile Instrument der Weisheit noch keinen passenden Platz gefunden. »Das ist der bewaffnete Ideenfriede!« sagte er dabei, auf den allgemeinen und raschen Aufbruch anspielend, spießgesellenhaft und vergnügt zu Tuzzi.
Nur Graf Leinsdorf hielt die Davonstrebenden noch einmal gewissenhaft zurück. »Also worauf haben wir uns nun schließlich geeinigt?« fragte er, und als niemand eine Antwort fand, fügte er beruhigend hinzu: »Na, wir werden es ja schließlich noch sehn!«
Das Erwachen des Mannes und der Beschluß, Rachel zu verführen, hatten Soliman kalt gemacht wie das Wild den Jäger oder das Schlachttier den Fleischer, aber er wußte nicht, wie er sein Ziel erreichen könne, in welcher Weise dabei vorzugehen sei und welche Umstände des Beisammenseins genügten; mit einem Wort, der Wille des Mannes ließ ihn die ganze Schwäche des Knaben fühlen. Auch Rachel wußte, was kommen mußte, und seit sie Ulrichs Hand vergeßlich in der ihren gehalten und das Abenteuer mit Bonadea bestanden hatte, war sie aus Rand und Band oder sozusagen von großer erotischer Zerstreutheit, die wie ein Blumenregen auch auf Soliman fiel. Allein die Verhältnisse waren ihnen nicht günstig und schufen Verzögerungen; die Köchin war erkrankt, und Rachel mußte ihren Ausgang opfern, der Verkehr im Haus gab zu tun, und Arnheim war zwar oft bei Diotima, aber vielleicht hatte man beschlossen, auf die Kleinen mehr achtzugeben, denn er brachte nur selten seinen Soliman mit, und wenn es geschah, so sahen sie sich nur für Minuten und in Gegenwart ihrer Herrschaften, mit unschuldigen und finsteren Gesichtern, die sie machen mußten.
In dieser Zeit wurden sie beinahe böse auf einander, weil jeder den anderen die Pein fühlen ließ, an einer zu kurzen Kette zu hängen. Soliman verleitete der drängende Trieb überdies zu gewaltsamen Ausfällen; er plante, nachts aus dem Hotel durchzugehn, und damit es sein Herr nicht erführe, stahl er ein Bettuch und versuchte, mit Schneiden und Drehn eine Strickleiter daraus zu machen, es gelang aber nicht, und er ließ das mißbrauchte Laken in einem Lichtschacht verschwinden. Dann überlegte er lange vergeblich, wie man nachts an den Figuren und Gesimsen einer Hauswand hinab- und emporklettern könnte, und sah tagsüber auf seinen Wegen von der Architektur der ihrethalben berühmten Stadt nichts als ihre touristischen Vorteile und Schwierigkeiten; Rachel aber, der er kurz und flüsternd diese Pläne und ihre Hindernisse anvertraute, glaubte, wenn sie abends ihr Licht auslöschte, nicht selten zu Füßen der Mauer den schwarzen Vollmond seines Gesichts auftauchen zu sehn oder hörte ein zirpendes Rufen, dem sie schüchtern Antwort gab, weit aus dem Fenster ihrer Kammer in die leere Nacht gebeugt, ehe sie eben deren Leere einsehen mußte. Sie war aber nicht mehr ungehalten über diese romantischen Störungen, sondern gab sich ihnen mit schmachtender Trauer hin. Dieses Schmachten galt eigentlich Ulrich, und Soliman war der Mann, den man nicht liebt, dessen ungeachtet man sich ihm hingeben wird, worüber sich Rachel durchaus nicht im Zweifel befand; denn daß man sie mit ihm nicht zusammenkommen ließ, daß sie in letzter Zeit ihre Stimmen kaum laut hörten und Ungunst ihrer Oberen über sie gemeinsam hereingebrochen war, wirkte ähnlich, wie eine Nacht voll Ungewißheit, Unheimlichkeiten und Seufzern auf Liebende wirkt, und sammelte ihre glühenden Vorstellungen wie ein Brennglas, unter dessen Strahl man weniger eine angenehme Wärme fühlt, als daß man es nicht länger aushält.
Und hierin war Rachel, die sich nicht mit Strickleitern und Kletterträumen ablenkte, die Praktischere. Aus der Nebelgestalt einer Entführung auf Lebensdauer war bald eine heimlich zu verschaffende Nacht und aus der Nacht, da auch sie unerreichbar blieb, eine unbewachte Viertelstunde geworden; und schließlich dachten weder Diotima noch Graf Leinsdorf oder Arnheim daran, wenn ihr »Amt« sie bewog, nach großen und erfolglosen Versammlungen des Geistes besorgte Überlegungen des Ergebnisses auszutauschen, die sie oft noch eine Stunde lang, bar jedes anderen Bedürfnisses, festhielten, daß eine solche Stunde aus vier Viertelstunden besteht. Aber Rachel hatte das berechnet, und weil die Köchin noch immer nicht ganz auf dem Posten war und die Erlaubnis besaß, sich früh zur Ruhe zu begeben, genoß ihre jüngere Kollegin den Vorzug, so viel zu tun zu haben, daß man nie wissen konnte, wo sie sich gerade aufhielt, und wurde im Zimmerdienst während dieser Zeit nach Möglichkeit geschont. Zur Probe – immerhin bloß so, wie Personen, die zu feig zum Selbstmord sind, so lange vorgespiegelte Versuche unternehmen, bis ihnen einer aus Versehen gelingt – hatte sie schon einige Male Soliman eingeschmuggelt, der mit einer dienstbeflissenen Ausrede für den Fall seiner Entdeckung ausgerüstet war, und hatte ihm zu verstehen gegeben, daß dieser Weg in ihre Kammer auch möglich wäre, und nicht nur der an der Hauswand empor. Über gemeinsames Gähnen im Vorzimmer und lauschende Beobachtung der Lage war das junge Liebespaar aber noch nicht hinausgekommen, bis eines Abends, wo die Stimmen im Zimmer so gleichmäßig einander folgten wie die Töne beim Dreschen, Soliman mit einer wunderschönen Romanphrase erklärte, daß er sich nicht mehr länger zu gedulden vermöge.
Auch in der Kammer war es noch er, der den Riegel vorschob; aber dann trauten sie sich nicht, Licht zu machen, und standen zuerst blind vor einander, irgendwie zugleich mit dem Augenlicht aller Sinne beraubt, wie Statuen in einem dunklen Park. Soliman dachte wohl daran, Rachels Hand zu pressen oder sie ins Bein zu zwicken, damit sie aufschreie, denn so beschaffen waren bisher seine männlichen Siege gewesen, aber er mußte sich Zwang auferlegen, denn sie durften keinen Lärm machen, und als er doch schüchtern einen kleinen rohen Versuch unternahm, strömte aus Rachel bloß ungeduldige Gleichgültigkeit zu ihm zurück. Denn Rachel spürte die Hand des Geschicks, die sie im Kreuz anfaßte und vorwärts schob, während ihr Nase und Stirn eiskalt wurden, als wäre sie schon jetzt von allen ihren Einbildungen verlassen. Da fühlte sich auch Soliman gänzlich von sich verlassen und bis in die Knochen ungeschickt, und es ließ sich nicht absehen, wie das dunkle voreinander Stehen ein Ende finden solle. Schließlich mußte eben die edle, aber etwas erfahrenere Rachel doch den Verführer machen. Und dabei kam ihr der Groll zu Hilfe, den sie gegen Diotima an Stelle der früheren Liebe empfand, denn seit sie sich nicht mehr damit begnügte, Teilhaberin an den hohen Entzückungen ihrer Herrin zu sein, und ihr eigenes Liebesgeschäft betrieb, hatte sie sich sehr verändert. Sie log nicht nur, um ihre Zusammenkünfte mit Soliman zu decken, sondern sie riß auch beim Frisieren mit dem Kamm an Diotimas Haar, um sich für die Aufmerksamkeit zu rächen, mit der ihre Unschuld bewacht wurde. Am meisten aber ärgerte sie nun, was sie früher am höchsten begeistert hatte, daß sie die Hemden, Hosen und Strümpfe tragen mußte, die ihr Diotima schenkte, wenn sie ausgedient hatten; denn wenn sie auch das Weißzeug auf ein Drittel seines Umfangs zusammenschneiderte und gänzlich neu gestaltete, kam sie sich darin eingekerkert vor und fühlte das Joch der Sitte am nackten Leibe. Gerade das gab ihr aber diesmal den erfinderischen Gedanken ein, dessen sie in ihrer Lage Not hatte. Denn sie hatte Soliman ja schon früher von den Veränderungen erzählt, die sich an der Wäsche ihrer Herrin seit geraumer Zeit bemerken ließen, und brauchte sie ihm bloß zu zeigen, um eine Anknüpfung zu finden, die politisch dringend nötig war. »Du kannst daran sehen, wie schlecht sie sind« sagte sie, indem sie Soliman im Dunkel den weißen Mondlichtsaum ihrer Höschen sehen ließ, »und wenn sie etwas miteinander haben, so betrügen sie den Herrn sicher auch in der Geschichte mit dem Krieg, der bei uns vorbereitet wird!« Und als der Knabe vorsichtig die zarten und gefährlichen Hosen betastete, fügte sie etwas atemlos hinzu: »Ich wette, Soliman, daß deine Hosen so schwarz wie du sind; so hab ich es immer gehört!« Und Soliman grub beleidigt, aber sanft seine Nägel in ihr Bein, und Rachel mußte eine Bewegung zu ihm machen, um sich zu befrein, und mußte noch dies und jenes sagen oder tun, was keinen rechten Erfolg hatte, aber schließlich gebrauchte sie ihre spitzen kleinen Zähne und behandelte Solimans Gesicht, das sich kindisch an das ihre preßte und bei jeder Bewegung diesem knabenhaft von neuem in den Weg sprang, wie einen großen Apfel. Und da vergaß sie, sich dieser Anstrengungen, und Soliman vergaß, sich seiner Ungeschicklichkeit zu schämen, und durch das Dunkel sauste der schwebende Sturm der Liebe.
Hart setzte er die Liebenden zur Erde, als er sie losließ; er verschwand durch die Wände, und das Dunkel zwischen ihnen war wie ein Stück Kohle, an dem sich die Sünder schwarz gemacht hatten. Sie wußten nicht, wie spät es sei, überschätzten die verflossene Zeit und fürchteten sich. Rachels zaghafter letzter Kuß schmeckte Soliman wie eine Belästigung; er wünschte Licht zu machen und benahm sich wie ein Einbrecher, der die Beute hat und nun alle Kräfte darauf richtet, gut davonzukommen. Rachel, die verschämt und schnell ihre Kleidung in Ordnung gebracht hatte, sah ihn mit einem Blick an, der kein Ziel und keinen Boden hatte. Über die Augen hing ihr das wirre Haar, und hinter den Augen begegneten ihr zum erstenmal wieder alle die weiten Bilder ihrer Ehrliebe, die sie bis zu diesem Augenblick vergessen hatte. Sie hatte sich außer allen möglichen eigenen Tugenden einen schönen, reichen und abenteuerlichen Geliebten gewünscht, und da stand Soliman, nicht sehr ordentlich angezogen, erschreckend häßlich, und sie glaubte von allem, was er ihr erzählt hatte, kein Wort. Vielleicht hätte sie sein dickes, gespanntes Gesicht im Dunkel ganz gerne noch eine Weile in ihren Armen gehalten, ehe sie sich voneinander lösten; aber nun, wo Licht brannte, war er ihr neuer Geliebter und weiter nichts, eingeschrumpft aus tausend Männern zu einem etwas lächerlichen kleinen Wicht und dem einen, der alle anderen ausschließt. Rachel aber war wieder ein Dienstmädchen, das sich verführen hatte lassen und sich nun sehr vor einem Kind fürchtete, durch das dies an den Tag käme. Sie war bloß zu eingeschüchtert von dieser Verwandlung, um zu seufzen. Sie half Soliman beim Ankleiden, denn der Junge hatte in der Verwirrung seinen engen Rock mit den vielen Knöpfen abgeworfen, aber sie half ihm nicht aus Zärtlichkeit, sondern damit sie rascher hinunterkämen. Es kam ihr alles furchtbar überzahlt vor, und eine Entdeckung wäre nicht zu ertragen gewesen. Immerhin, als sie fertig waren, drehte sich Soliman ihr zu und wieherte ein großartiges Lächeln, denn schließlich war er doch sehr stolz; und Rachel nahm rasch eine Streichholzschachtel an sich, löschte das Licht, schob leise den Riegel zurück, und ehe sie die Türe öffnete, flüsterte sie ihm zu: »Du mußt mir noch einen Kuß geben!« Denn so gehörte es sich, aber es schmeckte beiden, als hätten sie Zahnpulver auf den Lippen.
Als sie im Vorzimmer ankamen, waren sie sehr erstaunt, daß es noch zur rechten Zeit geschah und die Gespräche hinter der Türe genau so weiterliefen wie vorher; als die Gäste aufbrachen, war Soliman verschwunden, und eine halbe Stunde später kämmte Rachel das Haar ihrer Herrin mit großer Sorgfalt und beinahe mit der alten demütigen Liebe.
»Ich freue mich, daß meine Ermahnungen bei dir Erfolg gehabt haben!« lobte Diotima, und sie, die in so vielen Fragen zu keiner rechten Zufriedenheit kam, klopfte ihre kleine Dienerin freundlich auf die Hand.
Walter hatte an Stelle seines Büroanzugs einen besseren angelegt und band seine Krawatte vor Clarissens Toilettenspiegel, der trotz der im neuen Geschmack sich krümmenden Umrahmung ein verzerrtes, untiefes Bild aus dem billigen, wahrscheinlich blasigen Glas zurückwarf. »Ganz recht haben sie,« sagte er ärgerlich »diese berühmte Aktion ist nur ein Schwindel!«
»Was haben sie schon davon, daß sie schreien?!« meinte Clarisse.
»Was hat man überhaupt heute vom Leben! Wenn sie auf die Straße gehn, so bilden sie wenigstens einen Zug; einer spürt den Körper des anderen! Wenigstens denken sie nicht und schreiben sie nicht: daraus wird schon irgend etwas werden!«
»Und du meinst wirklich, daß die Aktion diese Empörung verdient?«
Walter zuckte die Achseln. »Hast du nicht in der Zeitung von der Resolution der deutschen Vertrauensmänner gelesen, die dem Ministerpräsidenten überbracht worden ist? Kränkungen und Benachteiligungen der deutschen Bevölkerung und so weiter? Und den höhnischen Beschluß des Tschechenklubs? Oder gar die kleine Nachricht, daß die polnischen Abgeordneten in ihre Wahlbezirke abgereist sind: wenn man zwischen den Zeilen zu lesen versteht, sagt die das meiste, denn die Polen, von denen immer die Entscheidung abhängt, lassen die Regierung im Stich! Die Lage ist gespannt. Es war nicht an der Zeit, durch eine gemeinsame patriotische Aktion alle zu reizen!«
»Wie ich heute morgen in der Stadt war,« erzählte Clarisse »habe ich berittene Polizei marschieren gesehn; ein ganzes Regiment; eine Frau hat mir erzählt, daß sie irgendwo versteckt werden!«
»Natürlich. Auch das Militär steht in den Kasernen bereit.«
»Glaubst du, daß es zu etwas kommt?!«
»Das kann man doch nicht wissen!«
»Sie reiten dann in die Leute hinein? Eigentlich ist das scheußlich, wenn man sich vorstellt, daß man lauter Pferdeleiber zwischen sich hat!«
Walter hatte seine Krawatte noch einmal aufgeknüpft und band sie von neuem. »Hast du schon einmal so etwas mitgemacht?« fragte Clarisse.
»Wie ich Student war.«
»Und seither nicht?«
Walter schüttelte verneinend den Kopf.
»Du hast vorhin gesagt, daß Ulrich schuld ist, wenn es zu etwas kommt?« suchte sich Clarisse noch einmal zu vergewissern.
»Das habe ich nicht gesagt!« verwahrte sich Walter. »Ihm sind politische Ereignisse leider gleichgültig. Ich habe nur gesagt, es sieht ihm ähnlich, so etwas leichtfertig heraufzubeschwören; er verkehrt in dem Kreis, der die Schuld trägt!«
»Ich möchte mit in die Stadt kommen!« eröffnete Clarisse.
»Keinesfalls! Es würde dich zu sehr aufregen!« Walter erwiderte das sehr entschieden; er hatte im Büro allerhand erfahren, was man von der Demonstration erwartete, und wollte Clarisse davon fernhalten. Denn das war nichts für sie, diese Hysterie, die von einer großen Menge aufsteigt; man mußte Clarisse behandeln wie eine Schwangere. Er verschluckte sich beinahe an diesem Wort, das in die spröde Reizbarkeit seiner sich ihm verschließenden Geliebten unversehens die törichte Wärme der Schwangerschaft brachte. »Aber solche Zusammenhänge, die über die gewöhnlichen Begriffe hinausgehn, gibt es!« sagte er sich nicht ganz ohne Stolz und bot Clarisse an: »Wenn es dir lieber ist, bleibe auch ich zu Hause.«
»Nein,« erwiderte sie »wenigstens sollst du dabei sein.«
Sie wollte allein bleiben. Als ihr Walter von der bevorstehenden Kundgebung erzählt und beschrieben hatte, wie so etwas aussehe, hatte sie eine Schlange vor Augen gehabt, mit lauter Schuppen, die sich jede einzeln bewegen. Sie wünschte sich selbst von diesem Anblick zu überzeugen, ohne vorher noch viel zu reden.
Walter legte den Arm um sie. »Ich bleibe auch zu Hause?« wiederholte er fragend.
Clarisse streifte den Arm ab, holte ein Buch von der Wand und beachtete ihn nicht. Es war ein Band ihres Nietzsche. Aber Walter, statt sie nun zu verlassen, bat: »Laß mich doch sehn, was dich beschäftigt!«
Es ging schon gegen den Spätnachmittag. Ein unbestimmtes Vorgefühl von Frühling war in der Wohnung; als hörte man Vogelstimmen, durch Glas und Mauern gedämpft; Blumenduft stieg trügerisch auf, aus dem Geruch des Bodenlacks, der Stoffbezüge und geputzten Messingklinken. Walter streckte den Arm nach dem Buch aus. Clarisse umschloß das Buch mit beiden Händen und hielt ihren Finger in die aufgeschlagenen Seiten.
Und nun spielte sich eines jener »fürchterlichen« Erlebnisse ab, an denen diese Ehe so reich war. Alle hatten sie die gleiche Vorlage: In einem Theater möge die Bühne erlöschen und zwei einander gegenüberliegende Logen aufleuchten; in diesen befinden sich Walter auf der einen, Clarisse auf der anderen Seite, ausgezeichnet unter allen Weibern und Männern, zwischen ihnen der tiefe schwarze Abgrund, der von unsichtbaren Menschen warm ist; nun öffnet Clarisse den Mund, und dann antwortet Walter, und alles lauscht atemlos, denn es ist ein Schau- und Klangspiel, wie noch keines menschlichem Vermögen gelungen ist. – So geschah es also auch jetzt, während Walter bittend den Arm ausstreckte und Clarisse, einige Schritte von ihm entfernt, den Finger fest in das aufgeblätterte Buch klemmte. Sie hatte aufs Geratewohl jene schöne Stelle getroffen, wo der Meister von der Verarmung durch den Verfall des Willens spricht, die sich in allen Gebilden des Lebens in einem Wuchern der Einzelheiten auf Unkosten des Ganzen äußert. »Das Leben in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben«: diesen Satz hatte sie noch im Gedächtnis und sonst von dem größeren Ganzen, das sie in dem Augenblick überflogen hatte, ehe Walter sie darin wieder störte, nur ungefähr die Richtung, wo der Sinn lag; und da machte sie nun trotz der Ungunst des Augenblicks eine große Entdeckung. Denn der Meister sprach an dieser Stelle zwar von allen Künsten, ja sogar von allen Formen des Menschenlebens, aber er benutzte nur Beispiele der Literatur; und da Clarisse das Allgemeine nicht verstand, entdeckte sie, daß Nietzsche nicht die ganze Tragweite seiner Gedanken erfaßt habe, denn sie galten auch für Musik!! Sie hörte dabei ihres Gatten krankes Klavierspiel, als klänge es leibhaft neben ihr, sein gefühlvolles Hängenbleiben, das stockende Austreten der Töne, sobald seine Gedanken zu ihr herüber schweiften und, mit einer anderen Stelle des Meisters zu sprechen, »der moralische Nebenhang« den »Künstler« in ihm überwältigte. Clarisse verstand es zu hören, wenn Walter sie stumm begehrte, und sie konnte die Musik sehen, wenn sie aus seinem Gesicht entwich. Dann leuchteten in diesem nur die Lippen, und er sah aus, als hätte er sich in den Finger geschnitten und würde ohnmächtig. Und so sah er auch jetzt aus, während er, nervös lächelnd, den Arm ausgestreckt hatte. So viel hatte Nietzsche natürlich nicht wissen können, doch war es wie ein Zeichen, daß sie der Zufall gerade eine Stelle hatte aufschlagen lassen, die daran rührte, und indem sie alles das auf einmal sah, hörte und begriff, schlug der Blitz der Erfindung in sie, und sie stand auf einem hohen Berg namens Nietzsche, der Walter unter sich begraben hatte, ihr aber gerade nur unter die Fußsohlen reichte! Die »angewandte Philosophie und Dichtung« der meisten Menschen, die weder schöpferisch noch dem Geist unzugänglich sind, besteht aus solchen schimmernden Verschmelzungen einer kleinen persönlichen Abänderung mit einem großen fremden Gedanken.
Walter war inzwischen aufgestanden und näherte sich nun Clarisse. Er war entschlossen, die Demonstration, an der er hatte teilnehmen wollen, fahrenzulassen und bei ihr zu bleiben. Er sah sie bei seiner Annäherung widerwillig an die Wand gelehnt dastehen, und diese geflissentlich zur Schau getragene Gebärde einer Frau, die vor einem Mann zurückweicht, übertrug leider nicht ihren Abscheu auf ihn, sondern weckte die männlichen Vorstellungen, die als Ursache dazu gepaßt haben würden. Denn ein Mann muß imstande sein, zu befehlen und seinen Willen einem Widerstrebenden aufzunötigen, und plötzlich bedeutete Walter dieses Bedürfnis, sich als Mann zu bewähren, gerade so viel, wie den Kampf gegen die versprengten Reste des aus seiner Jugend übriggebliebenen Aberglaubens zu führen, daß man etwas Besonderes sein müsse. »Man muß nichts Besonderes sein!« sagte er sich trotzig. Es erschien ihm als eine Feigheit, diese Einbildung nicht entbehren zu können. »Wir alle haben Exzesse in uns« dachte er wegwerfend. »Wir haben das Kranke, das Schaurige, das Einsame, das Bösartige in uns; jeder von uns könnte etwas, das nur er könnte: das bedeutet noch gar nichts!« Es erbitterte ihn der Wahn, daß man die Aufgabe haben solle, das Ungewöhnliche zu entwickeln, statt diese leicht verderblichen Auswüchse zurückzunehmen, organisch einzuschmelzen und das leicht allzu ruhig werdende bürgerliche Blut ein wenig mit ihnen aufzufrischen. So dachte er und wartete auf den Tag, wo ihm Musik und Malen nicht mehr bedeuten sollten als eine edle Art, sich zu vergnügen. Daß er sich ein Kind wünschte, gehörte zu diesen neuen Aufgaben; das Verlangen, das ihn in seiner Jugend beherrscht hatte, ein Titan und Feuerbringer zu werden, zeitigte es nun als letzte Folge, daß er den Glauben, man müsse zuvor wie alle werden, mit einiger Übertreibung aufnahm; er schämte sich zu dieser Zeit, weil er kein Kind besaß, er hätte fünf Kinder gewollt, wenn das Clarisse und sein Einkommen gestattet haben würden, denn es drängte ihn, die Mitte eines warmen Lebenskreises zu sein, und er wünschte sich, den großen das Leben tragenden Menschendurchschnitt an Durchschnittlichkeit noch zu übertreffen, unerachtet des Widerspruchs, der gerade in diesem Verlangen liegt.
Aber mochte es sein, daß er zu viel nachgedacht oder geschlafen hatte, ehe er sich zum Ausgehen herrichtete und dieses Gespräch begann, er hatte jetzt heiße Wangen, und wie sich zeigte, begriff Clarisse gleich, warum er sich ihrem Buch näherte, und diese Feinheit der beiderseitigen Abstimmung trotz der schmerzlichen Zeichen von Abneigung bewegte ihn sofort geheimnisvoll, so daß die Brutalität darunter zu leiden hatte und seine Einfachheit wieder in Stücke ging. »Warum willst du mir nicht zeigen, was du gelesen hast? Laß uns doch sprechen!« begehrte er eingeschüchtert.
»Man kann nicht ›sprechen‹!« zischte Clarisse.
»Wie du überspannt bist!« rief Walter aus. Er wollte ihr das Buch aufgeschlagen entwinden. Clarisse hielt es eigensinnig an sich. Aber nachdem sie eine Weile miteinander gerungen hatten, fiel Walter ein: »Was will ich denn eigentlich von dem Buch!?« und er ließ Clarisse los. Damit wäre die Angelegenheit nun eigentlich zu Ende gewesen, wenn sich Clarisse nicht in dem Augenblick, wo sie wieder frei war, erst recht so heftig gegen die Wand gepreßt hätte, als müßte sie sich, um drohender Gewalt auszuweichen, rückwärts durch eine steife Hecke drücken. Sie fand keinen Atem, war bleich und schrie ihm heiser zu: »Statt selbst etwas zu leisten, möchtest du dich in einem Kind fortsetzen!«
Wie giftiges Feuer würgte ihr Mund ihm diesen Satz entgegen, und nun keuchte auch Walter unwillkürlich von neuem sein »Laß uns sprechen!«
»Ich will nicht sprechen, du bist mir widerwärtig!!« antwortete Clarisse, plötzlich wieder in vollem Besitz ihrer Stimmittel und diese so zielbewußt ausnützend, als fiele eine schwere Porzellanschüssel genau zwischen ihren und Walters Füßen zur Erde. Walter trat einen Schritt zurück und sah sie überrascht an.
Clarisse meinte es nicht so böse. Sie hatte bloß Angst, daß sie doch einmal aus Gutmütigkeit oder aus Nachlässigkeit nachgeben könnte; dann würde Walter sie sofort mit Wickelbändern an sich schnüren, und das durfte am wenigsten jetzt geschehen, wo sie die ganze Frage zur Entscheidung bringen wollte. Die Ereignisse hatten sich »zugespitzt«; dieses Wort fühlte sie dick unterstrichen in ihrem Kopf, das Walter gebraucht hatte, um ihr zu erklären, warum die Leute auf die Straße gingen; denn Ulrich, der mit Nietzsche dadurch zusammenhing, daß er ihr seine Werke zur Hochzeit geschenkt hatte, befand sich auf der anderen Seite, gegen die sich die Spitze richtete, falls es losging; und Nietzsche hatte ihr soeben ein Zeichen gegeben, und wenn sie sich dabei auf einem »hohen Berg« stehen sah, was ist ein hoher Berg anderes als hoch zugespitzte Erde?! Das waren also ganz sonderbare Zusammenhänge, die wohl kaum noch ein Mensch enträtselt haben konnte, und sie kamen sogar Clarisse nicht klar vor; aber gerade darum wollte sie allein sein und Walter aus dem Haus scheuchen. Der wilde Haß, der in diesem Augenblick aus ihrem Gesicht loderte, war kein ungemischter und ernster, sondern nur ein körperlich rasender bei ungewisser Beteiligung der Person, ein »Klavierzorn«, wie er auch Walter geläufig war, und so kam es, daß auch er, nachdem er seine Frau schon eine Weile verdutzt angestarrt hatte, plötzlich von nachgeholter Blässe überzogen wurde, die Zähne bleckte und als Antwort darauf, daß er ihr widerwärtig sei, ausrief: »Hüte dich vor dem Genie! Gerade du hüte dich!«
Er schrie noch heftiger, als sie es getan hatte, und die dunkle Prophezeiung kam ihm selbst schauerlich vor, denn sie hatte sich, stärker als er selbst, einfach einen Weg durch seine Kehle gebrochen, und er sah plötzlich alles schwarz im Zimmer, als wäre eine Sonnenfinsternis eingetreten.
Auch auf Clarisse hatte es Eindruck gemacht. Sie schwieg mit einemmal.
Es bedeutet ein Affekt, der so stark ist wie eine Sonnenverfinsterung, auch gewiß keine einfache Sache, und wie immer er zustande gekommen sein mochte, so war mitten darin ganz unversehens Walters Eifersucht auf Ulrich mit einem Schlag zerborsten. Warum er ihn dabei ein Genie nannte? Es hieß wohl ungefähr soviel wie Überhebung, die nicht weiß, wie bald sie zerschellen soll. Walter sah mit einemmal alte Bilder vor sich: Ulrich, in Uniform nachhause kommend, der Barbar, der schon Geschichten mit wirklichen Frauen hatte, als Walter, obwohl er älter war, noch Gedichte auf Steinstatuen in Parken machte. Später: Ulrich, neue Nachrichten vom Geist der Genauigkeit, der Geschwindigkeit, des Stahls nachhause bringend; aber für den Humanisten Walter war auch das der Einbruch einer Barbarenhorde. Immer hatte Walter gegenüber dem jüngeren Freund das geheime Unbehagen des körperlich und auch an Unternehmungskraft Schwächeren empfunden, aber zugleich in sich den Geist gesehen und in jenem nur den rohen Willen. Und immer bestand zwischen ihnen, diese Auffassung bestärkend, das Verhältnis: Walter vom Schönen oder Guten bewegt, Ulrich kopfschüttelnd. Solche Eindrücke bleiben. Wenn es Walter gelungen wäre, die aufgeschlagene Stelle zu sehen, um die er mit Clarisse kämpfte, so würde er in der darin beschriebenen Zersetzung, die den Lebenswillen vom Ganzen in die Einzelheiten verdrängt, keineswegs einen Tadel seiner eigenen künstlerischen Grübelsucht erkannt haben, wie Clarisse es verstand, sondern er würde überzeugt gewesen sein, daß dies eine ausgezeichnete Beschreibung seines Freundes Ulrich sei, angefangen von der Überwertung der Einzelheiten, wie sie dem modernen Erfahrungsaberglauben eigentümlich ist, bis zu der Fortsetzung dieses barbarischen Zerfalls in das Ich hinein, was er einen Mann ohne Eigenschaften oder Eigenschaften ohne Mann genannt hatte, während Ulrich in seinem Größenwahn diese Bezeichnung noch dazu gut hieß. Alles das meinte Walter mit dem Schmähruf Genie; denn wenn sich irgendwer eine einsame Individualität nennen durfte, so meinte er das selbst zu sein, und doch hatte er das aufgegeben, um zur natürlichen menschlichen Aufgabe zurückzulenken, und fühlte sich seinem Freund darin um ein ganzes Zeitalter voraus. Aber während Clarisse auf seine Schmähung schwieg, dachte er: »Wenn sie jetzt nur ein einziges Wort zu Ulrichs Gunsten erwidert, so ertrage ich es nicht!« und der Haß schüttelte ihn, als täte das der Arm Ulrichs.
In seiner übermäßigen Erregung spürte er, wie er seinen Hut an sich reißen und forteilen würde. Er stürzte durch Gassen, ohne sie wahrzunehmen. Die Häuser bogen sich in seiner Vorstellung ordentlich im Wind zur Seite. Erst nach einer Weile verlangsamte sich sein Schritt, und nun sah er den Menschen ins Gesicht, an denen er vorbeikam. Diese Gesichter, die freundlich in das seine blickten, beruhigten ihn. Und nun setzte er auch, soweit sein Bewußtsein außerhalb dieses Phantasieerlebnisses geblieben war, dazu an, Clarisse zu erzählen, was er meine. Aber die Worte glänzten ihm in den Augen statt im Munde. Wie soll man auch das Glück beschreiben, zwischen Menschen und Brüdern zu sein! Clarisse würde sagen, es fehle ihm an Eigenheit. Aber Clarissens steiles Selbstbewußtsein hatte etwas Unmenschliches, und den überheblichen Forderungen, die es an ihn stellte, wollte er nicht mehr genügen! Er empfand das schmerzlichste Verlangen, mit ihr in eine Ordnung eingeschlossen zu sein, statt im offenen Irrwahn der Liebe und persönlichen Gesetzlosigkeit zu treiben. »Man muß unter allem, was man ist und tut, und sogar dann, wenn man sich im Gegensatz zu anderen befindet, eine Grundbewegung zu ihnen hin vorhanden fühlen«: ungefähr so hätte er ihr entgegnen mögen. Denn Walter hatte immer Glück gehabt mit Menschen; selbst im Streit wurden sie von ihm angezogen, und er von ihnen, und so war die etwas flache Meinung, daß der Menschengemeinschaft eine ausgleichende, das Tüchtige belohnende Kraft innewohne, die sich schließlich immer durchzusetzen verstehe, in seinem Leben zu einer stehenden Überzeugung geworden. Es fiel ihm ein, daß es Menschen gibt, die Vögel anlocken; die Vögel fliegen gern zu ihnen hin, und solche Menschen haben oft selbst etwas Vogelhaftes in ihrem Ausdruck. Es war überhaupt seine Überzeugung, daß jeder Mensch ein Tier habe, mit dem er auf unerklärliche Weise zusammenhänge. Diese Theorie hatte er einmal ausgedacht; sie war nicht wissenschaftlich, aber er glaubte, daß musikalische Menschen vieles ahnen, was über der Wissenschaft liegt, und schon seit seiner Kindheit stand es fest, daß sein Tier Fische seien. Fische hatten ihn immer heftig angezogen, vermischt mit Grauen, und zu Beginn eines Ferienaufenthalts hielt er es stets wie toll mit ihnen; er konnte dann stundenlang am Wasser stehn, sie aus ihrem Element herausangeln und ihre Leichen neben sich ins Gras legen, bis das plötzlich mit einem Widerwillen abschloß, der an Entsetzen streifte. Und Fische in der Küche gehörten zu seinen frühesten Leidenschaften. Die Gerippe der Ausgeweideten wurden in einen Weidling getan, ein nachenförmiges Küchengerät, grün-weiß glasiert, wie Gras und Wolken, und halb mit Wasser gefüllt, worin die Skelette aus irgendeinem mit den Gesetzen des Küchenreichs zusammenhängenden Grund liegen blieben, bis die Mahlzeit fertig bereitet war und sie auf den Mist wanderten; zu diesem Gefäß zog es geheimnisvoll den Knaben, der stundenlang unter kindlichen Vorwänden dahin zurückkehrte und, wenn er rundweg befragt wurde, die Sprache verlor. Heute würde er vielleicht zur Antwort geben können, daß der Zauber der Fische darin bestehe, daß sie nicht zwei Elementen angehören, sondern ganz in einem ruhn. Er sah sie wieder vor sich, wie er sie oft im tiefen Wasserspiegel gesehen, und sie bewegten sich nicht so wie er selbst über einem Boden hin, an dessen Grenze gegen ein leeres Zweites (weder da, noch dort daheim! dachte Walter, den Gedanken kreuz und quer spinnend; einer Erde angehörig, mit der man gerade nur die kleine Fläche der Füße gemeinsam hat, und mit dem ganzen Körper in eine Luft ragend, in der man fallen würde und die man von ihrem Platz drängt!), sondern der Boden der Fische, ihre Luft, ihr Trank, ihre Speise, ihr Schreck vor Feinden, der schattenhafte Zug ihrer Liebe und ihr Grab schlossen sie ein; sie bewegten sich in dem, wovon sie bewegt wurden, wie es der Mensch nur im Traum erlebt oder vielleicht in dem sehnsüchtigen Verlangen, die schützende Zärtlichkeit des Mutterleibs wiederzufinden, woran zu glauben, damals gerade Mode zu werden anfing. Aber warum tötete er dann die Fische und riß sie heraus? Es bereitete ihm einen unaussprechlichen, heiligen Genuß! Und er wollte nicht wissen, warum; er, Walter, der Rätselvolle! Aber Clarisse hatte einmal Fische einfach Wasserbourgeois genannt?! Er zuckte beleidigt zusammen. Und während er – in dem erdachten Zustand, worin er sich befand und eben auch alles das dachte – durch die Straßen eilte und den Menschen, die ihm begegneten, in die Gesichter sah, war gutes Fischwetter geworden; es regnete zwar noch nicht gerade, aber Nässe fiel, und die Gehsteige und Fahrbahnen waren, wie er jetzt erst bemerkte, schon seit einer Weile dunkelbraun. Nun sahen die Menschen, die sich darauf bewegten, schwarz gekleidet aus und sie trugen steife Hüte, aber keine Kragen; Walter nahm es ohne Verwunderung hin; jedenfalls waren sie keine Bourgeois, sondern kamen anscheinend aus einer Fabrik, gingen in lockeren Gruppen, und andere Menschen, die noch nicht Feierabend machten, schoben sich so wie er hastiger zwischen ihnen vor, und er wurde sehr glücklich, bloß die nackten Hälse erinnerten ihn an etwas, das ihn störte und nicht ganz geheuer war. Und plötzlich quoll Regen aus dem Bild; ein Stieben von Menschen begann, etwas Aufgeschlitztes war in der Luft, Weißblinkendes; Fische fielen; und über alles hin zog ein zitternder, zärtlicher, scheinbar gar nicht dazugehörender Ruf einer einzelnen Stimme, die einen kleinen Hund bei seinem Namen lockte.
Diese letzten Veränderungen waren so unabhängig von ihm, daß sie ihn selbst überraschten. Er hatte nicht wahrgenommen, daß seine Gedanken träumten und mit unfaßbarer Geschwindigkeit auf Bildern dahintrieben. Er starrte auf und sah in das Gesicht seiner jungen Frau, das noch immer von Abneigung verzerrt war. Er fühlte sich sehr unsicher. Er erinnerte sich, daß er einen Vorwurf ausführlich hatte darlegen wollen; sein Mund stand noch offen. Aber er wußte nicht: waren seither Minuten vergangen, Sekunden oder nur Tausendstel von Sekunden? Es wärmte ihn dabei ein wenig Stolz, so wie nach einem eiskalten Bad die Haut von zweideutigen Schauern überhaucht wird; und das sagte ungefähr: »Seht ihr, wessen ich fähig bin!« Nicht weniger empfand er sich aber im gleichen Augenblick von diesem Durchbruch des Unterirdischen beschämt; hatte er doch soeben noch davon sprechen wollen, daß das Eingeordnete, Selbstbeherrschte und sich im großen Kreis Bescheidende geistig weit höher stehe als das Abnorme, und nun lagen seine Überzeugungen mit den Wurzeln nach oben, und der Schlamm des Lebensvulkans klebte an ihnen! Darum war das stärkste Gefühl seit seinem Erwachen eigentlich Schreck. Es erschien ihm gewiß, daß ihm etwas Schreckliches bevorstehe. Diese Angst hatte keinen vernünftigen Inhalt; noch halb bildhaft denkend, hatte er bloß die Vorstellung, daß Clarisse und Ulrich bemüht seien, ihn aus seinem Bild herauszureißen. Er nahm seine Gedanken zusammen, um dieses Wachträumen abzuschütteln, und wollte etwas sagen, was der durch seine Heftigkeit gelähmten Unterredung zu einem vernünftigen Fortgang verhelfen sollte; er hatte auch schon irgend etwas auf der Zunge, aber eine Ahnung, daß sich seine Worte verspätet hätten, daß inzwischen schon anderes gesprochen worden sei und vor sich gegangen sei, ohne daß er davon wisse, hielt ihn zurück, und plötzlich hörte er, in der Zeit nachrückend, wie Clarisse zu ihm sagte: »Wenn du Ulrich töten willst, so töte ihn doch! Du hast zuviel Gewissen; ein Künstler kann gute Musik nur ohne Gewissen machen!«
Walter wollte es die längste Zeit nicht verstehen. Manchmal begreift man ja etwas erst dadurch, daß man selbst eine Antwort darauf gibt, und er zögerte, eine Antwort zu geben, weil er fürchten mußte, seine Abwesenheit zu verraten. Und in dieser Unsicherheit begriff er oder ließ sich die Überzeugung aufnötigen, daß Clarisse wirklich das ausgesprochen habe, was den Ursprung der beängstigenden Gedankenflucht bildete, die er soeben erlebt hatte. Sie hatte recht, daß Walter, wäre ihm jeder Wunsch erlaubt gewesen, oft keinen anderen gehabt hätte, als Ulrich tot zu sehen. So etwas kommt in Freundschaften, die sich nicht so rasch aufzulösen pflegen, wie es die Liebe tut, nicht ganz selten vor, wenn sie heftig an den Wert der Person rühren. Und es war nicht sehr blutig gemeint; denn in dem Augenblick, wo er sich vorstellte, daß Ulrich tot wäre, kam sofort die alte Jugendliebe für den verlorenen Freund wenigstens teilweise wieder zum Vorschein; und so, wie im Theater die bürgerliche Hemmung vor der Untat durch ein großes künstliches Gefühl aufgehoben wird, hatte er beinahe den Eindruck, daß bei dem Gedanken einer tragischen Lösung auch dem in der Rolle des Opfers Gedachten etwas Schönes geschehe. Er fühlte sich sehr gehoben, obgleich er furchtsam war und kein Blut sehen konnte. Und obgleich er ehrlich wünschte, daß Ulrichs Hochmut einmal zusammenbrechen möge, hätte er nicht einmal dazu etwas getan. Aber Gedanken haben ja ursprünglich keine Logik, wie sehr man sie ihnen auch zuschreiben mag; erst der phantasielose Widerstand der Wirklichkeit bringt die Achtsamkeit auf die Widersprüche in das Gedicht Mensch. Vielleicht hatte also auch Clarisse recht, wenn sie behauptete, daß ein Zuviel an bürgerlichem Gewissen für den Künstler hinderlich sein kann. Und alles war das zugleich in Walter, der seine Frau unschlüssig und widerstrebend anblickte.
Aber Clarisse wiederholte eifrig: »Wenn er dich an deinem Werk hindert, so darfst du ihn aus dem Weg räumen!« Sie schien das anregend und unterhaltsam zu finden.
Walter wollte die Hände nach ihr ausstrecken. Seine Arme waren wie eingeklemmt, aber er kam ihr wohl doch dabei nahe; »Nietzsche und Christus sind an ihrer Halbheit zugrunde gegangen!« flüsterte sie ihm ins Ohr. Alles das war unsinnig. Wie brachte sie da Christus herein?! Was wollte es heißen, daß Christus an Halbheit zugrunde gegangen sei?! Solche Vergleiche waren nur peinlich. Doch fühlte Walter noch immer etwas unbeschreiblich Anstiftendes von der Bewegung dieser Lippen ausgehen; offenbar wurde sein eigener, hart erarbeiteter Entschluß, sich der Menschenmehrheit anzuschließen, von dem unterdrückten heftigen Bedürfnis nach einer Ausnahmestellung stets angefochten. Er faßte Clarisse so fest an, wie es nur seine Kraft erlaubte, und hinderte sie, sich zu bewegen. Ihre Augen standen als zwei Scheibchen vor den seinen. »Ich weiß nicht, wie dir solche Gedanken einfallen können!« sagte er einigemal hintereinander, erhielt aber keine Antwort. Und ohne es zu wollen, mußte er sie dabei an sich gezogen haben, denn Clarisse spreizte die Nägel ihrer zehn Finger wie ein Vogel gegen sein Gesicht, so daß es sich dem ihren nicht weiter nähern konnte. »Sie ist wahnsinnig!« fühlte Walter. Aber er konnte sie nicht loslassen. Eine Häßlichkeit, die gar nicht zu verstehen war, lag über ihrem Gesicht. Er hatte noch nie einen Wahnsinnigen gesehen; aber so, dachte er, müßten sie aussehen.
Und plötzlich stöhnte er auf: »Du liebst ihn?!« Es war dies wohl weder eine sonderlich originelle noch eine Bemerkung, die zum erstenmal zwischen ihnen umkämpft wurde; aber um nicht glauben zu müssen, daß Clarisse krank sei, wollte er lieber hinnehmen, daß sie Ulrich liebe, und dieser Opfermut war wahrscheinlich nicht ganz unbeeinflußt davon, daß ihm Clarisse, deren schmallippige Frührenaissanceschönheit er bisher immer bewundert hatte, zum ersten Mal häßlich vorkam, und diese Häßlichkeit hing vielleicht wieder damit zusammen, daß ihr Gesicht nicht mehr von der Liebe zu ihm zärtlich beschützt, sondern von der rohen Liebe des Nebenbuhlers aufgedeckt wurde. Für Verwicklungen war damit reichlich gesorgt, und sie zitterten ihm zwischen Herz und Auge, als etwas Neuartiges, das ebensoviel allgemeine wie private Bedeutung hatte; aber daß er, den Satz »du liebst ihn« aussprechend, ganz unmenschlich stöhnte, geschah vielleicht, weil er von Clarissens Verrücktheit schon angesteckt war, und es setzte ihn ein wenig in Schrecken.
Clarisse hatte sich sachte losgemacht, näherte sich ihm jedoch noch einmal freiwillig und gab einigemal, als sänge sie etwas, zur Antwort: »Ich will kein Kind von dir; ich will kein Kind von dir!« Dabei küßte sie ihn flüchtig und rasch hintereinander.
Dann war sie fort.
Hatte sie wirklich auch gesagt: »Er will ein Kind von mir?« Walter konnte sich nicht mit Sicherheit erinnern, daß sie es gesagt hätte, aber er hörte gleichsam die Möglichkeit. Er stand eifersüchtig vor dem Klavier und fühlte sich einseitig von etwas Warmem und etwas Kaltem angeweht. Waren es die Ströme des Genies und des Irrsinns? Oder die der Nachgiebigkeit und des Hasses? Oder die der Liebe und des Geistes? Er konnte sich vorstellen, daß er Clarisse den Weg freigeben und sein Herz auf diesen Weg legen könnte, damit sie darüber gehe, und er konnte sich vorstellen, daß er mit gewaltigen Worten sie und Ulrich vernichten könnte. Er war unschlüssig, ob er zu Ulrich eilen oder seine Symphonie zu schreiben beginnen solle, aus der in diesem Augenblick der ewige Kampf zwischen Erde und Sternen werden konnte, oder ob es gut wäre, vorher seine Erregung ein wenig im Nixenteich der verbotenen Wagnermusik abzukühlen. Der unausdrückbare Zustand, worin er sich befunden hatte, begann sich allmählich in diese Überlegungen aufzulösen. Er öffnete das Klavier, zündete sich eine Zigarette an, und während sich seine Gedanken immer breiter zerstreuten, fingen seine Finger auf den Tasten die wogende Rückenmarksmusik des sächsischen Zauberers an. Und nachdem diese langsame Entladung eine Weile gedauert hatte, war es ihm ganz klar geworden, daß seine Frau und er sich in einem unzurechnungsfähigen Zustand befunden hatten; aber trotz des peinlichen Eindrucks, den ihm das bereitete, wußte er, daß es so bald danach noch vergeblich wäre, Clarisse suchen zu gehn, um ihr das begreiflich zu machen. Und plötzlich zog es ihn unter Menschen. Er stülpte den Hut auf und ging in die Stadt, um seine ursprüngliche Absicht zu verwirklichen und sich in die allgemeine Erregung zu mengen, falls es ihm gelingen sollte, diese zu finden. Er hatte unterwegs ganz den Eindruck, daß er eine dämonische Truppenmacht in sich führe, als deren Kapitän er zu den anderen stoßen werde. Aber schon in der Elektrischen sah das Leben ganz gewöhnlich aus; daß sich Ulrich auf der Gegenseite befinden müsse, daß vielleicht das Palais des Grafen Leinsdorf gestürmt werden könnte, daß Ulrich etwa an einer Laterne hing, von stürmenden Füßen zertrampelt wurde, ein andermal dagegen von Walter beschützt und zitternd gerettet wurde, das waren höchstens ganz flüchtige Tagschatten auf dem hellen Ordnungszustand der Fahrt mit festem Preis, Haltestellen und warnenden Glockenzeichen, dem sich Walter, nun wieder ruhiger atmend, verwandt fühlte.
Damals sah es aus, als drängten die Geschehnisse einem Ausgang zu, und auch für Direktor Leo Fischel, der in Sachen Arnheim geduldig in der Kontermine ausgeharrt hatte, kam die Stunde der Genugtuung. Leider war um diese Zeit Frau Klementine gerade nicht zu Hause, und so mußte er sich damit begnügen, ein über Börsenvorgänge gewöhnlich gut unterrichtetes Mittagblatt in der Hand haltend, bei seiner Tochter Gerda einzutreten; er setzte sich in einen bequemen Stuhl, deutete auf eine kleine Zeitungsnachricht und fragte behaglich: »Weißt du jetzt, mein Kind, weshalb der gedankentiefe Finanzmann in unserer Mitte weilt?«
Er nannte Arnheim zu Hause niemals anders, um zu zeigen, daß er sich als seriöser Geschäftsmann aus der Bewunderung der Frauen seiner Familie für den reichen Schwätzer nichts mache. Und wenn auch nicht der Haß Hellsichtigkeit verleiht, so hat doch ein Börsengerücht nicht selten recht, und Fischels Abneigung gegen den Mann ließ ihn das halb Ausgesprochene sofort richtig ergänzen. »Nun, weißt du?« wiederholte er und suchte das Auge seiner Tochter in den Triumphstrahl seines Blicks zu zwingen »Die galizischen Ölfelder möchte er unter die Kontrolle seines Konzerns bringen!«
Damit stand Fischel wieder auf, packte seine Zeitung zusammen, wie man einen Hund am Genick faßt, und verließ das Zimmer, weil ihm eingefallen war, einige Leute telefonisch anzurufen, um ganz sicher zu gehen. Er hatte das Gefühl, sich das, was er soeben gelesen hatte, immer schon gedacht zu haben (wie man sieht, ist die Wirkung von Börsennotizen also die gleiche wie die der schönen Literatur), und war mit Arnheim zufrieden, als ob einem so vernünftigen Mann doch nichts anderes zuzutrauen gewesen wäre, worüber er völlig vergaß, daß er ihn bis dahin bloß für einen Schwätzer gehalten hatte. Er wollte sich keine Mühe geben, Gerda die Bedeutung seiner Mitteilung auseinander zu setzen; jedes weitere Wort hätte der Sprache der Tatsachen nur Abbruch getan. »Die galizischen Ölfelder möchte er unter die Kontrolle seines Konzerns bringen!« mit dem Gewicht dieses schlichten Satzes auf der Zunge zog er sich zurück und dachte sich bloß noch: »Wer es aushalten kann, zu warten, der gewinnt immer!« was eine alte Börsenregel ist, die wie alle Wahrheiten der Börse die ewigen Wahrheiten auf das richtigste ergänzt.
Kaum war er draußen, zeigte sich die ungestüme Wirkung auf Gerda; sie hatte bis dahin ihrem Vater nicht das Vergnügen bereitet, sich getroffen oder auch nur überrascht zu zeigen, aber nun riß sie eilig einen Schrank auf, nahm Mantel und Hut heraus, richtete Haar und Kleid vor dem Spiegel, blieb vor dem Spiegel sitzen und besah zweifelnd ihr Gesicht. Sie hatte den Entschluß gefaßt, zu Ulrich zu laufen. Das war in dem Augenblick geschehen, wo ihr bei der Mitteilung ihres Vaters einfiel, diese Nachricht müsse doch gerade Ulrich so rasch wie möglich erfahren, denn es war ihr genug über die Verhältnisse in der Umgebung Diotimas bekannt, um erkennen zu können, wie wichtig die Neuigkeit ihres Vaters für ihn sei. Und in dem Augenblick, wo sie das beschloß, war ihr zumute, als ob in ihre Empfindungen die Bewegung einer Masse käme, die lange gezögert hat; sie hatte sich bis dahin so zu tun gezwungen, als hätte sie Ulrichs Einladung, ihn zu besuchen, vergessen, aber kaum lösten sich in der dunklen Masse ihrer Empfindungen die ersten nun langsam von der Stelle, so kam in die weiter entfernten schon ein unaufhaltsames Laufen und Drängen, und sie konnte sich nicht entschließen, aber der Beschluß war fertig, ohne sich um sie zu kümmern.
»Er liebt mich nicht!« sagte sie sich, während sie ihr Gesicht im Spiegel betrachtete, das in den letzten Tagen noch schärfer geworden war. »Er kann mich auch nicht lieben, wenn ich so aussehe!« dachte sie dabei matt. Und fügte im gleichen Augenblick trotzig hinzu: »Er ist es nicht wert! Ich habe mir alles nur eingeredet!«
Völlige Mutlosigkeit befiel sie. Die Vorgänge der letzten Zeit hatten an ihr gezehrt. Ihr Verhältnis zu Ulrich kam ihr so vor, als hätten sie durch Jahre mit aller Aufmerksamkeit etwas verwickelt gemacht, das ganz einfach sei. Und Hans rieb mit seinen kindischen Zärtlichkeiten ihre Nerven auf; sie behandelte ihn mit Heftigkeit und zuletzt manchmal mit Verachtung, aber Hans antwortete mit noch größerer Heftigkeit, wie ein Knabe, der droht, sich ein Leid anzutun, und wenn sie ihn beruhigen mußte, wurde sie wieder von ihm umarmt und schattenhaft berührt, wovon ihre Schultern mager wurden und ihre Haut die Frische verlor. Mit allen diesen Qualen hatte Gerda abgeschlossen, als sie ihren Schrank öffnete, um den Hut herauszunehmen, und die Angst vor dem Spiegel endete damit, daß sie rasch wieder aufstand und fortstürzte, ohne im geringsten von dieser Angst befreit zu sein.
Als Ulrich sie eintreten sah, wußte er alles; noch dazu hatte sie einen Schleier vorgebunden, wie ihn Bonadea bei ihren Besuchen zu tragen pflegte. Sie zitterte am ganzen Leibe und suchte das durch eine künstlich unbefangene Haltung zu verbergen, die närrisch steif wirkte.
»Ich komme zu dir, weil ich soeben von meinem Vater etwas sehr Wichtiges erfahren habe« sagte sie.
»Zu sonderbar!« dachte Ulrich »Nun spricht sie mich mit einemmal Du an!« Dieses gewaltsame Du brachte ihn in Wut, und um sich das nicht merken zu lassen, suchte er es sich damit zu erklären, daß Gerdas übertriebenes Gebaren sicherlich ihrem Besuch die Merkmale eines Verhängnisses, ja überhaupt die besondere Bedeutung nehmen solle, um ihn wie ein vernünftiges, bloß etwas verspätetes Ereignis hinzustellen, woraus von allem das Gegenteil zu schließen war, so daß die Vorsätze des Mädchens offenbar bis ans letzte reichten. »Wir sagen uns doch schon lange du und mit Worten bloß deshalb nicht, weil wir uns immer ausgewichen sind!« erläuterte Gerda, die sich ihren Auftritt unterwegs überlegt hatte und auf das Erstaunen vorbereitet war, das er erregen werde.
Aber Ulrich verfuhr kurz, indem er den Arm um ihre Schulter legte und sie küßte. Gerda gab nach wie eine weiche Kerze. Ihr Atem, ihre Finger, die nach ihm griffen, waren die von Bewußtlosen. In diesem Augenblick kam die Grausamkeit des Verführers über ihn, der sich unwiderstehlich von der Unentschlossenheit einer Seele angezogen fühlt, die von ihrem eigenen Körper mitgeschleift wird wie ein Gefangener in den Armen seiner Häscher. Vom Winternachmittag drängte bei den Fenstern matter Schein in das dunkelnde Zimmer, und in einem dieser hellen Ausschnitte stand er und hielt das Mädchen in seinem Arm; der Kopf hob sich gelb und scharf von dem weichen Kissen des Lichts ab, und die Farbe des Gesichts war ölig, so daß Gerda in diesem Augenblick beinahe wie eine Tote aussah. Er küßte sie langsam überall hin auf die freie Fläche zwischen Kopfhaar und Kleid und mußte dabei einen leichten Widerwillen überwinden, bis auf die Berührung ihrer Lippen, die den seinen in einer Weise entgegenkamen, die ihn an die schwachen Ärmchen gemahnte, mit denen ein Kind den Nacken eines Erwachsenen umschlingt. Er dachte an das schöne Gesicht Bonadeas, das unter dem Griff der Leidenschaft an eine Taube erinnerte, deren Federn sich in den Fängen eines Raubvogels sträuben, und an Diotimas statuenhafte Huld, die er nicht genossen hatte; statt der Schönheit, die ihm diese beiden Frauen schenken wollten, lag nun seltsamerweise Gerdas inbrünstig verzerrtes, hilflos häßliches Gesicht unter seinem Blick.
Gerda verharrte indes nicht lange in dieser wachen Ohnmacht. Sie hatte geglaubt, nur für die Dauer eines Blicks die Augen zu schließen, und während Ulrich ihr Gesicht küßte, kam ihr das vor, wie die Sterne in der Unendlichkeit des Raumes und der Zeit stehen, so daß sie keinen Eindruck von Dauer und Grenzen dieses Vorganges hatte, aber bei dem ersten Nachlassen seiner Bemühung wachte sie auf und stellte sich wieder selbständig auf die Beine. Es waren die ersten Küsse wirklicher, nicht bloß gespielter und eingebildeter Leidenschaft gewesen, die sie soeben gegeben und, wie sie fühlte, auch empfangen hatte, und der Widerhall in ihrem Körper war so ungeheuer, als ob sie schon dieser Augenblick zur Frau gemacht hätte. Mit diesem Vorgang verhält es sich aber ähnlich wie mit dem Zahnausreißen: obgleich nachher weniger des Körpers vorhanden ist als vorher, hat man doch das Gefühl größerer Vollständigkeit, weil ein Anlaß der Beunruhigung endgültig beseitigt ist; und nachdem ihr Zustand daran angeklungen hatte, richtete sich Gerda voll frischer Entschiedenheit auf. »Du hast noch gar nicht gefragt, was ich dir zu sagen gekommen bin!« erklärte sie ihrem Freund.
»Daß du mich liebst!« entgegnete Ulrich etwas kleinlaut.
»Nein, daß dein Freund Arnheim deine Kusine betrügt; er spielt den Verliebten, aber er hat ganz andere Absichten!« Und Gerda erzählte ihm die Entdeckung ihres Papas.
Auf Ulrich machte diese Mitteilung in ihrer Einfachheit einen tiefen Eindruck. Er fühlte die Verpflichtung, Diotima zu warnen, die mit ausgebreitetem seelischen Gefieder in eine lächerliche Enttäuschung hineinsegelte. Denn trotz der boshaften Genugtuung, mit der er dieses Bild ausgestaltete, fühlte er, daß er Mitleid mit seiner schönen Kusine hatte. Mächtig überwogen wurde dieses aber von der herzlichen Anerkennung für Papa Fischel, und obgleich Ulrich nahe daran war, ihm großen Kummer zu bereiten, bewunderte er ehrlich seinen verläßlichen altmodischen, mit schönen Überzeugungen ausgeschmückten Geschäftsverstand, dem die einfachste Aufklärung der Geheimnisse eines neumodischen großen Geistes geglückt war. Ulrichs Stimmung war dadurch sehr von den zarten Forderungen abgewichen, die Gerdas Anwesenheit an ihn stellte. Es wunderte ihn, daß er noch vor wenigen Tagen imstande gewesen sei, an die Möglichkeit zu denken, daß er diesem Mädchen sein Herz öffnen könnte; »die zweite Umwallung übersteigen,« dachte er »nennt Hans diese lästerliche Vorstellung zweier liebessüchtigen Engel!« und genoß in Gedanken, als striche er mit den Fingern darüber hin, die wundervoll glatte, harte Oberfläche der nüchternen Gestalt, die das Leben heutzutage durch die verständigen Bemühungen Leo Fischels und seiner Gesinnungsgenossen empfängt. So war der Satz »Dein Papa ist wundervoll!« das einzige, was er erwiderte.
Gerda, die von der Wichtigkeit ihrer Nachricht durchdrungen war, hatte anderes erwartet; sie wußte nicht, was sie von der Wirkung ihrer Mitteilung verlangte, aber ungefähr war es so wie der Augenblick, wenn in einem Orchester alle Instrumente blasen und schwingen, und die Gleichgültigkeit, die ihr Ulrich plötzlich entgegen zu setzen schien, erinnerte sie wieder schmerzlich daran, daß er sich immer ihr gegenüber zum Anwalt des Durchschnittlichen, Gewöhnlichen und Ernüchternden aufgeworfen habe. Denn hatte sie sich inzwischen eingeredet, daß dies bloß eine stachlige Form der Liebesannäherung bedeute, wofür sie in ihrer Mädchenseele ja selbst das Vorbild fand, so sagte ihr jetzt – »wo sie sich doch schon liebten«, wie die etwas kindliche Formel dafür in ihrem Inneren lautete – eine verzweifelte warnende Klarheit, daß der Mann, dem sie alles hingebe, sie nicht ernst genug nehme. Von der Sicherheit, die sie gewonnen hatte, verlor sich darüber wieder ein guter Teil, aber andernteils war ihr dieses »Nicht ernst genommen werden« wunderbar angenehm; es nahm alle Anstrengungen fort, die das Verhältnis mit Hans zu seiner Aufrechterhaltung forderte, und wenn Ulrich ihren Vater lobte, so begriff sie zwar nicht, wie er dies tun könne, aber fühlte eine ungewisse Ordnung wieder hergestellt, die sie dadurch verletzt hatte, daß sie Papa Leo wegen Hansen kränkte. Dieses sanfte Gefühl einer etwas ungewöhnlichen Rückkehr in den Schoß der Familie, die sie durch ihren Fehltritt feierte, lenkte sie so sehr ab, daß sie Ulrichs Arm zarten Widerstand entgegensetzte und zu ihrem Freund die Worte sprach: »Wir wollen uns zuerst menschlich zusammenfinden; das übrige wird sich schon noch ergeben!« Diese Worte entstammten einem Programm der »Tatgemeinschaft« und waren augenblicklich das letzte, was von Hans Sepp und seinem Kreise übrig blieb.
Ulrich aber hatte ihr seinen Arm wieder um die Schulter gelegt, weil er seit der Mitteilung über Arnheim fühlte, daß etwas Wichtiges vor ihm liege, aber zuvor dieses Beisammensein mit Gerda zu einem Ende geführt werden müsse. Er empfand nichts anderes dabei, als daß es außerordentlich unangenehm sei, alles das durchführen zu müssen, was dazu gehöre, und darum schlang er den zurückgewiesenen Arm sogleich noch einmal um sie, aber diesmal mit jener stummen Sprache, die ohne Gewalt und eindringlicher als Worte ankündigt, daß jeder weitere Widerstand vergeblich sei. Gerda fühlte die Männlichkeit, die aus diesem Arm auf sie wirkte, den Rücken hinab; sie hatte den Kopf gesenkt und blickte eigensinnig in ihren Schoß, als hielte sie dort wie in einer Schürze die Gedanken beisammen, durch deren Hilfe sie mit Ulrich »menschlich zusammenfinden« wolle, ehe das geschehen dürfe, was erst die Krönung sein sollte; aber es kam ihr vor, daß ihr Gesicht immer blöder und leerer werde, und wie eine leere Schale schwebte es schließlich empor und lag mit den Augen unter den Augen des Verführers.
Er beugte sich hinab und bedeckte es mit den rücksichtslosen Küssen, die das Fleisch in Bewegung setzen. Gerda stand willenlos auf und ließ sich führen. Es waren ungefähr zehn Schritte, die sie bis in Ulrichs Schlafzimmer zurückzulegen hatten, und das Mädchen stützte sich auf, wie ein schwer Verwundeter oder Kranker. Fremd kam ein Fuß vor den anderen, obgleich sie sich nicht schleppen ließ, sondern freiwillig ging. Eine solche Leere trotz solcher Erregung hatte Gerda noch nicht erlebt; sie meinte, ihr Blut habe sie verlassen, es war ihr eiskalt, sie kam an einem Spiegel vorbei, der ihr Bild in viel zu großer Entfernung zu zeigen schien, trotzdem bemerkte sie darin, daß ihr Gesicht kupferrot war, mit blassen Flecken. Und plötzlich, so wie bei Unglücksfällen der Blick oft eine überempfindliche Aufnahmefähigkeit für alles Gleichzeitige hat, sah sie das geschlossene Männerschlafzimmer mit allen seinen Einzelheiten rings um sich. Es fiel ihr ein, daß sie mit mehr Klugheit und Berechnung vielleicht als Frau hätte hier einziehen können; es würde sie sehr glücklich gemacht haben, aber sie suchte nach Worten, um zu sagen, daß sie keinen Vorteil wolle, sondern nur sich schenken; diese Worte fand sie nicht, sagte zu sich: »Es muß sein!« und öffnete den Kragen ihres Kleides.
Ulrich hatte sie losgelassen; er brachte es nicht über sich, den zarten Beistand der Liebe beim Entkleiden zu leisten, stand abseits und warf seine eigenen Kleider ab. Gerda gewahrte den schlank aufgerichteten mächtigen Körper des Mannes in seinem Gleichgewicht von Gewalttätigkeit und Schönheit. Erschreckt wurde sie gewahr, daß sich ihr eigener Körper, obgleich sie noch in Unterkleidern dastand, mit einer Gänsehaut überzog. Wieder suchte sie nach Worten, die ihr helfen sollten; sie stand allzu jämmerlich da! Was sie sagen wollte, sollte Ulrich in der Weise zu ihrem Geliebten machen, die ihr vorschwebte, in einer unendlich süßen Auflösung, die zu erreichen man gar nicht tun mußte, was sie zu tun im Begriffe stand. Es war ebenso wundervoll wie undeutlich. Sie sah sich einen Augenblick lang mit ihm in einem grenzenlosen Feld von Kerzen stehen, die wie Reihen Stiefmütterchen im Boden staken und auf ein einziges Zeichen zu ihren Füßen aufflammten. Aber da sie kein Wort davon hervorbringen konnte, fühlte sie sich bestürzend häßlich und erbärmlich, ihre Arme zitterten, sie war nicht imstande, sich zu Ende zu entkleiden, und ihre blutlosen Lippen schlossen sich fest aneinander, um nicht unheimlich wortleere Bewegungen auszuführen.
Bei diesem Stand der Dinge trat Ulrich, der ihre Qual und die Gefahr bemerkte, daß alles zunichte werden könnte, was mit so viel Überwindung bis hieher gefördert worden war, auf sie zu und löste ihr Achselband. Gerda schlüpfte wie ein Knabe ins Bett. Ulrich sah einen Augenblick lang die Bewegung eines nackten jungen Menschen; es hatte mit Liebe nicht mehr zu tun wie das Aufblinken eines Fisches. Er glaubte zu erraten, daß Gerda sich entschlossen habe, ein Geschehnis so rasch wie möglich zu überstehen, das nicht mehr zu vermeiden war, und noch nie war es ihm so klar geworden wie in der Sekunde, wo er ihr folgte, wie sehr das leidenschaftliche Eindringen in einen fremden Körper eine Fortsetzung der kindischen Neigung für heimliche und verbrecherische Verstecke ist. Seine Hände stießen auf die noch immer von Angst gerauhte Haut des Mädchens, und er selbst fühlte sich erschreckt statt hingezogen. Er mochte diesen Körper nicht, der halb schon schlaff und halb noch unreif war; was er tat, kam ihm völlig sinnlos vor, und er würde am liebsten die Flucht aus dem Bett ergriffen haben, die zu verhindern er alles an Gedanken aufbieten mußte, was sich dazu eignete. So kam es, daß er sich in verzweifelter Eile alles einredete, was es heute an allgemeinen Gründen gibt, um sich ohne Ernst, ohne Glauben, ohne Rücksicht und ohne Befriedigung zu betragen; und er fand darin, daß er sich dem ohne Widerstand überließ, zwar nicht die Ergriffenheit der Liebe, wohl aber eine halb verrückte, an ein Gemetzel, einen Lustmord, oder wenn es das geben kann, einen Lustselbstmord erinnernde Ergriffenheit von den Dämonen der Leere, die hinter allen Bildern des Lebens zuhause sind.
Seine Lage erinnerte ihn mit einemmal durch einen unklaren Zusammenhang an seinen nächtlichen Kampf mit den Strolchen, und er wollte diesmal schneller sein, aber im gleichen Augenblick begann etwas Entsetzliches. Gerda hatte alles, was sie überhaupt in sich erreichen konnte, zu Willen gemacht und dazu verwendet, die schmähliche Angst niederzuhalten, die sie litt; es war ihr zumute, als sollte sie hingerichtet werden, und in dem Augenblick, wo sie Ulrich in ungewohnter Nacktheit neben sich spürte und von seinen Händen berührt wurde, schleuderte ihr Körper allen ihren Willen von sich. Irgendwo tief in ihrer Brust fühlte sie noch immer unsagbare Freundschaft, einen zitternd zarten Wunsch, Ulrich zu umarmen, sein Haar zu küssen, seiner Stimme mit ihren Lippen zu folgen, und hatte die Vorstellung, wenn sie sein wahres Wesen berühre, werde sie daran zergehen wie ein wenig Schnee in einer warmen Hand; aber das war ein Ulrich, der, wie gewöhnlich gekleidet, sich in den bekannten Räumen ihres Elternhauses bewegte, und nicht dieser nackte Mann, dessen Feindseligkeit sie erriet und der ihr Opfer nicht ernst nahm, obgleich er ihr keine Besinnung ließ. Und auf einmal bemerkte Gerda, daß sie schrie. Wie ein Wölkchen, wie eine Seifenblase hing ein Schrei in der Luft, und andere folgten ihm. Es waren kleine Schreie, aus der Brust gestoßen, als ringe sie mit etwas, ein Wimmern, aus dem sich helle I-Laute rundeten und lösten. Ihre Lippen krümmten sich beweglich und waren naß wie in tödlicher Wollust, sie wollte aufspringen, konnte sich aber nicht erheben. Ihre Augen gehorchten ihr nicht und führten Zeichen aus, die sie ihnen nicht erlaubt hatte. Gerda flehte um Schonung, wie es ein Kind tut, das eine Strafe empfangen soll oder zum Arzt geführt wird und keinen Schritt weiter tun kann, weil es völlig von Schreien zerrissen und gekrümmt wird. Sie hatte die Hände an die Brüste gezogen und bedrohte Ulrich mit den Nägeln, während sie ihre langen Schenkel krampfhaft zupreßte. Diese Empörung ihres Körpers gegen sie selbst war schrecklich. Sie hatte ganz und gar das Gefühl von Theater dabei, aber saß auch allein und verlassen in dem dunklen Zuschauerraum und konnte nicht aufhalten, daß heftig und unter Schreien ihr Schicksal gespielt wurde, ja daß sie unwillkürlich mitspielte.
Ulrich starrte voll Grauen in die kleinen Pupillen der verschleierten Augen, aus denen der Blick merkwürdig steif hervorkam, und betrachtete entgeistert die seltsamen Bewegungen, in denen sich Wunsch und Verbot, Seele und Seelenlosigkeit in einer unausdrückbaren Weise verschränkten. Flüchtig fiel der Eindruck der blassen blonden Haut in sein Auge, mit den schwarzen Härchen, die dort, wo sie sich zu Flächen verdichteten, rot wurden. Es war ihm langsam klar geworden, daß er einen hysterischen Anfall vor sich habe, aber er wußte nicht, was er dagegen tun solle. Er fürchtete sich davor, daß die furchtbar peinigenden Schreie noch lauter werden könnten. Er erinnerte sich, daß ein heftiges Anbrüllen imstande sein solle, einen solchen Anfall zu brechen, vielleicht auch ein plötzlicher Schlag. Das ungreifbare Etwas an Vermeidlichkeit, das mit dem Entsetzlichen verbunden war, hieß ihn daran denken, daß ein jüngerer Mann vielleicht versuchen würde, noch weiter auf Gerda einzudringen. »Vielleicht käme man so darüber weg« dachte er. »Vielleicht darf man ihr gerade nicht nachgeben, nachdem sich die dumme Gans einmal zu weit eingelassen hat!« Er tat nichts davon, aber solche ärgerlichen Gedanken fuhren kreuz und quer, denn er flüsterte unwillkürlich und unaufhörlich Gerda tröstliche Worte zu, versprach, daß er ihr nichts tun werde, erklärte, daß ihr noch nichts geschehen sei, bat sie um Verzeihung, und diese im Grauen zusammengefegte Wortspreu kam ihm so lächerlich und unwürdig vor, daß er sich dabei gegen die Versuchung wehren mußte, einfach einen Arm voll Polster zu nehmen und mit ihnen diesen Mund zu ersticken, dessen Laute nicht aufzuhalten waren.
Endlich ließ aber der Anfall von selbst nach, und der Körper beruhigte sich. Die Augen des Mädchens wurden feucht, es setzte sich im Bett auf, die kleinen Brüste hingen matt an seinem vom Bewußtsein noch nicht wieder beaufsichtigten Leib, und Ulrich fühlte aufatmend noch einmal die ganze Abneigung gegen das Unmenschliche, nur Körperliche des Erlebnisses, das er hatte überstehen müssen. Dann kehrte das gewöhnliche Bewußtsein in Gerda zurück; in ihren Augen öffnete sich etwas, so wie einer die Augen schon eine Weile aufgeschlagen hat, ehe er aus dem Schlaf erwacht, sie starrte noch eine Sekunde verständnislos geradeaus, dann bemerkte sie, daß sie nackt dasitze, blickte Ulrich an, und das Blut schlug ihr in Wellen ins Gesicht zurück. Ulrich wußte nichts Besseres, als noch einmal alles zu wiederholen, was er ihr schon zugeflüstert hatte; er legte den Arm um ihre Schulter, zog sie tröstend an seine Brust und bat sie, sich nichts aus dem Geschehenen zu machen. Gerda war nun wieder in die Lage zurückgekehrt, in der sie von ihrem Anfall überrascht worden war, aber merkwürdig blaß und verlassen kam ihr alles vor; das aufgeschlagene Bett, ihr entblößter Körper in den Armen eines eifrig flüsternden Mannes und die Gefühle, die sie hieher geführt hatten: sie wußte wohl, was es bedeuten wollte, aber sie wußte auch, daß inzwischen etwas Gräßliches geschehen war, woran sie sich nur widerwillig und gedämpft erinnerte, und obgleich es ihr nicht entging, daß die Stimme Ulrichs jetzt zärtlicher klang, bezog sie das darauf, daß sie nun für ihn eine Kranke sei, und dachte, daß er sie krank gemacht habe, aber es kam ihr alles gleichgültig vor, und sie hatte keinen anderen Wunsch als, ohne ein Wort sagen zu müssen, nicht mehr da zu sein. Sie senkte den Kopf und drängte Ulrich von sich, tastete nach ihrem Hemd und zog es sich wie ein Kind über den Kopf oder wie ein Mensch, dem es auf sich nicht mehr ankommt. Ulrich half ihr dabei. Er zog ihr sogar selbst die Strümpfe über die Beine, und auch er hatte den Eindruck, ein Kind anzuziehen. Gerda wankte, als sie zum erstenmal wieder auf den Füßen stand. Ihre Erinnerung sagte ihr, mit welchen Gefühlen sie das Elternhaus verlassen hatte, in das sie nun zurückkehrte. Sie fühlte, daß sie die Probe nicht bestanden habe, und war tief unglücklich und beschämt. Sie erwiderte kein Wort auf alles, was Ulrich sagte. Ganz weit von allem Gegenwärtigen kam ihr ins Gedächtnis, daß er einmal im Scherz von sich den Ausspruch getan habe, die Einsamkeit verleite ihn zu Ausschreitungen. Sie war ihm nicht böse. Sie wollte bloß niemals wieder hören, was er sagte. Er erbot sich, einen Wagen zu holen, sie schüttelte nur den Kopf, zog den Hut über die verwirrten Haare und verließ ihn, ohne ihn anzusehen. Wie er sie fortgehen sah, ihren Schleier jetzt in der Hand, hatte Ulrich das Gefühl, wie ein Junge dabeizustehn; denn er hätte sie wohl in diesem Zustand nicht von sich lassen dürfen, aber es fiel ihm nichts ein, womit er sie zurückhalten konnte, und er selbst war, da er ihr hatte helfen müssen, nur halb angekleidet, was auch dem Ernst, in dem er zurückblieb, etwas Unfertiges gab, als müßte er sich erst ganz ankleiden, um sich über das, was mit seiner Person zu geschehen habe, entscheiden zu können.