Eine merkwürdige Bereicherung
hatte inzwischen das Konzil erfahren: Trotz der strengen Sichtung derer, die aufgefordert wurden, war eines Abends der General aufgetaucht und hatte sich bei Diotima aufs höchste für die Ehre bedankt, die ihm ihre Einladung erweise. Dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angewiesen, erklärte er, aber einer so hervorragenden Zusammenkunft
auch nur als stummer Zuhörer beiwohnen zu dürfen, sei seit seiner Jugend seine persönliche Sehnsucht gewesen. Diotima sah sich schweigend über seinen Kopf hinweg um und suchte nach dem Schuldigen; Arnheim sprach wie ein Staatsmann mit einem anderen zu Sr. Erlaucht, Ulrich sah unsäglich gelangweilt aufs Büfett und schien die dort stehenden Torten zu zählen; die Front gewohnten Anblicks war lückenlos geschlossen und gewährte dem Eindringen eines so ungewöhnlichen Argwohns nicht den kleinsten Raum. Andererseits wußte aber Diotima nichts so genau, wie daß sie selbst den General nicht eingeladen habe, außer sie müßte annehmen, daß sie nachtwandle oder Anfälle von Bewußtseinsabwesenheit habe. Es war ein unheimlicher Augenblick.
Da stand der kleine General und hatte unzweifelhaft eine Einladung in der Brusttasche seines vergißmeinnichtfarbenen Waffenrocks, denn ein so freches Wagnis, wie es sein Kommen sonst gewesen wäre, war einem Mann in seiner Stellung nicht zuzumuten; andererseits stand dort im Bücherzimmer Diotimas graziöser Schreibtisch,
und in seiner Lade lagen versperrt die überschüssigen gedruckten Einladungskarten, zu denen kaum jemand außer Diotima Zugang hatte. Tuzzi? – fuhr ihr durch den Kopf; allein auch das hatte wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Es blieb ein sozusagen spiritistisches Rätsel, wie die Einladung und der General zusammengekommen seien, und da Diotima in persönlichen Angelegenheiten leicht geneigt war, an überirdische Kräfte zu glauben, fühlte sie einen Schauder vom Scheitel bis zu den Sohlen. Es blieb ihr aber nichts übrig, als den General willkommen zu heißen.
Übrigens hatte auch er sich ein wenig über die Einladung gewundert; ihr nachträgliches Eintreffen hatte ihn überrascht, weil Diotima bei seinen zwei Besuchen sich doch leider nicht das geringste von solcher Absicht hatte anmerken lassen, und es war ihm aufgefallen, daß die, offenbar von Miethand geschriebene, Adresse in der Bezeichnung und Anrede seines Ranges und Amtes Unrichtigkeiten aufwies, die einer Dame in Diotimas gesellschaftlicher Stellung nicht entsprochen haben würden. Aber der General war ein fröhlicher Mensch und kam nicht so leicht darauf, sich etwas Ungewöhnliches zu denken, geschweige denn etwas Überirdisches. Er nahm an, daß da irgend ein kleines Versehen unterlaufen sei, was ihn nicht hindern sollte, seinen Erfolg zu genießen.
Denn Generalmajor Stumm von Bordwehr, Leiter der Abteilung für Militär-Bildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium, freute sich ehrlich über den dienstlichen Auftrag, den er ergattert hatte. Als seinerzeit die gründende große Sitzung der Parallelaktion bevorgestanden war, hatte ihn der Chef der Präsidialsektion zu sich rufen lassen und zu ihm gesagt: »Du Stumm, du bist ja so ein Gelehrter, wir schreiben dir einen Einführungsbrief, und du gehst hin. Schau ein bissel zu und erzähl uns, was sie eigentlich vorhaben.« Und er hatte nachträglich beteuern können, was er wollte; daß es ihm nicht möglich gewesen war, in der Parallelaktion Fuß zu fassen, bedeutete einen Rußfleck auf seinem Qualifikationsbogen, den er durch seine Besuche bei Diotima vergeblich auszuwischen suchte. Darum war er spornstreichs zur Präsidialsektion gelaufen, als dann doch die Einladung kam, und hatte, zierlich und etwas nachlässig frech unter seinem Bauch ein Bein vor das andere stellend, aber atemlos gemeldet, daß das von ihm eingeleitete und erwartete Ereignis nun natürlich doch eingetreten sei.
»Na also,« sagte Feldmarschalleutnant Frost von Aufbruch darauf »ich hab es auch nicht anders erwartet.« Er bot Stumm Platz und eine Zigarette an, stellte das Lichtsignal vor der Tür auf »Eintrittverbot, wichtige Konferenz« und gab Stumm nun seinen Auftrag bekannt, der im wesentlichen auf Beobachten und Berichten hinauslief. »Verstehst du, wir wollen ja nichts besonderes, aber du gehst so oft, als du kannst, hin und zeigst, daß wir da sind; daß wir nicht in den Komitees drin sind, ist ja vielleicht soweit in Ordnung, aber daß wir nicht dabei sein sollten, wenn für den Geburtstag unseres Allerhöchsten Kriegsherrn sozusagen über ein geistiges Geschenk beraten wird, dafür gibt es keinen Grund. Darum hab ich auch gerade dich Sr. Exzellenz dem Herrn Minister vorgeschlagen, da kann niemand etwas dagegen sagen; also Servus, mach deine Sach’ gut!« Feldmarschalleutnant Frost von Aufbruch nickte freundlich, und General Stumm von Bordwehr vergaß, daß der Soldat keine Gemütsbewegungen zeigen solle, schlug die Sporen, man könnte fast sagen, von Herzen kommend, zusammen und sagte: »Danke dir gehorsamst, Exzellenz!«
Wenn es Zivilisten gibt, die kriegerisch sind, weshalb sollte es dann nicht Offiziere geben, die die Künste des Friedens lieben? Kakanien hatte von ihnen eine Menge. Sie malten, sammelten Käfer, legten Briefmarkenalbums an oder studierten Weltgeschichte. Die vielen Zwerggarnisonen und der Umstand, daß es dem Offizier verboten war, mit geistigen Leistungen ohne Approbation der Oberen an die Öffentlichkeit zu treten, gaben ihren Bestrebungen gewöhnlich etwas besonders Persönliches, und auch General Stumm hatte in früheren Jahren solchen Liebhabereien gefrönt. Er hatte ursprünglich bei der Kavallerie gedient, aber er war ein untauglicher Reiter; seine kleinen Hände und Beine eigneten sich nicht zur Umklammerung und Zügelung eines so törichten Tiers, wie es das Pferd ist, und es fehlte ihm auch der befehlshaberische Sinn in solchem Maße, daß seine Vorgesetzten zu jener Zeit von ihm zu behaupten pflegten, er sei, wenn man eine Eskadron im Kasernhof mit den Köpfen, statt, wie es gewöhnlich geschieht, mit den Schwänzen zur Stallwand aufstelle, schon nicht mehr imstande, sie aus dem Kaserntor zu führen. Zur Rache hatte der kleine Stumm sich damals einen Vollbart wachsen lassen, schwarzbraun und rund geschnitten; er war der einzige Offizier in des Kaisers Kavallerie, der einen Vollbart trug, aber ausdrücklich verboten war es nicht. Und er hatte angefangen, wissenschaftlich Taschenmesser zu sammeln; zu einer Waffensammlung reichte sein Einkommen nicht, aber Messer, nach ihrer Bauart, mit und ohne Korkzieher und Nagelfeile geordnet, und nach den Stählen, der Herkunft, dem Material der Schale und so weiter, besaß er bald eine Menge, und hohe Kasten mit vielen flachen Schubfächern und beschriebenen Zetteln standen in seinem Zimmer, was ihn in den Ruf der Gelehrsamkeit brachte. Auch Gedichte konnte er machen, hatte schon als Militärzögling in Religion und Deutschaufsatz immer »vorzüglich« gehabt, und eines Tags ließ ihn der Oberst in die Regimentskanzlei holen. »Ein brauchbarer Kavallerieoffizier werden Sie nie werden« sprach er zu ihm. »Wenn ich einen Säugling aufs Pferd setze und vor die Front stelle, kann er sich auch nicht anders benehmen wie Sie. Aber das Regiment hat schon lange niemand auf der Kriegsschule gehabt, und du könntest dich melden, Stumm!«
So kam Stumm zu zwei herrlichen Jahren an der Generalstabsschule in der Hauptstadt. Er ließ dort auch geistig die Schärfe vermissen, die man zum Reiten braucht, aber er machte alle Militärkonzerte mit, besuchte die Museen und sammelte Theaterzettel. Er faßte den Plan, zum Zivil überzutreten, aber er wußte nicht, wie er ihn durchführen solle. Das Schlußergebnis war, daß er für den Generalstabsdienst weder für geeignet noch für ausgesprochen ungenügend befunden wurde; er galt für ungeschickt und unambitiös, aber für einen Philosophen, wurde auf weitere zwei Jahre probeweise dem Generalstab beim Kommando einer Infanterietruppendivision zugeteilt und gehörte nach Ablauf dieser Zeit als Rittmeister zur großen Zahl derer, die als Notreserve des Generalstabs niemals wieder von der Truppe fortkommen, außer es treten ganz ungewöhnliche Verhältnisse ein. Rittmeister Stumm diente jetzt bei einem anderen Regiment, galt nun auch für militärisch gelehrt, aber die Sache mit dem Säugling und den praktischen Fähigkeiten hatten auch seine neuen Vorgesetzten bald heraus. Er machte die Laufbahn eines Märtyrers durch, bis zum Rang eines Oberstleutnants, aber schon als Major träumte er nur noch von einem langen Urlaub auf Wartegebühr, um den Zeitpunkt zu erreichen, wo er als Oberst ad honores, das heißt mit dem Titel und der Uniform, wenn auch ohne den Ruhesold eines Obersten, in Pension geschickt würde. Er wollte nichts mehr von Beförderung wissen, die bei der Truppe nach der Rangliste vorrückte wie eine unsagbar langsame Uhr; nichts mehr von den Vormittagen, wo man noch bei aufsteigender Sonne, von oben bis unten beschimpft, vom Exerzierplatz zurückkehrt und mit bestaubten Reitstiefeln das Kasino betritt, um die Leere des Tags, der noch so lang sein wird, um leere Weinflaschen zu vermehren; nichts mehr von ärarischer Geselligkeit, Regimentsgeschichten und jenen Regimentsdianen, die ihr Leben an der Seite ihrer Männer verbringen, deren Rangstufenleiter auf einer silbern genauen, unerbittlich zart gerade noch hörbaren Tonleiter wiederholend; und nichts wollte er von jenen Nächten wissen, wo Staub, Wein, Langeweile, Weite durchrittener Äcker und Zwang des ewigen Gesprächgegenstandes Pferd verheiratete wie unverheiratete Herrn in jene fensterverhängte Geselligkeit trieben, wo man Weiber auf den Kopf stellte, um ihnen Champagner in die Röcke zu gießen, und vom Universaljuden der verdammten galizischen Garnisonnester, der wie ein kleines, schiefes Warenhaus war, wo man von der Liebe bis zur Sattelseife alles auf Kredit und Zins bekam, Mädchen anschleppen ließ, die vor Respekt, Angst und Neugierde zitterten. Seinen einzigen Trost in diesen Zeiten bildete das umsichtige Weitersammeln von Messern und Korkziehern, und auch von diesen brachte viele der Jude dem meschuggenen Oberstleutnant ins Haus und putzte sie am Ärmel ab, bevor er sie auf den Tisch legte, mit einem ehrfürchtigen Gesicht, wie wenn es prähistorische Gräberfunde wären.
Die unerwartete Wendung war eingetreten, als sich ein Jahrgangskamerad aus der Kriegsschule an Stumm erinnert hatte und seine Kommandierung ins Kriegsministerium vorschlug, wo man in der Abteilung für Bildungswesen einen Gehilfen für den Leiter suchte, der hervorragenden Zivilverstand haben sollte. Zwei Jahre später hatte man Stumm, der inzwischen Oberst geworden war, schon die Abteilung anvertraut. Er war ein anderer, seit er statt des heiligen Tiers der Kavallerie einen Sessel unter sich hatte. Er wurde General und konnte sich ziemlich sicher fühlen, auch noch Feldmarschalleutnant zu werden. Er hatte sich seinen Bart natürlich schon lange vorher abnehmen lassen, aber nun wuchs ihm mit zunehmendem Alter eine Stirn, und seine Neigung zu Rundlichkeit gab seiner Erscheinung eine gewisse universale Bildung. Er wurde auch glücklich, und das Glück vervielfacht erst recht die Leistungsfähigkeit. Er hatte in große Verhältnisse gehört, und es zeigte sich in allem. Im Kleid einer ungewöhnlich angezogenen Frau, in den kühnen Geschmacklosigkeiten des damals neuen Wiener Baustiles, im hingebreiteten Bunten eines großen Gemüsemarkts, in der graubraun asphaltigen Luft der Straßen, diesem weichen Luftasphalt, voll von Miasmen, Gerüchen und Wohlgerüchen, im Lärm, der für Sekunden zerbarst, um ein einzelnes Geräusch herauszulassen, in der unzähligen Vielfältigkeit der Zivilisten und selbst in den kleinen weißen Tischen der Restaurants, die so unerhört individuell sind, wenn sie auch unleugbar alle gleich aussehen, in alledem war ein Glück, das wie Sporenklingeln im Kopf tönte. Es war ein Glück, wie es zivile Menschen nur bei einer Bahnfahrt ins Freie finden; man weiß nicht wie, aber man wird den Tag grün, glücklich und von irgendetwas überwölbt verbringen. In diesem Gefühl lag die eigene Bedeutsamkeit eingeschlossen, die des Kriegsministeriums, der Bildung, die Bedeutsamkeit jedes anderen Menschen, und alles so stark, daß Stumm, seit er hier war, noch kein einzigesmal daran gedacht hatte, wieder die Museen oder ein Theater zu besuchen. Es war das eben etwas, das selten zu Bewußtsein kommt, aber alles durchdrang, von den Generalsborten bis zu den Stimmen der Turmglocken, und ebensoviel wie eine Musik bedeutet, ohne die der Tanz des Lebens augenblicklich stillstehen würde.
Der Teufel, er war seinen Weg gegangen! So dachte Stumm von sich selbst, wie er nun zu allem Überfluß auch noch hier, in solcher berühmten Versammlung des Geistes, inmitten der Zimmer stand. – Nun stand er da! Er war die einzige Uniform in dieser durchgeistigten Umgebung! Und es kam noch etwas hinzu, um ihn staunen zu machen. Man stelle sich die himmelblaue Weltkugel vor, ein wenig ins Vergißmeinnichtblau des Stummschen Waffenrocks aufgehellt und ganz und gar bestehend aus Glück, aus Bedeutsamkeit, aus dem geheimnisvollen Gehirnphosphor innerer Erleuchtung, inmitten dieser Kugel aber das Herz des Generals und auf diesem Herzen, wie Maria auf dem Kopf der Schlange stehend, eine göttliche Frau, deren Lächeln mit allen Dingen verwoben und die geheime Schwere aller Dinge ist: so erreicht man ungefähr den Eindruck, den Diotima seit der ersten Stunde, wo ihr Bild seine sich langsam bewegenden Augen gefüllt hatte, auf Stumm von Bordwehr machte. General Stumm liebte eigentlich Frauen ebensowenig wie Pferde. Seine rundlichen, etwas kurzen Beine hatten sich im Sattel heimatlos gefühlt, und wenn er dann auch noch in der dienstfreien Zeit von Pferden sprechen mußte, hatte ihm nachts geträumt, er sei bis auf die Knochen aufgeritten und könne nicht absteigen; ebenso hatte seine Bequemlichkeit aber auch seit je Liebesausschreitungen mißbilligt, und da ihn schon der Dienst genügend ermüdete, brauchte er seine Kräfte nicht durch nächtliche Ventile ausströmen zu lassen. Gewiß war er seinerzeit auch nicht ein Spaßverderber gewesen, aber wenn er seine Abende nicht mit seinen Messern, sondern mit seinen Kameraden verbrachte, so griff er gewöhnlich zu einem weisen Auskunftsmittel, denn sein Sinn für körperliche Harmonie hatte ihn bald gelehrt, daß man sich durch das exzessive Stadium rasch in das schläfrige durchtrinken könne, und das war ihm viel bequemer gewesen als die Gefahren und Enttäuschungen der Liebe. Als er später heiratete und über kurz zwei Kinder samt ihrer ehrgeizigen Mutter zu erhalten hatte, kam ihm erst ganz zu Bewußtsein, wie vernünftig seine Lebensgewohnheiten früher gewesen waren, ehe er der Verführung zu ehelichen erlegen war, wozu ihn zweifellos nur das etwas Unmilitärische verleitet hatte, das der Vorstellung eines verheirateten Kriegers anhängt. Seit dieser Zeit entwickelte sich lebhaft ein außereheliches Weibesideal in ihm, das er offenbar unbewußt auch vorher schon in sich getragen hatte, und es bestand in einer milden Schwärmerei für Frauen, die ihn einschüchterten und dadurch jeder Bemühung enthoben. Wenn er die Frauenbildnisse ansah, die er in seiner Junggesellenzeit aus illustrierten Zeitschriften geschnitten hatte – aber es war das immer nur ein Nebenzweig seiner Sammeltätigkeit gewesen –, so hatten sie alle diesen Zug; aber er hatte es früher nicht gewußt, und zu überwältigender Schwärmerei wurde es erst durch seine Begegnung mit Diotima. Ganz abgesehen von dem Eindruck ihrer Schönheit, hatte er zu allem Anfang schon, als er hörte, daß sie eine zweite Diotima sei, im Konversationslexikon nachschlagen müssen, was überhaupt eine Diotima bedeute; dann verstand er die Bezeichnung nicht ganz und bemerkte nur so viel, daß sie mit dem großen Kreis der zivilen Bildung zusammenhänge, von der er leider trotz seiner Stellung noch immer viel zu wenig wisse, und die geistige Übermacht der Welt verschmolz mit der körperlichen Anmut dieser Frau. Heute, wo die Beziehungen der Geschlechter so vereinfacht sind, muß man wohl betonen, daß dies das Höchste ist, was ein Mann erleben kann. General Stumms Arme fühlten sich in Gedanken viel zu kurz, um die hohe Fülle Diotimas zu umspannen, während sein Geist im gleichen Augenblick der Welt und ihrer Kultur gegenüber das gleiche erlebte, so daß in alle Geschehnisse eine sanfte Liebe kam und in des Generals rundlichen Leib etwas wie die schwebende Rundheit der Weltkugel.
Es war diese Schwärmerei, die Stumm von Bordwehr, kurze Zeit nachdem ihn Diotima aus ihrer Nähe entlassen hatte, wieder dahin zurückführte. Er stellte sich nahe der bewunderten Frau auf, zumal er niemanden anderen kannte, und lauschte auf ihre Gespräche. Er würde sich am liebsten Notizen gemacht haben, denn er hätte es nicht für möglich gehalten, mit solchem geistigen Reichtum lächelnd wie mit einer Perlenkette zu spielen, wäre er nicht Ohrenzeuge der Gespräche gewesen, mit denen Diotima die verschiedensten Berühmtheiten begrüßte. Erst ihr Blick, nachdem sie sich einigemal ungnädig zur Seite gedreht hatte, führte ihm das für einen General Unpassende seines Lauschens zu Gemüt und scheuchte ihn fort. Er strich ein paarmal einsam durch die übervolle Wohnung, trank ein Glas Wein und wollte sich gerade an einer Zimmerwand eine dekorative Stellung suchen, da entdeckte er Ulrich, den er schon bei der ersten Sitzung gesehen hatte, und der Augenblick erleuchtete sein Gedächtnis, denn Ulrich war ein einfallsreicher, unruhiger Leutnant in einer der beiden Schwadronen gewesen, die General Stumm seinerzeit als Oberstleutnant sanft geleitet hatte. »Ein ähnlicher Mensch wie ich,« dachte Stumm »und er hat es schon in jungen Jahren zu dieser hohen Stellung gebracht!« Er steuerte auf ihn los, und nachdem sie ihr Wiedererkennen bekräftigt und eine Weile über die eingetretenen Veränderungen geplaudert hatten, wies Stumm auf die Versammlung ringsum und meinte: »Eine hervorragende Gelegenheit für mich, die wichtigsten Zivilfragen der Welt kennen zu lernen!«
»Du wirst staunen, Herr General« antwortete ihm Ulrich.
Der General, der einen Bundesgenossen suchte, schüttelte ihm warm die Hand: »Du warst Leutnant im neunten Uhlanenregiment,« sagte er bedeutungsvoll »und es wird einmal eine große Ehre für uns gewesen sein, wenn es die anderen jetzt auch noch nicht so begreifen wie ich!«
Übrigens hatte auch er sich ein wenig über die Einladung gewundert; ihr nachträgliches Eintreffen hatte ihn überrascht, weil Diotima bei seinen zwei Besuchen sich doch leider nicht das geringste von solcher Absicht hatte anmerken lassen, und es war ihm aufgefallen, daß die, offenbar von Miethand geschriebene, Adresse in der Bezeichnung und Anrede seines Ranges und Amtes Unrichtigkeiten aufwies, die einer Dame in Diotimas gesellschaftlicher Stellung nicht entsprochen haben würden. Aber der General war ein fröhlicher Mensch und kam nicht so leicht darauf, sich etwas Ungewöhnliches zu denken, geschweige denn etwas Überirdisches. Er nahm an, daß da irgend ein kleines Versehen unterlaufen sei, was ihn nicht hindern sollte, seinen Erfolg zu genießen.
Denn Generalmajor Stumm von Bordwehr, Leiter der Abteilung für Militär-Bildungs- und Erziehungswesen im Kriegsministerium, freute sich ehrlich über den dienstlichen Auftrag, den er ergattert hatte. Als seinerzeit die gründende große Sitzung der Parallelaktion bevorgestanden war, hatte ihn der Chef der Präsidialsektion zu sich rufen lassen und zu ihm gesagt: »Du Stumm, du bist ja so ein Gelehrter, wir schreiben dir einen Einführungsbrief, und du gehst hin. Schau ein bissel zu und erzähl uns, was sie eigentlich vorhaben.« Und er hatte nachträglich beteuern können, was er wollte; daß es ihm nicht möglich gewesen war, in der Parallelaktion Fuß zu fassen, bedeutete einen Rußfleck auf seinem Qualifikationsbogen, den er durch seine Besuche bei Diotima vergeblich auszuwischen suchte. Darum war er spornstreichs zur Präsidialsektion gelaufen, als dann doch die Einladung kam, und hatte, zierlich und etwas nachlässig frech unter seinem Bauch ein Bein vor das andere stellend, aber atemlos gemeldet, daß das von ihm eingeleitete und erwartete Ereignis nun natürlich doch eingetreten sei.
»Na also,« sagte Feldmarschalleutnant Frost von Aufbruch darauf »ich hab es auch nicht anders erwartet.« Er bot Stumm Platz und eine Zigarette an, stellte das Lichtsignal vor der Tür auf »Eintrittverbot, wichtige Konferenz« und gab Stumm nun seinen Auftrag bekannt, der im wesentlichen auf Beobachten und Berichten hinauslief. »Verstehst du, wir wollen ja nichts besonderes, aber du gehst so oft, als du kannst, hin und zeigst, daß wir da sind; daß wir nicht in den Komitees drin sind, ist ja vielleicht soweit in Ordnung, aber daß wir nicht dabei sein sollten, wenn für den Geburtstag unseres Allerhöchsten Kriegsherrn sozusagen über ein geistiges Geschenk beraten wird, dafür gibt es keinen Grund. Darum hab ich auch gerade dich Sr. Exzellenz dem Herrn Minister vorgeschlagen, da kann niemand etwas dagegen sagen; also Servus, mach deine Sach’ gut!« Feldmarschalleutnant Frost von Aufbruch nickte freundlich, und General Stumm von Bordwehr vergaß, daß der Soldat keine Gemütsbewegungen zeigen solle, schlug die Sporen, man könnte fast sagen, von Herzen kommend, zusammen und sagte: »Danke dir gehorsamst, Exzellenz!«
Wenn es Zivilisten gibt, die kriegerisch sind, weshalb sollte es dann nicht Offiziere geben, die die Künste des Friedens lieben? Kakanien hatte von ihnen eine Menge. Sie malten, sammelten Käfer, legten Briefmarkenalbums an oder studierten Weltgeschichte. Die vielen Zwerggarnisonen und der Umstand, daß es dem Offizier verboten war, mit geistigen Leistungen ohne Approbation der Oberen an die Öffentlichkeit zu treten, gaben ihren Bestrebungen gewöhnlich etwas besonders Persönliches, und auch General Stumm hatte in früheren Jahren solchen Liebhabereien gefrönt. Er hatte ursprünglich bei der Kavallerie gedient, aber er war ein untauglicher Reiter; seine kleinen Hände und Beine eigneten sich nicht zur Umklammerung und Zügelung eines so törichten Tiers, wie es das Pferd ist, und es fehlte ihm auch der befehlshaberische Sinn in solchem Maße, daß seine Vorgesetzten zu jener Zeit von ihm zu behaupten pflegten, er sei, wenn man eine Eskadron im Kasernhof mit den Köpfen, statt, wie es gewöhnlich geschieht, mit den Schwänzen zur Stallwand aufstelle, schon nicht mehr imstande, sie aus dem Kaserntor zu führen. Zur Rache hatte der kleine Stumm sich damals einen Vollbart wachsen lassen, schwarzbraun und rund geschnitten; er war der einzige Offizier in des Kaisers Kavallerie, der einen Vollbart trug, aber ausdrücklich verboten war es nicht. Und er hatte angefangen, wissenschaftlich Taschenmesser zu sammeln; zu einer Waffensammlung reichte sein Einkommen nicht, aber Messer, nach ihrer Bauart, mit und ohne Korkzieher und Nagelfeile geordnet, und nach den Stählen, der Herkunft, dem Material der Schale und so weiter, besaß er bald eine Menge, und hohe Kasten mit vielen flachen Schubfächern und beschriebenen Zetteln standen in seinem Zimmer, was ihn in den Ruf der Gelehrsamkeit brachte. Auch Gedichte konnte er machen, hatte schon als Militärzögling in Religion und Deutschaufsatz immer »vorzüglich« gehabt, und eines Tags ließ ihn der Oberst in die Regimentskanzlei holen. »Ein brauchbarer Kavallerieoffizier werden Sie nie werden« sprach er zu ihm. »Wenn ich einen Säugling aufs Pferd setze und vor die Front stelle, kann er sich auch nicht anders benehmen wie Sie. Aber das Regiment hat schon lange niemand auf der Kriegsschule gehabt, und du könntest dich melden, Stumm!«
So kam Stumm zu zwei herrlichen Jahren an der Generalstabsschule in der Hauptstadt. Er ließ dort auch geistig die Schärfe vermissen, die man zum Reiten braucht, aber er machte alle Militärkonzerte mit, besuchte die Museen und sammelte Theaterzettel. Er faßte den Plan, zum Zivil überzutreten, aber er wußte nicht, wie er ihn durchführen solle. Das Schlußergebnis war, daß er für den Generalstabsdienst weder für geeignet noch für ausgesprochen ungenügend befunden wurde; er galt für ungeschickt und unambitiös, aber für einen Philosophen, wurde auf weitere zwei Jahre probeweise dem Generalstab beim Kommando einer Infanterietruppendivision zugeteilt und gehörte nach Ablauf dieser Zeit als Rittmeister zur großen Zahl derer, die als Notreserve des Generalstabs niemals wieder von der Truppe fortkommen, außer es treten ganz ungewöhnliche Verhältnisse ein. Rittmeister Stumm diente jetzt bei einem anderen Regiment, galt nun auch für militärisch gelehrt, aber die Sache mit dem Säugling und den praktischen Fähigkeiten hatten auch seine neuen Vorgesetzten bald heraus. Er machte die Laufbahn eines Märtyrers durch, bis zum Rang eines Oberstleutnants, aber schon als Major träumte er nur noch von einem langen Urlaub auf Wartegebühr, um den Zeitpunkt zu erreichen, wo er als Oberst ad honores, das heißt mit dem Titel und der Uniform, wenn auch ohne den Ruhesold eines Obersten, in Pension geschickt würde. Er wollte nichts mehr von Beförderung wissen, die bei der Truppe nach der Rangliste vorrückte wie eine unsagbar langsame Uhr; nichts mehr von den Vormittagen, wo man noch bei aufsteigender Sonne, von oben bis unten beschimpft, vom Exerzierplatz zurückkehrt und mit bestaubten Reitstiefeln das Kasino betritt, um die Leere des Tags, der noch so lang sein wird, um leere Weinflaschen zu vermehren; nichts mehr von ärarischer Geselligkeit, Regimentsgeschichten und jenen Regimentsdianen, die ihr Leben an der Seite ihrer Männer verbringen, deren Rangstufenleiter auf einer silbern genauen, unerbittlich zart gerade noch hörbaren Tonleiter wiederholend; und nichts wollte er von jenen Nächten wissen, wo Staub, Wein, Langeweile, Weite durchrittener Äcker und Zwang des ewigen Gesprächgegenstandes Pferd verheiratete wie unverheiratete Herrn in jene fensterverhängte Geselligkeit trieben, wo man Weiber auf den Kopf stellte, um ihnen Champagner in die Röcke zu gießen, und vom Universaljuden der verdammten galizischen Garnisonnester, der wie ein kleines, schiefes Warenhaus war, wo man von der Liebe bis zur Sattelseife alles auf Kredit und Zins bekam, Mädchen anschleppen ließ, die vor Respekt, Angst und Neugierde zitterten. Seinen einzigen Trost in diesen Zeiten bildete das umsichtige Weitersammeln von Messern und Korkziehern, und auch von diesen brachte viele der Jude dem meschuggenen Oberstleutnant ins Haus und putzte sie am Ärmel ab, bevor er sie auf den Tisch legte, mit einem ehrfürchtigen Gesicht, wie wenn es prähistorische Gräberfunde wären.
Die unerwartete Wendung war eingetreten, als sich ein Jahrgangskamerad aus der Kriegsschule an Stumm erinnert hatte und seine Kommandierung ins Kriegsministerium vorschlug, wo man in der Abteilung für Bildungswesen einen Gehilfen für den Leiter suchte, der hervorragenden Zivilverstand haben sollte. Zwei Jahre später hatte man Stumm, der inzwischen Oberst geworden war, schon die Abteilung anvertraut. Er war ein anderer, seit er statt des heiligen Tiers der Kavallerie einen Sessel unter sich hatte. Er wurde General und konnte sich ziemlich sicher fühlen, auch noch Feldmarschalleutnant zu werden. Er hatte sich seinen Bart natürlich schon lange vorher abnehmen lassen, aber nun wuchs ihm mit zunehmendem Alter eine Stirn, und seine Neigung zu Rundlichkeit gab seiner Erscheinung eine gewisse universale Bildung. Er wurde auch glücklich, und das Glück vervielfacht erst recht die Leistungsfähigkeit. Er hatte in große Verhältnisse gehört, und es zeigte sich in allem. Im Kleid einer ungewöhnlich angezogenen Frau, in den kühnen Geschmacklosigkeiten des damals neuen Wiener Baustiles, im hingebreiteten Bunten eines großen Gemüsemarkts, in der graubraun asphaltigen Luft der Straßen, diesem weichen Luftasphalt, voll von Miasmen, Gerüchen und Wohlgerüchen, im Lärm, der für Sekunden zerbarst, um ein einzelnes Geräusch herauszulassen, in der unzähligen Vielfältigkeit der Zivilisten und selbst in den kleinen weißen Tischen der Restaurants, die so unerhört individuell sind, wenn sie auch unleugbar alle gleich aussehen, in alledem war ein Glück, das wie Sporenklingeln im Kopf tönte. Es war ein Glück, wie es zivile Menschen nur bei einer Bahnfahrt ins Freie finden; man weiß nicht wie, aber man wird den Tag grün, glücklich und von irgendetwas überwölbt verbringen. In diesem Gefühl lag die eigene Bedeutsamkeit eingeschlossen, die des Kriegsministeriums, der Bildung, die Bedeutsamkeit jedes anderen Menschen, und alles so stark, daß Stumm, seit er hier war, noch kein einzigesmal daran gedacht hatte, wieder die Museen oder ein Theater zu besuchen. Es war das eben etwas, das selten zu Bewußtsein kommt, aber alles durchdrang, von den Generalsborten bis zu den Stimmen der Turmglocken, und ebensoviel wie eine Musik bedeutet, ohne die der Tanz des Lebens augenblicklich stillstehen würde.
Der Teufel, er war seinen Weg gegangen! So dachte Stumm von sich selbst, wie er nun zu allem Überfluß auch noch hier, in solcher berühmten Versammlung des Geistes, inmitten der Zimmer stand. – Nun stand er da! Er war die einzige Uniform in dieser durchgeistigten Umgebung! Und es kam noch etwas hinzu, um ihn staunen zu machen. Man stelle sich die himmelblaue Weltkugel vor, ein wenig ins Vergißmeinnichtblau des Stummschen Waffenrocks aufgehellt und ganz und gar bestehend aus Glück, aus Bedeutsamkeit, aus dem geheimnisvollen Gehirnphosphor innerer Erleuchtung, inmitten dieser Kugel aber das Herz des Generals und auf diesem Herzen, wie Maria auf dem Kopf der Schlange stehend, eine göttliche Frau, deren Lächeln mit allen Dingen verwoben und die geheime Schwere aller Dinge ist: so erreicht man ungefähr den Eindruck, den Diotima seit der ersten Stunde, wo ihr Bild seine sich langsam bewegenden Augen gefüllt hatte, auf Stumm von Bordwehr machte. General Stumm liebte eigentlich Frauen ebensowenig wie Pferde. Seine rundlichen, etwas kurzen Beine hatten sich im Sattel heimatlos gefühlt, und wenn er dann auch noch in der dienstfreien Zeit von Pferden sprechen mußte, hatte ihm nachts geträumt, er sei bis auf die Knochen aufgeritten und könne nicht absteigen; ebenso hatte seine Bequemlichkeit aber auch seit je Liebesausschreitungen mißbilligt, und da ihn schon der Dienst genügend ermüdete, brauchte er seine Kräfte nicht durch nächtliche Ventile ausströmen zu lassen. Gewiß war er seinerzeit auch nicht ein Spaßverderber gewesen, aber wenn er seine Abende nicht mit seinen Messern, sondern mit seinen Kameraden verbrachte, so griff er gewöhnlich zu einem weisen Auskunftsmittel, denn sein Sinn für körperliche Harmonie hatte ihn bald gelehrt, daß man sich durch das exzessive Stadium rasch in das schläfrige durchtrinken könne, und das war ihm viel bequemer gewesen als die Gefahren und Enttäuschungen der Liebe. Als er später heiratete und über kurz zwei Kinder samt ihrer ehrgeizigen Mutter zu erhalten hatte, kam ihm erst ganz zu Bewußtsein, wie vernünftig seine Lebensgewohnheiten früher gewesen waren, ehe er der Verführung zu ehelichen erlegen war, wozu ihn zweifellos nur das etwas Unmilitärische verleitet hatte, das der Vorstellung eines verheirateten Kriegers anhängt. Seit dieser Zeit entwickelte sich lebhaft ein außereheliches Weibesideal in ihm, das er offenbar unbewußt auch vorher schon in sich getragen hatte, und es bestand in einer milden Schwärmerei für Frauen, die ihn einschüchterten und dadurch jeder Bemühung enthoben. Wenn er die Frauenbildnisse ansah, die er in seiner Junggesellenzeit aus illustrierten Zeitschriften geschnitten hatte – aber es war das immer nur ein Nebenzweig seiner Sammeltätigkeit gewesen –, so hatten sie alle diesen Zug; aber er hatte es früher nicht gewußt, und zu überwältigender Schwärmerei wurde es erst durch seine Begegnung mit Diotima. Ganz abgesehen von dem Eindruck ihrer Schönheit, hatte er zu allem Anfang schon, als er hörte, daß sie eine zweite Diotima sei, im Konversationslexikon nachschlagen müssen, was überhaupt eine Diotima bedeute; dann verstand er die Bezeichnung nicht ganz und bemerkte nur so viel, daß sie mit dem großen Kreis der zivilen Bildung zusammenhänge, von der er leider trotz seiner Stellung noch immer viel zu wenig wisse, und die geistige Übermacht der Welt verschmolz mit der körperlichen Anmut dieser Frau. Heute, wo die Beziehungen der Geschlechter so vereinfacht sind, muß man wohl betonen, daß dies das Höchste ist, was ein Mann erleben kann. General Stumms Arme fühlten sich in Gedanken viel zu kurz, um die hohe Fülle Diotimas zu umspannen, während sein Geist im gleichen Augenblick der Welt und ihrer Kultur gegenüber das gleiche erlebte, so daß in alle Geschehnisse eine sanfte Liebe kam und in des Generals rundlichen Leib etwas wie die schwebende Rundheit der Weltkugel.
Es war diese Schwärmerei, die Stumm von Bordwehr, kurze Zeit nachdem ihn Diotima aus ihrer Nähe entlassen hatte, wieder dahin zurückführte. Er stellte sich nahe der bewunderten Frau auf, zumal er niemanden anderen kannte, und lauschte auf ihre Gespräche. Er würde sich am liebsten Notizen gemacht haben, denn er hätte es nicht für möglich gehalten, mit solchem geistigen Reichtum lächelnd wie mit einer Perlenkette zu spielen, wäre er nicht Ohrenzeuge der Gespräche gewesen, mit denen Diotima die verschiedensten Berühmtheiten begrüßte. Erst ihr Blick, nachdem sie sich einigemal ungnädig zur Seite gedreht hatte, führte ihm das für einen General Unpassende seines Lauschens zu Gemüt und scheuchte ihn fort. Er strich ein paarmal einsam durch die übervolle Wohnung, trank ein Glas Wein und wollte sich gerade an einer Zimmerwand eine dekorative Stellung suchen, da entdeckte er Ulrich, den er schon bei der ersten Sitzung gesehen hatte, und der Augenblick erleuchtete sein Gedächtnis, denn Ulrich war ein einfallsreicher, unruhiger Leutnant in einer der beiden Schwadronen gewesen, die General Stumm seinerzeit als Oberstleutnant sanft geleitet hatte. »Ein ähnlicher Mensch wie ich,« dachte Stumm »und er hat es schon in jungen Jahren zu dieser hohen Stellung gebracht!« Er steuerte auf ihn los, und nachdem sie ihr Wiedererkennen bekräftigt und eine Weile über die eingetretenen Veränderungen geplaudert hatten, wies Stumm auf die Versammlung ringsum und meinte: »Eine hervorragende Gelegenheit für mich, die wichtigsten Zivilfragen der Welt kennen zu lernen!«
»Du wirst staunen, Herr General« antwortete ihm Ulrich.
Der General, der einen Bundesgenossen suchte, schüttelte ihm warm die Hand: »Du warst Leutnant im neunten Uhlanenregiment,« sagte er bedeutungsvoll »und es wird einmal eine große Ehre für uns gewesen sein, wenn es die anderen jetzt auch noch nicht so begreifen wie ich!«
Während am Konzil
sich noch nicht der kleinste Ansatz zu einem Ergebnis bemerken ließ, machte die Parallelaktion im Graf Leinsdorfschen Palais heftige Fortschritte. Dort liefen die Fäden der Wirklichkeit zusammen, und Ulrich kam zweimal wöchentlich hin.
Nichts setzte ihn so in Erstaunen wie die Zahl der Vereine, die es gibt. Es meldeten sich Land- und Wasser-, Mäßigkeits- und Trinkvereine, kurz Vereine und Gegenvereine. Diese Vereine förderten die Bestrebungen ihrer Mitglieder und störten die der anderen. Es machte den Eindruck, daß jeder Mensch mindestens einem Vereine angehöre. »Erlaucht,« sagte Ulrich erstaunt »das kann man nicht mehr Vereinsmeierei nennen, wie man es arglos gewohnt ist; das ist der ungeheuerliche Zustand, daß in der Art von Ordnungstaat, die wir erfunden haben, jeder Mensch noch einer Räuberbande angehört…!«
Graf Leinsdorf hatte aber eine Vorliebe für Vereine. »Bedenken Sie,« erwiderte er »daß die Ideologenpolitik noch nie zu etwas Gutem geführt hat; wir müssen Realpolitik machen. Ich stehe nicht an, die allzu geistigen Bestrebungen in der Umgebung Ihrer Kusine sogar für eine gewisse Gefahr zu halten!«
»Wollen mir Erlaucht Richtlinien geben?« bat der andere.
Graf Leinsdorf sah ihn an. Er überlegte, ob das, was er eröffnen wollte, für den unerfahrenen jüngeren Mann nicht doch zu kühn sei. Aber dann entschloß er sich. »Ja, sehen Sie,« begann er vorsichtig »ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, was Sie vielleicht noch nicht wissen, weil Sie jung sind; Realpolitik heißt: Gerade das nicht tun, was man gern möchte; dagegen kann man die Menschen gewinnen, indem man ihnen kleine Wünsche erfüllt!«
Sein Zuhörer glotzte Graf Leinsdorf fassungslos an, der geschmeichelt lächelte.
»Also nicht wahr,« erläuterte er »ich habe doch soeben gesagt, die Realpolitik darf sich nicht von der Macht der Idee, sondern sie muß sich vom praktischen Bedürfnis leiten lassen. Die schönen Ideen würde natürlich jeder gerne verwirklichen, das versteht sich doch ganz von selbst. Also soll man gerade das nicht tun, was man gern möchte! Das hat schon Kant gesagt.«
»Wahrhaftig!« rief der also Belehrte überrascht. »Aber ein Ziel muß man doch haben?!«
»Ein Ziel? Bismarck wollte den preußischen König groß sehen: das war sein Ziel. Er hat nicht von Anfang an gewußt, daß er dazu Österreich und Frankreich bekriegen und das Deutsche Reich gründen werde.«
»Erlaucht wollen also sagen, daß wir Österreich groß und mächtig wünschen sollen und weiter nichts?«
»Wir haben noch vier Jahre Zeit. In diesen vier Jahren kann sich alles mögliche ergeben. Man kann ein Volk auf die Beine stellen, aber gehen muß es dann selbst. Verstehen Sie mich? Auf die Beine stellen, das müssen wir tun! Die Beine eines Volks sind aber seine festen Einrichtungen, seine Parteien, seine Vereine und so weiter und nicht das, was geredet wird!«
»Erlaucht! Das ist ja, wenn es auch nicht ganz so klingt, ein wahrhaft demokratischer Gedanke!«
»Na ja, aristokratisch ist er vielleicht auch, obwohl meine Standesgenossen mich nicht verstehn. Der alte Hennenstein und der Majoratsherr Türckheim haben mir geantwortet, daß bei dem Ganzen doch bloß eine Schweinerei herauskommen wird. Bauen wir also vorsichtig auf. Wir müssen klein aufbauen, seien Sie nett zu den Leuten, die zu uns kommen.«
Ulrich wies darum in der nächsten Zeit niemand ab. So kam ein Mann zu ihm und erzählte ihm lange vom Markensammeln. Erstens sei es international verbindend; zweitens befriedige es das Streben nach Besitz und Geltung, von dem sich nicht leugnen lasse, daß es die Grundlage der Gesellschaft bilde; drittens verlange es nicht nur Kenntnisse, sondern auch geradezu künstlerische Entschlüsse. Ulrich sah sich den Mann an, sein Äußeres war verhärmt und ärmlich; er aber schien die Frage dieses Blicks aufgefangen zu haben, denn er entgegnete, Marken seien auch ein wertvoller Handelsartikel, man dürfe das nicht unterschätzen, Millionenumsätze würden darin gemacht; zu den großen Markenbörsen reisten Händler und Sammler aus aller Herren Ländern. Man könnte reich werden. Aber er sei für seine Person Idealist; er bilde eine besondere Sammlung, für die derzeit niemand Interesse habe, zur Vollendung aus. Er wolle bloß, daß im Jubiläumsjahr eine große Markenausstellung eröffnet werde, in der er sein Sondergebiet den Menschen schon zu Bewußtsein bringen würde!
Ein anderer kam nach ihm und erzählte folgendes: Wenn er durch die Straßen gehe – noch viel aufregender sei es aber, wenn man auf der Elektrischen fährt –, zähle er schon seit Jahren an den großen lateinischen Buchstaben der Geschäftsschilder die Balken (A bestehe zum Beispiel aus dreien, M aus vieren) und dividiere ihre Zahl durch die Anzahl der Buchstaben. Bisher sei das durchschnittliche Ergebnis gleichbleibend zweieinhalb gewesen; ersichtlich sei dies aber keineswegs unverbrüchlich und könne sich mit jeder neuen Straße ändern: so wird man von großer Sorge bei Abweichungen, von großer Freude beim Zutreffen erfüllt, was den läuternden Wirkungen ähnle, die man der Tragödie zuschreibt. Wenn man dagegen die Buchstaben selbst zähle, so sei, wovon sich der Herr nur überzeugen möge, die Teilbarkeit durch drei ein großer Glücksfall, weshalb die meisten Aufschriften geradezu ein Gefühl der Nichtbefriedigung hinterlassen, das man deutlich bemerkt, bis auf jene, die aus Massenbuchstaben, das heißt aus solchen mit vier Balken, bestehn, zum Beispiel WEM, die unter allen Umständen ganz besonders glücklich machen. Was folge daraus, fragte der Besucher. Nichts anderes, als daß das Ministerium für Volksgesundheit eine Verordnung herausgeben müsse, die bei Firmenbezeichnungen die Wahl von vierbalkigen Buchstabenfolgen begünstige und die Verwendung einbalkiger wie O, S, I, C möglichst unterdrücke, denn sie machten durch ihre Unergiebigkeit traurig!
Ulrich sah sich den Menschen an und wahrte Raum zwischen sich und ihm; aber jener machte eigentlich nicht den Eindruck eines Geisteskranken, sondern war ein den »besseren Ständen« angehöriger Mann von einigen dreißig Jahren, der intelligent und freundlich dreinsah. Er erklärte ruhig weiter, daß Kopfrechnen eine unentbehrliche Fähigkeit in allen Berufen sei, daß es der modernen Pädagogik entspreche, den Unterricht in die Form eines Spiels zu kleiden, daß die Statistik schon oft tiefe Zusammenhänge viel früher sichtbar gemacht habe, als man ihre Erklärung besaß, daß der tiefe Schaden, den die Lesebildung anrichte, bekannt sei und daß schließlich die große Erregung, die seine Feststellungen bisher noch jedem bereitet hätten, der sich entschloß, sie zu wiederholen, für sich selbst spräche. Wenn das Ministerium für Volksgesundheit veranlaßt würde, sich seiner Entdeckung zu bemächtigen, so würden andere Staaten bald nachfolgen, und das Jubiläumsjahr könnte sich zu einem Segen der Menschheit gestalten.
Ulrich gab allen solchen Leuten den Rat: »Gründen Sie einen Verein; Sie haben dazu fast noch vier Jahre Zeit, und wenn es Ihnen gelingt, wird sich Se. Erlaucht gewiß mit seinem ganzen Einfluß für Sie einsetzen!«
Die meisten hatten aber schon einen Verein, und da war die Sache anders. Verhältnismäßig einfach, wenn ein Fußballverein anregte, seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der neuzeitlichen Körperkultur zu dokumentieren; denn da konnte man immerhin Entgegenkommen in Aussicht stellen. Schwierig jedoch in Fällen wie dem folgenden, wo der Besuch eines etwa fünfzigjährigen Mannes zu empfangen war, der sich als Kanzleioberoffizial vorstellte; seine Stirn hatte das Leuchten von Märtyrerstirnen, und er erklärte, der Gründer und Obmann des Stenographievereins »Öhl« zu sein, der sich erlaube, das Interesse des Sekretärs der großen patriotischen Aktion auf das Kurzschriftsystem »Öhl« zu lenken.
Das Kurzschriftsystem Öhl, führte er aus, sei eine österreichische Erfindung, woraus sich wohl zur Genüge erkläre, daß es keine Verbreitung und Förderung finde. Er frage den Herrn, ob er Stenograph sei; was dieser verneinte, und also wurden ihm die geistigen Vorzüge einer Kurzschrift auseinandergesetzt. Zeitersparnis, Ersparnis geistiger Energie; was er wohl glaube, welche Menge geistiger Arbeitsleistung täglich an diese Häkelchen, Weitschweifigkeiten, Ungenauigkeiten, verwirrenden Wiederholungen ähnlicher Teilbilder, Vermengung von wirklich ausdrückenden, signifikanten Schriftbestandteilen mit lediglich floskelhaften und persönlich willkürlichen verschwendet werde? – Ulrich lernte zu seinem Erstaunen einen Mann kennen, der die scheinbar harmlose Alltagschrift mit einem unerbittlichen Haß verfolgte. Vom Standpunkt der Ersparnis geistiger Arbeit war die Kurzschrift eine Lebensfrage der sich im Zeichen der Hast vorwärtsentwickelnden Menschheit. Aber auch vom Standpunkt der Moral zeigte sich die Frage Kurz oder Lang von entscheidender Bedeutung. Die Langohr-Schrift, wie man sie nach des Oberoffizials bitterem Ausdruck wegen ihrer sinnlosen Schlingen füglich nennen dürfte, verleite zur Ungenauigkeit, Willkür, Verschwendungssucht und nachlässigem Zeitgebrauch, wogegen die Kurzschrift zu Präzision, Willensanspannung und männlicher Haltung erziehe. Die Kurzschrift lehre das Notwendige tun und dem Unnötigen, nicht zum Zweck Dienenden, sich entziehen. Ob der Herr nicht glaube, daß hierin ein Stück praktischer Moral stecke, das zumal für den Österreicher von größter Bedeutung wäre? Aber auch vom ästhetischen Standpunkt dürfe man die Frage behandeln. Ob Weitschweifigkeit nicht mit Recht als häßlich gelte? Ob der Ausdruck höchster Zweckmäßigkeit nicht schon von den großen Klassikern für einen wesentlichen Bestandteil des Schönen erklärt worden sei? Aber auch vom Standpunkt der Volksgesundheit – fuhr der Oberoffizial fort – sei es von hervorragender Wichtigkeit, die Zeit gebückten Über-dem-Schreibtisch-Sitzens abzukürzen. Nachdem dergestalt die Frage der Kurzschrift zu des Zuhörers Erstaunen auch noch von anderen Wissenschaften her erörtert war, ging sein Besuch erst dazu über, ihm die unendliche Überlegenheit des Systems Öhl über alle andern Systeme darzulegen. Er zeigte ihm, daß nach sämtlichen dargelegten Gesichtspunkten jedes andere Kurzschriftsystem nur ein Verrat am Gedanken der Kurzschrift sei. Und dann entwickelte er die Geschichte seiner Leiden. Es waren da die älteren, mächtigeren Systeme, die bereits Zeit gefunden hatten, sich mit allen möglichen materiellen Interessen zu verbinden. Die Handelsschulen lehrten das System Vogelbauch und setzten jeder Änderung ihren Widerstand entgegen, dem sich – dem Gesetz der Trägheit folgend – die Kaufmannschaft natürlich anschließe. Die Zeitungen, die an den Anzeigen der Handels schulen, wie man sehen könne, eine Menge Geld verdienen, verschließen sich allen Reformvorschlägen. Und das Unterrichtsministerium? Dies sei geradezu Hohn! – sagte Herr Öhl. Vor fünf Jahren, als die obligatorische Einführung des Stenographieunterrichts an den Mittelschulen beschlossen worden sei, wurde vom Unterrichtsministerium eine Enquete zur Beratung des zu erwählenden Systems eingesetzt, und natürlich befanden sich in dieser Enquete die Vertreter der Handelsschulen, des Kaufmannsstandes, der Parlamentsstenographen, die mit den Zeitungsberichterstattern verwachsen sind, und sonst niemand! Es sei klar, daß das System Vogelbauch zur Annahme gelangen solle. Der Stenographieverein Öhl habe vor diesem Verbrechen an kostbarem Volksgut gewarnt und dagegen protestiert! Aber seine Vertreter würden im Ministerium nicht einmal mehr empfangen!
Solche Fälle meldete Ulrich Sr. Erlaucht. »Öhl?« fragte Graf Leinsdorf. »Und Beamter ist er?« Se. Erlaucht rieb sich lange die Nase, aber kam zu keinem Entschluß. »Vielleicht sollten Sie mit seinem vorgesetzten Hofrat sprechen, ob etwas an ihm ist…?« meinte er nach einer Weile, aber er war in schöpferischer Laune und widerrief es wieder. »Nein, wissen Sie was, wir wollen lieber einen Akt machen; sollen sie sich äußern!« Und er fügte etwas Vertrauliches hinzu, das dem andern Einblick gewähren sollte. »Man kann ja bei allen diesen Sachen nicht wissen,« sagte er »ob sie Unsinn sind. Aber sehen Sie, Doktor, etwas Wichtiges entsteht regelmäßig gerade daraus, daß man es wichtig nimmt! Ich seh das wieder an dem Dr. Arnheim, dem die Zeitungen nachlaufen. Die Zeitungen könnten ja auch etwas anderes tun. Aber wenn sie das tun, dann wird der Dr. Arnheim eben wichtig. Sie sagen, der Öhl hat einen Verein? Das beweist natürlich auch nichts. Aber andrerseits, wie gesagt, man soll modern denken; und wenn viele Leute für etwas sind, kann man schon ziemlich sicher sein, daß etwas daraus wird!«
Nichts setzte ihn so in Erstaunen wie die Zahl der Vereine, die es gibt. Es meldeten sich Land- und Wasser-, Mäßigkeits- und Trinkvereine, kurz Vereine und Gegenvereine. Diese Vereine förderten die Bestrebungen ihrer Mitglieder und störten die der anderen. Es machte den Eindruck, daß jeder Mensch mindestens einem Vereine angehöre. »Erlaucht,« sagte Ulrich erstaunt »das kann man nicht mehr Vereinsmeierei nennen, wie man es arglos gewohnt ist; das ist der ungeheuerliche Zustand, daß in der Art von Ordnungstaat, die wir erfunden haben, jeder Mensch noch einer Räuberbande angehört…!«
Graf Leinsdorf hatte aber eine Vorliebe für Vereine. »Bedenken Sie,« erwiderte er »daß die Ideologenpolitik noch nie zu etwas Gutem geführt hat; wir müssen Realpolitik machen. Ich stehe nicht an, die allzu geistigen Bestrebungen in der Umgebung Ihrer Kusine sogar für eine gewisse Gefahr zu halten!«
»Wollen mir Erlaucht Richtlinien geben?« bat der andere.
Graf Leinsdorf sah ihn an. Er überlegte, ob das, was er eröffnen wollte, für den unerfahrenen jüngeren Mann nicht doch zu kühn sei. Aber dann entschloß er sich. »Ja, sehen Sie,« begann er vorsichtig »ich werde Ihnen jetzt etwas sagen, was Sie vielleicht noch nicht wissen, weil Sie jung sind; Realpolitik heißt: Gerade das nicht tun, was man gern möchte; dagegen kann man die Menschen gewinnen, indem man ihnen kleine Wünsche erfüllt!«
Sein Zuhörer glotzte Graf Leinsdorf fassungslos an, der geschmeichelt lächelte.
»Also nicht wahr,« erläuterte er »ich habe doch soeben gesagt, die Realpolitik darf sich nicht von der Macht der Idee, sondern sie muß sich vom praktischen Bedürfnis leiten lassen. Die schönen Ideen würde natürlich jeder gerne verwirklichen, das versteht sich doch ganz von selbst. Also soll man gerade das nicht tun, was man gern möchte! Das hat schon Kant gesagt.«
»Wahrhaftig!« rief der also Belehrte überrascht. »Aber ein Ziel muß man doch haben?!«
»Ein Ziel? Bismarck wollte den preußischen König groß sehen: das war sein Ziel. Er hat nicht von Anfang an gewußt, daß er dazu Österreich und Frankreich bekriegen und das Deutsche Reich gründen werde.«
»Erlaucht wollen also sagen, daß wir Österreich groß und mächtig wünschen sollen und weiter nichts?«
»Wir haben noch vier Jahre Zeit. In diesen vier Jahren kann sich alles mögliche ergeben. Man kann ein Volk auf die Beine stellen, aber gehen muß es dann selbst. Verstehen Sie mich? Auf die Beine stellen, das müssen wir tun! Die Beine eines Volks sind aber seine festen Einrichtungen, seine Parteien, seine Vereine und so weiter und nicht das, was geredet wird!«
»Erlaucht! Das ist ja, wenn es auch nicht ganz so klingt, ein wahrhaft demokratischer Gedanke!«
»Na ja, aristokratisch ist er vielleicht auch, obwohl meine Standesgenossen mich nicht verstehn. Der alte Hennenstein und der Majoratsherr Türckheim haben mir geantwortet, daß bei dem Ganzen doch bloß eine Schweinerei herauskommen wird. Bauen wir also vorsichtig auf. Wir müssen klein aufbauen, seien Sie nett zu den Leuten, die zu uns kommen.«
Ulrich wies darum in der nächsten Zeit niemand ab. So kam ein Mann zu ihm und erzählte ihm lange vom Markensammeln. Erstens sei es international verbindend; zweitens befriedige es das Streben nach Besitz und Geltung, von dem sich nicht leugnen lasse, daß es die Grundlage der Gesellschaft bilde; drittens verlange es nicht nur Kenntnisse, sondern auch geradezu künstlerische Entschlüsse. Ulrich sah sich den Mann an, sein Äußeres war verhärmt und ärmlich; er aber schien die Frage dieses Blicks aufgefangen zu haben, denn er entgegnete, Marken seien auch ein wertvoller Handelsartikel, man dürfe das nicht unterschätzen, Millionenumsätze würden darin gemacht; zu den großen Markenbörsen reisten Händler und Sammler aus aller Herren Ländern. Man könnte reich werden. Aber er sei für seine Person Idealist; er bilde eine besondere Sammlung, für die derzeit niemand Interesse habe, zur Vollendung aus. Er wolle bloß, daß im Jubiläumsjahr eine große Markenausstellung eröffnet werde, in der er sein Sondergebiet den Menschen schon zu Bewußtsein bringen würde!
Ein anderer kam nach ihm und erzählte folgendes: Wenn er durch die Straßen gehe – noch viel aufregender sei es aber, wenn man auf der Elektrischen fährt –, zähle er schon seit Jahren an den großen lateinischen Buchstaben der Geschäftsschilder die Balken (A bestehe zum Beispiel aus dreien, M aus vieren) und dividiere ihre Zahl durch die Anzahl der Buchstaben. Bisher sei das durchschnittliche Ergebnis gleichbleibend zweieinhalb gewesen; ersichtlich sei dies aber keineswegs unverbrüchlich und könne sich mit jeder neuen Straße ändern: so wird man von großer Sorge bei Abweichungen, von großer Freude beim Zutreffen erfüllt, was den läuternden Wirkungen ähnle, die man der Tragödie zuschreibt. Wenn man dagegen die Buchstaben selbst zähle, so sei, wovon sich der Herr nur überzeugen möge, die Teilbarkeit durch drei ein großer Glücksfall, weshalb die meisten Aufschriften geradezu ein Gefühl der Nichtbefriedigung hinterlassen, das man deutlich bemerkt, bis auf jene, die aus Massenbuchstaben, das heißt aus solchen mit vier Balken, bestehn, zum Beispiel WEM, die unter allen Umständen ganz besonders glücklich machen. Was folge daraus, fragte der Besucher. Nichts anderes, als daß das Ministerium für Volksgesundheit eine Verordnung herausgeben müsse, die bei Firmenbezeichnungen die Wahl von vierbalkigen Buchstabenfolgen begünstige und die Verwendung einbalkiger wie O, S, I, C möglichst unterdrücke, denn sie machten durch ihre Unergiebigkeit traurig!
Ulrich sah sich den Menschen an und wahrte Raum zwischen sich und ihm; aber jener machte eigentlich nicht den Eindruck eines Geisteskranken, sondern war ein den »besseren Ständen« angehöriger Mann von einigen dreißig Jahren, der intelligent und freundlich dreinsah. Er erklärte ruhig weiter, daß Kopfrechnen eine unentbehrliche Fähigkeit in allen Berufen sei, daß es der modernen Pädagogik entspreche, den Unterricht in die Form eines Spiels zu kleiden, daß die Statistik schon oft tiefe Zusammenhänge viel früher sichtbar gemacht habe, als man ihre Erklärung besaß, daß der tiefe Schaden, den die Lesebildung anrichte, bekannt sei und daß schließlich die große Erregung, die seine Feststellungen bisher noch jedem bereitet hätten, der sich entschloß, sie zu wiederholen, für sich selbst spräche. Wenn das Ministerium für Volksgesundheit veranlaßt würde, sich seiner Entdeckung zu bemächtigen, so würden andere Staaten bald nachfolgen, und das Jubiläumsjahr könnte sich zu einem Segen der Menschheit gestalten.
Ulrich gab allen solchen Leuten den Rat: »Gründen Sie einen Verein; Sie haben dazu fast noch vier Jahre Zeit, und wenn es Ihnen gelingt, wird sich Se. Erlaucht gewiß mit seinem ganzen Einfluß für Sie einsetzen!«
Die meisten hatten aber schon einen Verein, und da war die Sache anders. Verhältnismäßig einfach, wenn ein Fußballverein anregte, seinem Rechtsaußen den Professortitel zu verleihen, um die Wichtigkeit der neuzeitlichen Körperkultur zu dokumentieren; denn da konnte man immerhin Entgegenkommen in Aussicht stellen. Schwierig jedoch in Fällen wie dem folgenden, wo der Besuch eines etwa fünfzigjährigen Mannes zu empfangen war, der sich als Kanzleioberoffizial vorstellte; seine Stirn hatte das Leuchten von Märtyrerstirnen, und er erklärte, der Gründer und Obmann des Stenographievereins »Öhl« zu sein, der sich erlaube, das Interesse des Sekretärs der großen patriotischen Aktion auf das Kurzschriftsystem »Öhl« zu lenken.
Das Kurzschriftsystem Öhl, führte er aus, sei eine österreichische Erfindung, woraus sich wohl zur Genüge erkläre, daß es keine Verbreitung und Förderung finde. Er frage den Herrn, ob er Stenograph sei; was dieser verneinte, und also wurden ihm die geistigen Vorzüge einer Kurzschrift auseinandergesetzt. Zeitersparnis, Ersparnis geistiger Energie; was er wohl glaube, welche Menge geistiger Arbeitsleistung täglich an diese Häkelchen, Weitschweifigkeiten, Ungenauigkeiten, verwirrenden Wiederholungen ähnlicher Teilbilder, Vermengung von wirklich ausdrückenden, signifikanten Schriftbestandteilen mit lediglich floskelhaften und persönlich willkürlichen verschwendet werde? – Ulrich lernte zu seinem Erstaunen einen Mann kennen, der die scheinbar harmlose Alltagschrift mit einem unerbittlichen Haß verfolgte. Vom Standpunkt der Ersparnis geistiger Arbeit war die Kurzschrift eine Lebensfrage der sich im Zeichen der Hast vorwärtsentwickelnden Menschheit. Aber auch vom Standpunkt der Moral zeigte sich die Frage Kurz oder Lang von entscheidender Bedeutung. Die Langohr-Schrift, wie man sie nach des Oberoffizials bitterem Ausdruck wegen ihrer sinnlosen Schlingen füglich nennen dürfte, verleite zur Ungenauigkeit, Willkür, Verschwendungssucht und nachlässigem Zeitgebrauch, wogegen die Kurzschrift zu Präzision, Willensanspannung und männlicher Haltung erziehe. Die Kurzschrift lehre das Notwendige tun und dem Unnötigen, nicht zum Zweck Dienenden, sich entziehen. Ob der Herr nicht glaube, daß hierin ein Stück praktischer Moral stecke, das zumal für den Österreicher von größter Bedeutung wäre? Aber auch vom ästhetischen Standpunkt dürfe man die Frage behandeln. Ob Weitschweifigkeit nicht mit Recht als häßlich gelte? Ob der Ausdruck höchster Zweckmäßigkeit nicht schon von den großen Klassikern für einen wesentlichen Bestandteil des Schönen erklärt worden sei? Aber auch vom Standpunkt der Volksgesundheit – fuhr der Oberoffizial fort – sei es von hervorragender Wichtigkeit, die Zeit gebückten Über-dem-Schreibtisch-Sitzens abzukürzen. Nachdem dergestalt die Frage der Kurzschrift zu des Zuhörers Erstaunen auch noch von anderen Wissenschaften her erörtert war, ging sein Besuch erst dazu über, ihm die unendliche Überlegenheit des Systems Öhl über alle andern Systeme darzulegen. Er zeigte ihm, daß nach sämtlichen dargelegten Gesichtspunkten jedes andere Kurzschriftsystem nur ein Verrat am Gedanken der Kurzschrift sei. Und dann entwickelte er die Geschichte seiner Leiden. Es waren da die älteren, mächtigeren Systeme, die bereits Zeit gefunden hatten, sich mit allen möglichen materiellen Interessen zu verbinden. Die Handelsschulen lehrten das System Vogelbauch und setzten jeder Änderung ihren Widerstand entgegen, dem sich – dem Gesetz der Trägheit folgend – die Kaufmannschaft natürlich anschließe. Die Zeitungen, die an den Anzeigen der Handels schulen, wie man sehen könne, eine Menge Geld verdienen, verschließen sich allen Reformvorschlägen. Und das Unterrichtsministerium? Dies sei geradezu Hohn! – sagte Herr Öhl. Vor fünf Jahren, als die obligatorische Einführung des Stenographieunterrichts an den Mittelschulen beschlossen worden sei, wurde vom Unterrichtsministerium eine Enquete zur Beratung des zu erwählenden Systems eingesetzt, und natürlich befanden sich in dieser Enquete die Vertreter der Handelsschulen, des Kaufmannsstandes, der Parlamentsstenographen, die mit den Zeitungsberichterstattern verwachsen sind, und sonst niemand! Es sei klar, daß das System Vogelbauch zur Annahme gelangen solle. Der Stenographieverein Öhl habe vor diesem Verbrechen an kostbarem Volksgut gewarnt und dagegen protestiert! Aber seine Vertreter würden im Ministerium nicht einmal mehr empfangen!
Solche Fälle meldete Ulrich Sr. Erlaucht. »Öhl?« fragte Graf Leinsdorf. »Und Beamter ist er?« Se. Erlaucht rieb sich lange die Nase, aber kam zu keinem Entschluß. »Vielleicht sollten Sie mit seinem vorgesetzten Hofrat sprechen, ob etwas an ihm ist…?« meinte er nach einer Weile, aber er war in schöpferischer Laune und widerrief es wieder. »Nein, wissen Sie was, wir wollen lieber einen Akt machen; sollen sie sich äußern!« Und er fügte etwas Vertrauliches hinzu, das dem andern Einblick gewähren sollte. »Man kann ja bei allen diesen Sachen nicht wissen,« sagte er »ob sie Unsinn sind. Aber sehen Sie, Doktor, etwas Wichtiges entsteht regelmäßig gerade daraus, daß man es wichtig nimmt! Ich seh das wieder an dem Dr. Arnheim, dem die Zeitungen nachlaufen. Die Zeitungen könnten ja auch etwas anderes tun. Aber wenn sie das tun, dann wird der Dr. Arnheim eben wichtig. Sie sagen, der Öhl hat einen Verein? Das beweist natürlich auch nichts. Aber andrerseits, wie gesagt, man soll modern denken; und wenn viele Leute für etwas sind, kann man schon ziemlich sicher sein, daß etwas daraus wird!«
Ihr Freund machte
ihr gewiß aus keinem anderen Grund seinen Besuch, als weil er Clarisse noch den Kopf wegen des Briefes zurechtsetzen mußte, den sie an Graf Leinsdorf geschrieben hatte; als sie zuletzt bei ihm war, hatte er es völlig vergessen. Dennoch fiel ihm während der Fahrt ein, daß Walter bestimmt eifersüchtig auf ihn sei und dieser Besuch seine Gefühle erregen würde, sobald er davon erführe; aber Walter konnte einfach nichts dagegen unternehmen, und diese
Lage, in der sich die Mehrzahl der Männer befindet, war ja eigentlich recht komisch:
sie haben erst nach Büroschluß Zeit, wenn sie eifersüchtig sind, über ihre Frauen zu wachen.
Die Stunde, zu der sich Ulrich entschlossen hatte hinauszufahren, machte es nicht wahrscheinlich, daß er Walter zu Hause antreffen würde. Es war sehr früh am Nachmittag. Er hatte sich telefonisch angemeldet. Die Fenster schienen keine Vorhänge zu haben, so stark drang durch die Scheiben das Weiß der Schneeflächen herein. In diesem gnadenlosen Licht, das alle Gegenstände umzingelte, stand Clarisse und sah von der Zimmermitte aus lachend ihrem Freund entgegen. Wo sich die flache Wölbung ihres schmalen Körpers gegen das Fenster bog, leuchtete sie in starken Farben, während die Schattenseite blaubrauner Nebel war, aus dem Stirn, Nase und Kinn wie ein Schneegrat hervorsprangen, dessen Schärfe Wind und Sonne verwischen. Sie erinnerte weniger an einen Menschen als an die Begegnung von Eis und Licht in der gespenstigen Einsamkeit des Hochgebirgswinters. Ulrich begriff ein wenig von dem Zauber, den sie in manchen Augenblicken auf Walter ausüben mußte, und seine geteilten Empfindungen für den Jugendfreund wichen für kurze Zeit dem Einblick in das Schaubild, das zwei Menschen einander darboten, deren Leben er vielleicht doch kaum kannte.
»Ich weiß nicht, ob du Walter von dem Brief erzählt hast, den du an Graf Leinsdorf geschrieben hast,« begann er »aber ich bin gekommen, um dich allein zu sprechen und zu warnen, damit du solche Unternehmungen künftig unterläßt.« Clarisse schob zwei Stühle zusammen und nötigte ihn zu sitzen. »Sprich nicht mit Walter davon,« bat sie »aber sag mir, was du dagegen hast. Du meinst doch das Nietzsche-Jahr? Was hat dein Graf dazu gesagt?«
»Was denkst du wohl, daß er dazu gesagt haben könnte?! Die Verbindung, in die du das mit Moosbrugger gebracht hast, war doch geradezu irrsinnig. Und ohnedies hätte er den Brief wohl auch fortgeworfen.«
»So?« Clarisse war sehr enttäuscht. Dann erklärte sie: »Zum Glück hast doch auch du etwas dreinzureden!«
»Ich habe dir schon gesagt, daß du einfach verrückt bist!«
Clarisse lächelte und nahm das als Schmeichelei auf. Sie legte dem Freund die Hand auf den Arm und fragte: »Das österreichische Jahr hältst du doch für einen Unsinn?«
»Natürlich.«
»Ein Nietzschejahr wäre aber etwas Gutes; warum soll man nun etwas bloß deshalb nicht wollen dürfen, weil es auch nach unseren Begriffen gut wäre?!«
»Wie denkst du dir denn eigentlich ein Nietzsche-Jahr?« fragte er.
»Das ist deine Sache!«
»Du bist lustig!«
»Gar nicht. Sag mir, warum es dir lustig vorkommt, das zu verwirklichen, was dir geistig ernst ist!?«
»Das will ich gern tun« erwiderte Ulrich und machte sich von ihrer Hand los. »Es muß ja nicht gerade Nietzsche sein, es könnte sich um Christus oder Buddha auch handeln.«
»Oder um dich. Denk dir doch ein Ulrich-Jahr aus!« Sie sagte das genau so ruhig, wie sie ihn aufgefordert hatte, er möge Moosbrugger befreien. Aber diesmal war er nicht zerstreut, sondern blickte ihr ins Gesicht, während er ihre Worte hörte. In dem Gesicht war nur das gewöhnliche Lächeln Clarissens, das unfreiwillig immer wie eine kleine, lustige, von der Anstrengung emporgepreßte Grimasse hervorkam.
»Also gut,« dachte er »sie meint es nicht schlimm.«
Aber Clarisse näherte sich ihm wieder. »Warum machst du kein Dein-Jahr? Du hättest doch jetzt vielleicht die Macht dazu. Du darfst, das habe ich dir schon gesagt, Walter nichts davon erzählen und auch nichts von dem Moosbrugger-Brief. Überhaupt nicht, daß ich mit dir darüber spreche! Aber glaube mir, dieser Mörder ist musikalisch; er kann bloß nicht komponieren. Hast du noch nie beobachtet, daß jeder Mensch im Mittelpunkt einer Himmelskugel steht? Wenn er von seinem Platz weggeht, geht sie mit. So muß man Musik machen; ohne Gewissen, einfach wie die Himmelskugel, unter der man steht!…«
»Und etwas Ähnliches sollte ich mir als mein Jahr ausdenken, glaubst du?«
»Nein« erwiderte Clarisse auf alle Fälle. Ihre schmalen Lippen wollten etwas sagen, schwiegen aber, und die Flamme schoß stumm bei den Augen heraus. Man konnte nicht sagen, was in solchen Augenblicken von ihr ausging. Es brannte, wie wenn man etwas Glühendem zunahe gekommen wäre. Nun lächelte sie, aber dieses Lächeln kräuselte sich auf ihren Lippen wie zurückgebliebene Asche, nachdem der Vorgang in ihren Augen erloschen war.
»Gerade so etwas könnte ich mir aber äußerstenfalls noch ausdenken« wiederholte Ulrich. »Nur fürchte ich, du meinst, ich soll einen Staatsstreich machen?!«
Clarisse überlegte. »Also sagen wir, ein Buddha-Jahr« meinte sie, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Ich weiß nicht, was Buddha verlangt hat; nur so ungefähr; aber nehmen wir’s einfach an, und wenn man es nun für bedeutend hält, dann sollte man es eben ausführen! Denn entweder verdient etwas, daß man daran glaubt, oder nicht.«
»Na schön, gib acht: Du hast Nietzschejahr gesagt. Aber was hat denn Nietzsche eigentlich verlangt?«
Clarisse dachte nach. »Nun, ich meine natürlich nicht ein Nietzschedenkmal oder eine Nietzschestraße« sagte sie verlegen. »Aber man müßte die Menschen dahin bringen, zu leben, wie – –«
»Wie er es verlangt hat?!« unterbrach er sie. »Aber was hat er verlangt?«
Clarisse versuchte zu antworten, wartete, schließlich erwiderte sie: »Na ja, das weißt du doch selbst…«
»Gar nichts weiß ich« neckte er. »Aber eines will ich dir sagen: Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläums-Suppenanstalt oder die des Schutzverbands der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.«
Er hatte jetzt endlich auf dem kleinen Sofa Platz gefunden, hinter dem Tischchen; dieser Platz war widerstandsfähiger als der auf dem Stühlchen. In der leeren Zimmermitte, gleichsam am anderen Ufer einer die Tischplatte verlängernden Luftspiegelung, stand noch immer Clarisse und sprach. Ihr schmaler Körper redete und dachte leise mit; sie empfand eigentlich alles, was sie sagen wollte, zuerst mit dem ganzen Körper und hatte beständig das Bedürfnis, mit ihm etwas zu tun. Ihr Freund hatte ihren Körper immer für hart und knabenhaft gehalten, aber jetzt, in dieser weichen Bewegtheit auf geschlossenen Beinen kam ihm Clarisse mit einemmal wie eine javanische Tänzerin vor. Und plötzlich dachte er, es würde ihn nicht wundern, wenn sie in Trance fiele. Oder war er selbst in Trance? Er hielt eine lange Rede. »Du möchtest nach deiner Idee leben« hatte er begonnen »und möchtest wissen, wie man das kann. Aber eine Idee, das ist das Paradoxeste von der Welt. Das Fleisch verbindet sich mit Ideen wie ein Fetisch. Es wird zauberhaft, wenn eine Idee dabei ist. Eine gemeine Ohrfeige kann durch die Idee von Ehre, Strafe und dergleichen tödlich werden. Und doch können sich Ideen niemals in dem Zustand, wo sie am stärksten sind, erhalten; sie gleichen jenen Stoffen, die sich sofort an der Luft in eine dauerhaftere andere, aber verdorbene Form umsetzen: Das hast du oft mitgemacht. Denn eine Idee: das bist du; in einem bestimmten Zustand. Irgendetwas haucht dich an; wie wenn in das Rauschen von Saiten plötzlich ein Ton kommt; es steht etwas vor dir wie eine Luftspiegelung; aus dem Gewirr deiner Seele hat sich ein unendlicher Zug geformt, und alle Schönheiten der Welt scheinen an seinem Wege zu stehn. Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen anderen Ideen, die du schon gehabt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grundsätze oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnislose Festigkeit angenommen.«
Clarisse erwiderte: »Walter ist eifersüchtig auf dich. Nicht etwa meinetwegen. Sondern weil du so aussiehst, als ob du das tun könntest, was er gern möchte. Verstehst du? Es ist etwas an dir, das ihn sich wegnimmt. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.«
Sie sah ihn prüfend an.
Diese beiden Reden flochten sich ineinander.
Walter war immer das zärtliche Lieblingskind des Lebens gewesen, er saß ihm auf dem Schoß. Mochte ihm geschehen, was immer, er verwandelte es in zärtliche Lebendigkeit. Walter war immer der gewesen, der mehr erlebte. »Aber Mehrerleben ist eines der frühesten und feinsten Zeichen, an denen man den Durchschnittsmenschen erkennt« dachte Ulrich; »Zusammenhänge nehmen dem Erlebnis die persönliche Giftigkeit oder Süße!« So ungefähr war es. – Und diese Versicherung selbst, daß es so wäre, war ein Zusammenhang, und man bekam keinen Kuß und keinen Abschied dafür. Und trotzdem war Walter auf ihn eifersüchtig? Es freute ihn.
»Ich habe zu ihm gesagt, daß er dich töten soll« berichtete Clarisse.
»Was?«
»Umbringen, habe ich gesagt. Wenn an dir nicht so viel daran sein sollte, wie du dir einbildest, oder wenn er besser wäre als du und nur dadurch zur Ruhe kommen könnte, wäre das doch ganz richtig gedacht? Und außerdem kannst du dich ja wehren.«
»Das gibst du nicht schlecht…!« antwortete Ulrich unsicher.
»Nun, wir haben ja nur so gesprochen. Was meinst du übrigens!? Walter sagt, man darf so etwas nicht einmal denken.«
»Doch; denken schon« erwiderte er zögernd und sah sich Clarisse genau an. Sie hatte einen eigentümlichen Reiz. Kann man sagen, als stünde sie neben sich? Sie war abwesend und anwesend, beides dicht nebeneinander.
»Ach was, denken!« unterbrach sie ihn. Sie sprach gegen die Wand, vor der er saß, als wäre ihr Auge auf einen Punkt dazwischen gerichtet. »Du bist ebenso passiv wie Walter!« Auch dieses Wort lag zwischen zwei Entfernungen; es nahm Distanz wie eine Beleidigung und versöhnte doch durch eine vertrauliche Nähe, die es voraussetzte. »Ich sage dagegen: Wenn man etwas denken kann, dann soll man es auch tun können« wiederholte sie trocken.
Dann verließ sie ihren Platz, ging zum Fenster und verschränkte die Hände am Rücken. Ulrich stand rasch auf, ging ihr nach und legte den Arm um ihre Schulter. »Kleine Clarisse, du bist soeben recht sonderbar gewesen. Aber ich muß ein gutes Wort für mich einlegen; ich gehe dich doch eigentlich nichts an, möchte ich meinen« sagte er. Clarisse starrte zum Fenster hinaus. Aber jetzt scharf; sie faßte irgendetwas draußen ins Auge, um sich daran einen Halt zu sichern. Sie hatte den Eindruck, ihre Gedanken wären außerhalb gewesen und nun wieder zurückgekehrt. Diese Empfindung, wobei sie wie ein Raum war, in dem man noch fühlt, daß soeben die Türe geschlossen worden, war ihr nicht neu. Sie hatte zuweilen Tage und Wochen, da alles, was sie umgab, lichter und leichter war als sonst, so als müßte es nicht viel Mühe machen, hineinzuschlüpfen und außer sich in der Welt spazieren zu gehn; ebenso wie danach wieder schwere Zeiten kamen, in denen sie sich wie eingekerkert fühlte, gewöhnlich dauerten diese zweiten ja nur kurz, aber sie fürchtete sie wie eine Strafe, weil dann alles eng und traurig wurde. Und im gegenwärtigen Augenblick, der sich durch seine klare, nüchterne Ruhe auszeichnete, war ihr unsicher zumute; sie wußte nicht mehr recht, was sie eben noch gewollt hatte, und solche bleierne Klarheit und scheinbar stille Beherrschtheit leitete oft die Zeit der Strafe ein. Clarisse spannte sich an und hatte das Empfinden, wenn sie das Gespräch überzeugend fortführen könnte, sich damit selbst in Sicherheit zu bringen. »Sag nicht Kleine zu mir,« schmollte sie »sonst bringe ich dich am Ende selbst um!« Das kam ihr jetzt wie reiner Spaß heraus, es war also gelungen. Sie drehte vorsichtig den Kopf, um ihn anzugucken. »Ich habe mich natürlich nur so ausgedrückt,« fuhr sie fort »aber du mußt verstehn, daß ich etwas meine. Wo waren wir stehen geblieben? Du hast gesagt, man kann nicht nach einer Idee leben. Ihr habt nicht die rechte Energie, weder du noch Walter!«
»Passivist hast du mich schrecklicherweise genannt. Aber es gibt zwei Arten davon. Einen passiven Passivismus, das ist der von Walter; und einen aktiven!«
»Was ist das, ein aktiver Passivismus?« fragte Clarisse neugierig.
»Das Warten eines Gefangenen auf die Gelegenheit des Ausbruchs.«
»Bah!« sagte Clarisse. »Ausreden!«
»Nun ja,« räumte er ein »vielleicht.«
Clarisse hielt noch immer die Hände hinter dem Rücken verschränkt und hatte die Beine auseinandergestellt, wie in Reitstiefeln. »Weißt du, was Nietzsche sagt? Sicher wissen wollen, ist so wie sicher gehn wollen, eine Feigheit. Man muß irgendwo anfangen, seine Sache zu machen, nicht nur davon zu reden! Ich habe gerade von dir erwartet, daß du einmal etwas Besonderes unternimmst!«
Sie hatte plötzlich einen Knopf an seiner Weste zu fassen bekommen und drehte daran, das Gesicht zu ihm emporgerichtet. Unwillkürlich legte er seine Hand über die ihre, um seinen Knopf zu schützen.
»Ich habe mir etwas lange überlegt« fuhr sie zögernd fort: »die ganz große Gemeinheit entsteht heutzutage nicht dadurch, daß man sie tut, sondern dadurch, daß man sie gewähren läßt. Sie wächst ins Leere.« Sie sah ihn nach dieser Leistung an. Dann fuhr sie heftig fort: »Gewährenlassen ist zehnmal gefährlicher als Tun! Verstehst du mich?« Sie kämpfte mit sich, ob sie das noch genauer beschreiben solle. Aber sie fügte hinzu: »Nicht wahr, du verstehst mich ausgezeichnet, mein Lieber? Du sagst zwar immer, daß man alles gehen lassen soll, wie es geht. Aber ich weiß schon, wie du es meinst! Ich habe mir schon manchmal gedacht, du bist der Teufel!« Dieser Satz war Clarisse nun wieder wie eine Eidechse aus dem Mund geschlüpft. Sie erschrak. Sie hatte ja ursprünglich nur an Walters Bitten wegen eines Kinds gedacht. Ihr Freund bemerkte ein Zucken in ihren Augen, die ihn begehrlich anblickten. Aber ihr emporgerichtetes Gesicht war von etwas überströmt. Nicht von etwas Schönem, sondern eher von etwas Häßlich-Rührendem. Wie es ein gewaltiger Schweißausbruch wäre, hinter dem ein Gesicht verschwimmt. Aber es war unkörperlich, rein imaginär. Er fühlte sich wider Willen angesteckt und in eine leichte Gedankenabwesenheit versetzt. Er konnte diesem abersinnigen Reden keinen rechten Widerstand mehr entgegenstellen und packte Clarisse schließlich bei der Hand, setzte sie aufs Sofa und sich neben sie.
»Jetzt werde ich dir also erzählen, warum ich nichts tue« begann er und schwieg.
Clarisse, die im Augenblick der Berührung wieder zu ihrem gewöhnlichen Wesen zurückgefunden hatte, munterte ihn auf.
»Man kann nichts tun, weil – aber das wirst du doch nicht verstehn –« holte er aus, zog eine Zigarette hervor und widmete sich dem Anzünden.
»He?« half Clarisse. »Was willst du sagen?« Aber er schwieg weiter. Da schob sie den Arm hinter seinen Rücken und rüttelte ihn wie ein Knabe, der seine Kraft zeigt. Es war das Nette an ihr, daß man gar nichts zu sagen brauchte, bloß die Gebärde des Außerordentlichen genügte schon, um sie in Einbildung zu versetzen. »Du bist ein großer Verbrecher!« rief sie dazu und versuchte vergeblich, ihm weh zu tun.
In diesem Augenblick wurden sie jedoch durch die Rückkehr Walters unangenehm unterbrochen.
Die Stunde, zu der sich Ulrich entschlossen hatte hinauszufahren, machte es nicht wahrscheinlich, daß er Walter zu Hause antreffen würde. Es war sehr früh am Nachmittag. Er hatte sich telefonisch angemeldet. Die Fenster schienen keine Vorhänge zu haben, so stark drang durch die Scheiben das Weiß der Schneeflächen herein. In diesem gnadenlosen Licht, das alle Gegenstände umzingelte, stand Clarisse und sah von der Zimmermitte aus lachend ihrem Freund entgegen. Wo sich die flache Wölbung ihres schmalen Körpers gegen das Fenster bog, leuchtete sie in starken Farben, während die Schattenseite blaubrauner Nebel war, aus dem Stirn, Nase und Kinn wie ein Schneegrat hervorsprangen, dessen Schärfe Wind und Sonne verwischen. Sie erinnerte weniger an einen Menschen als an die Begegnung von Eis und Licht in der gespenstigen Einsamkeit des Hochgebirgswinters. Ulrich begriff ein wenig von dem Zauber, den sie in manchen Augenblicken auf Walter ausüben mußte, und seine geteilten Empfindungen für den Jugendfreund wichen für kurze Zeit dem Einblick in das Schaubild, das zwei Menschen einander darboten, deren Leben er vielleicht doch kaum kannte.
»Ich weiß nicht, ob du Walter von dem Brief erzählt hast, den du an Graf Leinsdorf geschrieben hast,« begann er »aber ich bin gekommen, um dich allein zu sprechen und zu warnen, damit du solche Unternehmungen künftig unterläßt.« Clarisse schob zwei Stühle zusammen und nötigte ihn zu sitzen. »Sprich nicht mit Walter davon,« bat sie »aber sag mir, was du dagegen hast. Du meinst doch das Nietzsche-Jahr? Was hat dein Graf dazu gesagt?«
»Was denkst du wohl, daß er dazu gesagt haben könnte?! Die Verbindung, in die du das mit Moosbrugger gebracht hast, war doch geradezu irrsinnig. Und ohnedies hätte er den Brief wohl auch fortgeworfen.«
»So?« Clarisse war sehr enttäuscht. Dann erklärte sie: »Zum Glück hast doch auch du etwas dreinzureden!«
»Ich habe dir schon gesagt, daß du einfach verrückt bist!«
Clarisse lächelte und nahm das als Schmeichelei auf. Sie legte dem Freund die Hand auf den Arm und fragte: »Das österreichische Jahr hältst du doch für einen Unsinn?«
»Natürlich.«
»Ein Nietzschejahr wäre aber etwas Gutes; warum soll man nun etwas bloß deshalb nicht wollen dürfen, weil es auch nach unseren Begriffen gut wäre?!«
»Wie denkst du dir denn eigentlich ein Nietzsche-Jahr?« fragte er.
»Das ist deine Sache!«
»Du bist lustig!«
»Gar nicht. Sag mir, warum es dir lustig vorkommt, das zu verwirklichen, was dir geistig ernst ist!?«
»Das will ich gern tun« erwiderte Ulrich und machte sich von ihrer Hand los. »Es muß ja nicht gerade Nietzsche sein, es könnte sich um Christus oder Buddha auch handeln.«
»Oder um dich. Denk dir doch ein Ulrich-Jahr aus!« Sie sagte das genau so ruhig, wie sie ihn aufgefordert hatte, er möge Moosbrugger befreien. Aber diesmal war er nicht zerstreut, sondern blickte ihr ins Gesicht, während er ihre Worte hörte. In dem Gesicht war nur das gewöhnliche Lächeln Clarissens, das unfreiwillig immer wie eine kleine, lustige, von der Anstrengung emporgepreßte Grimasse hervorkam.
»Also gut,« dachte er »sie meint es nicht schlimm.«
Aber Clarisse näherte sich ihm wieder. »Warum machst du kein Dein-Jahr? Du hättest doch jetzt vielleicht die Macht dazu. Du darfst, das habe ich dir schon gesagt, Walter nichts davon erzählen und auch nichts von dem Moosbrugger-Brief. Überhaupt nicht, daß ich mit dir darüber spreche! Aber glaube mir, dieser Mörder ist musikalisch; er kann bloß nicht komponieren. Hast du noch nie beobachtet, daß jeder Mensch im Mittelpunkt einer Himmelskugel steht? Wenn er von seinem Platz weggeht, geht sie mit. So muß man Musik machen; ohne Gewissen, einfach wie die Himmelskugel, unter der man steht!…«
»Und etwas Ähnliches sollte ich mir als mein Jahr ausdenken, glaubst du?«
»Nein« erwiderte Clarisse auf alle Fälle. Ihre schmalen Lippen wollten etwas sagen, schwiegen aber, und die Flamme schoß stumm bei den Augen heraus. Man konnte nicht sagen, was in solchen Augenblicken von ihr ausging. Es brannte, wie wenn man etwas Glühendem zunahe gekommen wäre. Nun lächelte sie, aber dieses Lächeln kräuselte sich auf ihren Lippen wie zurückgebliebene Asche, nachdem der Vorgang in ihren Augen erloschen war.
»Gerade so etwas könnte ich mir aber äußerstenfalls noch ausdenken« wiederholte Ulrich. »Nur fürchte ich, du meinst, ich soll einen Staatsstreich machen?!«
Clarisse überlegte. »Also sagen wir, ein Buddha-Jahr« meinte sie, ohne auf seinen Einwand einzugehen. »Ich weiß nicht, was Buddha verlangt hat; nur so ungefähr; aber nehmen wir’s einfach an, und wenn man es nun für bedeutend hält, dann sollte man es eben ausführen! Denn entweder verdient etwas, daß man daran glaubt, oder nicht.«
»Na schön, gib acht: Du hast Nietzschejahr gesagt. Aber was hat denn Nietzsche eigentlich verlangt?«
Clarisse dachte nach. »Nun, ich meine natürlich nicht ein Nietzschedenkmal oder eine Nietzschestraße« sagte sie verlegen. »Aber man müßte die Menschen dahin bringen, zu leben, wie – –«
»Wie er es verlangt hat?!« unterbrach er sie. »Aber was hat er verlangt?«
Clarisse versuchte zu antworten, wartete, schließlich erwiderte sie: »Na ja, das weißt du doch selbst…«
»Gar nichts weiß ich« neckte er. »Aber eines will ich dir sagen: Man kann die Forderungen der Kaiser-Franz-Josef-Jubiläums-Suppenanstalt oder die des Schutzverbands der Hauskatzenbesitzer verwirklichen, aber gute Gedanken kann man so wenig verwirklichen wie Musik! Was das bedeutet? Ich weiß es nicht. Aber es ist so.«
Er hatte jetzt endlich auf dem kleinen Sofa Platz gefunden, hinter dem Tischchen; dieser Platz war widerstandsfähiger als der auf dem Stühlchen. In der leeren Zimmermitte, gleichsam am anderen Ufer einer die Tischplatte verlängernden Luftspiegelung, stand noch immer Clarisse und sprach. Ihr schmaler Körper redete und dachte leise mit; sie empfand eigentlich alles, was sie sagen wollte, zuerst mit dem ganzen Körper und hatte beständig das Bedürfnis, mit ihm etwas zu tun. Ihr Freund hatte ihren Körper immer für hart und knabenhaft gehalten, aber jetzt, in dieser weichen Bewegtheit auf geschlossenen Beinen kam ihm Clarisse mit einemmal wie eine javanische Tänzerin vor. Und plötzlich dachte er, es würde ihn nicht wundern, wenn sie in Trance fiele. Oder war er selbst in Trance? Er hielt eine lange Rede. »Du möchtest nach deiner Idee leben« hatte er begonnen »und möchtest wissen, wie man das kann. Aber eine Idee, das ist das Paradoxeste von der Welt. Das Fleisch verbindet sich mit Ideen wie ein Fetisch. Es wird zauberhaft, wenn eine Idee dabei ist. Eine gemeine Ohrfeige kann durch die Idee von Ehre, Strafe und dergleichen tödlich werden. Und doch können sich Ideen niemals in dem Zustand, wo sie am stärksten sind, erhalten; sie gleichen jenen Stoffen, die sich sofort an der Luft in eine dauerhaftere andere, aber verdorbene Form umsetzen: Das hast du oft mitgemacht. Denn eine Idee: das bist du; in einem bestimmten Zustand. Irgendetwas haucht dich an; wie wenn in das Rauschen von Saiten plötzlich ein Ton kommt; es steht etwas vor dir wie eine Luftspiegelung; aus dem Gewirr deiner Seele hat sich ein unendlicher Zug geformt, und alle Schönheiten der Welt scheinen an seinem Wege zu stehn. Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen anderen Ideen, die du schon gehabt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grundsätze oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnislose Festigkeit angenommen.«
Clarisse erwiderte: »Walter ist eifersüchtig auf dich. Nicht etwa meinetwegen. Sondern weil du so aussiehst, als ob du das tun könntest, was er gern möchte. Verstehst du? Es ist etwas an dir, das ihn sich wegnimmt. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.«
Sie sah ihn prüfend an.
Diese beiden Reden flochten sich ineinander.
Walter war immer das zärtliche Lieblingskind des Lebens gewesen, er saß ihm auf dem Schoß. Mochte ihm geschehen, was immer, er verwandelte es in zärtliche Lebendigkeit. Walter war immer der gewesen, der mehr erlebte. »Aber Mehrerleben ist eines der frühesten und feinsten Zeichen, an denen man den Durchschnittsmenschen erkennt« dachte Ulrich; »Zusammenhänge nehmen dem Erlebnis die persönliche Giftigkeit oder Süße!« So ungefähr war es. – Und diese Versicherung selbst, daß es so wäre, war ein Zusammenhang, und man bekam keinen Kuß und keinen Abschied dafür. Und trotzdem war Walter auf ihn eifersüchtig? Es freute ihn.
»Ich habe zu ihm gesagt, daß er dich töten soll« berichtete Clarisse.
»Was?«
»Umbringen, habe ich gesagt. Wenn an dir nicht so viel daran sein sollte, wie du dir einbildest, oder wenn er besser wäre als du und nur dadurch zur Ruhe kommen könnte, wäre das doch ganz richtig gedacht? Und außerdem kannst du dich ja wehren.«
»Das gibst du nicht schlecht…!« antwortete Ulrich unsicher.
»Nun, wir haben ja nur so gesprochen. Was meinst du übrigens!? Walter sagt, man darf so etwas nicht einmal denken.«
»Doch; denken schon« erwiderte er zögernd und sah sich Clarisse genau an. Sie hatte einen eigentümlichen Reiz. Kann man sagen, als stünde sie neben sich? Sie war abwesend und anwesend, beides dicht nebeneinander.
»Ach was, denken!« unterbrach sie ihn. Sie sprach gegen die Wand, vor der er saß, als wäre ihr Auge auf einen Punkt dazwischen gerichtet. »Du bist ebenso passiv wie Walter!« Auch dieses Wort lag zwischen zwei Entfernungen; es nahm Distanz wie eine Beleidigung und versöhnte doch durch eine vertrauliche Nähe, die es voraussetzte. »Ich sage dagegen: Wenn man etwas denken kann, dann soll man es auch tun können« wiederholte sie trocken.
Dann verließ sie ihren Platz, ging zum Fenster und verschränkte die Hände am Rücken. Ulrich stand rasch auf, ging ihr nach und legte den Arm um ihre Schulter. »Kleine Clarisse, du bist soeben recht sonderbar gewesen. Aber ich muß ein gutes Wort für mich einlegen; ich gehe dich doch eigentlich nichts an, möchte ich meinen« sagte er. Clarisse starrte zum Fenster hinaus. Aber jetzt scharf; sie faßte irgendetwas draußen ins Auge, um sich daran einen Halt zu sichern. Sie hatte den Eindruck, ihre Gedanken wären außerhalb gewesen und nun wieder zurückgekehrt. Diese Empfindung, wobei sie wie ein Raum war, in dem man noch fühlt, daß soeben die Türe geschlossen worden, war ihr nicht neu. Sie hatte zuweilen Tage und Wochen, da alles, was sie umgab, lichter und leichter war als sonst, so als müßte es nicht viel Mühe machen, hineinzuschlüpfen und außer sich in der Welt spazieren zu gehn; ebenso wie danach wieder schwere Zeiten kamen, in denen sie sich wie eingekerkert fühlte, gewöhnlich dauerten diese zweiten ja nur kurz, aber sie fürchtete sie wie eine Strafe, weil dann alles eng und traurig wurde. Und im gegenwärtigen Augenblick, der sich durch seine klare, nüchterne Ruhe auszeichnete, war ihr unsicher zumute; sie wußte nicht mehr recht, was sie eben noch gewollt hatte, und solche bleierne Klarheit und scheinbar stille Beherrschtheit leitete oft die Zeit der Strafe ein. Clarisse spannte sich an und hatte das Empfinden, wenn sie das Gespräch überzeugend fortführen könnte, sich damit selbst in Sicherheit zu bringen. »Sag nicht Kleine zu mir,« schmollte sie »sonst bringe ich dich am Ende selbst um!« Das kam ihr jetzt wie reiner Spaß heraus, es war also gelungen. Sie drehte vorsichtig den Kopf, um ihn anzugucken. »Ich habe mich natürlich nur so ausgedrückt,« fuhr sie fort »aber du mußt verstehn, daß ich etwas meine. Wo waren wir stehen geblieben? Du hast gesagt, man kann nicht nach einer Idee leben. Ihr habt nicht die rechte Energie, weder du noch Walter!«
»Passivist hast du mich schrecklicherweise genannt. Aber es gibt zwei Arten davon. Einen passiven Passivismus, das ist der von Walter; und einen aktiven!«
»Was ist das, ein aktiver Passivismus?« fragte Clarisse neugierig.
»Das Warten eines Gefangenen auf die Gelegenheit des Ausbruchs.«
»Bah!« sagte Clarisse. »Ausreden!«
»Nun ja,« räumte er ein »vielleicht.«
Clarisse hielt noch immer die Hände hinter dem Rücken verschränkt und hatte die Beine auseinandergestellt, wie in Reitstiefeln. »Weißt du, was Nietzsche sagt? Sicher wissen wollen, ist so wie sicher gehn wollen, eine Feigheit. Man muß irgendwo anfangen, seine Sache zu machen, nicht nur davon zu reden! Ich habe gerade von dir erwartet, daß du einmal etwas Besonderes unternimmst!«
Sie hatte plötzlich einen Knopf an seiner Weste zu fassen bekommen und drehte daran, das Gesicht zu ihm emporgerichtet. Unwillkürlich legte er seine Hand über die ihre, um seinen Knopf zu schützen.
»Ich habe mir etwas lange überlegt« fuhr sie zögernd fort: »die ganz große Gemeinheit entsteht heutzutage nicht dadurch, daß man sie tut, sondern dadurch, daß man sie gewähren läßt. Sie wächst ins Leere.« Sie sah ihn nach dieser Leistung an. Dann fuhr sie heftig fort: »Gewährenlassen ist zehnmal gefährlicher als Tun! Verstehst du mich?« Sie kämpfte mit sich, ob sie das noch genauer beschreiben solle. Aber sie fügte hinzu: »Nicht wahr, du verstehst mich ausgezeichnet, mein Lieber? Du sagst zwar immer, daß man alles gehen lassen soll, wie es geht. Aber ich weiß schon, wie du es meinst! Ich habe mir schon manchmal gedacht, du bist der Teufel!« Dieser Satz war Clarisse nun wieder wie eine Eidechse aus dem Mund geschlüpft. Sie erschrak. Sie hatte ja ursprünglich nur an Walters Bitten wegen eines Kinds gedacht. Ihr Freund bemerkte ein Zucken in ihren Augen, die ihn begehrlich anblickten. Aber ihr emporgerichtetes Gesicht war von etwas überströmt. Nicht von etwas Schönem, sondern eher von etwas Häßlich-Rührendem. Wie es ein gewaltiger Schweißausbruch wäre, hinter dem ein Gesicht verschwimmt. Aber es war unkörperlich, rein imaginär. Er fühlte sich wider Willen angesteckt und in eine leichte Gedankenabwesenheit versetzt. Er konnte diesem abersinnigen Reden keinen rechten Widerstand mehr entgegenstellen und packte Clarisse schließlich bei der Hand, setzte sie aufs Sofa und sich neben sie.
»Jetzt werde ich dir also erzählen, warum ich nichts tue« begann er und schwieg.
Clarisse, die im Augenblick der Berührung wieder zu ihrem gewöhnlichen Wesen zurückgefunden hatte, munterte ihn auf.
»Man kann nichts tun, weil – aber das wirst du doch nicht verstehn –« holte er aus, zog eine Zigarette hervor und widmete sich dem Anzünden.
»He?« half Clarisse. »Was willst du sagen?« Aber er schwieg weiter. Da schob sie den Arm hinter seinen Rücken und rüttelte ihn wie ein Knabe, der seine Kraft zeigt. Es war das Nette an ihr, daß man gar nichts zu sagen brauchte, bloß die Gebärde des Außerordentlichen genügte schon, um sie in Einbildung zu versetzen. »Du bist ein großer Verbrecher!« rief sie dazu und versuchte vergeblich, ihm weh zu tun.
In diesem Augenblick wurden sie jedoch durch die Rückkehr Walters unangenehm unterbrochen.
Was hätte Ulrich
eigentlich Clarisse sagen können?
Er hatte es verschwiegen, weil sie in ihm eine eigentümliche Lust erregt hatte, das Wort Gott auszusprechen. Er hatte etwa sagen wollen: Gott meint die Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muß, und natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt. Er fragte sich, ob Clarisse einverstanden gewesen wäre, das wie ein Indianer- oder Räuberspiel aufzufassen? Sicher. Wenn einer voranginge, sie würde sich an seine Seite drücken wie eine Wölfin und scharf aufpassen.
Aber er hatte noch etwas auf der Zunge gehabt; etwas von mathematischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert. Er hätte hinzufügen können, daß er die Aufgabe des menschlichen Lebens für eine solche ansah. Was man ein Zeitalter nennt – ohne zu wissen, ob man Jahrhunderte, Jahrtausende oder die Spanne zwischen Schule und Enkelkind darunter verstehen soll –, dieser breite, ungeregelte Fluß von Zuständen würde dann ungefähr ebensoviel bedeuten wie ein planloses Nacheinander von ungenügenden und einzeln genommen falschen Lösungsversuchen, aus denen, erst wenn die Menschheit sie zusammenzufassen verstünde, die richtige und totale Lösung hervorgehen könnte.
In der Straßenbahn erinnerte er sich auf dem Heimweg daran; einige Leute fuhren mit ihm der Stadt zu, und er schämte sich ein wenig vor diesen Menschen solcher Gedanken. Man konnte es ihnen ansehen, daß sie von bestimmten Beschäftigungen zurückkamen oder sich zu bestimmten Vergnügungen begaben, ja man sah es schon ihrer Kleidung an, was sie hinter sich oder vorhatten. Er betrachtete seine Nachbarin; sie war sicher Frau, Mutter, gegen vierzig Jahre alt, sehr wahrscheinlich die Gattin eines akademischen Beamten und hatte ein kleines Opernglas im Schoß liegen. Er kam sich mit seinen Gedanken neben ihr wie ein spielender Knabe vor; sogar wie ein nicht ganz anständig spielender Knabe.
Denn ein Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr anständige heimliche Beschäftigung; namentlich aber solche Gedanken, die ungeheure Stelzschritte machen und die Erfahrung nur mit winzigen Sohlen berühren, sind unordentlicher Entstehung verdächtig. Früher hat man ja wohl von Gedankenflug gesprochen, und zur Zeit Schillers wäre ein Mann mit solchen hochgemuten Fragen im Busen sehr angesehen gewesen; heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufällig sein Beruf ist und seine Einkommensquelle. Man hat die Sache offenbar anders verteilt. Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vor zuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann. Ulrich, in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden. Aber er gestattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war, und augenblicklich malte er sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewidmetes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung möchte vielleicht sogar gesteigert werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewährt sich gar nicht mehr; so daß das Humane fast schon der reinste Schwindel ist. Es würde für den Erfolg vielleicht darauf ankommen, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige Synthese entsteht. Denn ohne Geist –? Ulrich wollte sagen, daß es ihn nicht freuen würde. Aber das war natürlich ein Vorurteil. Man weiß ja nicht, worauf es ankommt. Er rückte sich zurecht und betrachtete sein Gesicht in der seinem Sitz gegenüber befindlichen Glasscheibe, um sich abzulenken. Aber da schwebte nun sein Kopf in dem flüssigen Glas nach einer Weile wunderbar eindringlich zwischen Innen und Außen und verlangte nach irgendeiner Ergänzung.
War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wußte es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der Höhenflugrekord war wieder gehoben worden; eine stolze Sache. Wenn er sich nicht irrte, stand er jetzt auf 3700 Meter, und der Mann hieß Jouhoux. Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert; Johnson hieß er. Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Weltfriedens. Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; die armen Japaner. Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt, und trotzdem ließ sich nur noch schwach oder gar nicht erinnern, was damals eigentlich los gewesen war. Man konnte es abkürzen. Das neue Heilmittel gegen die Lues machte –; in der Erforschung des Pflanzenstoffwechsels wurden –; die Eroberung des Südpols schien –; die Steinachexperimente erregten –; man konnte auf diese Weise gut die Hälfte der Bestimmtheit weglassen, es machte nicht viel aus. Welche sonderbare Angelegenheit ist doch Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben, wie es die Zeitungen tun, oder es handelt sich um Berufs- und Vermögensangelegenheiten, denn in wieviel Jahren man pensionsberechtigt sein wird oder wann man eine bestimmte Summe besitzen wird oder ausgegeben hat, das ist natürlich wichtig, und in solchem Zusammenhang können auch Kriege zu Denkwürdigkeiten werden. Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener »Weg der Geschichte«, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte. Die leuchtende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie eine Maschine vor, in der einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen. Vor hundert Jahren sind sie mit ähnlichen Gesichtern in einer Postkutsche gesessen, und in hundert Jahren wird weiß Gott was mit ihnen los sein, aber sie werden als neue Menschen in neuen Zukunftsapparaten genau so dasitzen, – fühlte er und empörte sich gegen dieses wehrlose Hinnehmen von Veränderungen und Zuständen, die hilflose Zeitgenossenschaft, das planlos ergebene, eigentlich menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte, so als ob er sich plötzlich gegen den Hut auflehnte, den er, sonderbar genug geformt, auf dem Kopf sitzen hatte.
Unwillkürlich erhob er sich und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. In dem größeren Menschenbehältnis der Stadt, worin er sich nun befand, beruhigte sich sein Unbehagen wieder zur Heiterkeit. Es war ein verrückter Einfall der kleinen Clarisse, daß sie ein Geistesjahr machen wollte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt. Warum war das so unsinnig? Man konnte übrigens ebensogut fragen, warum Diotimas vaterländische Aktion unsinnig sei?
Antwort Nummer eins: Weil Weltgeschichte zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab. Das ist der Grund, warum alle Politiker Geschichte studieren, statt Biologie oder dergleichen. Soviel von den Autoren.
Nummer zwei: Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen. Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere.
Abschweifung Nummer eins: Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man läßt »Befehl weitersagen« üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne: »Der Wachtmeister soll vorreiten«, so kommt hinten heraus: »Acht Reiter sollen sofort erschossen werden« oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.
Antwort Nummer drei: Würde man darum eine Generation heutiger Europäer im Alter der frühesten Kindheit in das ägyptische Jahr 5ooo v. Chr. versetzen und dort lassen, so würde die Weltgeschichte noch einmal beim Jahr 5000 beginnen, sich zunächst eine Weile lang wiederholen und dann aus Gründen, die kein Mensch errät, allmählich abzuweichen beginnen.
Abschweifung zwei: Das Gesetz der Weltgeschichte – fiel ihm dabei ein – ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des »Fortwurstelns« im alten Kakanien. Kakanien war ein ungeheuer kluger Staat.
Abschweifung drei oder Antwort Nummer vier? Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen. Die Gegenwart ist immer wie das letzte Haus einer Stadt, das irgendwie nicht mehr ganz zu den Stadthäusern gehört. Jede Generation fragt erstaunt, wer bin ich und was waren meine Vorgänger? Sie sollte lieber fragen, wo bin ich, und voraussetzen, daß ihre Vorgänger nicht anderswie, sondern bloß anderswo waren; damit wäre schon einiges gewonnen – dachte er.
Er war es selbst, der seinen Antworten und Abschweifungen bisher diese Nummern gegeben hatte, und er hatte dazu bald in ein vorübergleitendes Gesicht gesehn, bald in eine Geschäftsauslage, um die Gedanken nicht ganz von sich fortlaufen zu lassen; aber nun hatte er sich trotzdem dabei ein wenig vergangen und mußte einen Augenblick anhalten, um zu begreifen, wo er war, und den nächsten Weg nach Hause zu finden. Ehe er ihn einschlug, bemühte er sich, seine Frage sich noch einmal genau zurechtzulegen. Die kleine verrückte Clarisse hatte also ganz recht, man sollte Geschichte machen, man müßte sie erfinden, wenn er es auch vor ihr bestritten hatte; aber warum tut man es nicht? In diesem Augenblick fiel ihm als Antwort nichts als Direktor Fischel von der Lloyd-Bank ein, sein Freund Leo Fischel, mit dem er in früheren Jahren hie und da im Sommer vor einem Kaffeehaus gesessen war; denn der würde ihm in diesem Augenblick, wenn er dieses Gespräch mit ihm statt als Selbstgespräch geführt hätte, in seiner Weise geantwortet haben: »Ihre Sorgen in meinem Kopf!« Ulrich war ihm dankbar für diese erfrischende Antwort, die er gegeben haben würde. »Lieber Fischel,« erwiderte er sofort in Gedanken »das ist nicht so einfach. Ich sage Geschichte, aber ich meine, wenn Sie sich erinnern, unser Leben. Und ich habe doch schon von Anfang an zugegeben, daß es etwas sehr Anstößiges ist, wenn ich frage: Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte? Also warum klingt das anstößig? Was haben wir dagegen, obgleich es doch ebensoviel heißt wie daß der Mensch das Menschenleben nicht einfach gehen lassen sollte, wie es geht?«
»Man weiß doch,« würde Direktor Fischel entgegnen »wie das geschieht. Man muß froh sein, wenn die Politiker und die Geistlichen und die großen Herrn, die nichts zu tun haben, und alle anderen Menschen, die mit einer fixen Idee herumrennen, das tägliche Leben nicht stören. Und im übrigen hat man die Bildung. Würden sich bloß heute nicht so viele Menschen ungebildet betragen!« Und Direktor Fischel hat natürlich recht. Man muß froh sein, wenn man sich in Lombarden und Effekten genügend auskennt und andere Leute nicht zuviel in Geschichte machen, weil sie sich in ihr auszukennen behaupten. Man könnte, Gott bewahre, nicht ohne Ideen leben, aber das Richtige ist ein gewisses Gleichgewicht zwischen ihnen, eine balance of power, ein bewaffneter Ideenfriede, wovon keiner Seite viel geschehen kann. Er hatte als Beruhigungsmittel die Bildung. Das ist ein Grundgefühl der Zivilisation. Und doch ist nun einmal auch das Gegengefühl vorhanden und wird immer lebendiger, daß sich die Zeit der heroisch-politischen Geschichte, die vom Zufall und seinen Rittern gemacht wird, zum Teil überlebt hat und durch eine planmäßige Lösung, an der alle beteiligt sind, die es angeht, ersetzt werden muß.
Aber da endete das Ulrich-Jahr damit, daß Ulrich inzwischen zu Hause angelangt war.
Er hatte es verschwiegen, weil sie in ihm eine eigentümliche Lust erregt hatte, das Wort Gott auszusprechen. Er hatte etwa sagen wollen: Gott meint die Welt keineswegs wörtlich; sie ist ein Bild, eine Analogie, eine Redewendung, deren er sich aus irgendwelchen Gründen bedienen muß, und natürlich immer unzureichend; wir dürfen ihn nicht beim Wort nehmen, wir selbst müssen die Lösung herausbekommen, die er uns aufgibt. Er fragte sich, ob Clarisse einverstanden gewesen wäre, das wie ein Indianer- oder Räuberspiel aufzufassen? Sicher. Wenn einer voranginge, sie würde sich an seine Seite drücken wie eine Wölfin und scharf aufpassen.
Aber er hatte noch etwas auf der Zunge gehabt; etwas von mathematischen Aufgaben, die keine allgemeine Lösung zulassen, wohl aber Einzellösungen, durch deren Kombination man sich der allgemeinen Lösung nähert. Er hätte hinzufügen können, daß er die Aufgabe des menschlichen Lebens für eine solche ansah. Was man ein Zeitalter nennt – ohne zu wissen, ob man Jahrhunderte, Jahrtausende oder die Spanne zwischen Schule und Enkelkind darunter verstehen soll –, dieser breite, ungeregelte Fluß von Zuständen würde dann ungefähr ebensoviel bedeuten wie ein planloses Nacheinander von ungenügenden und einzeln genommen falschen Lösungsversuchen, aus denen, erst wenn die Menschheit sie zusammenzufassen verstünde, die richtige und totale Lösung hervorgehen könnte.
In der Straßenbahn erinnerte er sich auf dem Heimweg daran; einige Leute fuhren mit ihm der Stadt zu, und er schämte sich ein wenig vor diesen Menschen solcher Gedanken. Man konnte es ihnen ansehen, daß sie von bestimmten Beschäftigungen zurückkamen oder sich zu bestimmten Vergnügungen begaben, ja man sah es schon ihrer Kleidung an, was sie hinter sich oder vorhatten. Er betrachtete seine Nachbarin; sie war sicher Frau, Mutter, gegen vierzig Jahre alt, sehr wahrscheinlich die Gattin eines akademischen Beamten und hatte ein kleines Opernglas im Schoß liegen. Er kam sich mit seinen Gedanken neben ihr wie ein spielender Knabe vor; sogar wie ein nicht ganz anständig spielender Knabe.
Denn ein Gedanke, der nicht einen praktischen Zweck hat, ist wohl eine nicht sehr anständige heimliche Beschäftigung; namentlich aber solche Gedanken, die ungeheure Stelzschritte machen und die Erfahrung nur mit winzigen Sohlen berühren, sind unordentlicher Entstehung verdächtig. Früher hat man ja wohl von Gedankenflug gesprochen, und zur Zeit Schillers wäre ein Mann mit solchen hochgemuten Fragen im Busen sehr angesehen gewesen; heute dagegen hat man das Gefühl, daß mit so einem Menschen etwas nicht in Ordnung sei, wenn das nicht gerade zufällig sein Beruf ist und seine Einkommensquelle. Man hat die Sache offenbar anders verteilt. Man hat gewisse Fragen den Menschen aus dem Herzen genommen. Man hat für hochfliegende Gedanken eine Art Geflügelfarm geschaffen, die man Philosophie, Theologie oder Literatur nennt, und dort vermehren sie sich in ihrer Weise immer unübersichtlicher, und das ist ganz recht so, denn kein Mensch braucht sich bei dieser Ausbreitung mehr vor zuwerfen, daß er sich nicht persönlich um sie kümmern kann. Ulrich, in seiner Achtung vor Fachlichkeit und Spezialistentum, war im Grunde entschlossen, nichts gegen eine solche Teilung der Tätigkeiten einzuwenden. Aber er gestattete sich immerhin noch selbst zu denken, obgleich er kein Berufsphilosoph war, und augenblicklich malte er sich aus, daß das auf den Weg zum Bienenstaat führen werde. Die Königin wird Eier legen, die Drohnen werden ein der Wollust und dem Geist gewidmetes Leben führen, und die Spezialisten werden arbeiten. Auch eine solche Menschheit ist denkbar; die Gesamtleistung möchte vielleicht sogar gesteigert werden. Jetzt hat jeder Mensch sozusagen noch die ganze Menschheit in sich, aber das ist offenkundig schon zuviel geworden und bewährt sich gar nicht mehr; so daß das Humane fast schon der reinste Schwindel ist. Es würde für den Erfolg vielleicht darauf ankommen, bei der Zerteilung neue Vorkehrungen zu treffen, damit in einer besonderen jener Arbeitergruppen auch eine geistige Synthese entsteht. Denn ohne Geist –? Ulrich wollte sagen, daß es ihn nicht freuen würde. Aber das war natürlich ein Vorurteil. Man weiß ja nicht, worauf es ankommt. Er rückte sich zurecht und betrachtete sein Gesicht in der seinem Sitz gegenüber befindlichen Glasscheibe, um sich abzulenken. Aber da schwebte nun sein Kopf in dem flüssigen Glas nach einer Weile wunderbar eindringlich zwischen Innen und Außen und verlangte nach irgendeiner Ergänzung.
War eigentlich Balkankrieg oder nicht? Irgendeine Intervention fand wohl statt; aber ob das Krieg war, er wußte es nicht genau. Es bewegten so viele Dinge die Menschheit. Der Höhenflugrekord war wieder gehoben worden; eine stolze Sache. Wenn er sich nicht irrte, stand er jetzt auf 3700 Meter, und der Mann hieß Jouhoux. Ein Negerboxer hatte den weißen Champion geschlagen und die Weltmeisterschaft erobert; Johnson hieß er. Der Präsident von Frankreich fuhr nach Rußland; man sprach von Gefährdung des Weltfriedens. Ein neuentdeckter Tenor verdiente in Südamerika Summen, die selbst in Nordamerika noch nie dagewesen waren. Ein fürchterliches Erdbeben hatte Japan heimgesucht; die armen Japaner. Mit einem Wort, es geschah viel, es war eine bewegte Zeit, die um Ende 1913 und Anfang 1914. Aber auch die Zeit zwei oder fünf Jahre vorher war eine bewegte Zeit gewesen, jeder Tag hatte seine Erregungen gehabt, und trotzdem ließ sich nur noch schwach oder gar nicht erinnern, was damals eigentlich los gewesen war. Man konnte es abkürzen. Das neue Heilmittel gegen die Lues machte –; in der Erforschung des Pflanzenstoffwechsels wurden –; die Eroberung des Südpols schien –; die Steinachexperimente erregten –; man konnte auf diese Weise gut die Hälfte der Bestimmtheit weglassen, es machte nicht viel aus. Welche sonderbare Angelegenheit ist doch Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen. Gerade das ist es aber, was kein Mensch von der Geschichte behaupten kann, außer er hat es aufgeschrieben, wie es die Zeitungen tun, oder es handelt sich um Berufs- und Vermögensangelegenheiten, denn in wieviel Jahren man pensionsberechtigt sein wird oder wann man eine bestimmte Summe besitzen wird oder ausgegeben hat, das ist natürlich wichtig, und in solchem Zusammenhang können auch Kriege zu Denkwürdigkeiten werden. Sie sieht unsicher und verfilzt aus, unsere Geschichte, wenn man sie in der Nähe betrachtet, wie ein nur halb festgetretener Morast, und schließlich läuft dann sonderbarerweise doch ein Weg über sie hin, eben jener »Weg der Geschichte«, von dem niemand weiß, woher er gekommen ist. Dieses Der Geschichte zum Stoff Dienen war etwas, das Ulrich empörte. Die leuchtende, schaukelnde Schachtel, in der er fuhr, kam ihm wie eine Maschine vor, in der einige hundert Kilogramm Menschen hin und her geschüttelt wurden, um Zukunft aus ihnen zu machen. Vor hundert Jahren sind sie mit ähnlichen Gesichtern in einer Postkutsche gesessen, und in hundert Jahren wird weiß Gott was mit ihnen los sein, aber sie werden als neue Menschen in neuen Zukunftsapparaten genau so dasitzen, – fühlte er und empörte sich gegen dieses wehrlose Hinnehmen von Veränderungen und Zuständen, die hilflose Zeitgenossenschaft, das planlos ergebene, eigentlich menschenunwürdige Mitmachen der Jahrhunderte, so als ob er sich plötzlich gegen den Hut auflehnte, den er, sonderbar genug geformt, auf dem Kopf sitzen hatte.
Unwillkürlich erhob er sich und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. In dem größeren Menschenbehältnis der Stadt, worin er sich nun befand, beruhigte sich sein Unbehagen wieder zur Heiterkeit. Es war ein verrückter Einfall der kleinen Clarisse, daß sie ein Geistesjahr machen wollte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt. Warum war das so unsinnig? Man konnte übrigens ebensogut fragen, warum Diotimas vaterländische Aktion unsinnig sei?
Antwort Nummer eins: Weil Weltgeschichte zweifellos ebenso entsteht wie alle anderen Geschichten. Es fällt den Autoren nichts Neues ein, und sie schreiben einer vom anderen ab. Das ist der Grund, warum alle Politiker Geschichte studieren, statt Biologie oder dergleichen. Soviel von den Autoren.
Nummer zwei: Größtenteils entsteht Geschichte aber ohne Autoren. Sie entsteht nicht von einem Zentrum her, sondern von der Peripherie. Aus kleinen Ursachen. Wahrscheinlich gehört gar nicht so viel dazu, wie man glaubt, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Denn das menschliche Wesen ist ebenso leicht der Menschenfresserei fähig wie der Kritik der reinen Vernunft; es kann mit den gleichen Überzeugungen und Eigenschaften beides schaffen, wenn die Umstände danach sind, und sehr großen äußeren Unterschieden entsprechen dabei sehr kleine innere.
Abschweifung Nummer eins: Ulrich erinnerte sich einer ähnlichen Erfahrung aus seiner Militärzeit: Die Eskadron reitet in Zweierreihen, und man läßt »Befehl weitersagen« üben, wobei ein leise gesprochener Befehl von Mann zu Mann weitergegeben wird; befiehlt man nun vorne: »Der Wachtmeister soll vorreiten«, so kommt hinten heraus: »Acht Reiter sollen sofort erschossen werden« oder so ähnlich. Auf die gleiche Weise entsteht auch Weltgeschichte.
Antwort Nummer drei: Würde man darum eine Generation heutiger Europäer im Alter der frühesten Kindheit in das ägyptische Jahr 5ooo v. Chr. versetzen und dort lassen, so würde die Weltgeschichte noch einmal beim Jahr 5000 beginnen, sich zunächst eine Weile lang wiederholen und dann aus Gründen, die kein Mensch errät, allmählich abzuweichen beginnen.
Abschweifung zwei: Das Gesetz der Weltgeschichte – fiel ihm dabei ein – ist nichts anderes als der Staatsgrundsatz des »Fortwurstelns« im alten Kakanien. Kakanien war ein ungeheuer kluger Staat.
Abschweifung drei oder Antwort Nummer vier? Der Weg der Geschichte ist also nicht der eines Billardballs, der, einmal abgestoßen, eine bestimmte Bahn durchläuft, sondern er ähnelt dem Weg der Wolken, ähnelt dem Weg eines durch die Gassen Streichenden, der hier von einem Schatten, dort von einer Menschengruppe oder einer seltsamen Verschneidung von Häuserfronten abgelenkt wird und schließlich an eine Stelle gerät, die er weder gekannt hat, noch erreichen wollte. Es liegt im Verlauf der Weltgeschichte ein gewisses Sich-Verlaufen. Die Gegenwart ist immer wie das letzte Haus einer Stadt, das irgendwie nicht mehr ganz zu den Stadthäusern gehört. Jede Generation fragt erstaunt, wer bin ich und was waren meine Vorgänger? Sie sollte lieber fragen, wo bin ich, und voraussetzen, daß ihre Vorgänger nicht anderswie, sondern bloß anderswo waren; damit wäre schon einiges gewonnen – dachte er.
Er war es selbst, der seinen Antworten und Abschweifungen bisher diese Nummern gegeben hatte, und er hatte dazu bald in ein vorübergleitendes Gesicht gesehn, bald in eine Geschäftsauslage, um die Gedanken nicht ganz von sich fortlaufen zu lassen; aber nun hatte er sich trotzdem dabei ein wenig vergangen und mußte einen Augenblick anhalten, um zu begreifen, wo er war, und den nächsten Weg nach Hause zu finden. Ehe er ihn einschlug, bemühte er sich, seine Frage sich noch einmal genau zurechtzulegen. Die kleine verrückte Clarisse hatte also ganz recht, man sollte Geschichte machen, man müßte sie erfinden, wenn er es auch vor ihr bestritten hatte; aber warum tut man es nicht? In diesem Augenblick fiel ihm als Antwort nichts als Direktor Fischel von der Lloyd-Bank ein, sein Freund Leo Fischel, mit dem er in früheren Jahren hie und da im Sommer vor einem Kaffeehaus gesessen war; denn der würde ihm in diesem Augenblick, wenn er dieses Gespräch mit ihm statt als Selbstgespräch geführt hätte, in seiner Weise geantwortet haben: »Ihre Sorgen in meinem Kopf!« Ulrich war ihm dankbar für diese erfrischende Antwort, die er gegeben haben würde. »Lieber Fischel,« erwiderte er sofort in Gedanken »das ist nicht so einfach. Ich sage Geschichte, aber ich meine, wenn Sie sich erinnern, unser Leben. Und ich habe doch schon von Anfang an zugegeben, daß es etwas sehr Anstößiges ist, wenn ich frage: Warum macht der Mensch nicht Geschichte, das heißt, warum greift er aktiv Geschichte nur wie ein Tier an, wenn er verwundet ist, wenn es hinter ihm brennt, warum macht er, mit einem Wort, nur im Notfall Geschichte? Also warum klingt das anstößig? Was haben wir dagegen, obgleich es doch ebensoviel heißt wie daß der Mensch das Menschenleben nicht einfach gehen lassen sollte, wie es geht?«
»Man weiß doch,« würde Direktor Fischel entgegnen »wie das geschieht. Man muß froh sein, wenn die Politiker und die Geistlichen und die großen Herrn, die nichts zu tun haben, und alle anderen Menschen, die mit einer fixen Idee herumrennen, das tägliche Leben nicht stören. Und im übrigen hat man die Bildung. Würden sich bloß heute nicht so viele Menschen ungebildet betragen!« Und Direktor Fischel hat natürlich recht. Man muß froh sein, wenn man sich in Lombarden und Effekten genügend auskennt und andere Leute nicht zuviel in Geschichte machen, weil sie sich in ihr auszukennen behaupten. Man könnte, Gott bewahre, nicht ohne Ideen leben, aber das Richtige ist ein gewisses Gleichgewicht zwischen ihnen, eine balance of power, ein bewaffneter Ideenfriede, wovon keiner Seite viel geschehen kann. Er hatte als Beruhigungsmittel die Bildung. Das ist ein Grundgefühl der Zivilisation. Und doch ist nun einmal auch das Gegengefühl vorhanden und wird immer lebendiger, daß sich die Zeit der heroisch-politischen Geschichte, die vom Zufall und seinen Rittern gemacht wird, zum Teil überlebt hat und durch eine planmäßige Lösung, an der alle beteiligt sind, die es angeht, ersetzt werden muß.
Aber da endete das Ulrich-Jahr damit, daß Ulrich inzwischen zu Hause angelangt war.
Er fand dort
den üblichen Haufen von Schriftstücken vor, den ihm Graf Leinsdorf schickte. Ein Industrieller hatte einen Preis in ungewöhnlicher Höhe für die beste Leistung in der militärischen Erziehung der zivilen Jugend in Aussicht gestellt. Das Erzbischöfliche Ordinariat nahm Stellung zu dem
Vorschlag einer großen Waisenhausstiftung und erklärte, gegen jede konfessionelle Vermischung Bedenken erheben zu müssen. Das Komitee für Kultus und Unterricht berichtete über den Erfolg der definitiv vorläufig hinausgegebenen Anregung eines großen Friedenskaiser- und Völker-Österreichs-Denkmals in der Nähe der Residenz; nach Fühlungnahme mit dem k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht und Befragung der führenden Künstlervereinigungen, Ingenieur- und Architektenvereine hatten sich derartige Meinungsverschiedenheiten ergeben, daß sich das Komitee in die Lage versetzt sah, unbeschadet später sich herausstellen sollender Erfordernisse, falls der Zentralausschuß zustimme, einen Wettbewerb um die beste Idee eines Wettbewerbs in Hinsicht auf das eventuell zu errichtende Denkmal auszuschreiben. Die Hofkanzlei schickte dem Zentralausschuß nach genommener Einsicht die vor drei Wochen zur Einsichtnahme vorgelegten Vorschläge zurück und erklärte, eine Allerhöchste Willensmeinung derzeit dazu nicht übermitteln zu können, aber es als erwünscht zu erachten, auch in diesen Punkten die öffentliche Meinung zunächst noch sich selbst bilden zu lassen. Das k. k. Ministerium
für Kultus und Unterricht erklärte auf dortortige Zuschrift Nummer soundsoviel, eine besondere Förderung des Stenographievereins Öhl nicht befürworten zu können; der Volksgesundheitsverein »Balkenbuchstabe« zeigte seine Bildung an und ersuchte um eine Geldzuwendung.
Und in solcher Art ging es weiter. Ulrich schob das Paket wirklicher Welt zurück und überlegte eine Weile. Plötzlich stand er auf, ließ sich Hut und Rock geben und sagte an, daß er in einer oder anderthalb Stunden wieder zu Hause sein werde. Er rief einen Wagen an und kehrte zu Clarisse zurück.
Es war finster geworden, das Haus warf nur aus einem Fenster ein wenig Licht auf die Straße, die Fußstapfen bildeten hartgefrorene Löcher, in denen man stolperte, das Tor war geschlossen, und der Besuch kam unerwartet, so daß Rufen, Klopfen und In die Hände Klatschen durch die längste Zeit unverstanden blieb. Als Ulrich endlich im Zimmer stand, schien es nicht das Zimmer zu sein, das er doch soeben erst verlassen hatte, sondern eine fremde, erstaunte Welt, mit einem für das einfache Beisammensein zweier Menschen gedeckten Tisch, Stühlen, auf deren jedem etwas lag, das sich dort häuslich gemacht hatte, und Wänden, die sich mit einem gewissen Widerstand dem Eindringling öffneten.
Clarisse hatte einen einfachen wollenen Schlafrock an und lachte. Walter, der den Spätling eingeholt hatte, blinzelte und versorgte den großen Hausschlüssel in einer Tischlade. Ulrich sagte ohne Umschweife: »Ich bin umgekehrt, weil ich Clarisse noch eine Antwort schulde.« Dann begann er in der Mitte, wo seine Unterhaltung durch Walter unterbrochen worden war. Nach einer Weile waren Zimmer, Haus, Zeitgefühl verschwunden, und das Gespräch hing irgendwo über dem blauen Raum im Netz der Sterne. Ulrich entwickelte das Programm, Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben. Der Unterschied, schickte er voraus, würde zunächst weniger in dem liegen, was geschähe, als in der Bedeutung, die man ihm gäbe, in der Absicht, die man mit ihm verbände, in dem System, das das einzelne Geschehnis umfinge. Das jetzt geltende System sei das der Wirklichkeit und gleiche einem schlechten Theaterstück. Man sage nicht umsonst Welttheater, denn es erstehen immer die gleichen Rollen, Verwicklungen und Fabeln im Leben. Man liebt, weil und wie es die Liebe gibt; man ist stolz wie die Indianer, die Spanier, die Jungfrauen oder der Löwe; man mordet sogar in neunzig von hundert Fällen nur deshalb, weil es für tragisch und großartig gehalten wird. Vollends die erfolgreichen politischen Gestalter der Wirklichkeit haben, von den ganz großen Ausnahmen abgesehen, viel mit den Schreibern von Kassenstücken gemein; die lebhaften Vorgänge, die sie erzeugen, langweilen durch ihren Mangel an Geist und Neuheit, bringen uns aber gerade dadurch in jenen widerstandslosen schläfrigen Zustand, worin wir uns jede Veränderung gefallen lassen. So betrachtet, entsteht Geschichte aus der ideellen Routine und aus dem ideell Gleichgültigen, und die Wirklichkeit entsteht vornehmlich daraus, daß nichts für die Ideen geschieht. Man könne es kurz so zusammenfassen, behauptete er, daß es uns zu wenig darauf ankäme, was geschehe, und zuviel darauf, wem, wo und wann es geschehe, so daß uns nicht der Geist der Geschehnisse, sondern ihre Fabel, nicht die Erschließung neuen Lebensgehalts, sondern die Verteilung des schon vorhandenen wichtig seien, genau so, wie es wirklich dem Unterschied von guten und bloß erfolgreichen Stücken entspreche. Daraus ergebe sich aber als das wahre Gegenteil, daß man zuerst die Haltung der persönlichen Habgier gegenüber den Erlebnissen aufgeben müßte. Man müßte die also weniger wie persönlich und wirklich und mehr wie allgemein und gedacht oder persönlich so frei ansehn, als ob sie gemalt oder gesungen wären. Man dürfte ihnen nicht die Wendung zu sich geben, sondern müßte sie nach oben und außen wenden. Und wenn das persönlich gälte, so müßte außerdem kollektiv etwas geschehen, was Ulrich nicht recht beschreiben konnte und eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes nannte, ohne das sich der Einzelne natürlich nur ohnmächtig und seinem Gutdünken überlassen fühlen könne. Und während er so sprach, erinnerte er sich an den Augenblick, wo er zu Diotima gesagt hatte, man müsse die Wirklichkeit abschaffen.
Es verstand sich wohl beinahe von selbst, daß Walter alles das zunächst für eine ganz und gar gewöhnliche Behauptung erklärte. Als ob nicht die ganze Welt, Literatur, Kunst, Wissenschaft, Religion ohnehin »kellern und keltern« würde! Als ob irgendein Gebildeter den Wert der Ideen bestritte oder nicht auf Geist, Schönheit und Güte achtete! Als ob alle Erziehung etwas anderes als Einführung in ein System des Geistes wäre!
Ulrich verdeutlichte sich mit dem Hinweis darauf, daß Erziehung bloß eine Einführung in das jeweils Gegenwärtige und Herrschende bedeute, das aus planlosen Vorkehrungen entstanden sei, weshalb man, um Geist zu gewinnen, vor allem erst überzeugt sein müsse, noch keinen zu haben! Eine ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung nannte er das.
Nun erklärte es Walter für eine unmögliche Behauptung. »Wie pikant du es hinstellst« sagte er; »als ob wir überhaupt die Wahl hätten, Ideen zu leben oder unser Leben zu leben! Aber am Ende kennst du vielleicht das Zitat: ›Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch‹? Warum gehst du nicht noch weiter? Warum verlangst du nicht gleich, daß wir um unserer Ideen willen unseren Bauch abschaffen? Ich aber erwidere dir: ›Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht‹! Daß wir den Arm ausstrecken und zurückziehen, nicht wissen, ob wir uns rechts oder links wenden sollen, daß wir aus Gewohnheiten, Vorurteilen und Erde bestehn und dennoch nach Kräften unseren Weg gehen: gerade das macht das Humane aus! Man braucht also, was du sagst, nur ein wenig an der Wirklichkeit zu messen, so zeigt es sich bestenfalls als Literatur!«
Ulrich räumte ein: »Wenn du mir erlaubst, darunter auch alle anderen Künste zu verstehn, die Lebenslehren, Religionen und so weiter, dann will ich allerdings etwas dem Ähnliches behaupten, daß unser Dasein ganz und gar aus Literatur bestehen sollte!«
»Ach? Du nennst die Güte des Erlösers oder das Leben Napoleons Literatur?!« rief Walter aus. Aber dann fiel ihm etwas Besseres ein, er wandte sich mit der Ruhe, die ein guter Trumpf gibt, seinem Freunde zu und erklärte: »Du bist ein Mensch, der das Büchsengemüse für den Sinn des frischen Gemüses erklärt!«
»Du hast gewiß recht. Du könntest auch sagen, ich sei einer, der nur mit Salz kochen will« gab Ulrich ruhig zu. Er wollte nun nicht mehr darüber reden.
Hier mengte sich aber Clarisse ein und wandte sich an Walter. »Ich weiß nicht, warum du ihm widersprichst! Hast du nicht selbst jedesmal, wenn mit uns etwas Besonderes los war, gesagt: Das sollte man jetzt auf einer Bühne allen Leuten vorspielen können, damit sie es sehen und verstehen müßten! – Eigentlich müßte man singen!« wandte sie sich zustimmend an Ulrich. »Singen müßte man sich!«
Sie war aufgestanden und in den kleinen Kreis getreten, den die Stühle bildeten. Ihre Haltung war eine etwas ungeschickte Selbstdarstellung ihrer Wünsche, als wollte sie sich zu einem Tanz anschicken; und Ulrich, der gegen geschmacklose Entblößungen des Gemüts empfindlich war, erinnerte sich in diesem Augenblick daran, daß die meisten Menschen, also um es rund heraus zu sagen, die Durchschnittsmenschen, deren Geist gereizt ist, ohne etwas schaffen zu können, diesen Wunsch hegen, sich darstellen zu dürfen. Sie sind es ja auch, in denen so leicht »Unaussprechliches« vorgeht, wahrhaft ein Leibwort und der nebelhafte Untergrund, worauf das, was sie aussprechen, ungewiß vergrößert erscheint, so daß sie nie seinen richtigen Wert erkennen. Um dem ein Ende zu machen, sagte er: »Ich habe das nicht gemeint; aber Clarisse hat recht: Das Theater beweist, daß heftige persönliche Erlebniszustände einem unpersönlichen Zweck, einem Bedeutungs- und Bildzusammenhang dienen können, der sie halb und halb von der Person lostrennt.«
»Ich verstehe Ulrich sehr gut!« fiel Clarisse wieder ein. »Ich kann mich nicht erinnern, daß mir je etwas eine besondere Freude gemacht hätte, weil es mir persönlich widerfahren ist; wenn es nur überhaupt geschah! Musik willst du doch auch nicht ›haben‹,« wandte sie sich an ihren Gatten »es gibt kein anderes Glück, als daß sie da ist. Man zieht die Erlebnisse an sich und breitet sie im gleichen Zug wieder aus, man will sich, aber man will sich doch nicht als Krämer seiner selbst!«
Walter griff sich an die Schläfen; um Clarissens willen ging er aber zu einer neuen Widerlegung über. Er bemühte sich, seine Worte wie einen ruhigen kalten Strahl kommen zu lassen. »Wenn du den Wert eines Verhaltens nur in das Aussenden geistiger Kraft verlegst,« wandte er sich an Ulrich »so möchte ich dich jetzt etwas fragen: Das wäre doch nur möglich, in einem Leben, das keinen anderen Zweck hätte, als das Erzeugen geistiger Kraft und Macht?«
»Es ist das Leben, das alle vorhandenen Staaten anzustreben behaupten!« entgegnete dieser.
»In einem solchen Staat würden die Menschen also nach großen Empfindungen und Ideen leben, nach Philosophien und Romanen?« fuhr Walter fort. »Ich frage dich nun weiter: Würden sie so leben, daß große Philosophie und Dichtung entstünde, oder so, daß alles, was sie lebten, sozusagen schon Philosophie und Dichtung in Fleisch und Blut wäre? Ich zweifle ja nicht, was du meinst, denn das erste wäre nichts anderes, als man ohnehin heute unter einem Kulturstaat versteht; aber da du das zweite meinst, so übersiehst du, daß Philosophie und Dichtung dort recht überflüssig sein würden. Abgesehen davon, daß man sich dein Leben nach der Art der Kunst, oder wie du es nennen willst, überhaupt nicht vorstellen kann, bedeutet es also auch nichts anderes als das Ende der Kunst!« So schloß er und spielte mit Rücksicht auf Clarisse diesen Trumpf mit Nachdruck aus.
Es wirkte. Sogar Ulrich brauchte eine Weile, bis er sich gefaßt hatte. Aber dann lachte er und fragte: »Weißt du denn nicht, daß jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre? Mir scheint, du bist doch selbst auf dem Wege, um der Vollkommenheit deines Lebens willen mit der Kunst Schluß zu machen?«
Er meinte es nicht bös, aber Clarisse horchte auf.
Und Ulrich fuhr fort: »Jedes große Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Personen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen will. Es führt zu Entscheidungen, die sich nicht entscheiden lassen; man kann nur ihr Leben wiedergeben. Zieh den Sinn aus allen Dichtungen, und du wirst eine zwar nicht vollständige, aber erfahrungsmäßige und endlose Leugnung in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Gesellschaft ruht, die diese Dichtungen liebt! Vollends ein Gedicht mit seinem Geheimnis schneidet ja den Sinn der Welt, wie er an tausenden alltäglichen Worten hängt, mitten durch und macht ihn zu einem davonfliegenden Ballon. Wenn man das, wie es üblich ist, Schönheit nennt, so sollte Schönheit ein unsagbar rücksichtsloser und grausamerer Umsturz sein, als es je eine politische Revolution gewesen ist!«
Walter war bis in die Lippen blaß geworden. Diese Auffassung der Kunst als eine Lebensverneinung, als einen Widerspruch zum Leben haßte er. Das war in seinen Augen Boheme, Rest eines veralteten Wunsches, den »Bürger« zu ärgern. Die ironische Selbstverständlichkeit, daß es in einer vollendeten Welt keine Schönheit mehr geben könne, weil sie dort zur Überflüssigkeit wird, bemerkte er darin; aber die unausgesprochene Frage seines Freundes hörte er nicht. Denn die Einseitigkeit in dem, was er behauptete, lag auch für Ulrich klar zu Tage. Er hätte ebensogut das Gegenteil davon sagen können, daß Kunst Leugnung sei, denn Kunst ist Liebe; indem sie liebt, macht sie schön, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben. Und nur weil auch unsere Liebe bloß aus Stücken besteht, ist die Schönheit so etwas wie Steigerung und Gegensatz. Und es gibt nur das Meer der Liebe, worin die einer Steigerung nicht mehr fähige Vorstellung der Vollkommenheit und die auf Steigerung beruhende der Schönheit eins sind! Wieder einmal hatten Ulrichs Gedanken das »Reich« gestreift, und er hielt unwillig ein. Auch Walter hatte sich inzwischen gesammelt, und nachdem er die Andeutung seines Freundes, man sollte ungefähr so leben, wie man lese, zuerst für eine gewöhnliche und sodann für eine unmögliche Behauptung erklärt hatte, ging er nun dazu über, sie als eine sündhafte und gemeine zu beweisen.
»Wenn ein Mensch« begann er in der gleichen kunstvoll zurückhaltenden Weise wie zuvor »nur deinen Vorschlag zur Grundlage seines Lebens nähme, so müßte er ungefähr – um von anderen Unmöglichkeiten zu schweigen – alles das gutheißen, was eine schöne Idee in ihm anregt; ja sogar alles das, was die Möglichkeit in sich trägt, unter eine solche gefaßt zu werden. Das würde natürlich den allgemeinen Verfall bedeuten, aber da dir diese Seite voraussichtlich gleichgültig ist – oder vielleicht denkst du an jene ungewissen allgemeinen Vorkehrungen, von denen du nichts Näheres gesagt hast,– so möchte ich bloß Auskunft über die persönlichen Folgen. Mir scheint es nicht anders möglich zu sein, als daß ein solcher Mensch dann in allen Fällen, wo er nicht gerade der Dichter seines Lebens ist, schlimmer als ein Tier daran wäre; wenn ihm keine Idee einfiele, würde ihm auch keine Entscheidung einfallen, er wäre einfach für einen großen Teil des Lebens seinen Trieben, Launen, den gewöhnlichen Allerweltsleidenschaften, mit einem Wort, dem Allerunpersönlichsten ausgeliefert, woraus ein Mensch nur besteht, und müßte sozusagen, solange die Obstruktion der oberen Leitung andauert, standhaft mit sich machen lassen, was ihm gerade einfällt!?«
»Er müßte sich dann weigern, etwas zu tun!« antwortete statt Ulrichs Clarisse. »Das ist der aktive Passivismus, dessen man unter Umständen fähig sein muß!«
Walter brachte nicht den Mut auf, sie anzublicken. Die Fähigkeit der Weigerung spielte ja unter ihnen eine große Rolle; Clarisse, im langen, die Füße bedeckenden Nachthemd wie ein kleiner Engel anzusehen, stand aufgesprungen im Bett und deklamierte mit blitzenden Zähnen frei nach Nietzsche. »Wie ein Senkblei werfe ich meine Frage in deine Seele! Du wünschest dir Kind und Ehe, aber ich frage dich: Bist du der Mensch, der ein Kind sich wünschen darf?! Bist du der Siegreiche, der Gebieter deiner Tugenden? Oder reden aus dir Tier und Notdurft…!?«; im Halbdunkel des Schlafzimmers war das ganz grausig anzusehen gewesen, während Walter sie vergeblich in die Polster herab zu locken versuchte. Und nun würde sie in Zukunft also über ein neues Schlagwort verfügen; aktiver Passivismus, dessen man gegebenenfalls fähig sein müsse, das klang ganz nach einem Mann ohne Eigenschaften; vertraute sie sich ihm an? bestärkte er sie am Ende in ihren Eigenheiten? Diese Fragen krümmten sich wie Würmer in Walters Brust, und es wurde ihm beinahe übel. Er wurde jetzt aschfahl, und aus seinem Gesicht wich alle Spannung, so daß es sich kraftlos runzelte.
Ulrich bemerkte es und fragte ihn teilnehmend, ob ihm etwas fehle?
Mit Mühe sagte Walter nein und brachte forsch lächelnd hervor, daß er seinen Unsinn nur zu Ende führen möge.
»Ach Gott im Himmel,« räumte Ulrich nachgiebig ein »du hast ja nicht unrecht. Aber sehr oft haben wir aus einer Art Sportgeist Nachsicht mit Handlungen, die uns selbst schaden, wenn der Gegner sie in einer hübschen Weise durchführt; der Wert der Durchführung konkurriert dann mit dem Wert des Schadens. Sehr oft haben wir auch eine Idee, nach der wir ein Stück weit handeln, aber bald springen Gewohnheit, Beharrung, Nutzen, Einflüsterung für sie ein, weil es nicht anders geht. Ich habe also vielleicht einen Zustand beschrieben, der in keiner Weise bis zu Ende durchführbar ist, aber eines muß man ihm lassen: er ist ganz und gar der bestehende Zustand, in dem wir leben.«
Walter hatte sich wieder beruhigt. »Wenn man die Wahrheit umkehrt, kann man immer etwas sagen, das ebenso wahr wie verkehrt ist« meinte er sanft, ohne zu verbergen, daß ein weiterer Streit keinen Wert mehr für ihn habe. »Es sieht dir ähnlich, von etwas zu behaupten, es sei unmöglich, aber wirklich.«
Allein Clarisse rieb sich sehr energisch die Nase. »Ich finde das doch sehr wichtig,« sagte sie »daß in uns allen etwas Unmögliches ist. Es erklärt so vieles. Ich habe, wie ich zuhörte, den Eindruck gehabt, wenn man uns aufschneiden könnte, so würde unser ganzes Leben vielleicht wie ein Ring aussehen, bloß so rund um etwas.« Sie hatte schon vorher ihren Ehering abgezogen und guckte nun durch seine Öffnung gegen die belichtete Wand. »Ich meine, in seiner Mitte ist doch nichts, und doch sieht er genau so aus, als ob es ihm nur darauf ankäme. Ulrich kann das eben auch nicht gleich vollkommen ausdrücken!«
So endete diese Diskussion leider doch noch mit einem Schmerz für Walter.
Und in solcher Art ging es weiter. Ulrich schob das Paket wirklicher Welt zurück und überlegte eine Weile. Plötzlich stand er auf, ließ sich Hut und Rock geben und sagte an, daß er in einer oder anderthalb Stunden wieder zu Hause sein werde. Er rief einen Wagen an und kehrte zu Clarisse zurück.
Es war finster geworden, das Haus warf nur aus einem Fenster ein wenig Licht auf die Straße, die Fußstapfen bildeten hartgefrorene Löcher, in denen man stolperte, das Tor war geschlossen, und der Besuch kam unerwartet, so daß Rufen, Klopfen und In die Hände Klatschen durch die längste Zeit unverstanden blieb. Als Ulrich endlich im Zimmer stand, schien es nicht das Zimmer zu sein, das er doch soeben erst verlassen hatte, sondern eine fremde, erstaunte Welt, mit einem für das einfache Beisammensein zweier Menschen gedeckten Tisch, Stühlen, auf deren jedem etwas lag, das sich dort häuslich gemacht hatte, und Wänden, die sich mit einem gewissen Widerstand dem Eindringling öffneten.
Clarisse hatte einen einfachen wollenen Schlafrock an und lachte. Walter, der den Spätling eingeholt hatte, blinzelte und versorgte den großen Hausschlüssel in einer Tischlade. Ulrich sagte ohne Umschweife: »Ich bin umgekehrt, weil ich Clarisse noch eine Antwort schulde.« Dann begann er in der Mitte, wo seine Unterhaltung durch Walter unterbrochen worden war. Nach einer Weile waren Zimmer, Haus, Zeitgefühl verschwunden, und das Gespräch hing irgendwo über dem blauen Raum im Netz der Sterne. Ulrich entwickelte das Programm, Ideengeschichte statt Weltgeschichte zu leben. Der Unterschied, schickte er voraus, würde zunächst weniger in dem liegen, was geschähe, als in der Bedeutung, die man ihm gäbe, in der Absicht, die man mit ihm verbände, in dem System, das das einzelne Geschehnis umfinge. Das jetzt geltende System sei das der Wirklichkeit und gleiche einem schlechten Theaterstück. Man sage nicht umsonst Welttheater, denn es erstehen immer die gleichen Rollen, Verwicklungen und Fabeln im Leben. Man liebt, weil und wie es die Liebe gibt; man ist stolz wie die Indianer, die Spanier, die Jungfrauen oder der Löwe; man mordet sogar in neunzig von hundert Fällen nur deshalb, weil es für tragisch und großartig gehalten wird. Vollends die erfolgreichen politischen Gestalter der Wirklichkeit haben, von den ganz großen Ausnahmen abgesehen, viel mit den Schreibern von Kassenstücken gemein; die lebhaften Vorgänge, die sie erzeugen, langweilen durch ihren Mangel an Geist und Neuheit, bringen uns aber gerade dadurch in jenen widerstandslosen schläfrigen Zustand, worin wir uns jede Veränderung gefallen lassen. So betrachtet, entsteht Geschichte aus der ideellen Routine und aus dem ideell Gleichgültigen, und die Wirklichkeit entsteht vornehmlich daraus, daß nichts für die Ideen geschieht. Man könne es kurz so zusammenfassen, behauptete er, daß es uns zu wenig darauf ankäme, was geschehe, und zuviel darauf, wem, wo und wann es geschehe, so daß uns nicht der Geist der Geschehnisse, sondern ihre Fabel, nicht die Erschließung neuen Lebensgehalts, sondern die Verteilung des schon vorhandenen wichtig seien, genau so, wie es wirklich dem Unterschied von guten und bloß erfolgreichen Stücken entspreche. Daraus ergebe sich aber als das wahre Gegenteil, daß man zuerst die Haltung der persönlichen Habgier gegenüber den Erlebnissen aufgeben müßte. Man müßte die also weniger wie persönlich und wirklich und mehr wie allgemein und gedacht oder persönlich so frei ansehn, als ob sie gemalt oder gesungen wären. Man dürfte ihnen nicht die Wendung zu sich geben, sondern müßte sie nach oben und außen wenden. Und wenn das persönlich gälte, so müßte außerdem kollektiv etwas geschehen, was Ulrich nicht recht beschreiben konnte und eine Art Keltern und Kellern und Eindicken des geistigen Saftes nannte, ohne das sich der Einzelne natürlich nur ohnmächtig und seinem Gutdünken überlassen fühlen könne. Und während er so sprach, erinnerte er sich an den Augenblick, wo er zu Diotima gesagt hatte, man müsse die Wirklichkeit abschaffen.
Es verstand sich wohl beinahe von selbst, daß Walter alles das zunächst für eine ganz und gar gewöhnliche Behauptung erklärte. Als ob nicht die ganze Welt, Literatur, Kunst, Wissenschaft, Religion ohnehin »kellern und keltern« würde! Als ob irgendein Gebildeter den Wert der Ideen bestritte oder nicht auf Geist, Schönheit und Güte achtete! Als ob alle Erziehung etwas anderes als Einführung in ein System des Geistes wäre!
Ulrich verdeutlichte sich mit dem Hinweis darauf, daß Erziehung bloß eine Einführung in das jeweils Gegenwärtige und Herrschende bedeute, das aus planlosen Vorkehrungen entstanden sei, weshalb man, um Geist zu gewinnen, vor allem erst überzeugt sein müsse, noch keinen zu haben! Eine ganz und gar offene, moralisch im Großen experimentierende und dichtende Gesinnung nannte er das.
Nun erklärte es Walter für eine unmögliche Behauptung. »Wie pikant du es hinstellst« sagte er; »als ob wir überhaupt die Wahl hätten, Ideen zu leben oder unser Leben zu leben! Aber am Ende kennst du vielleicht das Zitat: ›Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch‹? Warum gehst du nicht noch weiter? Warum verlangst du nicht gleich, daß wir um unserer Ideen willen unseren Bauch abschaffen? Ich aber erwidere dir: ›Aus Gemeinem ist der Mensch gemacht‹! Daß wir den Arm ausstrecken und zurückziehen, nicht wissen, ob wir uns rechts oder links wenden sollen, daß wir aus Gewohnheiten, Vorurteilen und Erde bestehn und dennoch nach Kräften unseren Weg gehen: gerade das macht das Humane aus! Man braucht also, was du sagst, nur ein wenig an der Wirklichkeit zu messen, so zeigt es sich bestenfalls als Literatur!«
Ulrich räumte ein: »Wenn du mir erlaubst, darunter auch alle anderen Künste zu verstehn, die Lebenslehren, Religionen und so weiter, dann will ich allerdings etwas dem Ähnliches behaupten, daß unser Dasein ganz und gar aus Literatur bestehen sollte!«
»Ach? Du nennst die Güte des Erlösers oder das Leben Napoleons Literatur?!« rief Walter aus. Aber dann fiel ihm etwas Besseres ein, er wandte sich mit der Ruhe, die ein guter Trumpf gibt, seinem Freunde zu und erklärte: »Du bist ein Mensch, der das Büchsengemüse für den Sinn des frischen Gemüses erklärt!«
»Du hast gewiß recht. Du könntest auch sagen, ich sei einer, der nur mit Salz kochen will« gab Ulrich ruhig zu. Er wollte nun nicht mehr darüber reden.
Hier mengte sich aber Clarisse ein und wandte sich an Walter. »Ich weiß nicht, warum du ihm widersprichst! Hast du nicht selbst jedesmal, wenn mit uns etwas Besonderes los war, gesagt: Das sollte man jetzt auf einer Bühne allen Leuten vorspielen können, damit sie es sehen und verstehen müßten! – Eigentlich müßte man singen!« wandte sie sich zustimmend an Ulrich. »Singen müßte man sich!«
Sie war aufgestanden und in den kleinen Kreis getreten, den die Stühle bildeten. Ihre Haltung war eine etwas ungeschickte Selbstdarstellung ihrer Wünsche, als wollte sie sich zu einem Tanz anschicken; und Ulrich, der gegen geschmacklose Entblößungen des Gemüts empfindlich war, erinnerte sich in diesem Augenblick daran, daß die meisten Menschen, also um es rund heraus zu sagen, die Durchschnittsmenschen, deren Geist gereizt ist, ohne etwas schaffen zu können, diesen Wunsch hegen, sich darstellen zu dürfen. Sie sind es ja auch, in denen so leicht »Unaussprechliches« vorgeht, wahrhaft ein Leibwort und der nebelhafte Untergrund, worauf das, was sie aussprechen, ungewiß vergrößert erscheint, so daß sie nie seinen richtigen Wert erkennen. Um dem ein Ende zu machen, sagte er: »Ich habe das nicht gemeint; aber Clarisse hat recht: Das Theater beweist, daß heftige persönliche Erlebniszustände einem unpersönlichen Zweck, einem Bedeutungs- und Bildzusammenhang dienen können, der sie halb und halb von der Person lostrennt.«
»Ich verstehe Ulrich sehr gut!« fiel Clarisse wieder ein. »Ich kann mich nicht erinnern, daß mir je etwas eine besondere Freude gemacht hätte, weil es mir persönlich widerfahren ist; wenn es nur überhaupt geschah! Musik willst du doch auch nicht ›haben‹,« wandte sie sich an ihren Gatten »es gibt kein anderes Glück, als daß sie da ist. Man zieht die Erlebnisse an sich und breitet sie im gleichen Zug wieder aus, man will sich, aber man will sich doch nicht als Krämer seiner selbst!«
Walter griff sich an die Schläfen; um Clarissens willen ging er aber zu einer neuen Widerlegung über. Er bemühte sich, seine Worte wie einen ruhigen kalten Strahl kommen zu lassen. »Wenn du den Wert eines Verhaltens nur in das Aussenden geistiger Kraft verlegst,« wandte er sich an Ulrich »so möchte ich dich jetzt etwas fragen: Das wäre doch nur möglich, in einem Leben, das keinen anderen Zweck hätte, als das Erzeugen geistiger Kraft und Macht?«
»Es ist das Leben, das alle vorhandenen Staaten anzustreben behaupten!« entgegnete dieser.
»In einem solchen Staat würden die Menschen also nach großen Empfindungen und Ideen leben, nach Philosophien und Romanen?« fuhr Walter fort. »Ich frage dich nun weiter: Würden sie so leben, daß große Philosophie und Dichtung entstünde, oder so, daß alles, was sie lebten, sozusagen schon Philosophie und Dichtung in Fleisch und Blut wäre? Ich zweifle ja nicht, was du meinst, denn das erste wäre nichts anderes, als man ohnehin heute unter einem Kulturstaat versteht; aber da du das zweite meinst, so übersiehst du, daß Philosophie und Dichtung dort recht überflüssig sein würden. Abgesehen davon, daß man sich dein Leben nach der Art der Kunst, oder wie du es nennen willst, überhaupt nicht vorstellen kann, bedeutet es also auch nichts anderes als das Ende der Kunst!« So schloß er und spielte mit Rücksicht auf Clarisse diesen Trumpf mit Nachdruck aus.
Es wirkte. Sogar Ulrich brauchte eine Weile, bis er sich gefaßt hatte. Aber dann lachte er und fragte: »Weißt du denn nicht, daß jedes vollkommene Leben das Ende der Kunst wäre? Mir scheint, du bist doch selbst auf dem Wege, um der Vollkommenheit deines Lebens willen mit der Kunst Schluß zu machen?«
Er meinte es nicht bös, aber Clarisse horchte auf.
Und Ulrich fuhr fort: »Jedes große Buch atmet diesen Geist aus, der die Schicksale einzelner Personen liebt, weil sie sich mit den Formen nicht vertragen, die ihnen die Gesamtheit aufnötigen will. Es führt zu Entscheidungen, die sich nicht entscheiden lassen; man kann nur ihr Leben wiedergeben. Zieh den Sinn aus allen Dichtungen, und du wirst eine zwar nicht vollständige, aber erfahrungsmäßige und endlose Leugnung in Einzelbeispielen aller gültigen Regeln, Grundsätze und Vorschriften erhalten, auf denen die Gesellschaft ruht, die diese Dichtungen liebt! Vollends ein Gedicht mit seinem Geheimnis schneidet ja den Sinn der Welt, wie er an tausenden alltäglichen Worten hängt, mitten durch und macht ihn zu einem davonfliegenden Ballon. Wenn man das, wie es üblich ist, Schönheit nennt, so sollte Schönheit ein unsagbar rücksichtsloser und grausamerer Umsturz sein, als es je eine politische Revolution gewesen ist!«
Walter war bis in die Lippen blaß geworden. Diese Auffassung der Kunst als eine Lebensverneinung, als einen Widerspruch zum Leben haßte er. Das war in seinen Augen Boheme, Rest eines veralteten Wunsches, den »Bürger« zu ärgern. Die ironische Selbstverständlichkeit, daß es in einer vollendeten Welt keine Schönheit mehr geben könne, weil sie dort zur Überflüssigkeit wird, bemerkte er darin; aber die unausgesprochene Frage seines Freundes hörte er nicht. Denn die Einseitigkeit in dem, was er behauptete, lag auch für Ulrich klar zu Tage. Er hätte ebensogut das Gegenteil davon sagen können, daß Kunst Leugnung sei, denn Kunst ist Liebe; indem sie liebt, macht sie schön, und es gibt vielleicht auf der ganzen Welt kein anderes Mittel, ein Ding oder Wesen schön zu machen, als es zu lieben. Und nur weil auch unsere Liebe bloß aus Stücken besteht, ist die Schönheit so etwas wie Steigerung und Gegensatz. Und es gibt nur das Meer der Liebe, worin die einer Steigerung nicht mehr fähige Vorstellung der Vollkommenheit und die auf Steigerung beruhende der Schönheit eins sind! Wieder einmal hatten Ulrichs Gedanken das »Reich« gestreift, und er hielt unwillig ein. Auch Walter hatte sich inzwischen gesammelt, und nachdem er die Andeutung seines Freundes, man sollte ungefähr so leben, wie man lese, zuerst für eine gewöhnliche und sodann für eine unmögliche Behauptung erklärt hatte, ging er nun dazu über, sie als eine sündhafte und gemeine zu beweisen.
»Wenn ein Mensch« begann er in der gleichen kunstvoll zurückhaltenden Weise wie zuvor »nur deinen Vorschlag zur Grundlage seines Lebens nähme, so müßte er ungefähr – um von anderen Unmöglichkeiten zu schweigen – alles das gutheißen, was eine schöne Idee in ihm anregt; ja sogar alles das, was die Möglichkeit in sich trägt, unter eine solche gefaßt zu werden. Das würde natürlich den allgemeinen Verfall bedeuten, aber da dir diese Seite voraussichtlich gleichgültig ist – oder vielleicht denkst du an jene ungewissen allgemeinen Vorkehrungen, von denen du nichts Näheres gesagt hast,– so möchte ich bloß Auskunft über die persönlichen Folgen. Mir scheint es nicht anders möglich zu sein, als daß ein solcher Mensch dann in allen Fällen, wo er nicht gerade der Dichter seines Lebens ist, schlimmer als ein Tier daran wäre; wenn ihm keine Idee einfiele, würde ihm auch keine Entscheidung einfallen, er wäre einfach für einen großen Teil des Lebens seinen Trieben, Launen, den gewöhnlichen Allerweltsleidenschaften, mit einem Wort, dem Allerunpersönlichsten ausgeliefert, woraus ein Mensch nur besteht, und müßte sozusagen, solange die Obstruktion der oberen Leitung andauert, standhaft mit sich machen lassen, was ihm gerade einfällt!?«
»Er müßte sich dann weigern, etwas zu tun!« antwortete statt Ulrichs Clarisse. »Das ist der aktive Passivismus, dessen man unter Umständen fähig sein muß!«
Walter brachte nicht den Mut auf, sie anzublicken. Die Fähigkeit der Weigerung spielte ja unter ihnen eine große Rolle; Clarisse, im langen, die Füße bedeckenden Nachthemd wie ein kleiner Engel anzusehen, stand aufgesprungen im Bett und deklamierte mit blitzenden Zähnen frei nach Nietzsche. »Wie ein Senkblei werfe ich meine Frage in deine Seele! Du wünschest dir Kind und Ehe, aber ich frage dich: Bist du der Mensch, der ein Kind sich wünschen darf?! Bist du der Siegreiche, der Gebieter deiner Tugenden? Oder reden aus dir Tier und Notdurft…!?«; im Halbdunkel des Schlafzimmers war das ganz grausig anzusehen gewesen, während Walter sie vergeblich in die Polster herab zu locken versuchte. Und nun würde sie in Zukunft also über ein neues Schlagwort verfügen; aktiver Passivismus, dessen man gegebenenfalls fähig sein müsse, das klang ganz nach einem Mann ohne Eigenschaften; vertraute sie sich ihm an? bestärkte er sie am Ende in ihren Eigenheiten? Diese Fragen krümmten sich wie Würmer in Walters Brust, und es wurde ihm beinahe übel. Er wurde jetzt aschfahl, und aus seinem Gesicht wich alle Spannung, so daß es sich kraftlos runzelte.
Ulrich bemerkte es und fragte ihn teilnehmend, ob ihm etwas fehle?
Mit Mühe sagte Walter nein und brachte forsch lächelnd hervor, daß er seinen Unsinn nur zu Ende führen möge.
»Ach Gott im Himmel,« räumte Ulrich nachgiebig ein »du hast ja nicht unrecht. Aber sehr oft haben wir aus einer Art Sportgeist Nachsicht mit Handlungen, die uns selbst schaden, wenn der Gegner sie in einer hübschen Weise durchführt; der Wert der Durchführung konkurriert dann mit dem Wert des Schadens. Sehr oft haben wir auch eine Idee, nach der wir ein Stück weit handeln, aber bald springen Gewohnheit, Beharrung, Nutzen, Einflüsterung für sie ein, weil es nicht anders geht. Ich habe also vielleicht einen Zustand beschrieben, der in keiner Weise bis zu Ende durchführbar ist, aber eines muß man ihm lassen: er ist ganz und gar der bestehende Zustand, in dem wir leben.«
Walter hatte sich wieder beruhigt. »Wenn man die Wahrheit umkehrt, kann man immer etwas sagen, das ebenso wahr wie verkehrt ist« meinte er sanft, ohne zu verbergen, daß ein weiterer Streit keinen Wert mehr für ihn habe. »Es sieht dir ähnlich, von etwas zu behaupten, es sei unmöglich, aber wirklich.«
Allein Clarisse rieb sich sehr energisch die Nase. »Ich finde das doch sehr wichtig,« sagte sie »daß in uns allen etwas Unmögliches ist. Es erklärt so vieles. Ich habe, wie ich zuhörte, den Eindruck gehabt, wenn man uns aufschneiden könnte, so würde unser ganzes Leben vielleicht wie ein Ring aussehen, bloß so rund um etwas.« Sie hatte schon vorher ihren Ehering abgezogen und guckte nun durch seine Öffnung gegen die belichtete Wand. »Ich meine, in seiner Mitte ist doch nichts, und doch sieht er genau so aus, als ob es ihm nur darauf ankäme. Ulrich kann das eben auch nicht gleich vollkommen ausdrücken!«
So endete diese Diskussion leider doch noch mit einem Schmerz für Walter.
Ulrich mochte
ungefähr eine Stunde länger fortgeblieben sein, als er es beim Weggehen angegeben hatte, und als er heimkehrte, wurde ihm gemeldet, daß ein Offizier schon lange auf ihn warte. Er traf oben zu seiner Überraschung General von
Stumm an, der ihn in alter Kameradschaftlichkeit begrüßte. »Lieber Freund,« rief ihm dieser entgegen »du mußt entschuldigen, daß ich dich noch so spät überfalle, aber ich habe vom Dienst nicht früher abkommen können und sitze überdies schon zwei Stunden hier zwischen deiner Büchersammlung, die ordentlich zum Fürchten ist!« Es stellte sich nach einigem Austausch von Höflichkeiten heraus, daß Stumm durch ein dringendes Anliegen hergeführt worden. Er hatte ein Bein unternehmend über das andere geschlagen, was bei seiner Statur ein wenig Mühe machte, streckte den Arm mit der kleinen Hand aus
und erklärte: »Dringend? Ich pflege meinen Referenten, wenn sie mir einen dringenden Akt bringen, zu sagen: Dringend ist nichts auf der Welt außer dem Weg zu einem gewissen Locus. Aber im Ernst gesprochen ist das, was mich zu dir führt, hervorragend wichtig. Ich habe dir schon gesagt, daß ich das Haus deiner Kusine als eine besondere Gelegenheit für mich betrachte, die wichtigsten Zivilfragen der Welt kennenzulernen. Schließlich ist das einmal etwas Nicht-Ärarisches, und ich kann dir versichern, daß es mir kolossal imponiert. Aber andererseits sind wir Militärs, auch wenn wir unsere Schwächen haben, lange nicht so dumm, wie man allgemein glaubt. Ich hoffe, du wirst mir zugeben, daß wir, wenn wir einmal etwas machen, es gründlich und ordentlich tun. Also du gibst es zu? Das habe ich mir auch erwartet, und dann kann ich offen mit dir reden, wenn ich dir trotzdem gestehe, daß ich mich für unseren militärischen Geist schäme. Schäme, habe ich gesagt! Ich bin heute neben dem Feldbischof wohl der Mann in der Armee, der am meisten mit dem Geist zu tun hat. Aber ich kann dir sagen, wenn man unseren militärischen Geist genau anschaut, so hervorragend
er ist, er schaut aus wie ein Frührapport. Du weißt hoffentlich noch, was ein Frührapport ist? Also nicht wahr, da schreibt der Inspektionsoffizier hinein, soviel Mann sind da und Pferde, soviel Mann und Pferde sind nicht da, sie sind krank oder dergleichen, der Ulan Leitomischl ist über die Zeit ausgeblieben und so weiter. Aber warum soviel Mann und Pferde da oder krank sind und so weiter, das schreibt er nicht hinein. Und gerade das ist es, was man immer wissen müßte, wenn man mit Herren vom
Zivil zu tun hat. Die Rede des Soldaten ist kurz, einfach und sachlich, aber ich
habe sehr oft mit Herren von den Zivilministerien zu konferieren, und dann fragen sie bei jeder Gelegenheit, warum das sein soll, was ich vorschlage, und berufen sich auf Rücksichten und Zusammenhänge höherer Natur. Also ich hab – du gibst mir dein Ehrenwort, daß das, was jetzt kommt, unter uns bleibt! – meinem Chef, dem Exzellenz Frost vorgeschlagen oder richtiger gesagt, ich will ihn mehr damit überraschen, daß ich die Gelegenheit bei deiner Kusine benutze, um diese Rücksichten und Zusammenhänge höherer Natur einmal ordentlich kennen zu lernen und, wenn ich so sagen darf, ohne unbescheiden zu sein, für den militärischen Geist heranzuziehen. Schließlich haben wir beim Militär Ärzte, Tierärzte, Apotheker, Geistliche, Auditoren, Intendanten, Ingenieure und Kapellmeister: aber eine zentrale Stelle für den Zivilgeist fehlt noch.«
Ulrich bemerkte jetzt erst, daß Stumm von Bordwehr eine Dienstmappe mitgebracht hatte; sie lehnte zu Füßen des Schreibtisches und war eine jener großen, an einem starken Riemen um die Schultern zu tragenden Rindsledertaschen, die dem Verbringen von Akten in den weitläufigen Baulichkeiten der Ministerien und über die Straße von einer Dienststelle zur anderen dienen. Offenbar war der General mit einer Ordonnanz gekommen, die unten wartete, ohne daß Ulrich sie bemerkt hatte, denn Stumm zog nur mit Mühe die schwere Tasche an seine Knie und ließ das kleine Stahlschloß aufspringen, das ungeheuer kriegstechnisch aussah. »Ich bin nicht müßig gegangen, seit ich eurem Unternehmen beiwohne,« lächelte er, indes sich sein hellblauer Rock beim Bücken an den Goldknöpfen spannte »aber verstehst du, da gibt es Sachen, mit denen ich nicht ganz zurechtkomme.« Er fingerte aus der Mappe eine ganze Anzahl loser, mit sonderbaren Aufzeichnungen und Strichen bedeckter Blätter hervor. »Deine Kusine,« erläuterte er »ich habe mich einmal eingehend mit deiner Kusine darüber besprochen, sie möchte begreiflicherweise, daß aus ihren Bemühungen, unserem Allerhöchsten Herrn ein geistiges Denkmal zu setzen, eine Idee hervorgeht, die gleichsam die rangshöchste unter allen Ideen darstellt, die man heute hat; aber ich habe jetzt schon bemerkt, so sehr ich alle diese Leute bewundern muß, die sie dazu eingeladen hat, daß das verteufelte Schwierigkeiten bereitet. Sagt der eine das, so behauptet der andere das Gegenteil – ist dir das nicht auch schon aufgefallen? – aber was mir wenigstens noch weit schlimmer vorkommt: der Zivilgeist scheint das zu sein, was man bei einem Pferd einen schlechten Fresser nennt. Du erinnerst dich doch noch? So einer Bestie kannst du die doppelte Futterration geben, sie wird trotzdem nicht dicker! Oder sagen wir halt,« verbesserte er sich auf einen kurzen Widerspruch des Hausherrn »meinetwegen kannst du auch sagen, daß er mit jedem Tag dicker wird, aber die Knochen wachsen ihm nicht, und das Fell bleibt glanzlos; was er kriegt, ist nur ein Grasbauch. Also das interessiert mich, weißt du, und ich habe mir vorgenommen, mich um diese Frage zu kümmern, warum da eigentlich keine Ordnung hineinzubringen ist.«
Stumm reichte seinem ehemaligen Leutnant lächelnd das erste der Blätter hin. »Man mag gegen uns sagen, was man will,« erläuterte er »aber auf Ordnung haben wir uns beim Militär immer verstanden. Hier das ist die Konsignation der Hauptideen, die ich aus den Teilnehmern an den Versammlungen bei deiner Kusine herausbekommen habe. Du siehst, wenn man ihn unter vier Augen fragt, hält eigentlich jeder etwas anderes für das Wichtigste.« Ulrich betrachtete das Blatt mit Staunen. Es war nach der Art eines Meldezettels oder eben der militärischen Verzeichnisse durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt, deren Eintragungen aus Worten bestanden, die einer solchen Anlage einigermaßen widerstrebten, denn er las in ärarischer Schönschrift die Namen Jesus Christus; Buddha, Gautama auch Siddharta; Laotse; Luther, Martin; Goethe, Wolfgang; Ganghofer, Ludwig; Chamberlain und viele weitere, die offenbar noch auf einem anderen Blatt ihre Fortsetzung fanden; sodann in einer zweiten Spalte die Worte Christentum, Imperialismus, Jahrhundert des Verkehrs und so weiter, an die sich in anderen Spalten andere Wortsäulen schlossen.
»Ich könnte es auch das Grundbuchsblatt der modernen Kultur nennen,« erläuterte Stumm »denn wir haben das dann erweitert, und es enthält jetzt die Namen der Ideen und ihrer Urheber, von denen wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren bewegt worden sind. Ich habe keine Ahnung davon gehabt, was das für eine Mühe macht!« Da Ulrich wissen wollte, wie er dieses Verzeichnis zustandegebracht, erklärte er gerne den Vorgang nach seinem System. »Ich habe einen Hauptmann, zwei Leutnants und fünf Unteroffiziere dazu gebraucht, um das in so kurzer Zeit fertigzustellen! Wenn wir ganz modern hätten sein dürfen, so würden wir ja an alle Regimenter die Frage geschickt haben ›Wen halten Sie für den größten Menschen?‹, wie man das heute macht, bei den Rundfragen der Zeitungen und dergleichen, weißt du, zugleich mit dem Befehl, das perzentuelle Abstimmungsergebnis anher zu melden; aber beim Militär geht so etwas nicht, weil natürlich kein Truppenkörper etwas anderes melden darf als Se. Majestät. Ich hab dann daran gedacht, erheben zu lassen, welche Bücher am meisten gelesen werden und die höchsten Auflagen haben, aber da hat sich gleich herausgestellt, daß das außer der Bibel die Neujahrsbüchel der Post mit den Tarifen und alten Witzen sind, die jeder Adressat für sein Trinkgeld von seinem Briefträger bekommt, was uns wieder darauf aufmerksam gemacht hat, wie schwierig der Zivilgeist ist, denn im allgemeinen gelten ja doch die Bücher für die besten, die sich für jeden Leser eignen, oder es muß wenigstens, hat man mir gesagt, ein Autor in Deutschland sehr viele Gleichgesinnte haben, damit er für einen ungewöhnlichen Geist gilt. Also, diesen Weg haben wir auch nicht einschlagen können, und wie es schließlich gemacht worden ist, das kann ich dir im Augenblick nicht sagen, das war eine Idee des Korporals Hirsch, gemeinsam mit dem Leutnant Melichar, aber es ist uns gelungen.«
General Stumm legte das Blatt beiseite und nahm mit einer bedeutende Enttäuschungen ankündigenden Miene ein anderes vor. Er hatte nach vollzogener Bestandaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats nicht nur zu seinem Bedauern festgestellt, daß er aus lauter Gegensätzen bestehe, sondern auch zu seinem Erstaunen gefunden, daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen. »Daß mir von den berühmten Leuten bei deiner Kusine jeder etwas anderes sagt, wenn ich ihn um Belehrung bitte, daran habe ich mich schon gewöhnt« meinte er; »aber daß es mir, wenn ich längere Zeit mit ihnen gesprochen habe, trotzdem vorkommt, als ob sie alle das gleiche sagen würden, das ist es, was ich in keiner Weise kapieren kann, und vielleicht reicht mein Kommißverstand einfach nicht dafür aus!« Wovon General Stumms Verstand in solcher Weise geängstigt wurde, war keine Kleinigkeit und hätte eigentlich nicht nur dem Kriegsministerium überlassen bleiben dürfen, obgleich sich zeigen ließe, daß es zum Kriege allerhand beste Beziehungen unterhält. Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen. Das scheint schon so natürlich zu sein, wie daß es Tag und Nacht, heiß und kalt, Liebe und Haß und zu jedem Beugemuskel im menschlichen Körper den widersprechend gesinnten Streckmuskel gibt, und General Stumm wäre ebensowenig wie irgendwer auf den Einfall gekommen, darin etwas Ungewöhnliches zu bemerken, wenn nicht sein Ehrgeiz durch seine Liebe zu Diotima in dieses Abenteuer gestürzt worden wäre. Denn die Liebe begnügt sich nicht damit, daß die Einheit der Natur auf Gegensätzen ruht, sondern sie will in ihrem Verlangen nach zärtlicher Gesinnung eine Einheit ohne Widersprüche, und so hatte der General auf alle mögliche Weise versucht, diese Einheit herzustellen. »Ich habe hier« erzählte er Ulrich, indem er gleichzeitig die dazugehörenden Blätter vorwies, »ein Verzeichnis der Ideenbefehlshaber anlegen lassen, das heißt, es enthält alle Namen, welche in letzter Zeit sozusagen größere Heereskörper von Ideen zum Siege geführt haben; hier dieses andere ist eine Ordre de bataille; das da ein Aufmarschplan; dieses ein Versuch, die Depots oder Waffenplätze festzulegen, aus denen der Nachschub an Gedanken kommt. Aber du bemerkst wohl – ich habe es in der Zeichnung auch deutlich hervorheben lassen –, wenn du eine der heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen betrachtest, daß sie ihren Nachschub an Kombattanten und Ideenmaterial nicht nur aus ihrem eigenen Depot, sondern auch aus dem ihres Gegners bezieht; du siehst, daß sie ihre Front fortwährend verändert und ganz unbegründet plötzlich mit verkehrter Front, gegen ihre eigene Etappe kämpft; du siehst andersherum, daß die Ideen ununterbrochen überlaufen, hin und zurück, so daß du sie bald in der einen, bald in der anderen Schlachtlinie findest: Mit einem Wort, man kann weder einen ordentlichen Etappenplan, noch eine Demarkationslinie, noch sonst etwas aufstellen, und das Ganze ist, mit Respekt zu sagen – woran ich aber andererseits doch wieder nicht glauben kann! – das, was bei uns jeder Vorgesetzte einen Sauhaufen nennen würde!« Stumm ließ einige Dutzend Blätter auf einmal in Ulrichs Hand gleiten. Sie waren bedeckt mit Aufmarschplänen, Bahnlinien, Straßennetzen, Portéeskizzen, Truppenzeichen, Kommandostandorten, Kreisen, Rechtecken, schraffierten Räumen; wie bei einem regelrechten Generalstabselaborat liefen rote, grüne, gelbe, blaue Linien hindurch, und Fähnchen verschiedenster Art und Bedeutung, wie sie ein Jahr später so volkstümlich werden sollten, waren hineingemalt. »Es nützt alles nichts!« seufzte Stumm. »Ich habe die Darstellungsart gewechselt und der Sache militärgeographisch statt strategisch beizukommen versucht, in der Hoffnung, auf diese Weise wenigstens einen festgegliederten Operationsraum zu gewinnen, aber es hat ebensowenig geholfen. Da hast du die oro- und hydrographischen Darstellungsversuche!« Ulrich sah Berggipfel markiert, von denen Verzweigungen ausliefen, die sich an anderer Stelle wieder massierten, Quellen, Flußnetze und Seen. »Ich habe« sagte der General, und in seinem lebenslustigen Auge glomm etwas Gereiztes oder Gehetztes auf, »noch die verschiedensten Versuche angestellt, das Ganze in eine Einheit zu bringen: aber weißt du, wie es ist?! So wie wenn man in Galizien zweiter Klasse reist und sich Filzläuse holt! Es ist das dreckigste Gefühl von Ohnmacht, das ich kenne. Wenn man sich lange zwischen Ideen aufgehalten hat, juckt es einen am ganzen Körper, und man bekommt noch nicht Ruhe, wenn man sich bis aufs Blut kratzt!«
Der Jüngere mußte über diese kräftige Darstellung lachen. Aber der General bat: »Nein, lach nicht! Ich habe mir gedacht: Du bist ein hervorragender Zivilist geworden; in deiner Stellung wirst du die Sache verstehn, aber du wirst auch mich verstehen. Ich bin zu dir gekommen, damit du mir hilfst. Ich habe viel zu viel Respekt vor allem, was Geist ist, als daß ich glauben könnte, daß ich im Recht bin!«
»Du nimmst das Denken viel zu ernst, Herr Oberstleutnant« tröstete ihn Ulrich. Er hatte unwillkürlich Oberstleutnant gesagt und entschuldigte sich: »Du hast mich so angenehm in die Vergangenheit zurückversetzt, General Stumm, wo du mich manchmal im Kasino zum Philosophieren in eine Ecke kommandiert hast. Aber ich wiederhole dir, man darf das Denken nicht so ernst nehmen, wie du es augenblicklich tust.«
»Nicht ernst nehmen?!« stöhnte Stumm. »Aber ich kann nicht mehr leben ohne eine höhere Ordnung in meinem Kopf! Verstehst du das nicht? Mich schaudert einfach, wenn ich mich daran erinnere, wie lange ich ohne sie auf dem Exerzierplatz und in der Kaserne, zwischen Offizierswitzen und Weibergeschichten gelebt habe!«
Sie setzten sich zu Tisch; Ulrich war gerührt von den kindlichen Einfällen, die der General mit Mannesmut ausführte, und der unverwüstlichen Jugendlichkeit, die ein rechtzeitiger Aufenthalt in kleinen Garnisonen verleiht. Er hatte den Genossen versunkener Jahre eingeladen, sein Abendbrot mit ihm zu teilen, und der General stand so sehr unter dem Eindruck des Wunsches, an seinen Geheimnissen teilzuhaben, daß er jedes Scheibchen Wurst mit Aufmerksamkeit auf die Gabel nahm. – »Deine Kusine« sagte er und hob das Weinglas »ist die bewundernswerteste Frau, die ich kenne. Man sagt mit Recht, daß sie eine zweite Diotima sei, ich habe so etwas noch nie gesehn. Weißt du, meine Frau, du kennst sie nicht, ich kann in keiner Weise klagen, und Kinder haben wir auch: aber so ein Weib wie Diotima, das ist doch ganz etwas anderes! Wenn Empfang ist, stelle ich mich manchmal hinter sie: Eine imponierend weibliche Fülle! Und dabei spricht sie auf der vorderen Seite mit irgendeinem hervorragenden Zivilisten gleichzeitig so gelehrt, daß ich mir am liebsten Notizen machen möchte! Und der Sektionschef, mit dem sie verheiratet ist, weiß absolut nicht, was er an ihr hat. Ich bitte um Verzeihung, wenn dir dieser Tuzzi vielleicht besonders sympathisch sein sollte, aber ich kann ihn nicht ausstehn! Der schleicht bloß herum und lächelt, als ob er wüßte, wo Bartel den Most holt, und es uns nicht verraten wollte. Und das soll er mir nicht vormachen, denn bei aller meiner Verehrung für das Zivil, die Regierungsbeamten nehmen darin den letzten Platz ein; die sind nichts als eine Art ziviles Militär, die mit uns bei jeder Gelegenheit um den Vorrang streiten und dabei eine so unverschämte Höflichkeit haben wie eine Katz, wenn sie auf einem Baum sitzt und einen Hund anschaut. Da ist der Dr. Arnheim ein anderes Kaliber« plauderte Stumm weiter; »vielleicht auch eingebildet, aber solche Überlegenheit muß man eben anerkennen.« Er hatte offenbar ein wenig rasch getrunken, nach dem vielen Sprechen, denn er wurde behaglich und vertraulich. »Ich weiß nicht, was das ist,« fuhr er fort »wahrscheinlich verstehe ich es nicht, weil man heute selbst schon einen so komplizierten Intellekt hat, aber obgleich ich doch selbst deine Kusine bewundere, als ob ich – also ich muß geradezu sagen, als ob ich einen zu großen Bissen im Hals stecken hätte! – so ist es mir doch auch eine Erleichterung, daß sie in den Arnheim verliebt ist.«
»Wie? Du bist sicher, daß sie miteinander etwas haben?« Ulrich hatte das etwas lebhaft gefragt, obgleich es ihm eigentlich nicht nahegehen sollte; Stumm glotzte ihn mit seinen kurzsichtigen, von der Erregung noch getrübten Augen mißtrauisch an und setzte seinen Zwicker auf. »Ich habe nicht behauptet, daß er sie gehabt hat« entgegnete er in unverblümter Offiziersweise, steckte seinen Zwicker wieder ein und fügte ganz unsoldatisch hinzu: »Ich würde aber auch nichts dagegen haben; hol mich der Teufel, ich habe dir schon gesagt, daß man in dieser Gesellschaft einen komplizierten Intellekt bekommt; ich bin gewiß kein Buserant, aber wenn ich mir die Zärtlichkeit vorstelle, die Diotima diesem Mann schenken könnte, dann fühle auch ich Zärtlichkeiten für ihn, und umgekehrt ist mir, als ob es meine eigenen Küsse wären, die er Diotima gibt.«
»Er gibt ihr Küsse?«
»Aber das weiß ich doch nicht, ich spioniere ihnen ja nicht nach. Ich denk mir nur so, wenn. Ich versteh mich eben selbst nicht. Übrigens habe ich schon einmal gesehn, wie er ihre Hand gefangen hat, als sie geglaubt haben, daß niemand zusieht, und da sind sie eine Weile so still gewesen, wie wenn ›Kniet nieder zum Gebet, Tschako ab!‹ kommandiert worden wäre und dann hat sie ihn ganz leise etwas gebeten, und er hat etwas darauf geantwortet, was ich mir beides wörtlich gemerkt habe, weil es so schwer verständlich ist; nämlich sie hat gesagt: ›Ach, wenn man nur den erlösenden Gedanken fände!‹ und er hat geantwortet: ›Nur ein reiner, ungebrochener Liebesgedanke kann uns die Erlösung bringen!‹ Offenbar hatte er das zu persönlich aufgefaßt, denn sie hat bestimmt den erlösenden Gedanken gemeint, den sie für ihr großes Unternehmen braucht –: Was lachst du? Tu dir nur keinen Zwang an, ich habe nun einmal immer schon meine Eigenheiten gehabt, und jetzt habe ich mir in den Kopf gesetzt, ihr zu helfen! Das muß sich machen lassen; es gibt so viele Gedanken, und einer muß schließlich der erlösende sein! Du mußt mir bloß an die Hand gehn!«
»Lieber General,« wiederholte Ulrich »ich kann dir bloß noch einmal sagen, du nimmst das Denken zu ernst. Aber da du Wert darauf legst, kann ich dir ja zu erklären versuchen, wie ein Zivilist denkt, so gut ich es vermag.« Sie waren an die Zigarren gelangt, und er begann: »Du bist erstens auf einem falschen Weg, General; der Geist ist nicht im Zivil zu finden, und das Körperliche beim Militär, wie du glaubst, sondern es verhält sich genau umgekehrt! Denn Geist ist Ordnung, und wo gibt es mehr Ordnung als beim Militär? Alle Halskragen haben dort eine Höhe von vier Zentimetern, die Zahl der Knöpfe ist genau festgesetzt, und selbst in den träumereichsten Nächten stehen die Betten schnurgerade an den Wänden! Die Aufstellung einer Eskadron in entwickelter Linie, die Massierung eines Regiments, die rechte Lage einer Kopfriemenschnalle sind also geistige Güter von hoher Bedeutung, oder es gibt geistige Güter überhaupt nicht!«
»Halte deine Großmutter zum Narren!« knurrte der General vorsichtig, der im Zweifel war, ob er seinen Ohren oder dem genossenen Wein nicht trauen sollte.
»Du bist vorschnell« beharrte Ulrich. »Wissenschaft ist nur dort möglich, wo sich die Geschehnisse wiederholen oder doch kontrollieren lassen, und wo gäbe es mehr Wiederholung und Kontrolle als beim Militär? Ein Würfel wäre kein Würfel, wenn er nicht um neun Uhr so rechteckig wäre wie um sieben. Die Gesetze der Planetenbahnen sind eine Art Schießvorschrift. Und wir könnten uns überhaupt von nichts einen Begriff oder ein Urteil machen, wenn alles nur einmal vorüberhuschte. Was etwas gelten soll und einen Namen tragen, das muß sich wiederholen lassen, muß in vielen Exemplaren vorhanden sein, und wenn du noch nie den Mond gesehen hättest, würdest du ihn für eine Taschenlampe halten; nebenbei bemerkt, die große Verlegenheit, die Gott der Wissenschaft bereitet, besteht darin, daß er nur ein einzigesmal gesehen worden ist, und das bei Erschaffung der Welt, ehe noch geschulte Beobachter da waren.«
Man muß sich in Stumm von Bordwehr versetzen; seit der Kadettenschule war ihm alles vorgeschrieben worden, von der Form der Kappe bis zum Heiratskonsens, und er verspürte wenig Neigung, seinen Geist solchen Erklärungen zu öffnen. – »Lieber Freund,« entgegnete er tückisch »das mag alles sein, aber es geht mich eigentlich nichts an; du machst ja ganz gute Witze, wenn du sagst, daß wir beim Militär die Wissenschaft erfunden haben, aber ich rede nicht von der Wissenschaft, sondern, wie deine Kusine sagt, von der Seele, und wenn sie von der Seele spricht, dann möchte ich mich am liebsten nackt ausziehen, so wenig paßt das zu einer Uniform!«
»Lieber Stumm,« fuhr Ulrich unbeirrt fort »sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicherweise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Verstandes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage geradezu automatisch zu erwarten ist! Wie könnte man von allen Menschen Tugend verlangen, wenn eine tugendhafte Handlung nicht eine solche wäre, die sich beliebig oft wiederholen ließe?! Ich könnte dir noch viele andere solche Beispiele nennen, und wenn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstande schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Reglement, lieber Stumm, und es hat die zivile Seele merkwürdige Verwandtschaft mit dem Militär. Man könnte sagen, daß sie sich an dieses Vorbild, an das sie nie ganz heranreicht, anklammert, wo sie nur kann. Und wo ihr das nicht möglich ist, ist sie wie ein Kind, das man allein gelassen hat. Nimm bloß die Schönheit einer Frau zum Beispiel: was dich als Schönheit überrascht und überwältigt, wovon du glaubst, daß du es zum erstenmal in deinem Leben erblickst, das hast du innerlich längst schon gekannt und gesucht, davon war immer ein Vorglanz in deinen Augen, der jetzt bloß zur vollen Tageshelle verstärkt wird; dagegen, wenn es sich wirklich um Liebe auf den ersten Blick, um Schönheit handelt, die du noch nie wahrgenommen hast, so weißt du einfach nicht, was du damit anfangen sollst; dem ist nichts Ähnliches vorangegangen, du weißt keinen Namen dafür, du hast kein Gefühl als Antwort, du bist einfach grenzenlos verwirrt, geblendet, in ein blindes Staunen, in einen trottelhaften Stumpfsinn versetzt, der mit Glück kaum noch etwas gemeinsam zu haben scheint –«
Hier unterbrach der General lebhaft seinen Freund. Er hatte ihm bisher mit jener Geübtheit zugehört, die man auf dem Exerzierplatz an dem Tadel und den Belehrungen seiner Vorgesetzten erwirbt, die man nötigenfalls wiederholen können muß und doch nicht in sich aufnehmen darf, weil man sonst ebensogut auf einem ungesattelten Igel nachhause reiten könnte; jetzt hatte ihn aber Ulrich getroffen, und er rief heftig aus: »Der Wahrheit die Ehre, das beschreibst du hervorragend richtig! Wenn ich mich so recht in die Bewunderung für deine Kusine versenke, so löst sich alles in mir in nichts auf. Und wenn ich mich ganz angestrengt zusammennehme, damit mir endlich eine Idee einfalle, mit der ich ihr nützen könnte, so entsteht ebenfalls eine äußerst unangenehme Leere in mir; trottelhaft darf man das wohl nicht nennen, aber sehr ähnlich ist es bestimmt. Und du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, daß wir Militärs ganz ordentlich denken; daß der Zivilverstand – also daß wir sein Vorbild sein sollen, das muß ich ablehnen, das ist wohl nur ein Witz von dir! – aber daß wir den gleichen Verstand haben, das denk ich mir auch manchmal; und was darüber hinausgeht, meinst du, also alle diese Dinge, die uns Soldaten so ungemein zivilistisch vorkommen, wie Seele, Tugend, Innigkeit, Gemüt – der Arnheim kann unglaublich geläufig damit umgehn, aber du meinst, daß das zwar Geist ist, ja natürlich, du sagst ja wohl, daß gerade das diese sogenannten Rücksichten höherer Natur sind, aber du sagst eben auch, daß man ganz blöd davon wird, und das stimmt alles ausgezeichnet, aber schließlich ist der Zivilgeist doch der überlegene, und das willst du doch gewiß nicht bestreiten, und jetzt frage ich dich, wie stimmt denn das?«
»Ich habe vorhin erstens gesagt, und das hast du vergessen; ich habe erstens gesagt, daß der Geist beim Militär zu Hause ist, und nun sage ich zweitens: beim Zivil das Körperliche –«
»Aber das ist doch Unsinn?« lehnte sich Stumm mißtrauisch auf. Die körperliche Überlegenheit des Militärs war ein Dogma genau so wie die Überzeugung, daß der Stand des Offiziers dem Thron am nächsten stehe; und wenn sich Stumm auch nie für einen Athleten gehalten hatte, so meldete sich in dem Augenblick, wo man daran zu zweifeln schien, doch die Gewißheit, daß ein Zivilbauch, bei gleichem Vorhandensein, noch um einiges weicher sein müsse als der seine.
»Nicht mehr oder weniger Unsinn als alles andere« verteidigte sich Ulrich. »Aber du mußt mich ausreden lassen. Siehst du, es mögen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, daß der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von den Dreiecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phonogramm kannte. Diese Überhebung ist uns seither gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben.«
»Das stimmt zu meinen Untersuchungen« bestätigte Stumm.
»Bloß ist man nicht so eifrig wie du, eine Zusammenfassung zu suchen« fuhr Ulrich fort. »Nach den vergangenen Anstrengungen sind wir in einen Zeitabschnitt des Zurücksinkens geraten. Stell dir bloß vor, wie das heute vor sich geht: Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Haß und beim Hunger, wo der Geschmack verschieden sein muß, damit jeder zum Seinen kommt.«
»Ausgezeichnet!« rief Stumm, wieder gewonnen, aus. »Etwas Ähnliches habe ich selbst schon Diotima gesagt! Aber bedenkst du nicht, daß man in dieser Unordnung die Rechtfertigung des Militärs sehen müßte, und ich schäme mich doch, auch nur einen Augenblick daran zu glauben!«
»Ich würde dir raten,« meinte Ulrich »Diotima den Tip zu geben, daß Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen scheint; denn das einzige, was den Ideen einigermaßen Halt gibt, ist der Körper, zu dem sie gehören, und dabei hättest du als Offizier überdies einen gewissen Vorsprung.«
Der kleine, dicke General zuckte zurück. »Ich bin, was Körperkultur betrifft, nicht schöner wie ein geschälter Pfirsich« sagte er nach einer Weile mit einer bitteren Genugtuung. »Und ich muß dir auch sagen,« fügte er hinzu »daß ich an Diotima nur auf eine ordentliche Weise denke und auf ebensolche Art vor ihr zu bestehen wünsche.«
»Schade,« meinte Ulrich »deine Absicht wäre eines Napoleon würdig, aber du wirst kein geeignetes Jahrhundert dafür vorfinden!«
Der General steckte den Spott mit der Würde ein, die ihm der Gedanke verlieh, für die Dame seines Herzens zu leiden, und sagte nach einigem Nachdenken: »Ich danke dir jedenfalls für deine interessanten Ratschläge.«
Ulrich bemerkte jetzt erst, daß Stumm von Bordwehr eine Dienstmappe mitgebracht hatte; sie lehnte zu Füßen des Schreibtisches und war eine jener großen, an einem starken Riemen um die Schultern zu tragenden Rindsledertaschen, die dem Verbringen von Akten in den weitläufigen Baulichkeiten der Ministerien und über die Straße von einer Dienststelle zur anderen dienen. Offenbar war der General mit einer Ordonnanz gekommen, die unten wartete, ohne daß Ulrich sie bemerkt hatte, denn Stumm zog nur mit Mühe die schwere Tasche an seine Knie und ließ das kleine Stahlschloß aufspringen, das ungeheuer kriegstechnisch aussah. »Ich bin nicht müßig gegangen, seit ich eurem Unternehmen beiwohne,« lächelte er, indes sich sein hellblauer Rock beim Bücken an den Goldknöpfen spannte »aber verstehst du, da gibt es Sachen, mit denen ich nicht ganz zurechtkomme.« Er fingerte aus der Mappe eine ganze Anzahl loser, mit sonderbaren Aufzeichnungen und Strichen bedeckter Blätter hervor. »Deine Kusine,« erläuterte er »ich habe mich einmal eingehend mit deiner Kusine darüber besprochen, sie möchte begreiflicherweise, daß aus ihren Bemühungen, unserem Allerhöchsten Herrn ein geistiges Denkmal zu setzen, eine Idee hervorgeht, die gleichsam die rangshöchste unter allen Ideen darstellt, die man heute hat; aber ich habe jetzt schon bemerkt, so sehr ich alle diese Leute bewundern muß, die sie dazu eingeladen hat, daß das verteufelte Schwierigkeiten bereitet. Sagt der eine das, so behauptet der andere das Gegenteil – ist dir das nicht auch schon aufgefallen? – aber was mir wenigstens noch weit schlimmer vorkommt: der Zivilgeist scheint das zu sein, was man bei einem Pferd einen schlechten Fresser nennt. Du erinnerst dich doch noch? So einer Bestie kannst du die doppelte Futterration geben, sie wird trotzdem nicht dicker! Oder sagen wir halt,« verbesserte er sich auf einen kurzen Widerspruch des Hausherrn »meinetwegen kannst du auch sagen, daß er mit jedem Tag dicker wird, aber die Knochen wachsen ihm nicht, und das Fell bleibt glanzlos; was er kriegt, ist nur ein Grasbauch. Also das interessiert mich, weißt du, und ich habe mir vorgenommen, mich um diese Frage zu kümmern, warum da eigentlich keine Ordnung hineinzubringen ist.«
Stumm reichte seinem ehemaligen Leutnant lächelnd das erste der Blätter hin. »Man mag gegen uns sagen, was man will,« erläuterte er »aber auf Ordnung haben wir uns beim Militär immer verstanden. Hier das ist die Konsignation der Hauptideen, die ich aus den Teilnehmern an den Versammlungen bei deiner Kusine herausbekommen habe. Du siehst, wenn man ihn unter vier Augen fragt, hält eigentlich jeder etwas anderes für das Wichtigste.« Ulrich betrachtete das Blatt mit Staunen. Es war nach der Art eines Meldezettels oder eben der militärischen Verzeichnisse durch Kreuz- und Querlinien in Felder geteilt, deren Eintragungen aus Worten bestanden, die einer solchen Anlage einigermaßen widerstrebten, denn er las in ärarischer Schönschrift die Namen Jesus Christus; Buddha, Gautama auch Siddharta; Laotse; Luther, Martin; Goethe, Wolfgang; Ganghofer, Ludwig; Chamberlain und viele weitere, die offenbar noch auf einem anderen Blatt ihre Fortsetzung fanden; sodann in einer zweiten Spalte die Worte Christentum, Imperialismus, Jahrhundert des Verkehrs und so weiter, an die sich in anderen Spalten andere Wortsäulen schlossen.
»Ich könnte es auch das Grundbuchsblatt der modernen Kultur nennen,« erläuterte Stumm »denn wir haben das dann erweitert, und es enthält jetzt die Namen der Ideen und ihrer Urheber, von denen wir in den letzten fünfundzwanzig Jahren bewegt worden sind. Ich habe keine Ahnung davon gehabt, was das für eine Mühe macht!« Da Ulrich wissen wollte, wie er dieses Verzeichnis zustandegebracht, erklärte er gerne den Vorgang nach seinem System. »Ich habe einen Hauptmann, zwei Leutnants und fünf Unteroffiziere dazu gebraucht, um das in so kurzer Zeit fertigzustellen! Wenn wir ganz modern hätten sein dürfen, so würden wir ja an alle Regimenter die Frage geschickt haben ›Wen halten Sie für den größten Menschen?‹, wie man das heute macht, bei den Rundfragen der Zeitungen und dergleichen, weißt du, zugleich mit dem Befehl, das perzentuelle Abstimmungsergebnis anher zu melden; aber beim Militär geht so etwas nicht, weil natürlich kein Truppenkörper etwas anderes melden darf als Se. Majestät. Ich hab dann daran gedacht, erheben zu lassen, welche Bücher am meisten gelesen werden und die höchsten Auflagen haben, aber da hat sich gleich herausgestellt, daß das außer der Bibel die Neujahrsbüchel der Post mit den Tarifen und alten Witzen sind, die jeder Adressat für sein Trinkgeld von seinem Briefträger bekommt, was uns wieder darauf aufmerksam gemacht hat, wie schwierig der Zivilgeist ist, denn im allgemeinen gelten ja doch die Bücher für die besten, die sich für jeden Leser eignen, oder es muß wenigstens, hat man mir gesagt, ein Autor in Deutschland sehr viele Gleichgesinnte haben, damit er für einen ungewöhnlichen Geist gilt. Also, diesen Weg haben wir auch nicht einschlagen können, und wie es schließlich gemacht worden ist, das kann ich dir im Augenblick nicht sagen, das war eine Idee des Korporals Hirsch, gemeinsam mit dem Leutnant Melichar, aber es ist uns gelungen.«
General Stumm legte das Blatt beiseite und nahm mit einer bedeutende Enttäuschungen ankündigenden Miene ein anderes vor. Er hatte nach vollzogener Bestandaufnahme des mitteleuropäischen Ideenvorrats nicht nur zu seinem Bedauern festgestellt, daß er aus lauter Gegensätzen bestehe, sondern auch zu seinem Erstaunen gefunden, daß diese Gegensätze bei genauerer Beschäftigung mit ihnen ineinander überzugehen anfangen. »Daß mir von den berühmten Leuten bei deiner Kusine jeder etwas anderes sagt, wenn ich ihn um Belehrung bitte, daran habe ich mich schon gewöhnt« meinte er; »aber daß es mir, wenn ich längere Zeit mit ihnen gesprochen habe, trotzdem vorkommt, als ob sie alle das gleiche sagen würden, das ist es, was ich in keiner Weise kapieren kann, und vielleicht reicht mein Kommißverstand einfach nicht dafür aus!« Wovon General Stumms Verstand in solcher Weise geängstigt wurde, war keine Kleinigkeit und hätte eigentlich nicht nur dem Kriegsministerium überlassen bleiben dürfen, obgleich sich zeigen ließe, daß es zum Kriege allerhand beste Beziehungen unterhält. Dem gegenwärtigen Zeitalter sind eine Anzahl großer Ideen geschenkt worden und zu jeder Idee durch eine besondere Güte des Schicksals gleich auch ihre Gegenidee, so daß Individualismus und Kollektivismus, Nationalismus und Internationalismus, Sozialismus und Kapitalismus, Imperialismus und Pazifismus, Rationalismus und Aberglaube gleich gut darin zu Hause sind, wozu sich noch die unverbrauchten Reste unzähliger anderer Gegensätze von gleichem oder geringerem Gegenwartswert gesellen. Das scheint schon so natürlich zu sein, wie daß es Tag und Nacht, heiß und kalt, Liebe und Haß und zu jedem Beugemuskel im menschlichen Körper den widersprechend gesinnten Streckmuskel gibt, und General Stumm wäre ebensowenig wie irgendwer auf den Einfall gekommen, darin etwas Ungewöhnliches zu bemerken, wenn nicht sein Ehrgeiz durch seine Liebe zu Diotima in dieses Abenteuer gestürzt worden wäre. Denn die Liebe begnügt sich nicht damit, daß die Einheit der Natur auf Gegensätzen ruht, sondern sie will in ihrem Verlangen nach zärtlicher Gesinnung eine Einheit ohne Widersprüche, und so hatte der General auf alle mögliche Weise versucht, diese Einheit herzustellen. »Ich habe hier« erzählte er Ulrich, indem er gleichzeitig die dazugehörenden Blätter vorwies, »ein Verzeichnis der Ideenbefehlshaber anlegen lassen, das heißt, es enthält alle Namen, welche in letzter Zeit sozusagen größere Heereskörper von Ideen zum Siege geführt haben; hier dieses andere ist eine Ordre de bataille; das da ein Aufmarschplan; dieses ein Versuch, die Depots oder Waffenplätze festzulegen, aus denen der Nachschub an Gedanken kommt. Aber du bemerkst wohl – ich habe es in der Zeichnung auch deutlich hervorheben lassen –, wenn du eine der heute im Gefecht stehenden Gedankengruppen betrachtest, daß sie ihren Nachschub an Kombattanten und Ideenmaterial nicht nur aus ihrem eigenen Depot, sondern auch aus dem ihres Gegners bezieht; du siehst, daß sie ihre Front fortwährend verändert und ganz unbegründet plötzlich mit verkehrter Front, gegen ihre eigene Etappe kämpft; du siehst andersherum, daß die Ideen ununterbrochen überlaufen, hin und zurück, so daß du sie bald in der einen, bald in der anderen Schlachtlinie findest: Mit einem Wort, man kann weder einen ordentlichen Etappenplan, noch eine Demarkationslinie, noch sonst etwas aufstellen, und das Ganze ist, mit Respekt zu sagen – woran ich aber andererseits doch wieder nicht glauben kann! – das, was bei uns jeder Vorgesetzte einen Sauhaufen nennen würde!« Stumm ließ einige Dutzend Blätter auf einmal in Ulrichs Hand gleiten. Sie waren bedeckt mit Aufmarschplänen, Bahnlinien, Straßennetzen, Portéeskizzen, Truppenzeichen, Kommandostandorten, Kreisen, Rechtecken, schraffierten Räumen; wie bei einem regelrechten Generalstabselaborat liefen rote, grüne, gelbe, blaue Linien hindurch, und Fähnchen verschiedenster Art und Bedeutung, wie sie ein Jahr später so volkstümlich werden sollten, waren hineingemalt. »Es nützt alles nichts!« seufzte Stumm. »Ich habe die Darstellungsart gewechselt und der Sache militärgeographisch statt strategisch beizukommen versucht, in der Hoffnung, auf diese Weise wenigstens einen festgegliederten Operationsraum zu gewinnen, aber es hat ebensowenig geholfen. Da hast du die oro- und hydrographischen Darstellungsversuche!« Ulrich sah Berggipfel markiert, von denen Verzweigungen ausliefen, die sich an anderer Stelle wieder massierten, Quellen, Flußnetze und Seen. »Ich habe« sagte der General, und in seinem lebenslustigen Auge glomm etwas Gereiztes oder Gehetztes auf, »noch die verschiedensten Versuche angestellt, das Ganze in eine Einheit zu bringen: aber weißt du, wie es ist?! So wie wenn man in Galizien zweiter Klasse reist und sich Filzläuse holt! Es ist das dreckigste Gefühl von Ohnmacht, das ich kenne. Wenn man sich lange zwischen Ideen aufgehalten hat, juckt es einen am ganzen Körper, und man bekommt noch nicht Ruhe, wenn man sich bis aufs Blut kratzt!«
Der Jüngere mußte über diese kräftige Darstellung lachen. Aber der General bat: »Nein, lach nicht! Ich habe mir gedacht: Du bist ein hervorragender Zivilist geworden; in deiner Stellung wirst du die Sache verstehn, aber du wirst auch mich verstehen. Ich bin zu dir gekommen, damit du mir hilfst. Ich habe viel zu viel Respekt vor allem, was Geist ist, als daß ich glauben könnte, daß ich im Recht bin!«
»Du nimmst das Denken viel zu ernst, Herr Oberstleutnant« tröstete ihn Ulrich. Er hatte unwillkürlich Oberstleutnant gesagt und entschuldigte sich: »Du hast mich so angenehm in die Vergangenheit zurückversetzt, General Stumm, wo du mich manchmal im Kasino zum Philosophieren in eine Ecke kommandiert hast. Aber ich wiederhole dir, man darf das Denken nicht so ernst nehmen, wie du es augenblicklich tust.«
»Nicht ernst nehmen?!« stöhnte Stumm. »Aber ich kann nicht mehr leben ohne eine höhere Ordnung in meinem Kopf! Verstehst du das nicht? Mich schaudert einfach, wenn ich mich daran erinnere, wie lange ich ohne sie auf dem Exerzierplatz und in der Kaserne, zwischen Offizierswitzen und Weibergeschichten gelebt habe!«
Sie setzten sich zu Tisch; Ulrich war gerührt von den kindlichen Einfällen, die der General mit Mannesmut ausführte, und der unverwüstlichen Jugendlichkeit, die ein rechtzeitiger Aufenthalt in kleinen Garnisonen verleiht. Er hatte den Genossen versunkener Jahre eingeladen, sein Abendbrot mit ihm zu teilen, und der General stand so sehr unter dem Eindruck des Wunsches, an seinen Geheimnissen teilzuhaben, daß er jedes Scheibchen Wurst mit Aufmerksamkeit auf die Gabel nahm. – »Deine Kusine« sagte er und hob das Weinglas »ist die bewundernswerteste Frau, die ich kenne. Man sagt mit Recht, daß sie eine zweite Diotima sei, ich habe so etwas noch nie gesehn. Weißt du, meine Frau, du kennst sie nicht, ich kann in keiner Weise klagen, und Kinder haben wir auch: aber so ein Weib wie Diotima, das ist doch ganz etwas anderes! Wenn Empfang ist, stelle ich mich manchmal hinter sie: Eine imponierend weibliche Fülle! Und dabei spricht sie auf der vorderen Seite mit irgendeinem hervorragenden Zivilisten gleichzeitig so gelehrt, daß ich mir am liebsten Notizen machen möchte! Und der Sektionschef, mit dem sie verheiratet ist, weiß absolut nicht, was er an ihr hat. Ich bitte um Verzeihung, wenn dir dieser Tuzzi vielleicht besonders sympathisch sein sollte, aber ich kann ihn nicht ausstehn! Der schleicht bloß herum und lächelt, als ob er wüßte, wo Bartel den Most holt, und es uns nicht verraten wollte. Und das soll er mir nicht vormachen, denn bei aller meiner Verehrung für das Zivil, die Regierungsbeamten nehmen darin den letzten Platz ein; die sind nichts als eine Art ziviles Militär, die mit uns bei jeder Gelegenheit um den Vorrang streiten und dabei eine so unverschämte Höflichkeit haben wie eine Katz, wenn sie auf einem Baum sitzt und einen Hund anschaut. Da ist der Dr. Arnheim ein anderes Kaliber« plauderte Stumm weiter; »vielleicht auch eingebildet, aber solche Überlegenheit muß man eben anerkennen.« Er hatte offenbar ein wenig rasch getrunken, nach dem vielen Sprechen, denn er wurde behaglich und vertraulich. »Ich weiß nicht, was das ist,« fuhr er fort »wahrscheinlich verstehe ich es nicht, weil man heute selbst schon einen so komplizierten Intellekt hat, aber obgleich ich doch selbst deine Kusine bewundere, als ob ich – also ich muß geradezu sagen, als ob ich einen zu großen Bissen im Hals stecken hätte! – so ist es mir doch auch eine Erleichterung, daß sie in den Arnheim verliebt ist.«
»Wie? Du bist sicher, daß sie miteinander etwas haben?« Ulrich hatte das etwas lebhaft gefragt, obgleich es ihm eigentlich nicht nahegehen sollte; Stumm glotzte ihn mit seinen kurzsichtigen, von der Erregung noch getrübten Augen mißtrauisch an und setzte seinen Zwicker auf. »Ich habe nicht behauptet, daß er sie gehabt hat« entgegnete er in unverblümter Offiziersweise, steckte seinen Zwicker wieder ein und fügte ganz unsoldatisch hinzu: »Ich würde aber auch nichts dagegen haben; hol mich der Teufel, ich habe dir schon gesagt, daß man in dieser Gesellschaft einen komplizierten Intellekt bekommt; ich bin gewiß kein Buserant, aber wenn ich mir die Zärtlichkeit vorstelle, die Diotima diesem Mann schenken könnte, dann fühle auch ich Zärtlichkeiten für ihn, und umgekehrt ist mir, als ob es meine eigenen Küsse wären, die er Diotima gibt.«
»Er gibt ihr Küsse?«
»Aber das weiß ich doch nicht, ich spioniere ihnen ja nicht nach. Ich denk mir nur so, wenn. Ich versteh mich eben selbst nicht. Übrigens habe ich schon einmal gesehn, wie er ihre Hand gefangen hat, als sie geglaubt haben, daß niemand zusieht, und da sind sie eine Weile so still gewesen, wie wenn ›Kniet nieder zum Gebet, Tschako ab!‹ kommandiert worden wäre und dann hat sie ihn ganz leise etwas gebeten, und er hat etwas darauf geantwortet, was ich mir beides wörtlich gemerkt habe, weil es so schwer verständlich ist; nämlich sie hat gesagt: ›Ach, wenn man nur den erlösenden Gedanken fände!‹ und er hat geantwortet: ›Nur ein reiner, ungebrochener Liebesgedanke kann uns die Erlösung bringen!‹ Offenbar hatte er das zu persönlich aufgefaßt, denn sie hat bestimmt den erlösenden Gedanken gemeint, den sie für ihr großes Unternehmen braucht –: Was lachst du? Tu dir nur keinen Zwang an, ich habe nun einmal immer schon meine Eigenheiten gehabt, und jetzt habe ich mir in den Kopf gesetzt, ihr zu helfen! Das muß sich machen lassen; es gibt so viele Gedanken, und einer muß schließlich der erlösende sein! Du mußt mir bloß an die Hand gehn!«
»Lieber General,« wiederholte Ulrich »ich kann dir bloß noch einmal sagen, du nimmst das Denken zu ernst. Aber da du Wert darauf legst, kann ich dir ja zu erklären versuchen, wie ein Zivilist denkt, so gut ich es vermag.« Sie waren an die Zigarren gelangt, und er begann: »Du bist erstens auf einem falschen Weg, General; der Geist ist nicht im Zivil zu finden, und das Körperliche beim Militär, wie du glaubst, sondern es verhält sich genau umgekehrt! Denn Geist ist Ordnung, und wo gibt es mehr Ordnung als beim Militär? Alle Halskragen haben dort eine Höhe von vier Zentimetern, die Zahl der Knöpfe ist genau festgesetzt, und selbst in den träumereichsten Nächten stehen die Betten schnurgerade an den Wänden! Die Aufstellung einer Eskadron in entwickelter Linie, die Massierung eines Regiments, die rechte Lage einer Kopfriemenschnalle sind also geistige Güter von hoher Bedeutung, oder es gibt geistige Güter überhaupt nicht!«
»Halte deine Großmutter zum Narren!« knurrte der General vorsichtig, der im Zweifel war, ob er seinen Ohren oder dem genossenen Wein nicht trauen sollte.
»Du bist vorschnell« beharrte Ulrich. »Wissenschaft ist nur dort möglich, wo sich die Geschehnisse wiederholen oder doch kontrollieren lassen, und wo gäbe es mehr Wiederholung und Kontrolle als beim Militär? Ein Würfel wäre kein Würfel, wenn er nicht um neun Uhr so rechteckig wäre wie um sieben. Die Gesetze der Planetenbahnen sind eine Art Schießvorschrift. Und wir könnten uns überhaupt von nichts einen Begriff oder ein Urteil machen, wenn alles nur einmal vorüberhuschte. Was etwas gelten soll und einen Namen tragen, das muß sich wiederholen lassen, muß in vielen Exemplaren vorhanden sein, und wenn du noch nie den Mond gesehen hättest, würdest du ihn für eine Taschenlampe halten; nebenbei bemerkt, die große Verlegenheit, die Gott der Wissenschaft bereitet, besteht darin, daß er nur ein einzigesmal gesehen worden ist, und das bei Erschaffung der Welt, ehe noch geschulte Beobachter da waren.«
Man muß sich in Stumm von Bordwehr versetzen; seit der Kadettenschule war ihm alles vorgeschrieben worden, von der Form der Kappe bis zum Heiratskonsens, und er verspürte wenig Neigung, seinen Geist solchen Erklärungen zu öffnen. – »Lieber Freund,« entgegnete er tückisch »das mag alles sein, aber es geht mich eigentlich nichts an; du machst ja ganz gute Witze, wenn du sagst, daß wir beim Militär die Wissenschaft erfunden haben, aber ich rede nicht von der Wissenschaft, sondern, wie deine Kusine sagt, von der Seele, und wenn sie von der Seele spricht, dann möchte ich mich am liebsten nackt ausziehen, so wenig paßt das zu einer Uniform!«
»Lieber Stumm,« fuhr Ulrich unbeirrt fort »sehr viele Menschen werfen der Wissenschaft vor, daß sie seelenlos und mechanisch sei und auch alles, was sie berühre, dazu mache; aber wunderlicherweise bemerken sie nicht, daß in den Angelegenheiten des Gemüts eine noch weit ärgere Regelmäßigkeit steckt als in denen des Verstandes! Denn wann ist ein Gefühl recht natürlich und einfach? Wenn sein Auftreten bei allen Menschen in gleicher Lage geradezu automatisch zu erwarten ist! Wie könnte man von allen Menschen Tugend verlangen, wenn eine tugendhafte Handlung nicht eine solche wäre, die sich beliebig oft wiederholen ließe?! Ich könnte dir noch viele andere solche Beispiele nennen, und wenn du vor dieser öden Regelmäßigkeit in die dunkelste Tiefe deines Wesens fliehst, wo die unbeaufsichtigten Bewegungen zuhause sind, in diese feuchte Kreaturtiefe, die uns vor dem Verdunsten am Verstande schützt, was findest du? Reize und Reflexbahnen, Einbahnung von Gewohnheiten und Geschicklichkeiten, Wiederholung, Fixierung, Einschleifung, Serie, Monotonie! Das ist Uniform, Kaserne, Reglement, lieber Stumm, und es hat die zivile Seele merkwürdige Verwandtschaft mit dem Militär. Man könnte sagen, daß sie sich an dieses Vorbild, an das sie nie ganz heranreicht, anklammert, wo sie nur kann. Und wo ihr das nicht möglich ist, ist sie wie ein Kind, das man allein gelassen hat. Nimm bloß die Schönheit einer Frau zum Beispiel: was dich als Schönheit überrascht und überwältigt, wovon du glaubst, daß du es zum erstenmal in deinem Leben erblickst, das hast du innerlich längst schon gekannt und gesucht, davon war immer ein Vorglanz in deinen Augen, der jetzt bloß zur vollen Tageshelle verstärkt wird; dagegen, wenn es sich wirklich um Liebe auf den ersten Blick, um Schönheit handelt, die du noch nie wahrgenommen hast, so weißt du einfach nicht, was du damit anfangen sollst; dem ist nichts Ähnliches vorangegangen, du weißt keinen Namen dafür, du hast kein Gefühl als Antwort, du bist einfach grenzenlos verwirrt, geblendet, in ein blindes Staunen, in einen trottelhaften Stumpfsinn versetzt, der mit Glück kaum noch etwas gemeinsam zu haben scheint –«
Hier unterbrach der General lebhaft seinen Freund. Er hatte ihm bisher mit jener Geübtheit zugehört, die man auf dem Exerzierplatz an dem Tadel und den Belehrungen seiner Vorgesetzten erwirbt, die man nötigenfalls wiederholen können muß und doch nicht in sich aufnehmen darf, weil man sonst ebensogut auf einem ungesattelten Igel nachhause reiten könnte; jetzt hatte ihn aber Ulrich getroffen, und er rief heftig aus: »Der Wahrheit die Ehre, das beschreibst du hervorragend richtig! Wenn ich mich so recht in die Bewunderung für deine Kusine versenke, so löst sich alles in mir in nichts auf. Und wenn ich mich ganz angestrengt zusammennehme, damit mir endlich eine Idee einfalle, mit der ich ihr nützen könnte, so entsteht ebenfalls eine äußerst unangenehme Leere in mir; trottelhaft darf man das wohl nicht nennen, aber sehr ähnlich ist es bestimmt. Und du meinst also, wenn ich dich recht verstanden habe, daß wir Militärs ganz ordentlich denken; daß der Zivilverstand – also daß wir sein Vorbild sein sollen, das muß ich ablehnen, das ist wohl nur ein Witz von dir! – aber daß wir den gleichen Verstand haben, das denk ich mir auch manchmal; und was darüber hinausgeht, meinst du, also alle diese Dinge, die uns Soldaten so ungemein zivilistisch vorkommen, wie Seele, Tugend, Innigkeit, Gemüt – der Arnheim kann unglaublich geläufig damit umgehn, aber du meinst, daß das zwar Geist ist, ja natürlich, du sagst ja wohl, daß gerade das diese sogenannten Rücksichten höherer Natur sind, aber du sagst eben auch, daß man ganz blöd davon wird, und das stimmt alles ausgezeichnet, aber schließlich ist der Zivilgeist doch der überlegene, und das willst du doch gewiß nicht bestreiten, und jetzt frage ich dich, wie stimmt denn das?«
»Ich habe vorhin erstens gesagt, und das hast du vergessen; ich habe erstens gesagt, daß der Geist beim Militär zu Hause ist, und nun sage ich zweitens: beim Zivil das Körperliche –«
»Aber das ist doch Unsinn?« lehnte sich Stumm mißtrauisch auf. Die körperliche Überlegenheit des Militärs war ein Dogma genau so wie die Überzeugung, daß der Stand des Offiziers dem Thron am nächsten stehe; und wenn sich Stumm auch nie für einen Athleten gehalten hatte, so meldete sich in dem Augenblick, wo man daran zu zweifeln schien, doch die Gewißheit, daß ein Zivilbauch, bei gleichem Vorhandensein, noch um einiges weicher sein müsse als der seine.
»Nicht mehr oder weniger Unsinn als alles andere« verteidigte sich Ulrich. »Aber du mußt mich ausreden lassen. Siehst du, es mögen ungefähr hundert Jahre her sein, da haben die führenden Köpfe des deutschen Zivils geglaubt, daß der denkende Bürger die Gesetze der Welt an seinem Schreibtisch sitzend aus seinem Kopf herleiten werde, so wie man die Sätze von den Dreiecken beweisen kann; und der Denker war damals ein Mann in Nankinghosen, der das Haar aus der Stirn schleuderte und noch nicht die Petroleumlampe, geschweige denn die Elektrizität oder ein Phonogramm kannte. Diese Überhebung ist uns seither gründlich ausgetrieben worden; wir haben in diesen hundert Jahren uns und die Natur und alles sehr viel besser kennen gelernt, aber der Erfolg ist sozusagen, daß man alles, was man an Ordnung im einzelnen gewinnt, am Ganzen wieder verliert, so daß wir immer mehr Ordnungen und immer weniger Ordnung haben.«
»Das stimmt zu meinen Untersuchungen« bestätigte Stumm.
»Bloß ist man nicht so eifrig wie du, eine Zusammenfassung zu suchen« fuhr Ulrich fort. »Nach den vergangenen Anstrengungen sind wir in einen Zeitabschnitt des Zurücksinkens geraten. Stell dir bloß vor, wie das heute vor sich geht: Wenn ein bedeutender Mann eine Idee in die Welt setzt, so wird sie sogleich von einem Verteilungsvorgang ergriffen, der aus Zuneigung und Abneigung besteht; zunächst reißen die Bewunderer große Fetzen daraus, so wie sie ihnen passen, und verzerren ihren Meister wie die Füchse das Aas, dann vernichten die Gegner die schwachen Stellen, und über kurz bleibt von keiner Leistung mehr übrig als ein Aphorismenvorrat, aus dem sich Freund und Feind, wie es ihnen paßt, bedienen. Die Folge ist eine allgemeine Vieldeutigkeit. Es gibt kein Ja, an dem nicht ein Nein hinge. Du kannst tun, was du willst, so findest du zwanzig der schönsten Ideen, die dafür, und wenn du willst, zwanzig, die dagegen sind. Man könnte fast schon glauben, es ist wie in der Liebe und im Haß und beim Hunger, wo der Geschmack verschieden sein muß, damit jeder zum Seinen kommt.«
»Ausgezeichnet!« rief Stumm, wieder gewonnen, aus. »Etwas Ähnliches habe ich selbst schon Diotima gesagt! Aber bedenkst du nicht, daß man in dieser Unordnung die Rechtfertigung des Militärs sehen müßte, und ich schäme mich doch, auch nur einen Augenblick daran zu glauben!«
»Ich würde dir raten,« meinte Ulrich »Diotima den Tip zu geben, daß Gott, aus Gründen, die uns noch unbekannt sind, ein Zeitalter der Körperkultur heraufzuführen scheint; denn das einzige, was den Ideen einigermaßen Halt gibt, ist der Körper, zu dem sie gehören, und dabei hättest du als Offizier überdies einen gewissen Vorsprung.«
Der kleine, dicke General zuckte zurück. »Ich bin, was Körperkultur betrifft, nicht schöner wie ein geschälter Pfirsich« sagte er nach einer Weile mit einer bitteren Genugtuung. »Und ich muß dir auch sagen,« fügte er hinzu »daß ich an Diotima nur auf eine ordentliche Weise denke und auf ebensolche Art vor ihr zu bestehen wünsche.«
»Schade,« meinte Ulrich »deine Absicht wäre eines Napoleon würdig, aber du wirst kein geeignetes Jahrhundert dafür vorfinden!«
Der General steckte den Spott mit der Würde ein, die ihm der Gedanke verlieh, für die Dame seines Herzens zu leiden, und sagte nach einigem Nachdenken: »Ich danke dir jedenfalls für deine interessanten Ratschläge.«
Zu dieser Zeit,
wo des Generals Liebe vor seiner Bewunderung für Diotima und Arnheim zurücktrat, hätte Arnheim längst schon den Beschluß gefaßt haben müssen, nicht mehr wiederzukehren. Statt dessen traf er Anstalten zu längerem Aufenthalt; er behielt die Zimmer,
die er im Hotel bewohnte, dauernd bei, und sein bewegtes Leben machte den Eindruck, stillzustehen.
Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen das Ende des Jahres neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten besaß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne niemals wieder ausbrechen, allgemein war. Sie war nicht allgemein gleich stark. Die Fenster des schönen alten Palais am Ballhausplatz, wo Sektionschef Tuzzi waltete, warfen oft noch spät abends Licht in die kahlen Bäume des gegenüberliegenden Gartens, und gebildete Bummler, wenn sie nachts vorbeikamen, faßte Schauer an. Denn so wie der heilige Josef den gewöhnlichen Zimmermann Josef durchdringt, durchdrang der Name »der Ballhausplatz« den dort stehenden Palast mit dem Geheimnis, eine des halben Dutzends mysteriöser Küchen zu sein, wo hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde. Dr. Arnheim war von diesen Vorgängen ziemlich gut unterrichtet. Er erhielt chiffrierte Depeschen und von Zeit zu Zeit den Besuch eines seiner Beamten, der mit persönlichen Informationen aus der Zentrale kam, die Fenster seiner Hotelwohnung waren auch oft in Front erleuchtet, und ein einbildungskräftiger Beobachter hätte glauben können, hier nächtige eine zweite, eine Gegenregierung, eine moderne, apokryphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie.
Übrigens vernachlässigte es Arnheim niemals, einen solchen Eindruck selbst hervorzurufen; denn ohne die Suggestionen der Äußerlichkeit ist der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale. Schon beim Frühstück, das er aus diesem Grunde nicht allein, sondern in dem allen zugänglichen Raum des Hotels einnahm, gab er mit der Regierungsgeübtheit des erfahrenen Herrschers und der höflich stillen Haltung des Mannes, der sich beobachtet weiß, die Tagesanordnungen seinem Sekretär, der sie stenographisch festhielt; keine von ihnen hätte genügt, um Arnheim Freude zu bereiten, aber indem sie den Platz in seinem Bewußtsein nicht nur untereinander teilten, sondern darin auch noch durch die Reize des Frühstücks eingeschränkt wurden, hoben sie sich in die Höhe. Wahrscheinlich braucht menschliche Begabung – und das war einer seiner Lieblingsgedanken – überhaupt eine gewisse Einengung, um sich entfalten zu können; der wirklich fruchtbare Streifen zwischen übermütiger Gedankenfreiheit und mutloser Gedankenflucht ist, wie jeder Kenner des Lebens weiß, überaus schmal. Außerdem war er aber auch noch davon überzeugt, daß es sehr darauf ankomme, wer einen Gedanken habe; denn man weiß, daß neue und bedeutende Gedanken selten einen einzigen Finder haben, und andererseits bringt das Gehirn eines Menschen, der zu denken gewohnt ist, unaufhörlich Gedanken von verschiedenem Wert hervor: den Abschluß, die wirksame, erfolgreiche Form müssen Einfälle darum immer von außen erhalten, nicht nur aus dem Denken, sondern aus den ganzen Lebensumständen der Person. Eine Frage des Sekretärs, ein Blick auf einen Nebentisch, der Gruß eines Eintretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedesmal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrucksvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Erscheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse.
Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit »Divide et impera« ins Gedächtnis: sie gilt von jedem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderungen vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten.
Er stellte zunächst mit Besorgnis fest, daß seine ausgebreiteten Weltinteressen wie eine der Wurzel beraubte Blume abwelkten und unbedeutende Eindrücke des Alltags, bis zu einem Sperling am Fenster oder zum freundlichen Lächeln eines Kellners hinunter, geradezu aufblühten. An seinen moralischen Begriffen, die sonst ein großes System des Rechthabens darstellten, dem nichts entschlüpfte, bemerkte er, daß sie beziehungsärmer wurden, dagegen etwas Körperliches ansetzten. Man konnte es Hingabe nennen, aber das war gleich ein Wort, das sonst einen viel weiteren und jedenfalls auch anderen Sinn hatte, denn ohne sie kommt man nirgends aus; Hingabe an eine Pflicht, an einen Höheren oder Führer, auch die an das Leben selbst, in seinem Reichtum und seiner Mannigfaltigkeit, war sonst, als männliche Tugend verstanden, für ihn der Inbegriff eines aufrechten Verhaltens gewesen, das bei aller Aufgeschlossenheit mehr Zurückhaltung als Hinausgabe enthielt. Und gleiches ließe sich von der Treue sagen, die, auf eine Frau beschränkt, einen engen Beigeschmack hat; von Ritterlichkeit und Sanftmut, Selbstlosigkeit und Zartgefühl, alles Tugenden, die wohl gewöhnlich in Verbindung mit der Frau vorgestellt werden, aber dabei ihren besten Reichtum verlieren, so daß sich schwer sagen läßt, ob auch das Erlebnis der Liebe nur zu ihr, wie Wasser an die tiefste und gewöhnlich nicht einwandfreie Stelle zusammenströmt oder ob das Erlebnis der Frauenliebe die vulkanische Stelle ist, von deren Wärme alles lebt, was auf der Erdoberfläche blüht. Ein sehr hoher Grad von männlicher Eitelkeit fühlt sich darum in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen, und wenn Arnheim seinen in die Sphären der Macht getragenen Ideenreichtum mit dem durch Diotima bewirkten Zustand der Glückseligkeit verglich, so konnte er sich des Eindrucks einer rückläufigen Bewegung, die mit ihm vor sich gegangen sei, durchaus nicht erwehren.
Er hatte zuweilen das Bedürfnis nach Umarmungen und Küssen wie ein Knabe, der sich, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, leidenschaftlich zu Füßen der Versagenden stürzt, oder er ertappte sich bei dem Verlangen, zu schluchzen, Worte hervorzustoßen, welche die Welt herausfordern sollten, und schließlich gar die Geliebte auf seinen eigenen Händen zu entführen. Nun weiß man ja wohl, daß am verantwortungslosen Rand der bewußten Person, von wo die Märchen und Gedichte kommen, auch allerhand kindische Erinnerungen zu Hause sind und sichtbar werden, wenn ausnahmsweise der leichte Rausch einer Ermüdung, das fessellose Spiel des Alkohols oder irgendeine Erschütterung diese Bezirke durchhellen; und leibhaftiger als solche Schemen waren auch Arnheims Anwandlungen nicht, so daß er nicht Ursache gehabt hätte, sich über sie aufzuregen (und durch solche Erregung die ursprüngliche gewichtig zu verstärken), wenn ihn nicht diese infantilen Rückwandlungen aufdringlich davon überzeugt hätten, daß sein Seelenleben voll von verblaßten Moralpräparaten sei. Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war.
Auf diese Weise erinnerte er sich in natürlicher Folge seiner Kindheit. Auf seinen Jugendbildnissen hatte er große, schwarze, runde Augen, wie man den Knaben Jesus malt, wenn er im Tempel mit den Schriftgelehrten disputiert, und er sah alle Erzieherinnen und Erzieher in einem Kreis um sich versammelt stehn und sich über seine Geistesgaben wundern, denn er war ein kluges Kind gewesen und hatte immer kluge Erzieher gehabt. Er hatte sich aber auch als glühendes, gefühlvolles Kind bewährt, das kein Unrecht leiden konnte; da er selbst viel zu behütet gewesen, als daß ihm eins hätte geschehen können, nahm er sich auf der Straße fremden Unrechts an und warf sich seinetwillen in Kämpfe. Das war eine sehr bedeutende Leistung, wenn berücksichtigt wird, wie sehr man ihn daran hinderte, so daß niemals mehr als eine Minute verstrich, ohne daß jemand herbeistürzte, um ihn von seinem Gegner zu trennen. Und weil auf diese Weise solche Kämpfe gerade lange genug dauerten, um die eine oder andere schmerzliche Erfahrung zu sammeln, aber rechtzeitig genug unterbrochen wurden, um in ihm den Eindruck ungebeugter Tapferkeit zu hinterlassen, dachte Arnheim noch heute mit Einverständnis an sie zurück, und die Herreneigenschaft vor nichts zurückscheuenden Mutes überging später auf seine Bücher und Überzeugungen, wie es ein Mensch braucht, der seinen Zeitgenossen zu sagen hat, wie sie sich zu verhalten haben, um würdig und glücklich zu sein.
Dieser Zustand seiner Kinderzeit war ihm also verhältnismäßig lebhaft erhalten geblieben, aber ein anderer, der sich etwas später und teilweise als die umbildende Fortsetzung eingestellt hatte, zeigte sich dem Betrachter entschlafen oder, richtiger gesagt, versteint, wenn man erlaubt, dabei unter Steinen Brillanten zu verstehen. Es war der, nun in der Berührung mit Diotima zu neuem Leben aufschreckende der Liebe, und das Bezeichnende war, daß ihn Arnheim in seiner Jünglingszeit ursprünglich ganz ohne Frauen, überhaupt ohne bestimmte Personen, kennengelernt hatte, und daran war etwas Verwirrendes, womit er sein Leben lang nicht fertiggeworden, obgleich er im Lauf der Zeit die modernsten Erklärungen dafür kennenlernte. »Was er meinte, war vielleicht nur das unbegreiflich Hergekommene von etwas noch Abwesendem, wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Gesehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen, waren kleine Melodien mitten in Geräuschen, Gefühle in Menschen, ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur, als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach.« So hatte es, freilich viel später und mit anderem Akzent, ein Dichter ausgedrückt, den Arnheim schätzte, weil es für ein Zeichen von Eingeweihtheit galt, von diesem, dem Gesicht des Publikums entzogenen, heimlichen Mann zu wissen; ohne daß er ihn übrigens selbst verstand, denn Arnheim verband solche Andeutungen mit den Reden vom Erwachen einer neuen Seele, wie sie zu seiner Jugendzeit im Schwange gewesen waren, oder mit den langen mageren Mädchenkörpern, die man damals im Bilde liebte und durch ein Lippenpaar auszeichnete, das wie ein fleischiger Blütenkelch aussah.
Damals, es war um das Jahr achtzehnhundertsiebenundachtzig – »du lieber Gott, also fast vor einem Menschenalter!« dachte Arnheim – zeigten seine eigenen Photographien einen modernen, »neuen« Menschen, wie man das zu jener Zeit nannte, das heißt, er trug auf ihnen eine hochgeschlossene schwarze Atlasweste und eine breite Kragenbinde aus schwerer Seide, die an die Mode der Biedermeierzeit anknüpfte, der Absicht nach aber an Baudelaire erinnern sollte, was durch eine Orchidee unterstützt wurde, die als neue Erfindung zauberhaft bösartig in einem Knopfloch stak, wenn Arnheim jun. zu Tafel gehn und seine junge Person in einer Gesellschaft von robusten Kaufleuten und Freunden seines Vaters durchsetzen mußte. An Werktagen dagegen zeigten die Bilder gerne einen Zollstab als Schmuck, der aus einem weichen englischen Strapazanzug guckte, zu dem recht komisch, aber die Bedeutung des Kopfes erhöhend, ein viel zu hoher steifer Stehkragen getragen wurde. So hatte Arnheim ausgesehen und vermochte noch heute nicht, seinem Abbild ein gewisses Maß von Wohlwollen zu versagen. Er spielte gut und mit dem Eifer einer noch ungewöhnlichen Leidenschaft Tennis, das man in jener ersten Zeit auf Grasplätzen betrieb; besuchte zum Staunen seines Vaters und allen sichtbar Arbeiterversammlungen, denn er hatte während eines Studienjahrs in Zürich die anstößige Bekanntschaft der sozialistischen Ideen gemacht; bedachte sich aber auch nicht, andern Tags rücksichtslos zu Pferd durch ein Arbeiterdorf zu sprengen. Kurz, alles das war ein Wirbel von widerspruchsvollen, aber neuen geistigen Elementen gewesen, welche die bezaubernde Einbildung erweckten, zur rechten Zeit geboren worden zu sein, die so wichtig ist, wenngleich man später natürlich erkennt, daß ihr Wert nicht gerade in ihrer Seltenheit liegt. Ja Arnheim war, späterhin immer mehr Raum konservativen Erkenntnissen gebend, sogar im Zweifel, ob dieses sich beständig erneuende Gefühl, der zuletzt Gekommene zu sein, nicht eine Verschwendung der Natur darstelle; er gab es jedoch nicht preis, weil er nur sehr ungern überhaupt etwas preisgab, was er einmal besessen, und sein sammelndes Wesen sorgfältig alles in sich aufbewahrt hatte, was es damals gegeben. Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte.
Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem lautlosen Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. Man kann nicht lebhaft genug versichern, daß dies keine Philosophie war, sondern ein ebenso körperhaftes Erlebnis, wie wenn man den vom Tageshimmel überstrahlten Mond stumm im Vormittagslicht hängen sieht. In diesem Zustand speiste zwar schon der junge Paul Arnheim beherrscht in einem vornehmen Restaurant, ging sorgfältig gekleidet in jede Gesellschaft und tat überall das, was zu tun war; aber man konnte sagen, daß es dabei von ihm zu ihm ebensoweit war wie zum nächsten Menschen oder Ding, daß die Außenwelt nicht an seiner Haut aufhörte und die Innenwelt nicht bloß durch das Fenster der Überlegung hinausleuchtete, sondern daß sie beide sich zu einer ungeteilten Abgeschiedenheit und Anwesenheit vereinten, die so mild, ruhig und hoch war wie ein traumloser Schlaf. In moralischer Beziehung zeigte sich dann eine wahrhaft große Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit; es war nichts klein und nichts groß, ein Gedicht und ein Kuß auf eine Frauenhand wogen ebensoviel wie ein mehrbändiges Werk oder eine politische Großtat, und alles Böse war so sinnlos, wie im Grund auch alles Gute in diesem Umfangensein von der zärtlichen Urverwandtschaft aller Wesen überflüssig wurde. Arnheim benahm sich also ganz wie gewöhnlich, nur schien es in einer ungreifbaren Bedeutung zu geschehen, hinter deren zitternder Flamme der innere Mensch unbeweglich stand und dem äußeren zusah, der vor ihr einen Apfel aß oder sich vom Schneider gerade einen Anzug anmessen ließ.
War das nun eine Einbildung oder der Schatten einer Wirklichkeit, die man niemals ganz verstehen wird? Es kann darauf nur erwidert werden, daß alle Religionen in gewissen Zuständen ihrer Entwicklung behauptet haben, es sei Wirklichkeit, desgleichen alle Liebenden, alle Romantiker und alle Menschen, die eine Neigung für den Mond haben, den Frühling und das selige Sterben der ersten Herbsttage. In der Folge verliert sich das aber wieder; es verflüchtigt sich oder trocknet ein, das läßt sich nicht unterscheiden, jedoch eines Tags stellt man fest, daß anderes an seiner Stelle da ist, und man vergißt es so rasch, wie man nur unwirkliche Erlebnisse, Träume oder Einbildungen vergißt. Da dieses Ur- und Weltliebeserlebnis zumeist gleichzeitig mit der ersten persönlichen Verliebtheit aufzutreten pflegt, glaubt man überdies später auch beruhigt zu wissen, wie es einzuschätzen sei, und rechnet es zu den Torheiten, die man sich nur vor Erlangen des politischen Wahlrechts gestatten darf. So war dies also beschaffen, aber da es sich bei Arnheim niemals mit einer Frau verbunden hatte, konnte es auch nicht in der natürlichen Weise mit ihr aus seinem Herzen verschwinden; dafür wurde es von den Eindrücken überdeckt, die sein Wesen erfuhr, sobald er nach Vollendung seiner Studien- und Freizeit in die Geschäfte seines Vaters eintrat. Da er nichts halb tat, entdeckte er dort alsbald, daß das schaffende und recht beschaffene Leben beiweitem ein größeres Gedicht sei als alle, die Dichter in ihren Schreibstuben ersannen, und das war nun etwas ganz anderes.
Dabei zeigte sich zum erstenmal seine Begabung zur Vorbildlichkeit. Denn das Gedicht des Lebens hat vor allen übrigen Gedichten voraus, daß es gleichsam in großen Buchstaben gesetzt ist, wie immer sein Inhalt sonst beschaffen sein möge. Um den kleinsten Volontär, der in einem Weltgeschäft tätig ist, kreist die Welt, und Erdteile gucken ihm über die Schulter, so daß nichts, was er tut, ohne Bedeutung ist; um den einsamen Verfasser in seinem Zimmer kreisen dagegen höchstens die Fliegen, er mag sich anstrengen, wie er will. Das ist so einleuchtend, daß vielen Menschen in dem Augenblick, wo sie anfangen, in Lebensmaterial zu schaffen, alles, was sie früher bewegt hat, »nur Literatur« zu sein scheint, das heißt, es übt bestenfalls eine schwächliche und verworrene, meistens aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus, die in gar keinem Verhältnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstaltung macht. Nicht ganz so ging das natürlich bei Arnheim vor sich, der weder die schönen Regungen der Kunst verleugnete, noch irgendetwas, das ihn einmal heftig bewegt hatte, als Torheit oder Einbildung anzusehen vermochte; sobald er die Überlegenheit seiner männlichen Verhältnisse über die träumerisch jugendlichen erkannte, ging er daran, unter Führung der neuen Manneserkenntnisse eine Verschmelzung beider Erlebnisgruppen zu bewerkstelligen. Tatsächlich tat er damit eben das, was alle die vielen und die Mehrzahl der Gebildeten ausmachenden Menschen tun, die nach dem Eintritt ins Erwerbsleben ihre früheren Interessen nicht ganz verleugnen wollen, ja im Gegenteil jetzt erst ein ruhiges, reifes Verhältnis zu den schwärmerischen Antrieben ihrer Jugend finden. Die Entdeckung des großen Gedichtes des Lebens, an dem sie sich mitarbeiten wissen, schenkt ihnen den Mut des Dilettanten wieder, den sie zur Zeit, wo sie ihre eigenen Gedichte verbrannten, verloren hatten; sie dürfen sich, am Leben dichtend, wahrhaft als geborene Fachleute ansehen und gehen daran, ihr tägliches Tun mit geistiger Verantwortung zu durchdringen, fühlen sich vor tausend kleine Entscheidungen gestellt, damit es sittlich und schön sei, nehmen sich an der Vorstellung ein Muster, daß Goethe so gelebt habe, und erklären, daß sie ohne Musik, ohne Natur, ohne Betrachtung des unschuldigen Spiels von Kindern und Tieren und ohne ein gutes Buch das Leben nicht freuen würde. Dieser so durchseelte Mittelstand ist unter Deutschen noch immer der Hauptkonsument der Künste und aller nicht zu schwierigen Literatur, aber seine Mitglieder sehen auf Kunst und Literatur, die ihnen früher als Vollendung ihrer Wünsche vorgekommen waren, begreiflicherweise und wenigstens mit einem Auge so herab wie auf eine Frühstufe – wenn diese auch in ihrer Art vollendeter ist, als es ihnen gegönnt war, – oder sie halten davon, was etwa ein Eisenblechfabrikant von einem Gipsfigurenbildhauer halten müßte, wenn er die Schwäche besäße, dessen Produkte schön zu finden.
Diesem Mittelstand der Bildung glich nun Arnheim wie eine prächtige gefüllte Gartennelke einer dürftigen, am Wegrand entstandenen Steinnelke. Niemals kam für ihn geistiger Umsturz, grundsätzliche Neuerung in Frage, sondern stets nur Verflechtung ins Bestehende, Besitzergreifung, sanfte Korrektur, moralische Neubelebung des verblaßten Privilegs der in Geltung befindlichen Mächte. Er war kein Snob, kein Anbeter des ihm überlegenen Teils der Vornehmen; bei Hof eingeführt und in Berührung mit dem Hochadel wie mit den Spitzen der Bürokratie getreten, suchte er sich keineswegs dieser Umgebung als Nachahmer, sondern nur als Liebhaber konservativ feudaler Lebensgewohnheiten anzupassen, der seine bürgerliche, sozusagen Frankfurterisch-Goethesche Herkunft weder vergißt, noch vergessen machen will. Aber mit dieser Leistung war seine Gegenstellung erschöpft, und ein größerer Gegensatz wäre ihm schon lebensungerecht erschienen. Er war wohl innerlich überzeugt, daß die schaffenden Menschen – und an ihrer Spitze, sie zu einem neuen Zeitalter zusammenfassend, die das Leben lenkenden Kaufleute – berufen seien, die alten Mächte des Seins irgendwann in der Herrschaft abzulösen, und das gab ihm einen gewissen stillen Hochmut, dem die seither eingetretene Entwicklung das Zeugnis der Berechtigung ausgestellt hat; aber wenn man diesen Herrschaftsanspruch des Geldes auch als gegeben voraussetzt, so war doch noch die Frage offen, die angestrebte Macht richtig anzuwenden. Die Vorgänger der Bankdirektoren und Großindustriellen hatten es leicht, sie waren Ritter und machten aus ihren Gegnern Hirschsuppe, wofür sie die Waffen des Geistes dem Klerus überließen; der zeitgenössische Mensch dagegen besitzt zwar im Geld, wie Arnheim es verstand, die heute sicherste Methode der Behandlung aller Beziehungen, aber wenn sie auch hart und genau wie ein Fallbeil sein kann, kann sie auch so empfindlich wie ein Rheumatiker sein – man denke bloß an das Ziehen und Lahmen in den Kursen beim geringsten Anlaß! – und hängt auf das zarteste mit allem zusammen, was von ihr beherrscht wird. Durch dieses zarte Zusammenhängen aller Lebensgebilde, das nur blinder Ideologenhochmut vergessen kann, kam Arnheim dazu, im königlichen Kaufmann die Synthese von Umsturz und Beharren, Macht und bürgerlicher Zivilisiertheit, vernünftigem Wagnis und charaktervollem Wissen zu erblicken, zuinnerst aber eine Symbolgestalt der sich vorbereitenden Demokratie; durch rastlose und strenge Arbeit an seiner eigenen Persönlichkeit, geistige Organisation der ihm zugänglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und durch Gedanken über Führung und Aufbau des ganzen Staats wollte er einer neuen Zeit in die Arme wirken, wo die durch Geschick und Natur ungleichen Gesellschaftskräfte richtig und fruchtbar geordnet sind und das Ideal an den notwendigerweise einschränkenden Realitäten nicht zerbricht, sondern sich reinigt und befestigt. Um das mit sachlichem Anklang auszudrücken, hatte er also die Interessenfusion Seele-Geschäft durch Ausbildung der Dachvorstellung Königs-Kaufmann zur Durchführung gebracht, und das Gefühl der Liebe, das ihn einstens empfinden geheißen, alles sei im Grunde nur eines, lag jetzt als Kern in seiner Überzeugung von Einheit und Harmonie der Kultur und der menschlichen Interessen.
Ungefähr zu dieser Zeit begann Arnheim auch seine Schriften zu veröffentlichen, und das Wort Seele tauchte in ihnen auf. Man kann vermuten, daß er es wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste. Gewiß ist auch, daß dabei ein Bedürfnis eine Rolle spielte, sich gegen seine sehr vernünftige engere Umwelt, namentlich gegen die im Geschäftlichen überlegene Führernatur seines Vaters, neben dem er allmählich die Figur des alternden Kronprinzen zu spielen begann, in einer dem Geschäftsverstande unzugänglichen Weise zu verteidigen. Und ebenso gewiß ist es, daß sein Ehrgeiz, alles Wissenswerte zu beherrschen, – ein Hang zur Polyhistorie, dem in solchem Ausmaße, wie es seinem Bedürfnis entsprach, kein Mensch gewachsen gewesen wäre – in der Seele ein Mittel fand, um alles, was sein Verstand nicht beherrschen konnte, zu entwerten. Denn er war darin nicht anders wie sein ganzes Zeitalter, das nicht aus religiöser Bestimmung eine starke religiöse Neigung neu entwickelt hat, sondern nur, wie es scheint, aus einer weiblich reizbaren Auflehnung gegen Geld, Wissen und Rechnen, denen es leidenschaftlich unterliegt. Aber fraglich und ungewiß war es, ob Arnheim, wenn er von Seele sprach, selbst an sie glaubte und dem Besitz einer Seele die gleiche Wirklichkeit zuschrieb wie seinem Aktienbesitz. Er benützte sie als einen Ausdruck für etwas, wofür er keinen anderen hatte. Hingerissen von seinem Bedürfnis – denn er war ein Redner, der nicht leicht einen anderen zu Worte kommen ließ; späterhin, nachdem er von dem Eindruck, den er in anderen zu erregen fähig war, Kenntnis genommen hatte, auch immer häufiger in seinen Schriften – brachte er die Rede auf sie, als wäre ihr Dasein so sicher anzunehmen, wie man das des Rückens voraussetzt, obgleich man ihn nicht sieht. Es faßte ihn eine wahre Leidenschaft, in dieser Weise von etwas Ungewissem und Ahnungsvollem zu schreiben, das in das Allzugewisse der Weltgeschäfte verflochten ist wie ein tiefes Schweigen in lebhafte Worte; er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schlagenden Herzen bewegt werden muß; er erklärte seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur- und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde. Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet.
Vielleicht war dieses Ordnen seine eigentliche und heftigste Leidenschaft, ein Machtdrang, der weit alles überschritt, was selbst ein Mensch in seiner Stellung sich gewähren konnte, und unmittelbar dazu führte, daß der in den Bezirken der Wirklichkeit so mächtige Mann mindestens einmal im Jahr sich auf sein Schloß in der Mark zurückziehen und seinem Sekretär ein Buch ins Stenogramm diktieren mußte. Jene sonderbare Ahnung, die zuerst und am lebhaftesten in seinen schwärmerischen Jugendstunden hervorgekommen war, hatte sich diesen Weg gebahnt, aber sie suchte ihn zuweilen auch noch unmittelbar, wenngleich mit geschwundener Kraft, heim. Inmitten der Weltgeschäfte befiel es ihn dann wie eine süße Lähmung und Klostersehnsucht, die ihm zuflüsterte, daß alle Widersprüche, alle großen Ideen, alle Welterfahrungen und -anstrengungen nicht nur so Eines seien, wie man es ungenau als Kultur und Humanität versteht, sondern auch in einer wild-wörtlichen und flimmernd untätigen Bedeutung, so wie man an einem kränkelnd schönen Tag die Hände kreuzen, über Fluß und Wiesen hinschauen und nimmer sich lösen mag. In diesem Sinne war sein Schreiben ein Kompromiß. Und weil es nur eine Seele gibt und diese nicht greifbar, sondern im Exil und von dort sich nur auf eine einzige, so merkwürdig undeutliche oder vieldeutige Weise meldend, dagegen unzählige, schlechthin unendlich viele und alle Fragen der Welt, auf die man diese königliche Botschaft anwenden kann, so entstand mit den Jahren jene ernste Verlegenheit für ihn, in die alle Legitimisten und Propheten geraten, wenn es zu lange dauert. Arnheim brauchte sich nur in der Einsamkeit zum Schreiben hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wirtschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen. Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg.
Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte. Als er sich auf der Höhe der Mannesjahre befand, hatte er sich zu allem und jedem, was es gab, geäußert, besaß ausgebreitete Überzeugungen und sah keine Grenze, an der er hätte aufhören müssen, auch in Zukunft neue, harmonisch aus den alten entwickelte Überzeugungen zu gewinnen, wenn er in der gleichen Weise weiter fortfuhr. Einem so wirksam denkenden Mann, der in anderen Bewußtseinszuständen Rentabilitätsberechnungen und Bilanzen durchsah, konnte es nicht entgehen, daß das ein Tun ohne Ränder und Lauf war, wenn es sich auch schier unerschöpflich ausbreitete; es fand seine einzige Umgrenzung in der Einheit seiner Person, und obgleich Arnheim viel Selbstgefühl vertrug, war das doch für seinen Verstand kein befriedigender Zustand. Er schob wohl die Ursache auf den irrationalen Rest, den das Leben dem unterrichteten Betrachter allerorten zeigt; er suchte sich auch achselzuckend damit zu beruhigen, daß in der gegenwärtigen Zeit alles ins Uferlose gehe, und da niemand sich ganz über die Schwächen seines Jahrhunderts hinausheben kann, erspähte er darin sogar eine wertvolle Möglichkeit, die allen großen Männern eigene Tugend der Bescheidenheit zu üben, indem er neidlos Erscheinungen wie einen Homer oder Buddha, weil sie in günstigeren Zeitaltern gelebt hatten, über sich setzte: aber mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daß sich in seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geändert hatte, wuchs jener irrationale Rest, wuchsen der Mangel greifbarer Ergebnisse und das Mißbehagen, sein Ziel verfehlt und seinen ersten Willen vergessen zu haben, drückend an. Er überblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte, so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloß einem sehnsüchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrückt zu sehen, die täglich dicker wurde.
Es war ihm von solcher Art gerade in der letzten Zeit etwas Unangenehmes widerfahren, das ihn tief berührt hatte. Er hatte die Muße, die er sich jetzt öfter als sonst gönnte, dazu benützt, seinem Sekretär einen Aufsatz über die Übereinstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren, und hatte einen Satz »Wir sehen das Schweigen der Mauern, wenn wir diesen Bau betrachten« nach dem Worte Schweigen unterbrochen, um für einen Augenblick das Bild der römischen Cancelleria zu genießen, das soeben ungerufen vor seinem inneren Gesicht aufgestiegen war; aber als er wieder ins Manuskript blickte, bemerkte er, daß der Sekretär, gewohnheitsmäßig voraneilend, schon niedergeschrieben hatte: »Wir sehen das Schweigen der Seele, wenn –«. An diesem Tag diktierte Arnheim nicht weiter, und am folgenden ließ er den Satz streichen.
Was wog nun gegen Erlebnisse von solcher Ausdehnung und Tiefe des Hintergrunds das etwas gewöhnliche der körperlich an eine Frau geknüpften Liebe? Arnheim mußte sich leider gestehen, daß es genau so viel wog wie die sein Leben zusammenfassende Erkenntnis, daß alle Wege zum Geist von der Seele ausgehen, aber keiner zurückführt! Gewiß hatten sich schon viele Frauen naher Beziehungen zu ihm glücklich geschätzt, aber wenn es nicht parasitäre Naturen waren, so waren es tätige, studierte Frauen und Künstlerinnen, denn mit der ausgehaltenen und der selbst erwerbenden Gattung Frau konnte man sich auf Grund klarer Verhältnisse verständigen; die moralischen Bedürfnisse seiner Natur hatten ihn immer in Beziehungen geführt, wo der Instinkt und die ihn begleitenden unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Frauen an der Vernunft einen gewissen Halt hatten. Aber Diotima war das erste Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff, und er sah sie deshalb manchesmal geradezu mit Scheelsucht an. Sie war schließlich nichts als eine Beamtengattin, von bestem Stil zwar, aber doch ohne jene höchste menschliche Bildung, die nur die Macht verleihen kann, und er hätte Anspruch auf ein Mädchen aus der amerikanischen Hochfinanz oder dem englischen Hochadel besessen, wenn er sich ganz binden wollte. Er hatte Augenblicke, wo ein ganz ursprünglicher Unterschied der Kinderstube, ein grausam naiver Kinderhochmut oder das Entsetzen des gepflegten Kindes, das zum erstenmal in die öffentliche Schule geführt wird, in ihm zum Vorschein kam, so daß ihm seine wachsende Verliebtheit wie eine drohende Schande erschien. Und wenn er in solchen Augenblicken seine Geschäfte mit einer eisigen Überlegenheit aufnahm, wie sie nur ein abgestorbener und zurückgekehrter Geist hat, so erschien ihm die kühle, von nichts zu verunreinigende Vernunft des Geldes im Vergleich mit der Liebe als eine außerordentlich saubere Macht.
Aber das bedeutete nichts, als daß für ihn die Zeit gekommen war, wo der Gefangene nicht begreift, wie er sich die Freiheit hat rauben lassen können, ohne sie bis auf den Tod zu verteidigen. Denn wenn Diotima sagte: »Was sind Weltereignisse? Un peu de bruit autour de notre âme…!« – so fühlte er das Gebäude seines Lebens erzittern.
Die Welt wurde damals von allerlei erschüttert, und wer gegen das Ende des Jahres neunzehnhundertdreizehn gute Nachrichten besaß, hatte das Bild eines kochenden Vulkans, wenn auch die von der friedlichen Arbeit ausgehende Suggestion, dieser könne niemals wieder ausbrechen, allgemein war. Sie war nicht allgemein gleich stark. Die Fenster des schönen alten Palais am Ballhausplatz, wo Sektionschef Tuzzi waltete, warfen oft noch spät abends Licht in die kahlen Bäume des gegenüberliegenden Gartens, und gebildete Bummler, wenn sie nachts vorbeikamen, faßte Schauer an. Denn so wie der heilige Josef den gewöhnlichen Zimmermann Josef durchdringt, durchdrang der Name »der Ballhausplatz« den dort stehenden Palast mit dem Geheimnis, eine des halben Dutzends mysteriöser Küchen zu sein, wo hinter verhängten Fenstern das Geschick der Menschheit bereitet wurde. Dr. Arnheim war von diesen Vorgängen ziemlich gut unterrichtet. Er erhielt chiffrierte Depeschen und von Zeit zu Zeit den Besuch eines seiner Beamten, der mit persönlichen Informationen aus der Zentrale kam, die Fenster seiner Hotelwohnung waren auch oft in Front erleuchtet, und ein einbildungskräftiger Beobachter hätte glauben können, hier nächtige eine zweite, eine Gegenregierung, eine moderne, apokryphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie.
Übrigens vernachlässigte es Arnheim niemals, einen solchen Eindruck selbst hervorzurufen; denn ohne die Suggestionen der Äußerlichkeit ist der Mensch nur eine süße wässerige Frucht ohne Schale. Schon beim Frühstück, das er aus diesem Grunde nicht allein, sondern in dem allen zugänglichen Raum des Hotels einnahm, gab er mit der Regierungsgeübtheit des erfahrenen Herrschers und der höflich stillen Haltung des Mannes, der sich beobachtet weiß, die Tagesanordnungen seinem Sekretär, der sie stenographisch festhielt; keine von ihnen hätte genügt, um Arnheim Freude zu bereiten, aber indem sie den Platz in seinem Bewußtsein nicht nur untereinander teilten, sondern darin auch noch durch die Reize des Frühstücks eingeschränkt wurden, hoben sie sich in die Höhe. Wahrscheinlich braucht menschliche Begabung – und das war einer seiner Lieblingsgedanken – überhaupt eine gewisse Einengung, um sich entfalten zu können; der wirklich fruchtbare Streifen zwischen übermütiger Gedankenfreiheit und mutloser Gedankenflucht ist, wie jeder Kenner des Lebens weiß, überaus schmal. Außerdem war er aber auch noch davon überzeugt, daß es sehr darauf ankomme, wer einen Gedanken habe; denn man weiß, daß neue und bedeutende Gedanken selten einen einzigen Finder haben, und andererseits bringt das Gehirn eines Menschen, der zu denken gewohnt ist, unaufhörlich Gedanken von verschiedenem Wert hervor: den Abschluß, die wirksame, erfolgreiche Form müssen Einfälle darum immer von außen erhalten, nicht nur aus dem Denken, sondern aus den ganzen Lebensumständen der Person. Eine Frage des Sekretärs, ein Blick auf einen Nebentisch, der Gruß eines Eintretenden, irgendetwas von dieser Art erinnerte Arnheim jedesmal im rechten Augenblick an die Notwendigkeit, aus sich eine eindrucksvolle Erscheinung zu machen, und diese Einheit der Erscheinung übertrug sich denn auch sogleich auf sein Denken. Er hatte diese Lebenserfahrung in die zu seinen Bedürfnissen passende Überzeugung gefaßt, daß der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse.
Trotz solcher Überzeugung maß er aber seiner augenblicklichen Tätigkeit keine sehr große Bedeutung bei; wenngleich er damit ein Ziel verfolgte, das unter Umständen überraschend lohnend sein konnte, fürchtete er, daß er seinem Aufenthalt Opfer an Zeit bringe, die nicht zu rechtfertigen seien. Er rief sich wiederholt die alte kühle Weisheit »Divide et impera« ins Gedächtnis: sie gilt von jedem Verkehr mit Menschen und Dingen und fordert eine gewisse Entwertung jeder einzelnen Beziehung durch die Gesamtheit aller, denn das Geheimnis der Stimmung, in der man erfolgreich handeln will, ist das gleiche wie das des Mannes, den viele Frauen lieben, während er keine ausschließlich bevorzugt. Doch nützte das nichts; sein Gedächtnis stellte ihm die Forderungen vor, welche die Welt einem zu großer Tätigkeit geborenen Mann auferlegt, er konnte sich aber, nach vielfach wiederholter Befragung seines Inneren, trotzdem nicht dem Ergebnis verschließen, daß er liebte. Und das war eine sonderbare Sache, denn ein Herz, das gegen fünfzig Jahre alt ist, ist ein zäher Muskel, der sich nicht mehr so einfach ausdehnen mag wie der eines Zwanzigjährigen in der Zeit der Liebesblüte, und es bereitete ihm beträchtliche Unannehmlichkeiten.
Er stellte zunächst mit Besorgnis fest, daß seine ausgebreiteten Weltinteressen wie eine der Wurzel beraubte Blume abwelkten und unbedeutende Eindrücke des Alltags, bis zu einem Sperling am Fenster oder zum freundlichen Lächeln eines Kellners hinunter, geradezu aufblühten. An seinen moralischen Begriffen, die sonst ein großes System des Rechthabens darstellten, dem nichts entschlüpfte, bemerkte er, daß sie beziehungsärmer wurden, dagegen etwas Körperliches ansetzten. Man konnte es Hingabe nennen, aber das war gleich ein Wort, das sonst einen viel weiteren und jedenfalls auch anderen Sinn hatte, denn ohne sie kommt man nirgends aus; Hingabe an eine Pflicht, an einen Höheren oder Führer, auch die an das Leben selbst, in seinem Reichtum und seiner Mannigfaltigkeit, war sonst, als männliche Tugend verstanden, für ihn der Inbegriff eines aufrechten Verhaltens gewesen, das bei aller Aufgeschlossenheit mehr Zurückhaltung als Hinausgabe enthielt. Und gleiches ließe sich von der Treue sagen, die, auf eine Frau beschränkt, einen engen Beigeschmack hat; von Ritterlichkeit und Sanftmut, Selbstlosigkeit und Zartgefühl, alles Tugenden, die wohl gewöhnlich in Verbindung mit der Frau vorgestellt werden, aber dabei ihren besten Reichtum verlieren, so daß sich schwer sagen läßt, ob auch das Erlebnis der Liebe nur zu ihr, wie Wasser an die tiefste und gewöhnlich nicht einwandfreie Stelle zusammenströmt oder ob das Erlebnis der Frauenliebe die vulkanische Stelle ist, von deren Wärme alles lebt, was auf der Erdoberfläche blüht. Ein sehr hoher Grad von männlicher Eitelkeit fühlt sich darum in der Gesellschaft von Männern wohler als in der von Frauen, und wenn Arnheim seinen in die Sphären der Macht getragenen Ideenreichtum mit dem durch Diotima bewirkten Zustand der Glückseligkeit verglich, so konnte er sich des Eindrucks einer rückläufigen Bewegung, die mit ihm vor sich gegangen sei, durchaus nicht erwehren.
Er hatte zuweilen das Bedürfnis nach Umarmungen und Küssen wie ein Knabe, der sich, wenn sein Wunsch nicht erfüllt wird, leidenschaftlich zu Füßen der Versagenden stürzt, oder er ertappte sich bei dem Verlangen, zu schluchzen, Worte hervorzustoßen, welche die Welt herausfordern sollten, und schließlich gar die Geliebte auf seinen eigenen Händen zu entführen. Nun weiß man ja wohl, daß am verantwortungslosen Rand der bewußten Person, von wo die Märchen und Gedichte kommen, auch allerhand kindische Erinnerungen zu Hause sind und sichtbar werden, wenn ausnahmsweise der leichte Rausch einer Ermüdung, das fessellose Spiel des Alkohols oder irgendeine Erschütterung diese Bezirke durchhellen; und leibhaftiger als solche Schemen waren auch Arnheims Anwandlungen nicht, so daß er nicht Ursache gehabt hätte, sich über sie aufzuregen (und durch solche Erregung die ursprüngliche gewichtig zu verstärken), wenn ihn nicht diese infantilen Rückwandlungen aufdringlich davon überzeugt hätten, daß sein Seelenleben voll von verblaßten Moralpräparaten sei. Das Allgemeingültige, das er immer seinen Handlungen zu geben bestrebt war, als ein vor ganz Europa lebender Mensch, zeigte sich ihm mit einemmal als etwas Uninnerliches. Vielleicht ist das nur natürlich, wenn etwas für alle gelten soll; das Befremdliche war aber die Umkehrung dieses Schlusses, die sich Arnheim gleichfalls aufdrängte, denn wenn das Allgemeingültige uninnerlich ist, dann ist umgekehrt der innere Mensch das Ungültige, und so verfolgte Arnheim jetzt nicht nur auf Schritt und Tritt der Drang, irgend etwas unrichtig Schmetterndes, unvernünftig Illegitimes zu tun, sondern auch noch die Belästigung, daß dies im Sinne irgendeiner Übervernunft das Richtige wäre. Seit er das Feuer wieder kennengelernt hatte, das ihm die Zunge verdorrte, überwältigte ihn das Gefühl, er habe einen Weg, den er ursprünglich gegangen, vergessen, und die gesamte Ideologie eines großen Mannes, die ihn erfüllte, sei nur der Notersatz für etwas, das ihm verlorengegangen war.
Auf diese Weise erinnerte er sich in natürlicher Folge seiner Kindheit. Auf seinen Jugendbildnissen hatte er große, schwarze, runde Augen, wie man den Knaben Jesus malt, wenn er im Tempel mit den Schriftgelehrten disputiert, und er sah alle Erzieherinnen und Erzieher in einem Kreis um sich versammelt stehn und sich über seine Geistesgaben wundern, denn er war ein kluges Kind gewesen und hatte immer kluge Erzieher gehabt. Er hatte sich aber auch als glühendes, gefühlvolles Kind bewährt, das kein Unrecht leiden konnte; da er selbst viel zu behütet gewesen, als daß ihm eins hätte geschehen können, nahm er sich auf der Straße fremden Unrechts an und warf sich seinetwillen in Kämpfe. Das war eine sehr bedeutende Leistung, wenn berücksichtigt wird, wie sehr man ihn daran hinderte, so daß niemals mehr als eine Minute verstrich, ohne daß jemand herbeistürzte, um ihn von seinem Gegner zu trennen. Und weil auf diese Weise solche Kämpfe gerade lange genug dauerten, um die eine oder andere schmerzliche Erfahrung zu sammeln, aber rechtzeitig genug unterbrochen wurden, um in ihm den Eindruck ungebeugter Tapferkeit zu hinterlassen, dachte Arnheim noch heute mit Einverständnis an sie zurück, und die Herreneigenschaft vor nichts zurückscheuenden Mutes überging später auf seine Bücher und Überzeugungen, wie es ein Mensch braucht, der seinen Zeitgenossen zu sagen hat, wie sie sich zu verhalten haben, um würdig und glücklich zu sein.
Dieser Zustand seiner Kinderzeit war ihm also verhältnismäßig lebhaft erhalten geblieben, aber ein anderer, der sich etwas später und teilweise als die umbildende Fortsetzung eingestellt hatte, zeigte sich dem Betrachter entschlafen oder, richtiger gesagt, versteint, wenn man erlaubt, dabei unter Steinen Brillanten zu verstehen. Es war der, nun in der Berührung mit Diotima zu neuem Leben aufschreckende der Liebe, und das Bezeichnende war, daß ihn Arnheim in seiner Jünglingszeit ursprünglich ganz ohne Frauen, überhaupt ohne bestimmte Personen, kennengelernt hatte, und daran war etwas Verwirrendes, womit er sein Leben lang nicht fertiggeworden, obgleich er im Lauf der Zeit die modernsten Erklärungen dafür kennenlernte. »Was er meinte, war vielleicht nur das unbegreiflich Hergekommene von etwas noch Abwesendem, wie jene seltenen Mienen in Gesichtern, die gar nicht mit diesen, sondern mit irgendwelchen anderen, plötzlich jenseits alles Gesehenen vermuteten Gesichtern zusammenhängen, waren kleine Melodien mitten in Geräuschen, Gefühle in Menschen, ja es gab in ihm Gefühle, die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren, sondern nur, als hätte sich etwas in ihm verlängert, mit den Spitzen sich schon hineintauchend, benetzend, wie die Dinge manchmal sich verlängern, an fieberhellen Frühlingstagen, wenn ihre Schatten über sie hinauskriechen und so still und nach einer Richtung bewegt stehen wie Spiegelbilder im Bach.« So hatte es, freilich viel später und mit anderem Akzent, ein Dichter ausgedrückt, den Arnheim schätzte, weil es für ein Zeichen von Eingeweihtheit galt, von diesem, dem Gesicht des Publikums entzogenen, heimlichen Mann zu wissen; ohne daß er ihn übrigens selbst verstand, denn Arnheim verband solche Andeutungen mit den Reden vom Erwachen einer neuen Seele, wie sie zu seiner Jugendzeit im Schwange gewesen waren, oder mit den langen mageren Mädchenkörpern, die man damals im Bilde liebte und durch ein Lippenpaar auszeichnete, das wie ein fleischiger Blütenkelch aussah.
Damals, es war um das Jahr achtzehnhundertsiebenundachtzig – »du lieber Gott, also fast vor einem Menschenalter!« dachte Arnheim – zeigten seine eigenen Photographien einen modernen, »neuen« Menschen, wie man das zu jener Zeit nannte, das heißt, er trug auf ihnen eine hochgeschlossene schwarze Atlasweste und eine breite Kragenbinde aus schwerer Seide, die an die Mode der Biedermeierzeit anknüpfte, der Absicht nach aber an Baudelaire erinnern sollte, was durch eine Orchidee unterstützt wurde, die als neue Erfindung zauberhaft bösartig in einem Knopfloch stak, wenn Arnheim jun. zu Tafel gehn und seine junge Person in einer Gesellschaft von robusten Kaufleuten und Freunden seines Vaters durchsetzen mußte. An Werktagen dagegen zeigten die Bilder gerne einen Zollstab als Schmuck, der aus einem weichen englischen Strapazanzug guckte, zu dem recht komisch, aber die Bedeutung des Kopfes erhöhend, ein viel zu hoher steifer Stehkragen getragen wurde. So hatte Arnheim ausgesehen und vermochte noch heute nicht, seinem Abbild ein gewisses Maß von Wohlwollen zu versagen. Er spielte gut und mit dem Eifer einer noch ungewöhnlichen Leidenschaft Tennis, das man in jener ersten Zeit auf Grasplätzen betrieb; besuchte zum Staunen seines Vaters und allen sichtbar Arbeiterversammlungen, denn er hatte während eines Studienjahrs in Zürich die anstößige Bekanntschaft der sozialistischen Ideen gemacht; bedachte sich aber auch nicht, andern Tags rücksichtslos zu Pferd durch ein Arbeiterdorf zu sprengen. Kurz, alles das war ein Wirbel von widerspruchsvollen, aber neuen geistigen Elementen gewesen, welche die bezaubernde Einbildung erweckten, zur rechten Zeit geboren worden zu sein, die so wichtig ist, wenngleich man später natürlich erkennt, daß ihr Wert nicht gerade in ihrer Seltenheit liegt. Ja Arnheim war, späterhin immer mehr Raum konservativen Erkenntnissen gebend, sogar im Zweifel, ob dieses sich beständig erneuende Gefühl, der zuletzt Gekommene zu sein, nicht eine Verschwendung der Natur darstelle; er gab es jedoch nicht preis, weil er nur sehr ungern überhaupt etwas preisgab, was er einmal besessen, und sein sammelndes Wesen sorgfältig alles in sich aufbewahrt hatte, was es damals gegeben. Nur kam ihm heute vor, so abgerundet und mannigfaltig sein Leben sich ihm auch darstellte, es hätte darin von allem doch gerade das eine ihn ganz anders nachwirkend ergriffen, was zuerst unter allem als das Unwirklichste erschienen war: eben jener romantisch ahnungsvolle Zustand, der ihm eingeflüstert hatte, nicht nur der lebhaft bewegten Welt, sondern noch einer anderen anzugehören, die wie ein angehaltener Atem in ihr schwebte.
Diese schwärmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen Ursprünglichkeit gegenwärtig war, gebot jeder Tätigkeit und Regsamkeit Stille, der Tumult der jugendlichen Widersprüche und die hoffnungsvollen wechselnden Aussichten machten dem lautlosen Tagtraum Platz, daß alle Worte, Geschehnisse und Forderungen in ihrer von der Oberfläche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien. In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit waren fern wie der Lärm vor einem Garten, ihn dünkte, die Seele sei aus ihren Ufern getreten und nun erst wahrhaft anwesend. Man kann nicht lebhaft genug versichern, daß dies keine Philosophie war, sondern ein ebenso körperhaftes Erlebnis, wie wenn man den vom Tageshimmel überstrahlten Mond stumm im Vormittagslicht hängen sieht. In diesem Zustand speiste zwar schon der junge Paul Arnheim beherrscht in einem vornehmen Restaurant, ging sorgfältig gekleidet in jede Gesellschaft und tat überall das, was zu tun war; aber man konnte sagen, daß es dabei von ihm zu ihm ebensoweit war wie zum nächsten Menschen oder Ding, daß die Außenwelt nicht an seiner Haut aufhörte und die Innenwelt nicht bloß durch das Fenster der Überlegung hinausleuchtete, sondern daß sie beide sich zu einer ungeteilten Abgeschiedenheit und Anwesenheit vereinten, die so mild, ruhig und hoch war wie ein traumloser Schlaf. In moralischer Beziehung zeigte sich dann eine wahrhaft große Gleichgültigkeit und Gleichwertigkeit; es war nichts klein und nichts groß, ein Gedicht und ein Kuß auf eine Frauenhand wogen ebensoviel wie ein mehrbändiges Werk oder eine politische Großtat, und alles Böse war so sinnlos, wie im Grund auch alles Gute in diesem Umfangensein von der zärtlichen Urverwandtschaft aller Wesen überflüssig wurde. Arnheim benahm sich also ganz wie gewöhnlich, nur schien es in einer ungreifbaren Bedeutung zu geschehen, hinter deren zitternder Flamme der innere Mensch unbeweglich stand und dem äußeren zusah, der vor ihr einen Apfel aß oder sich vom Schneider gerade einen Anzug anmessen ließ.
War das nun eine Einbildung oder der Schatten einer Wirklichkeit, die man niemals ganz verstehen wird? Es kann darauf nur erwidert werden, daß alle Religionen in gewissen Zuständen ihrer Entwicklung behauptet haben, es sei Wirklichkeit, desgleichen alle Liebenden, alle Romantiker und alle Menschen, die eine Neigung für den Mond haben, den Frühling und das selige Sterben der ersten Herbsttage. In der Folge verliert sich das aber wieder; es verflüchtigt sich oder trocknet ein, das läßt sich nicht unterscheiden, jedoch eines Tags stellt man fest, daß anderes an seiner Stelle da ist, und man vergißt es so rasch, wie man nur unwirkliche Erlebnisse, Träume oder Einbildungen vergißt. Da dieses Ur- und Weltliebeserlebnis zumeist gleichzeitig mit der ersten persönlichen Verliebtheit aufzutreten pflegt, glaubt man überdies später auch beruhigt zu wissen, wie es einzuschätzen sei, und rechnet es zu den Torheiten, die man sich nur vor Erlangen des politischen Wahlrechts gestatten darf. So war dies also beschaffen, aber da es sich bei Arnheim niemals mit einer Frau verbunden hatte, konnte es auch nicht in der natürlichen Weise mit ihr aus seinem Herzen verschwinden; dafür wurde es von den Eindrücken überdeckt, die sein Wesen erfuhr, sobald er nach Vollendung seiner Studien- und Freizeit in die Geschäfte seines Vaters eintrat. Da er nichts halb tat, entdeckte er dort alsbald, daß das schaffende und recht beschaffene Leben beiweitem ein größeres Gedicht sei als alle, die Dichter in ihren Schreibstuben ersannen, und das war nun etwas ganz anderes.
Dabei zeigte sich zum erstenmal seine Begabung zur Vorbildlichkeit. Denn das Gedicht des Lebens hat vor allen übrigen Gedichten voraus, daß es gleichsam in großen Buchstaben gesetzt ist, wie immer sein Inhalt sonst beschaffen sein möge. Um den kleinsten Volontär, der in einem Weltgeschäft tätig ist, kreist die Welt, und Erdteile gucken ihm über die Schulter, so daß nichts, was er tut, ohne Bedeutung ist; um den einsamen Verfasser in seinem Zimmer kreisen dagegen höchstens die Fliegen, er mag sich anstrengen, wie er will. Das ist so einleuchtend, daß vielen Menschen in dem Augenblick, wo sie anfangen, in Lebensmaterial zu schaffen, alles, was sie früher bewegt hat, »nur Literatur« zu sein scheint, das heißt, es übt bestenfalls eine schwächliche und verworrene, meistens aber eine widerspruchsvolle, sich selbst aufhebende Wirkung aus, die in gar keinem Verhältnis zu dem Aufheben steht, das man von ihrer Veranstaltung macht. Nicht ganz so ging das natürlich bei Arnheim vor sich, der weder die schönen Regungen der Kunst verleugnete, noch irgendetwas, das ihn einmal heftig bewegt hatte, als Torheit oder Einbildung anzusehen vermochte; sobald er die Überlegenheit seiner männlichen Verhältnisse über die träumerisch jugendlichen erkannte, ging er daran, unter Führung der neuen Manneserkenntnisse eine Verschmelzung beider Erlebnisgruppen zu bewerkstelligen. Tatsächlich tat er damit eben das, was alle die vielen und die Mehrzahl der Gebildeten ausmachenden Menschen tun, die nach dem Eintritt ins Erwerbsleben ihre früheren Interessen nicht ganz verleugnen wollen, ja im Gegenteil jetzt erst ein ruhiges, reifes Verhältnis zu den schwärmerischen Antrieben ihrer Jugend finden. Die Entdeckung des großen Gedichtes des Lebens, an dem sie sich mitarbeiten wissen, schenkt ihnen den Mut des Dilettanten wieder, den sie zur Zeit, wo sie ihre eigenen Gedichte verbrannten, verloren hatten; sie dürfen sich, am Leben dichtend, wahrhaft als geborene Fachleute ansehen und gehen daran, ihr tägliches Tun mit geistiger Verantwortung zu durchdringen, fühlen sich vor tausend kleine Entscheidungen gestellt, damit es sittlich und schön sei, nehmen sich an der Vorstellung ein Muster, daß Goethe so gelebt habe, und erklären, daß sie ohne Musik, ohne Natur, ohne Betrachtung des unschuldigen Spiels von Kindern und Tieren und ohne ein gutes Buch das Leben nicht freuen würde. Dieser so durchseelte Mittelstand ist unter Deutschen noch immer der Hauptkonsument der Künste und aller nicht zu schwierigen Literatur, aber seine Mitglieder sehen auf Kunst und Literatur, die ihnen früher als Vollendung ihrer Wünsche vorgekommen waren, begreiflicherweise und wenigstens mit einem Auge so herab wie auf eine Frühstufe – wenn diese auch in ihrer Art vollendeter ist, als es ihnen gegönnt war, – oder sie halten davon, was etwa ein Eisenblechfabrikant von einem Gipsfigurenbildhauer halten müßte, wenn er die Schwäche besäße, dessen Produkte schön zu finden.
Diesem Mittelstand der Bildung glich nun Arnheim wie eine prächtige gefüllte Gartennelke einer dürftigen, am Wegrand entstandenen Steinnelke. Niemals kam für ihn geistiger Umsturz, grundsätzliche Neuerung in Frage, sondern stets nur Verflechtung ins Bestehende, Besitzergreifung, sanfte Korrektur, moralische Neubelebung des verblaßten Privilegs der in Geltung befindlichen Mächte. Er war kein Snob, kein Anbeter des ihm überlegenen Teils der Vornehmen; bei Hof eingeführt und in Berührung mit dem Hochadel wie mit den Spitzen der Bürokratie getreten, suchte er sich keineswegs dieser Umgebung als Nachahmer, sondern nur als Liebhaber konservativ feudaler Lebensgewohnheiten anzupassen, der seine bürgerliche, sozusagen Frankfurterisch-Goethesche Herkunft weder vergißt, noch vergessen machen will. Aber mit dieser Leistung war seine Gegenstellung erschöpft, und ein größerer Gegensatz wäre ihm schon lebensungerecht erschienen. Er war wohl innerlich überzeugt, daß die schaffenden Menschen – und an ihrer Spitze, sie zu einem neuen Zeitalter zusammenfassend, die das Leben lenkenden Kaufleute – berufen seien, die alten Mächte des Seins irgendwann in der Herrschaft abzulösen, und das gab ihm einen gewissen stillen Hochmut, dem die seither eingetretene Entwicklung das Zeugnis der Berechtigung ausgestellt hat; aber wenn man diesen Herrschaftsanspruch des Geldes auch als gegeben voraussetzt, so war doch noch die Frage offen, die angestrebte Macht richtig anzuwenden. Die Vorgänger der Bankdirektoren und Großindustriellen hatten es leicht, sie waren Ritter und machten aus ihren Gegnern Hirschsuppe, wofür sie die Waffen des Geistes dem Klerus überließen; der zeitgenössische Mensch dagegen besitzt zwar im Geld, wie Arnheim es verstand, die heute sicherste Methode der Behandlung aller Beziehungen, aber wenn sie auch hart und genau wie ein Fallbeil sein kann, kann sie auch so empfindlich wie ein Rheumatiker sein – man denke bloß an das Ziehen und Lahmen in den Kursen beim geringsten Anlaß! – und hängt auf das zarteste mit allem zusammen, was von ihr beherrscht wird. Durch dieses zarte Zusammenhängen aller Lebensgebilde, das nur blinder Ideologenhochmut vergessen kann, kam Arnheim dazu, im königlichen Kaufmann die Synthese von Umsturz und Beharren, Macht und bürgerlicher Zivilisiertheit, vernünftigem Wagnis und charaktervollem Wissen zu erblicken, zuinnerst aber eine Symbolgestalt der sich vorbereitenden Demokratie; durch rastlose und strenge Arbeit an seiner eigenen Persönlichkeit, geistige Organisation der ihm zugänglichen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhänge und durch Gedanken über Führung und Aufbau des ganzen Staats wollte er einer neuen Zeit in die Arme wirken, wo die durch Geschick und Natur ungleichen Gesellschaftskräfte richtig und fruchtbar geordnet sind und das Ideal an den notwendigerweise einschränkenden Realitäten nicht zerbricht, sondern sich reinigt und befestigt. Um das mit sachlichem Anklang auszudrücken, hatte er also die Interessenfusion Seele-Geschäft durch Ausbildung der Dachvorstellung Königs-Kaufmann zur Durchführung gebracht, und das Gefühl der Liebe, das ihn einstens empfinden geheißen, alles sei im Grunde nur eines, lag jetzt als Kern in seiner Überzeugung von Einheit und Harmonie der Kultur und der menschlichen Interessen.
Ungefähr zu dieser Zeit begann Arnheim auch seine Schriften zu veröffentlichen, und das Wort Seele tauchte in ihnen auf. Man kann vermuten, daß er es wie eine Methode, einen Vorsprung, als Königswort gebrauchte, denn sicher ist, daß Fürsten und Generale keine Seele haben, und von Finanzleuten war er der erste. Gewiß ist auch, daß dabei ein Bedürfnis eine Rolle spielte, sich gegen seine sehr vernünftige engere Umwelt, namentlich gegen die im Geschäftlichen überlegene Führernatur seines Vaters, neben dem er allmählich die Figur des alternden Kronprinzen zu spielen begann, in einer dem Geschäftsverstande unzugänglichen Weise zu verteidigen. Und ebenso gewiß ist es, daß sein Ehrgeiz, alles Wissenswerte zu beherrschen, – ein Hang zur Polyhistorie, dem in solchem Ausmaße, wie es seinem Bedürfnis entsprach, kein Mensch gewachsen gewesen wäre – in der Seele ein Mittel fand, um alles, was sein Verstand nicht beherrschen konnte, zu entwerten. Denn er war darin nicht anders wie sein ganzes Zeitalter, das nicht aus religiöser Bestimmung eine starke religiöse Neigung neu entwickelt hat, sondern nur, wie es scheint, aus einer weiblich reizbaren Auflehnung gegen Geld, Wissen und Rechnen, denen es leidenschaftlich unterliegt. Aber fraglich und ungewiß war es, ob Arnheim, wenn er von Seele sprach, selbst an sie glaubte und dem Besitz einer Seele die gleiche Wirklichkeit zuschrieb wie seinem Aktienbesitz. Er benützte sie als einen Ausdruck für etwas, wofür er keinen anderen hatte. Hingerissen von seinem Bedürfnis – denn er war ein Redner, der nicht leicht einen anderen zu Worte kommen ließ; späterhin, nachdem er von dem Eindruck, den er in anderen zu erregen fähig war, Kenntnis genommen hatte, auch immer häufiger in seinen Schriften – brachte er die Rede auf sie, als wäre ihr Dasein so sicher anzunehmen, wie man das des Rückens voraussetzt, obgleich man ihn nicht sieht. Es faßte ihn eine wahre Leidenschaft, in dieser Weise von etwas Ungewissem und Ahnungsvollem zu schreiben, das in das Allzugewisse der Weltgeschäfte verflochten ist wie ein tiefes Schweigen in lebhafte Worte; er leugnete nicht den Nutzen des Wissens, ja im Gegenteil, er machte selbst Eindruck durch sein emsiges Zusammentragen, wie es nur ein Mann vermag, dem dazu alle Mittel zu Gebote stehn, aber nachdem er diesen Eindruck gemacht hatte, erklärte er, daß sich über dem Bereich des Scharfsinns und der Genauigkeit ein Reich der Weisheit befinde, das nur noch seherisch erkannt werden könne; er beschrieb den Willen, der Staaten und Weltgeschäfte gründet, um verstehen zu lassen, daß er bei aller Größe nichts sei wie ein Arm, der von einem im Unsichtbaren schlagenden Herzen bewegt werden muß; er erklärte seinen Zuhörern die Fortschritte der Technik oder den Wert der Tugenden in der allergewöhnlichsten Weise, wie es jeder Bürger sich vorstellt, um aber hinzuzufügen, daß solcher Gebrauch der Natur- und Geisteskräfte doch nur verhängnisvolle Unkenntnis bleibe, wenn man nicht ahne, daß sie die Erregungen eines Ozeans sind, der tief unter ihnen liege und von den Wellen kaum geritzt werde. Und er trug solche Äußerungen im Stil von Erlassen des Statthalters einer vertriebenen Königin vor, der seine Weisungen von ihr persönlich empfangen hat und die Welt nach ihnen ordnet.
Vielleicht war dieses Ordnen seine eigentliche und heftigste Leidenschaft, ein Machtdrang, der weit alles überschritt, was selbst ein Mensch in seiner Stellung sich gewähren konnte, und unmittelbar dazu führte, daß der in den Bezirken der Wirklichkeit so mächtige Mann mindestens einmal im Jahr sich auf sein Schloß in der Mark zurückziehen und seinem Sekretär ein Buch ins Stenogramm diktieren mußte. Jene sonderbare Ahnung, die zuerst und am lebhaftesten in seinen schwärmerischen Jugendstunden hervorgekommen war, hatte sich diesen Weg gebahnt, aber sie suchte ihn zuweilen auch noch unmittelbar, wenngleich mit geschwundener Kraft, heim. Inmitten der Weltgeschäfte befiel es ihn dann wie eine süße Lähmung und Klostersehnsucht, die ihm zuflüsterte, daß alle Widersprüche, alle großen Ideen, alle Welterfahrungen und -anstrengungen nicht nur so Eines seien, wie man es ungenau als Kultur und Humanität versteht, sondern auch in einer wild-wörtlichen und flimmernd untätigen Bedeutung, so wie man an einem kränkelnd schönen Tag die Hände kreuzen, über Fluß und Wiesen hinschauen und nimmer sich lösen mag. In diesem Sinne war sein Schreiben ein Kompromiß. Und weil es nur eine Seele gibt und diese nicht greifbar, sondern im Exil und von dort sich nur auf eine einzige, so merkwürdig undeutliche oder vieldeutige Weise meldend, dagegen unzählige, schlechthin unendlich viele und alle Fragen der Welt, auf die man diese königliche Botschaft anwenden kann, so entstand mit den Jahren jene ernste Verlegenheit für ihn, in die alle Legitimisten und Propheten geraten, wenn es zu lange dauert. Arnheim brauchte sich nur in der Einsamkeit zum Schreiben hinzusetzen, so führte die Feder geradezu mit gespenstischer Ergiebigkeit seine Gedanken von der Seele zu den Problemen des Geistes, der Tugenden, der Wirtschaft und der Politik, die, aus unsichtbarer Quelle bestrahlt, in einer deutlichen und magisch einheitlichen Beleuchtung erschienen. Dieser Ausdehnungsdrang hatte Berauschendes, dafür war er aber an jene Spaltung des Bewußtseins gebunden, die bei vielen die Voraussetzung der schriftlichen Schöpfung ist, indem der Geist alles ausschaltet und vergißt, was ihm nicht ins Konzept paßt; im Angesicht eines Unterredners sprechend und durch dessen Person den Beziehungen der Erde verbunden, würde sich Arnheim niemals so weit ausgelassen haben, aber über ein Papier gebeugt, das bereitlag, seine Anschauung widerzuspiegeln, ließ er es sich mit Freuden an einem gleichnishaften Ausdruck von Überzeugungen genug sein, die nur zum geringsten Teil fest, zum größeren ein Nebel von Worten waren, dessen einziger, übrigens nicht unbeträchtlicher Wirklichkeitsanspruch darin bestand, daß er unwillkürlich an immer den gleichen Stellen aufstieg.
Wer ihn deshalb tadeln möchte, sollte bedenken, daß eine doppelte geistige Persönlichkeit zu besitzen, schon längst nicht mehr ein Kunststück ist, das nur Narren fertigbringen, sondern daß im Tempo der Gegenwart die Möglichkeit politischer Einsicht, die Fähigkeit, einen Zeitungsartikel zu schreiben, die Kraft, an neue Richtungen in Kunst und Literatur zu glauben, und unzähliges andere ganz und gar auf der Begabung gegründet ist, für bestimmte Stunden gegen seine Überzeugung überzeugt zu sein, von dem vollen Bewußtseinsinhalt einen Teil abzuspalten und diesen zu einem neuen Vollüberzeugtsein auszubreiten. Es bedeutete auf diese Weise noch einen Vorzug, daß Arnheim ganz ehrlich niemals von dem überzeugt war, was er sagte. Als er sich auf der Höhe der Mannesjahre befand, hatte er sich zu allem und jedem, was es gab, geäußert, besaß ausgebreitete Überzeugungen und sah keine Grenze, an der er hätte aufhören müssen, auch in Zukunft neue, harmonisch aus den alten entwickelte Überzeugungen zu gewinnen, wenn er in der gleichen Weise weiter fortfuhr. Einem so wirksam denkenden Mann, der in anderen Bewußtseinszuständen Rentabilitätsberechnungen und Bilanzen durchsah, konnte es nicht entgehen, daß das ein Tun ohne Ränder und Lauf war, wenn es sich auch schier unerschöpflich ausbreitete; es fand seine einzige Umgrenzung in der Einheit seiner Person, und obgleich Arnheim viel Selbstgefühl vertrug, war das doch für seinen Verstand kein befriedigender Zustand. Er schob wohl die Ursache auf den irrationalen Rest, den das Leben dem unterrichteten Betrachter allerorten zeigt; er suchte sich auch achselzuckend damit zu beruhigen, daß in der gegenwärtigen Zeit alles ins Uferlose gehe, und da niemand sich ganz über die Schwächen seines Jahrhunderts hinausheben kann, erspähte er darin sogar eine wertvolle Möglichkeit, die allen großen Männern eigene Tugend der Bescheidenheit zu üben, indem er neidlos Erscheinungen wie einen Homer oder Buddha, weil sie in günstigeren Zeitaltern gelebt hatten, über sich setzte: aber mit der Zeit, wo sein literarischer Erfolg auf die Höhe kam, ohne daß sich in seinem Kronprinzenleben Entscheidendes geändert hatte, wuchs jener irrationale Rest, wuchsen der Mangel greifbarer Ergebnisse und das Mißbehagen, sein Ziel verfehlt und seinen ersten Willen vergessen zu haben, drückend an. Er überblickte sein Werk, und wenn er auch mit ihm zufrieden sein durfte, so glaubte er sich nun doch manchmal durch alle diese Gedanken bloß einem sehnsüchtig nachwirkenden Ursprung wie durch eine Mauer von Brillanten entrückt zu sehen, die täglich dicker wurde.
Es war ihm von solcher Art gerade in der letzten Zeit etwas Unangenehmes widerfahren, das ihn tief berührt hatte. Er hatte die Muße, die er sich jetzt öfter als sonst gönnte, dazu benützt, seinem Sekretär einen Aufsatz über die Übereinstimmung von Staatsbauten und Staatsauffassung in die Maschine zu diktieren, und hatte einen Satz »Wir sehen das Schweigen der Mauern, wenn wir diesen Bau betrachten« nach dem Worte Schweigen unterbrochen, um für einen Augenblick das Bild der römischen Cancelleria zu genießen, das soeben ungerufen vor seinem inneren Gesicht aufgestiegen war; aber als er wieder ins Manuskript blickte, bemerkte er, daß der Sekretär, gewohnheitsmäßig voraneilend, schon niedergeschrieben hatte: »Wir sehen das Schweigen der Seele, wenn –«. An diesem Tag diktierte Arnheim nicht weiter, und am folgenden ließ er den Satz streichen.
Was wog nun gegen Erlebnisse von solcher Ausdehnung und Tiefe des Hintergrunds das etwas gewöhnliche der körperlich an eine Frau geknüpften Liebe? Arnheim mußte sich leider gestehen, daß es genau so viel wog wie die sein Leben zusammenfassende Erkenntnis, daß alle Wege zum Geist von der Seele ausgehen, aber keiner zurückführt! Gewiß hatten sich schon viele Frauen naher Beziehungen zu ihm glücklich geschätzt, aber wenn es nicht parasitäre Naturen waren, so waren es tätige, studierte Frauen und Künstlerinnen, denn mit der ausgehaltenen und der selbst erwerbenden Gattung Frau konnte man sich auf Grund klarer Verhältnisse verständigen; die moralischen Bedürfnisse seiner Natur hatten ihn immer in Beziehungen geführt, wo der Instinkt und die ihn begleitenden unvermeidlichen Auseinandersetzungen mit Frauen an der Vernunft einen gewissen Halt hatten. Aber Diotima war das erste Weib, das sein hintermoralisches, geheimeres Leben ergriff, und er sah sie deshalb manchesmal geradezu mit Scheelsucht an. Sie war schließlich nichts als eine Beamtengattin, von bestem Stil zwar, aber doch ohne jene höchste menschliche Bildung, die nur die Macht verleihen kann, und er hätte Anspruch auf ein Mädchen aus der amerikanischen Hochfinanz oder dem englischen Hochadel besessen, wenn er sich ganz binden wollte. Er hatte Augenblicke, wo ein ganz ursprünglicher Unterschied der Kinderstube, ein grausam naiver Kinderhochmut oder das Entsetzen des gepflegten Kindes, das zum erstenmal in die öffentliche Schule geführt wird, in ihm zum Vorschein kam, so daß ihm seine wachsende Verliebtheit wie eine drohende Schande erschien. Und wenn er in solchen Augenblicken seine Geschäfte mit einer eisigen Überlegenheit aufnahm, wie sie nur ein abgestorbener und zurückgekehrter Geist hat, so erschien ihm die kühle, von nichts zu verunreinigende Vernunft des Geldes im Vergleich mit der Liebe als eine außerordentlich saubere Macht.
Aber das bedeutete nichts, als daß für ihn die Zeit gekommen war, wo der Gefangene nicht begreift, wie er sich die Freiheit hat rauben lassen können, ohne sie bis auf den Tod zu verteidigen. Denn wenn Diotima sagte: »Was sind Weltereignisse? Un peu de bruit autour de notre âme…!« – so fühlte er das Gebäude seines Lebens erzittern.
Moosbrugger
saß indessen noch immer in einer Untersuchungszelle des Landesgerichts. Sein Verteidiger hatte frischen Wind in die Segel bekommen und bemühte sich bei den Behörden, die Causa nicht so rasch zum letzten Federstrich kommen zu lassen.
Moosbrugger lächelte dazu. Er lächelte aus Langweile.
Die Langweile wiegte seine Gedanken. Gewöhnlich löscht sie sie ja aus; aber die seinen wiegte sie; diesmal; es war ein Zustand, wie wenn ein Schauspieler in der Garderobe sitzt und auf seinen Auftritt wartet.
Wenn Moosbrugger einen großen Säbel gehabt hätte, würde er ihn jetzt genommen und dem Stuhl den Kopf abgeschlagen haben. Er würde dem Tisch den Kopf abgeschlagen haben und dem Fenster, dem Kübel und der Türe. Er würde dann allem, dem er den Kopf abschlug, seinen eigenen aufgesetzt haben, denn es gab in dieser Zelle nur seinen eigenen Kopf, und das war schön. Er konnte sich ihn vorstellen, wie er auf den Dingen saß, mit dem breiten Schädel, dem Haar, das sich wie ein Fell vom Scheitel in die Stirn zog. Er hatte die Dinge dann gern.
Wenn der Raum nur größer gewesen wäre und das Essen besser!
Er war recht froh, daß er keine Menschen sehen konnte. Menschen waren für ihn schwer erträglich. Sie hatten oft eine Art, auszuspucken oder die Schulter hochzuziehen, daß man ganz hoffnungslos wurde und sie mit der Faust in den Rücken stoßen mochte, so als ob man ein Loch durch die Wand schlagen müßte. Moosbrugger glaubte nicht an Gott, sondern an seine persönliche Vernunft. Die ewigen Wahrheiten hießen bei ihm verächtlich: der Richter, der Pfaffe, der Gendarm. Er mußte sich seine Sache allein machen, und da hat man schon manchmal den Eindruck, daß einem alle den Weg verstellen! Er sah vor sich, was er oft gesehen: die Tintenfässer, das grüne Tuch, die Bleistifte, dann das Kaiserbildnis an der Wand und wie sie alle dasaßen; in seiner Anordnung kam ihm das wie ein Schnappeisen vor, zugedeckt mit dem Gefühl, es muß so sein, statt mit Gras und Blättern. Dann fiel ihm gewöhnlich ein, wie draußen ein Busch an einem Flußknie stand, das Kreischen eines Schöpfbrunnens, Bruchstücke durcheinandergeratender Gegenden, ein endloser Vorrat an Erinnerungen, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß sie ihm ihrerzeit gefällig gewesen waren. Und er träumte: »Ich könnte ihnen etwas erzählen!« Wie ein junger Mensch träumt. Und den hatte man so oft eingesperrt, daß er nie alt wurde. »Das nächste Mal werde ich mir das genauer anschauen müssen,« dachte Moosbrugger »sonst verstehen sie mich ja doch nicht!« Und dann lächelte er streng und sprach wie ein Vater über sich mit den Richtern, der von seinem Sohn sagt: er taugt nichts, sperrt ihn nur tüchtig ein, vielleicht nimmt er sich dann zusammen!
Natürlich ärgerte er sich jetzt zuweilen über die Anordnungen im Gefängnis. Oder es tat ihm etwas weh. Aber dann konnte er sich dem Gefängnisarzt vorführen lassen oder dem Direktor, und so kam alles doch wieder in eine gewisse Ordnung und Ruhe, wie das Wasser über einer toten Ratte, die hineingefallen ist. Freilich stellte er sich das nicht gerade unter diesem Bild vor; aber einen Eindruck, wie ein großes, spiegelndes Wasser ausgebreitet zu sein, das durch nichts zu stören ist, den hatte er jetzt fast immer, wenn er auch die Worte dafür nicht hatte.
Die Worte, die er hatte, waren: – Hmhm, soso.
Der Tisch war Moosbrugger.
Der Stuhl war Moosbrugger.
Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst.
Er meinte das keineswegs verrückt und ungewöhnlich. Die Gummibänder waren einfach weg. Hinter jedem Ding oder Geschöpf, wenn es einem anderen ganz nah kommen möchte, ist ein Gummiband, das sich spannt. Sonst könnten ja auch am Ende die Dinge durch einander hindurchgehen. Und in jeder Bewegung ist ein Gummiband, das einen nie ganz das tun läßt, was man möchte. Diese Gummibänder waren nun mit einemmal fort. Oder war es bloß das hinderliche Gefühl wie von Gummibändern?
Das kann man wohl nicht so genau unterscheiden? »Zum Beispiel, Frauen halten ihre Strümpfe mit Gummibändern. Da hat man's!« – dachte Moosbrugger. »Sie tragen wie ein Amulett Gummibänder ums Bein. Unter den Kitteln. Wie die Ringe, mit denen man die Obstbäume beschmiert, damit die Würmer nicht hinaufsteigen.« Aber das sei nur nebenbei erwähnt. Damit man nicht glaube, Moosbrugger hätte das Bedürfnis gehabt, zu allem Bruder zu sagen. So war er nun nicht gerade. Er war bloß innen und außen.
Er beherrschte jetzt alles und herrschte es an. Er brachte alles in Ordnung, ehe man ihn tötete. Er konnte denken, woran er wollte, augenblicklich war es so fügsam wie ein gut erzogener Hund, zu dem man »Kusch!« sagt. Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht.
Pünktlich kam die Suppe. Pünktlich wurde er geweckt und spazierengeführt. Alles in der Zelle war pünktlich streng und unverrückbar. Das kam ihm manchmal ganz unglaublich vor. In einer merkwürdigen Umkehrung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, daß sie ihm auferlegt war.
Andere Leute haben solche Erlebnisse, wenn sie im Sommerschatten einer Hecke liegen, die Bienen summen, die Sonne klein und hart durch den milchhellen Himmel zieht; die Welt dreht sich dann wie ein mechanisches Spielwerk um solche Leute. In Moosbrugger besorgte das schon der geometrische Anblick, den ihm seine Zelle bot.
Er bemerkte dabei, daß er sich wie verrückt nach gutem Essen sehnte; er träumte davon, und bei Tag lagen die Umrisse eines guten Tellers Schweinsbraten mit fast unheimlicher Beständigkeit vor seinem Auge, sobald sein Geist von anderen Beschäftigungen zurückkehrte. »Zwei Teller!« befahl Moosbrugger dann. »Oder drei!« Er dachte es so stark und die Vorstellung gierig vergrößernd, daß ihm augenblicklich voll und übel wurde, er überfraß sich im Gedanken. »Warum« überlegte er kopfwiegend »folgt so schnell auf daß man essen möchte, daß man schon zu platzen glaubt?« Zwischen Essen und Platzen liegen alle Genüsse der Welt; ach, was für eine Welt, man könnte an hundert Beispielen nachweisen, wie schmal dieser Raum ist! Nur eines davon: Eine Frau, die man nicht hat, ist so, wie wenn der Mond nachts immer höher steigt und saugt und saugt am Herzen; wenn man sie aber gehabt hat, möchte man mit dem Stiefel in ihrem Gesicht herumtreten. Warum ist das so? Er erinnerte sich, daß er oft danach gefragt worden war. Also man konnte antworten, Frauen sind Frauen und Männer; weil die ihnen nachrennen. Aber auch das wollten die, die ihn fragten, nie recht verstehn. Sie wollten wissen, warum er sich einbilde, daß die Leute gegen ihn verschworen seien. Als ob nicht sogar sein eigener Körper mit ihnen konspiriert hätte! Bei Frauen ist das ja ganz klar. Aber auch mit Männern verstand sich sein Körper besser als er selbst; ein Wort gibt das andere, man weiß, was sich gehört, man dreht sich den ganzen Tag einer um den anderen, und im Nu ist man über den schmalen Streif hinaus, wo man ungefährlich miteinander verkehrt: wenn ihm das aber sein Körper zugezogen hatte, dann sollte er ihn nur auch davon befreien! Soweit sich Moosbrugger erinnerte, war er ärgerlich gewesen oder hatte Furcht gehabt, und seine Brust mit den Armen stürzte sich vor wie ein großer Hund, dem das befohlen worden ist. Weiter konnte es Moosbrugger auch nicht verstehn; der Raum zwischen Freundlichkeit und Genughaben ist eben schmal, und wenn es einmal so anfängt, dann wird es rasch entsetzlich eng.
Er erinnerte sich sehr gut, daß die Leute, die sich in Fremdworten ausdrücken können und immerzu über ihn zu Gericht saßen, ihm oft vorgehalten hatten: »Aber deswegen bringt man einen anderen doch nicht gleich um?!« Moosbrugger zuckte die Achseln. Es sind schon Leute wegen ein paar Kreuzern umgebracht worden oder für nichts, weil ein anderer es sich gerade so eingebildet hat. Aber er hielt auf sich, er war nicht so einer. Der Vorwurf hatte ihm mit der Zeit Eindruck gemacht; er würde gerne gewußt haben, warum ihm von Zeit zu Zeit so eng wurde oder wie man das nennen soll, so daß er sich mit Gewalt Platz schaffen mußte, damit ihm das Blut wieder aus dem Kopf rinnen konnte. Er dachte nach. Aber war es nicht mit dem Nachdenken selbst gerade so? Wenn eine gute Zeit dafür begann, hätte er vor Vergnügen nur lächeln mögen. Da juckten nicht mehr die Gedanken unter dem Schädel, sondern plötzlich war nur noch ein einziger Gedanke da. Der Unterschied war so groß wie zwischen dem Watscheln eines kleinen Kindes und dem Tanz eines schönen Weibsbilds. Einfach wie behext. Eine Ziehharmonika wird gespielt, ein Licht steht auf dem Tisch, Schmetterlinge kommen aus der Sommernacht geflogen: so fielen jetzt alle Einfälle in das Licht des einen, oder Moosbrugger packte sie, wenn sie heran kamen, mit seinen großen Fingern und zerdrückte sie, und einen Augenblick lang waren sie dazwischen abenteuerlich wie kleine Drachen anzuschaun. Ein Tropfen von Moosbruggers Blut war in die Welt gefallen. Man konnte das nicht sehen, weil es finster war, aber er fühlte, was im Unsichtbaren vor sich ging. Wirres richtete sich dort draußen gleich. Krauses wurde glatt. Ein lautloser Tanz löste das unerträgliche Surren ab, mit dem ihn die Welt sonst oft quälte. Alles, was geschah, war jetzt schön; so wie ein häßliches Mädel schön wird, wenn es nicht mehr allein dasteht, sondern von anderen an der Hand gefaßt wird, von einem Reigen mitgedreht wird und das Gesicht eine Treppe hinauf gerichtet hat, von der schon andere herunterblicken. Das war sonderbar, und wenn Moosbrugger die Augen öffnete und sich die Leute ansah, die in einem solchen Augenblick, wo ihm alles tanzend gehorchte, gerade in seiner Nähe waren, so kamen auch sie ihm schön vor. Dann waren sie nicht gegen ihn verschworen, bildeten keine Mauer, und es zeigte sich, daß es nur die Anstrengung war, ihn übertrumpfen zu wollen, was das Gesicht von Menschen und Dingen wie eine Last verzerrte. Und dann tanzte Moosbrugger vor ihnen. Tanzte würdig unsichtbar, er, der im Leben mit niemand tanzte, von einer Musik bewegt, die immer mehr zu Einkehr und Schlaf wurde, zum Schoß der Gottesmutter und schließlich zur Ruhe Gottes selbst, zu einem wunderbar unglaubwürdigen und tödlich gelösten Zustand; tanzte tagelang, ohne daß es jemand sah, bis alles außen, aus ihm heraus war, steif und fein wie ein Spinngewebe, das der Frost unbrauchbar gemacht hat, an den Dingen hing.
Wenn man das nicht mitgemacht hat, wie will man dann über das andere urteilen?! Nach den leichten Tagen und Wochen, wo Moosbrugger fast aus seiner Haut schlüpfen konnte, kamen immer wieder die langen Zeiten der Einkerkerung. Die Staatskerker waren nichts dagegen. Wenn er dann denken wollte, zog sich alles bitter leer in ihm zusammen. Die Arbeiterheime und Volksbildungsvereine, wo man ihm sagen wollte, wie er denken solle, haßte er; der sich noch erinnerte, wie die Gedanken große Stelzschritte in ihm machen konnten! Auf Bleisohlen schleppte er sich dann durch die Welt, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, wo es wieder anders werden sollte. Heute konnte er dieser Hoffnung nur noch herablassend nachlächeln. Es war ihm niemals gelungen, die Mitte zwischen seinen zwei Zuständen zu finden, bei der er vielleicht hätte bleiben können. Er hatte genug davon. Er lächelte großartig dem Tod entgegen.
Viel hatte er übrigens gesehn. Bayern und Österreich bis in die Türkei hinunter. Und viel war geschehn, was er in den Zeitungen gelesen hatte, solang er lebte. Es war eine bewegte Zeit, im ganzen. Und im geheimen war er eigentlich recht stolz, darin gelebt zu haben. Wenn man es so bedachte, im einzelnen war es ja eine verworrene und öde Angelegenheit, aber schließlich lief sein Weg mitten durch, und hinterdrein konnte man ihn ganz deutlich sehn, von der Geburt bis zum Tode. Moosbrugger hatte keineswegs das Gefühl, daß man ihn hinrichten werde; er richtete sich selbst, mit Hilfe der anderen Leute hin: so sah er das, was kommen mußte. Und alles war doch irgendwie zusammengefaßt zu einem Ganzen: die Landstraßen, die Städte, die Gendarmen und die Vögel, die Toten und sein Tod. Er selbst verstand es nicht ganz, und die anderen noch weniger, wenn sie auch mehr darüber reden konnten.
Er spuckte aus und dachte an den Himmel, der wie eine blau überzogene Mausefalle aussieht. »In der Slowakei machen sie solche runden, hohen Mausefallen« dachte er.
Moosbrugger lächelte dazu. Er lächelte aus Langweile.
Die Langweile wiegte seine Gedanken. Gewöhnlich löscht sie sie ja aus; aber die seinen wiegte sie; diesmal; es war ein Zustand, wie wenn ein Schauspieler in der Garderobe sitzt und auf seinen Auftritt wartet.
Wenn Moosbrugger einen großen Säbel gehabt hätte, würde er ihn jetzt genommen und dem Stuhl den Kopf abgeschlagen haben. Er würde dem Tisch den Kopf abgeschlagen haben und dem Fenster, dem Kübel und der Türe. Er würde dann allem, dem er den Kopf abschlug, seinen eigenen aufgesetzt haben, denn es gab in dieser Zelle nur seinen eigenen Kopf, und das war schön. Er konnte sich ihn vorstellen, wie er auf den Dingen saß, mit dem breiten Schädel, dem Haar, das sich wie ein Fell vom Scheitel in die Stirn zog. Er hatte die Dinge dann gern.
Wenn der Raum nur größer gewesen wäre und das Essen besser!
Er war recht froh, daß er keine Menschen sehen konnte. Menschen waren für ihn schwer erträglich. Sie hatten oft eine Art, auszuspucken oder die Schulter hochzuziehen, daß man ganz hoffnungslos wurde und sie mit der Faust in den Rücken stoßen mochte, so als ob man ein Loch durch die Wand schlagen müßte. Moosbrugger glaubte nicht an Gott, sondern an seine persönliche Vernunft. Die ewigen Wahrheiten hießen bei ihm verächtlich: der Richter, der Pfaffe, der Gendarm. Er mußte sich seine Sache allein machen, und da hat man schon manchmal den Eindruck, daß einem alle den Weg verstellen! Er sah vor sich, was er oft gesehen: die Tintenfässer, das grüne Tuch, die Bleistifte, dann das Kaiserbildnis an der Wand und wie sie alle dasaßen; in seiner Anordnung kam ihm das wie ein Schnappeisen vor, zugedeckt mit dem Gefühl, es muß so sein, statt mit Gras und Blättern. Dann fiel ihm gewöhnlich ein, wie draußen ein Busch an einem Flußknie stand, das Kreischen eines Schöpfbrunnens, Bruchstücke durcheinandergeratender Gegenden, ein endloser Vorrat an Erinnerungen, von denen er gar nicht gewußt hatte, daß sie ihm ihrerzeit gefällig gewesen waren. Und er träumte: »Ich könnte ihnen etwas erzählen!« Wie ein junger Mensch träumt. Und den hatte man so oft eingesperrt, daß er nie alt wurde. »Das nächste Mal werde ich mir das genauer anschauen müssen,« dachte Moosbrugger »sonst verstehen sie mich ja doch nicht!« Und dann lächelte er streng und sprach wie ein Vater über sich mit den Richtern, der von seinem Sohn sagt: er taugt nichts, sperrt ihn nur tüchtig ein, vielleicht nimmt er sich dann zusammen!
Natürlich ärgerte er sich jetzt zuweilen über die Anordnungen im Gefängnis. Oder es tat ihm etwas weh. Aber dann konnte er sich dem Gefängnisarzt vorführen lassen oder dem Direktor, und so kam alles doch wieder in eine gewisse Ordnung und Ruhe, wie das Wasser über einer toten Ratte, die hineingefallen ist. Freilich stellte er sich das nicht gerade unter diesem Bild vor; aber einen Eindruck, wie ein großes, spiegelndes Wasser ausgebreitet zu sein, das durch nichts zu stören ist, den hatte er jetzt fast immer, wenn er auch die Worte dafür nicht hatte.
Die Worte, die er hatte, waren: – Hmhm, soso.
Der Tisch war Moosbrugger.
Der Stuhl war Moosbrugger.
Das vergitterte Fenster und die verschlossene Tür war er selbst.
Er meinte das keineswegs verrückt und ungewöhnlich. Die Gummibänder waren einfach weg. Hinter jedem Ding oder Geschöpf, wenn es einem anderen ganz nah kommen möchte, ist ein Gummiband, das sich spannt. Sonst könnten ja auch am Ende die Dinge durch einander hindurchgehen. Und in jeder Bewegung ist ein Gummiband, das einen nie ganz das tun läßt, was man möchte. Diese Gummibänder waren nun mit einemmal fort. Oder war es bloß das hinderliche Gefühl wie von Gummibändern?
Das kann man wohl nicht so genau unterscheiden? »Zum Beispiel, Frauen halten ihre Strümpfe mit Gummibändern. Da hat man's!« – dachte Moosbrugger. »Sie tragen wie ein Amulett Gummibänder ums Bein. Unter den Kitteln. Wie die Ringe, mit denen man die Obstbäume beschmiert, damit die Würmer nicht hinaufsteigen.« Aber das sei nur nebenbei erwähnt. Damit man nicht glaube, Moosbrugger hätte das Bedürfnis gehabt, zu allem Bruder zu sagen. So war er nun nicht gerade. Er war bloß innen und außen.
Er beherrschte jetzt alles und herrschte es an. Er brachte alles in Ordnung, ehe man ihn tötete. Er konnte denken, woran er wollte, augenblicklich war es so fügsam wie ein gut erzogener Hund, zu dem man »Kusch!« sagt. Er hatte, obgleich er eingesperrt war, ein ungeheures Gefühl der Macht.
Pünktlich kam die Suppe. Pünktlich wurde er geweckt und spazierengeführt. Alles in der Zelle war pünktlich streng und unverrückbar. Das kam ihm manchmal ganz unglaublich vor. In einer merkwürdigen Umkehrung hatte er den Eindruck, diese Ordnung gehe von ihm aus, obwohl er wußte, daß sie ihm auferlegt war.
Andere Leute haben solche Erlebnisse, wenn sie im Sommerschatten einer Hecke liegen, die Bienen summen, die Sonne klein und hart durch den milchhellen Himmel zieht; die Welt dreht sich dann wie ein mechanisches Spielwerk um solche Leute. In Moosbrugger besorgte das schon der geometrische Anblick, den ihm seine Zelle bot.
Er bemerkte dabei, daß er sich wie verrückt nach gutem Essen sehnte; er träumte davon, und bei Tag lagen die Umrisse eines guten Tellers Schweinsbraten mit fast unheimlicher Beständigkeit vor seinem Auge, sobald sein Geist von anderen Beschäftigungen zurückkehrte. »Zwei Teller!« befahl Moosbrugger dann. »Oder drei!« Er dachte es so stark und die Vorstellung gierig vergrößernd, daß ihm augenblicklich voll und übel wurde, er überfraß sich im Gedanken. »Warum« überlegte er kopfwiegend »folgt so schnell auf daß man essen möchte, daß man schon zu platzen glaubt?« Zwischen Essen und Platzen liegen alle Genüsse der Welt; ach, was für eine Welt, man könnte an hundert Beispielen nachweisen, wie schmal dieser Raum ist! Nur eines davon: Eine Frau, die man nicht hat, ist so, wie wenn der Mond nachts immer höher steigt und saugt und saugt am Herzen; wenn man sie aber gehabt hat, möchte man mit dem Stiefel in ihrem Gesicht herumtreten. Warum ist das so? Er erinnerte sich, daß er oft danach gefragt worden war. Also man konnte antworten, Frauen sind Frauen und Männer; weil die ihnen nachrennen. Aber auch das wollten die, die ihn fragten, nie recht verstehn. Sie wollten wissen, warum er sich einbilde, daß die Leute gegen ihn verschworen seien. Als ob nicht sogar sein eigener Körper mit ihnen konspiriert hätte! Bei Frauen ist das ja ganz klar. Aber auch mit Männern verstand sich sein Körper besser als er selbst; ein Wort gibt das andere, man weiß, was sich gehört, man dreht sich den ganzen Tag einer um den anderen, und im Nu ist man über den schmalen Streif hinaus, wo man ungefährlich miteinander verkehrt: wenn ihm das aber sein Körper zugezogen hatte, dann sollte er ihn nur auch davon befreien! Soweit sich Moosbrugger erinnerte, war er ärgerlich gewesen oder hatte Furcht gehabt, und seine Brust mit den Armen stürzte sich vor wie ein großer Hund, dem das befohlen worden ist. Weiter konnte es Moosbrugger auch nicht verstehn; der Raum zwischen Freundlichkeit und Genughaben ist eben schmal, und wenn es einmal so anfängt, dann wird es rasch entsetzlich eng.
Er erinnerte sich sehr gut, daß die Leute, die sich in Fremdworten ausdrücken können und immerzu über ihn zu Gericht saßen, ihm oft vorgehalten hatten: »Aber deswegen bringt man einen anderen doch nicht gleich um?!« Moosbrugger zuckte die Achseln. Es sind schon Leute wegen ein paar Kreuzern umgebracht worden oder für nichts, weil ein anderer es sich gerade so eingebildet hat. Aber er hielt auf sich, er war nicht so einer. Der Vorwurf hatte ihm mit der Zeit Eindruck gemacht; er würde gerne gewußt haben, warum ihm von Zeit zu Zeit so eng wurde oder wie man das nennen soll, so daß er sich mit Gewalt Platz schaffen mußte, damit ihm das Blut wieder aus dem Kopf rinnen konnte. Er dachte nach. Aber war es nicht mit dem Nachdenken selbst gerade so? Wenn eine gute Zeit dafür begann, hätte er vor Vergnügen nur lächeln mögen. Da juckten nicht mehr die Gedanken unter dem Schädel, sondern plötzlich war nur noch ein einziger Gedanke da. Der Unterschied war so groß wie zwischen dem Watscheln eines kleinen Kindes und dem Tanz eines schönen Weibsbilds. Einfach wie behext. Eine Ziehharmonika wird gespielt, ein Licht steht auf dem Tisch, Schmetterlinge kommen aus der Sommernacht geflogen: so fielen jetzt alle Einfälle in das Licht des einen, oder Moosbrugger packte sie, wenn sie heran kamen, mit seinen großen Fingern und zerdrückte sie, und einen Augenblick lang waren sie dazwischen abenteuerlich wie kleine Drachen anzuschaun. Ein Tropfen von Moosbruggers Blut war in die Welt gefallen. Man konnte das nicht sehen, weil es finster war, aber er fühlte, was im Unsichtbaren vor sich ging. Wirres richtete sich dort draußen gleich. Krauses wurde glatt. Ein lautloser Tanz löste das unerträgliche Surren ab, mit dem ihn die Welt sonst oft quälte. Alles, was geschah, war jetzt schön; so wie ein häßliches Mädel schön wird, wenn es nicht mehr allein dasteht, sondern von anderen an der Hand gefaßt wird, von einem Reigen mitgedreht wird und das Gesicht eine Treppe hinauf gerichtet hat, von der schon andere herunterblicken. Das war sonderbar, und wenn Moosbrugger die Augen öffnete und sich die Leute ansah, die in einem solchen Augenblick, wo ihm alles tanzend gehorchte, gerade in seiner Nähe waren, so kamen auch sie ihm schön vor. Dann waren sie nicht gegen ihn verschworen, bildeten keine Mauer, und es zeigte sich, daß es nur die Anstrengung war, ihn übertrumpfen zu wollen, was das Gesicht von Menschen und Dingen wie eine Last verzerrte. Und dann tanzte Moosbrugger vor ihnen. Tanzte würdig unsichtbar, er, der im Leben mit niemand tanzte, von einer Musik bewegt, die immer mehr zu Einkehr und Schlaf wurde, zum Schoß der Gottesmutter und schließlich zur Ruhe Gottes selbst, zu einem wunderbar unglaubwürdigen und tödlich gelösten Zustand; tanzte tagelang, ohne daß es jemand sah, bis alles außen, aus ihm heraus war, steif und fein wie ein Spinngewebe, das der Frost unbrauchbar gemacht hat, an den Dingen hing.
Wenn man das nicht mitgemacht hat, wie will man dann über das andere urteilen?! Nach den leichten Tagen und Wochen, wo Moosbrugger fast aus seiner Haut schlüpfen konnte, kamen immer wieder die langen Zeiten der Einkerkerung. Die Staatskerker waren nichts dagegen. Wenn er dann denken wollte, zog sich alles bitter leer in ihm zusammen. Die Arbeiterheime und Volksbildungsvereine, wo man ihm sagen wollte, wie er denken solle, haßte er; der sich noch erinnerte, wie die Gedanken große Stelzschritte in ihm machen konnten! Auf Bleisohlen schleppte er sich dann durch die Welt, in der Hoffnung, einen Ort zu finden, wo es wieder anders werden sollte. Heute konnte er dieser Hoffnung nur noch herablassend nachlächeln. Es war ihm niemals gelungen, die Mitte zwischen seinen zwei Zuständen zu finden, bei der er vielleicht hätte bleiben können. Er hatte genug davon. Er lächelte großartig dem Tod entgegen.
Viel hatte er übrigens gesehn. Bayern und Österreich bis in die Türkei hinunter. Und viel war geschehn, was er in den Zeitungen gelesen hatte, solang er lebte. Es war eine bewegte Zeit, im ganzen. Und im geheimen war er eigentlich recht stolz, darin gelebt zu haben. Wenn man es so bedachte, im einzelnen war es ja eine verworrene und öde Angelegenheit, aber schließlich lief sein Weg mitten durch, und hinterdrein konnte man ihn ganz deutlich sehn, von der Geburt bis zum Tode. Moosbrugger hatte keineswegs das Gefühl, daß man ihn hinrichten werde; er richtete sich selbst, mit Hilfe der anderen Leute hin: so sah er das, was kommen mußte. Und alles war doch irgendwie zusammengefaßt zu einem Ganzen: die Landstraßen, die Städte, die Gendarmen und die Vögel, die Toten und sein Tod. Er selbst verstand es nicht ganz, und die anderen noch weniger, wenn sie auch mehr darüber reden konnten.
Er spuckte aus und dachte an den Himmel, der wie eine blau überzogene Mausefalle aussieht. »In der Slowakei machen sie solche runden, hohen Mausefallen« dachte er.
Es wäre schon
längst eines Umstands zu erwähnen gewesen, der in verschiedenen Verbindungen gestreift worden ist; die Formel für ihn mag
etwa lauten: Es gibt nichts, was dem Geist so gefährlich wäre wie seine Verbindung mit großen Dingen.
Ein Mensch wandert durch einen Wald, besteigt einen Berg und sieht die Welt unter sich ausgebreitet, betrachtet sein Kind, das man ihm zum erstenmal in die Arme legt, oder genießt das Glück, irgendeine Lage einzunehmen, die allgemein beneidet wird; wir fragen: was mag dabei in ihm vorgehen? Sicher ist es, so kommt es ihm vor, sehr Vieles, Tiefes und Wichtiges; nur hat er nicht die Geistesgegenwart, es sozusagen beim Wort zu nehmen. Das Bewundernswerte vor und außer ihm, das ihn wie ein magnetisches Gehäuse einschließt, zieht seine Gedanken aus ihm heraus. Da stecken seine Blicke in tausend Einzelheiten, aber ihm ist heimlich zumute, als hätte er all seine Munition verschossen. Draußen überzieht die durchseelte, durchsonnte, vertiefte oder große Stunde die Welt mit einem galvanischen Silber bis in alle Blättchen und Äderchen; an ihrem anderen, persönlichen Ende aber macht sich bald ein gewisser, innerer Stoffmangel merklich, es entsteht dort sozusagen ein großes, leeres, rundes »O«. Dieser Zustand ist das klassische Symptom der Berührung mit allem Ewigen und Großen wie des Verweilens auf den Höhepunkten der Menschheit und Natur. Personen, welche die Gesellschaft großer Dinge bevorzugen – und dazu gehören vornehmlich auch die großen Seelen, für die es überhaupt keine kleinen Dinge gibt, – wird unwillkürlich das Innere zu einer ausgedehnten Oberflächlichkeit herausgezogen.
Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. Die Reden hochgestellter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen Beziehung zu besonders würdigen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückgeblieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufgaben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. Das wäre eine sehr verkehrte Welt; aber wenn man annimmt, daß die Behandlung eines Themas desto unbedeutender sein darf, je bedeutender dieses Thema selbst ist, dann ist es eine Welt der Ordnung.
Allein, dieses Gesetz, das so viel zum Verständnis des europäischen Geisteslebens beizutragen vermag, liegt nicht immer gleich klar zu Tage, und in Zeiten des Übergangs von einer Gruppe großer Gegenstände zu einer neuen kann der den Dienst der großen Gegenstände suchende Geist sogar umstürzlerisch aussehen, obgleich er nur die Livree wechselt. Ein solcher Übergang war schon damals zu bemerken, als die Menschen, von denen hier berichtet wird, ihre Sorgen und Triumphe hatten. So gab es zum Beispiel schon Bücher, um mit einem Gegenstand zu beginnen, an dem Arnheim besonders viel gelegen war, die in sehr großen Auflagen verkauft wurden, aber man erwies ihnen noch nicht den größten Respekt, obgleich bereits großer Respekt nur Büchern von einer gewissen Auflagenhöhe aufwärts erwiesen wurde. Es gab einflußreiche Industrien, wie die des Fußballspiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzustellen. Alles in allem: ob nun der selige Raufbold und Admiral Drake seinerzeit die Kartoffel aus Amerika eingeführt hat, womit das Ende der regelmäßigen Hungersnöte in Europa begann, oder ob das der weniger selige, sehr gebildete und ebenso rauflustige Admiral Raleigh getan hat oder ob es namenlose spanische Soldaten gewesen sind oder gar der brave Gauner und Sklavenhändler Hawkins – lange Zeit ist es niemand eingefallen, wegen der Kartoffeln diese Männer für bedeutender zu halten als etwa den Physiker Al Schîrasî, von dem man nur weiß, daß er den Regenbogen richtig erklärt hat; aber mit dem bürgerlichen Zeitalter hatte eine Umwertung im Range solcher Leistungen begonnen, und zur Zeit Arnheims war sie schon weit gediehen und wurde nur noch durch ältere Vorurteile gehemmt. Die Quantität der Wirkung und Wirkung der Quantität, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kämpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualität, aber in der Vorstellungswelt waren schon die tollsten Kompromisse daraus entstanden, wie gleich die Vorstellung des großen Geistes selbst, die so, wie wir sie im letzten Menschenalter kennen gelernt haben, eine Synthese von eigener und Kartoffelbedeutung sein mußte, denn man wartete auf einen Mann, der die Einsamkeit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Gemeinverständlichkeit einer Nachtigall.
Es war schwer, vorher zu sagen, was auf diese Weise herauskommen werde, da man die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen gewöhnlich erst durchschaut, wenn die Größe dieser Dinge schon halb vorbei ist. Nichts ist einfacher, als über den Amtsdiener zu lächeln, der im Namen Sr. Majestät die erschienenen Parteien herablassend behandelt hat, aber ob der Mann, der im Namen des Morgen das Heute emporführend behandelt, ein Amtsdiener ist oder nicht, das weiß man gewöhnlich nicht, ehe übermorgen ist. Die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen hat die sehr unangenehme Eigenschaft, daß die Dinge wechseln, aber die Gefahr immer gleich bleibt.
Ein Mensch wandert durch einen Wald, besteigt einen Berg und sieht die Welt unter sich ausgebreitet, betrachtet sein Kind, das man ihm zum erstenmal in die Arme legt, oder genießt das Glück, irgendeine Lage einzunehmen, die allgemein beneidet wird; wir fragen: was mag dabei in ihm vorgehen? Sicher ist es, so kommt es ihm vor, sehr Vieles, Tiefes und Wichtiges; nur hat er nicht die Geistesgegenwart, es sozusagen beim Wort zu nehmen. Das Bewundernswerte vor und außer ihm, das ihn wie ein magnetisches Gehäuse einschließt, zieht seine Gedanken aus ihm heraus. Da stecken seine Blicke in tausend Einzelheiten, aber ihm ist heimlich zumute, als hätte er all seine Munition verschossen. Draußen überzieht die durchseelte, durchsonnte, vertiefte oder große Stunde die Welt mit einem galvanischen Silber bis in alle Blättchen und Äderchen; an ihrem anderen, persönlichen Ende aber macht sich bald ein gewisser, innerer Stoffmangel merklich, es entsteht dort sozusagen ein großes, leeres, rundes »O«. Dieser Zustand ist das klassische Symptom der Berührung mit allem Ewigen und Großen wie des Verweilens auf den Höhepunkten der Menschheit und Natur. Personen, welche die Gesellschaft großer Dinge bevorzugen – und dazu gehören vornehmlich auch die großen Seelen, für die es überhaupt keine kleinen Dinge gibt, – wird unwillkürlich das Innere zu einer ausgedehnten Oberflächlichkeit herausgezogen.
Man könnte die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen darum auch als ein Gesetz von der Erhaltung der geistigen Materie bezeichnen, und es scheint ziemlich allgemein zu gelten. Die Reden hochgestellter, im Großen wirkender Personen sind gewöhnlich inhaltsloser als unsere eigenen. Gedanken, die in einer besonders nahen Beziehung zu besonders würdigen Gegenständen stehen, sehen gewöhnlich so aus, daß sie ohne diese Begünstigung für sehr zurückgeblieben gehalten würden. Die uns teuersten Aufgaben, die der Nation, des Friedens, der Menschheit, der Tugend und ähnlich teuere tragen auf ihrem Rücken die billigste Geistesflora. Das wäre eine sehr verkehrte Welt; aber wenn man annimmt, daß die Behandlung eines Themas desto unbedeutender sein darf, je bedeutender dieses Thema selbst ist, dann ist es eine Welt der Ordnung.
Allein, dieses Gesetz, das so viel zum Verständnis des europäischen Geisteslebens beizutragen vermag, liegt nicht immer gleich klar zu Tage, und in Zeiten des Übergangs von einer Gruppe großer Gegenstände zu einer neuen kann der den Dienst der großen Gegenstände suchende Geist sogar umstürzlerisch aussehen, obgleich er nur die Livree wechselt. Ein solcher Übergang war schon damals zu bemerken, als die Menschen, von denen hier berichtet wird, ihre Sorgen und Triumphe hatten. So gab es zum Beispiel schon Bücher, um mit einem Gegenstand zu beginnen, an dem Arnheim besonders viel gelegen war, die in sehr großen Auflagen verkauft wurden, aber man erwies ihnen noch nicht den größten Respekt, obgleich bereits großer Respekt nur Büchern von einer gewissen Auflagenhöhe aufwärts erwiesen wurde. Es gab einflußreiche Industrien, wie die des Fußballspiels oder des Tennis, aber man zögerte noch, ihnen an den technischen Hochschulen Lehrstühle aufzustellen. Alles in allem: ob nun der selige Raufbold und Admiral Drake seinerzeit die Kartoffel aus Amerika eingeführt hat, womit das Ende der regelmäßigen Hungersnöte in Europa begann, oder ob das der weniger selige, sehr gebildete und ebenso rauflustige Admiral Raleigh getan hat oder ob es namenlose spanische Soldaten gewesen sind oder gar der brave Gauner und Sklavenhändler Hawkins – lange Zeit ist es niemand eingefallen, wegen der Kartoffeln diese Männer für bedeutender zu halten als etwa den Physiker Al Schîrasî, von dem man nur weiß, daß er den Regenbogen richtig erklärt hat; aber mit dem bürgerlichen Zeitalter hatte eine Umwertung im Range solcher Leistungen begonnen, und zur Zeit Arnheims war sie schon weit gediehen und wurde nur noch durch ältere Vorurteile gehemmt. Die Quantität der Wirkung und Wirkung der Quantität, als neuer, sonnenklarer Gegenstand der Verehrung, kämpfte noch mit einer veraltenden und erblindeten adeligen Verehrung der großen Qualität, aber in der Vorstellungswelt waren schon die tollsten Kompromisse daraus entstanden, wie gleich die Vorstellung des großen Geistes selbst, die so, wie wir sie im letzten Menschenalter kennen gelernt haben, eine Synthese von eigener und Kartoffelbedeutung sein mußte, denn man wartete auf einen Mann, der die Einsamkeit des Genies haben sollte, aber dabei doch die Gemeinverständlichkeit einer Nachtigall.
Es war schwer, vorher zu sagen, was auf diese Weise herauskommen werde, da man die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen gewöhnlich erst durchschaut, wenn die Größe dieser Dinge schon halb vorbei ist. Nichts ist einfacher, als über den Amtsdiener zu lächeln, der im Namen Sr. Majestät die erschienenen Parteien herablassend behandelt hat, aber ob der Mann, der im Namen des Morgen das Heute emporführend behandelt, ein Amtsdiener ist oder nicht, das weiß man gewöhnlich nicht, ehe übermorgen ist. Die Gefahr der Verbindung mit großen Dingen hat die sehr unangenehme Eigenschaft, daß die Dinge wechseln, aber die Gefahr immer gleich bleibt.
Dr. Arnheim hatte
den angemeldeten Besuch zweier leitenden Beamten seiner Firma erhalten und lange konferiert; im Salon lagen am Morgen, unaufgeräumt und des Sekretärs harrend, die Akten und Berechnungen umher. Arnheim mußte Beschlüsse fassen, die Delegaten sollten einen Nachmittagszug zur Rückkehr benützen, und er genoß heute wie immer solche Umstände, denn sie gewährleisteten unter allen Bedingungen eine gewisse Spannung. »In zehn Jahren« überlegte er »wird die Technik so weit sein, daß die Firma ihre eigenen Reiseflugzeuge hat; dann werde ich auch aus einer Sommerfrische im Himalaja meine Leute dirigieren können.« Da er seine Beschlüsse schon über Nacht gefaßt und sie bei Tageslicht nur noch einmal zu prüfen und gut zu heißen hatte, war er in diesem Augenblick frei; er hatte sich das Frühstück aufs Zimmer kommen lassen und gab sich bei der Morgenzigarre geistiger Entspannung hin, indem er nun der Zusammenkunft bei Diotima gedachte, die er am Abend vorher etwas vorzeitig hatte verlassen müssen.
Es war diesmal eine höchst unterhaltsame Gesellschaft gewesen; sehr viele der Besucher unter dreißig, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, fast noch Boheme, aber doch schon bekannt und von den Zeitungen zur Kenntnis genommen; nicht nur Einheimische, sondern auch Gäste aus aller Welt, die von der Kunde angezogen worden, daß in Kakanien eine Frau aus den höchsten Kreisen dem Geiste eine Gasse in die Welt bahne. Zuweilen hatte man fast den Eindruck von einem Kaffeehaus, und Arnheim lächelte, wenn er Diotimas gedachte, die sich in ihren eigenen vier Wänden zu fürchten schien; aber im ganzen war es doch sehr anregend und jedenfalls ein außerordentliches Experiment gewesen, wie ihm vorkam. Seine Freundin hatte, enttäuscht von den ergebnislosen Zusammenkünften der ganz großen Männer, einen entschlossenen Versuch gemacht, den neuesten Geist in die Parallelaktion einströmen zu lassen, und Arnheims Verbindungen waren ihr dabei zunutze gewesen. Er schüttelte bloß den Kopf, wenn er sich an die Gespräche erinnerte, die er hatte anhören müssen; reichlich verrückt fand er sie, aber »man muß der Jugend nachgeben,« sagte er zu sich »man wird unmöglich, wenn man sie einfach ablehnt.« Er fühlte sich also, wenn man so sagen darf, ernsthaft belustigt davon, denn es war ein bißchen viel auf einmal gewesen.
Was sollte nur gleich der Teufel holen? Das Erlebnis. Jenes persönliche Erlebnis meinten sie, von dessen Erdwärme und Wirklichkeitsnähe fünfzehn Jahre zuvor der Impressionismus wie von einer Wunderpflanze geschwärmt hatte. Weichlich und kopflos nannten sie jetzt den Impressionismus. Sie verlangten Beherrschung der Sinnlichkeit und geistige Synthese!
Und Synthese, das war wohl im ganzen der Gegensatz zu Skepsis, Psychologie, Untersuchen und Zerlegen, den literarischen Neigungen der Väterzeit?
Soweit man verstand, meinten sie es nicht sehr philosophisch; eher war es das Bedürfnis junger Knochen und Muskeln nach ungehinderter Bewegung, was sie unter Synthese verstanden, ein Springen und Tanzen, bei dem man sich jede Störung durch Kritik verbietet. Wenn es ihnen paßte, standen sie nicht an, auch die Synthese zum Teufel zu wünschen, gleich mitsamt der Analyse und dem gesamten Denken. Dann behaupteten sie, daß der Geist vom Saft des Erlebens emporgetrieben werden müsse. Gewöhnlich waren es natürlich Mitglieder einer anderen Gruppe, die das behaupteten; aber manchmal waren es auch im Eifer die gleichen.
Was sie für famose Worte hatten! Das intellektuelle Temperament forderten sie. Den rapiden Denkstil, der der Welt an die Brust springt. Das zugespitzte Hirn des kosmischen Menschen. Was hatte er denn sonst noch gehört?
Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanisierten Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft.
Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus des Lebens.
Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist.
Blériot – hatte einer ausgerufen – schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stundengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Gedicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken!
Den Akzelerismus forderten sie, das ist die maximale Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringerischer Präzision!
Die photogenische Erneuerung durch den Film.
Dann hatte einer gesagt, der Mensch sei ein geheimnisvoller Innenraum, weswegen man ihm durch Kegel, Kugel, Zylinder und Kubus Beziehung zum Kosmos geben müsse. Aber auch das Gegenteil, die dieser Meinung zugrundeliegende individualistische Kunstauffassung gehe zu Ende, wurde behauptet; man müsse dem kommenden Menschen durch Volksbauten und Siedlungen neues Wohngefühl geben. Und während sich so eine individualistische und eine soziale Partei gebildet hatte, warf eine dritte ein, nur religiöse Künstler seien im wahren Sinn soziale. Darauf forderte eine Gruppe neuer Architekten die Führung für sich, denn das Ziel der Architektur sei eben Religion; außerdem mit der Nebenwirkung der Vaterlandsliebe und Bodenständigkeit. Die religiöse Gruppe, verstärkt durch die kubische, wandte ein, die Kunst sei keine abhängige, sondern eine zentrale Angelegenheit, Erfüllung kosmischer Gesetze; im weiteren Verlauf wurde aber die religiöse Gruppe von der kubischen wieder verlassen, die sich nun mit den Architekten zu der Behauptung verband, Beziehung zum Kosmos gebe man eben doch am besten durch Raumformen, die das Individuelle gültig und typisch machen. Der Satz fiel, man müsse sich in die Seele des Menschen hineinschaun und sie dann dreidimensional bannen. Dann stellte jemand streitbar und wirkungsvoll die Frage, was man denn nun eigentlich glaube: ob zehntausend hungernde Menschen wichtiger seien oder ein Kunstwerk?! In der Tat, da sie fast alle in irgendeiner Art Künstler waren, vertraten sie die Meinung, daß die seelische Genesung der Menschheit nur in der Kunst zu holen sei, und hatten sich bloß über die Natur dieser Genesung und die Ansprüche, die man ihretwillen an die Parallelaktion stellen solle, nicht zu einigen vermocht. Nun aber kam die ursprüngliche soziale Gruppe wieder in Führung und entfaltete neue Stimmen. Aus der Frage, ob ein Kunstwerk oder die Not zehntausender Menschen wichtiger sei, wurde die Frage, ob zehntausend Kunstwerke die Not eines einzigen Menschen aufwiegen? Ganz robuste Künstler verlangten, daß der Künstler sich nicht so wichtig nehmen dürfe; fort mit seiner Selbstverherrlichung, er werde hungrig und sozial, war ihre Forderung! Das Leben sei das größte und einzige Kunstwerk, sagte jemand. Eine Kraftstimme warf ein: Nicht Kunst macht einig, sondern Hunger! Eine Kompromißstimme erinnerte daran, daß das beste Mittel gegen die Selbstüberschätzung in der Kunst eine gesunde handwerkliche Basis sei. Und nach dieser Kompromißmeinung benützte jemand die aus Übermüdung oder gegenseitigem Ekel entstandene Pause und fragte wieder ruhig, ob man denn glaube, irgend etwas ausrichten zu können, solange nicht einmal der Kontakt zwischen Mensch und Raum hergestellt sei?! Dies war zum Signal geworden, daß sich nun auch wieder der Technismus, der Akzelerismus und so weiter zum Worte meldeten, und die Debatte ging noch lange hin und her. Schließlich einigte man sich aber, weil man nach Hause gehen und doch auch ein Ergebnis haben wollte; man stimmte sich darum gegenseitig in einer Behauptung zu, die ungefähr so aussah: Die gegenwärtige Zeit sei erwartungsvoll, ungeduldig, ungebärdig und unglückselig; der Messias, auf den sie hoffe und warte, sei aber noch nicht in Sicht.
Arnheim überlegte einen Augenblick.
Es hatte sich beständig um ihn ein Kreis versammelt gehalten; wenn sich vom Umfang Menschen, die schlecht hörten oder schlecht zur Geltung kamen, ablösten, so setzten sich sofort neue an ihrer Stelle an; er war entschieden zum Mittelpunkt auch dieser neuen Versammlung geworden, selbst wenn das in der etwas unmanierlichen Debatte nicht immer zum Ausdruck kam. Er kannte sich in dem, was sie beschäftigte, ja auch schon seit langem aus. Er wußte von den Beziehungen im Kubus; er hatte Gartensiedlungen für seine Angestellten angelegt; die Maschinen mit ihrer Vernunft und ihrem Tempo waren ihm vertraut; er verstand von der Einschau in die Seele zu reden und in der beginnenden Filmindustrie hatte er Geld stehn. Den Inhalt dieser Auseinandersetzung wieder herstellend, erinnerte er sich überdies, daß sie beiweitem nicht so geordnet verlaufen sei, wie sein Gedächtnis es unwillkürlich darstellte. Solche Gespräche haben einen eigentümlichen Gang, als ob man die Parteien mit verbundenen Augen in einem Vieleck aufstellte und mit einem Stock bewaffnet gerade vorgehen hieße; es ist ein wirres und ermüdendes Schauspiel ohne Logik. Aber ist es nicht ein Abbild des Ganges der Dinge im Großen? Auch der erfolgt nicht aus den Verboten und Gesetzen der Logik, denen höchstens die Wirksamkeit einer Polizei zukommt, sondern aus den ungeordneten Triebkräften des Geistes. So fragte sich Arnheim, wenn er sich an die Aufmerksamkeit erinnerte, die er empfangen hatte, und er fand, daß man auch sagen könne, die neue Art zu denken gliche dem freien Assoziieren bei gelockerter Vernunft, das unleugbar sehr anregend sei.
Er zündete sich ausnahmsweise eine zweite Zigarre an, obgleich er sich solche sinnlichen Schwächen sonst nicht gestattete. Und während er noch das Streichholz vorhielt und seine Gesichtsmuskeln für die ersten Saugebewegungen brauchte, mußte er plötzlich lächeln, weil er sich an den kleinen General erinnerte, der ihn während der Gesellschaft angesprochen hatte. Da die Arnheims eine Kanonen- und Panzerplattenfabrik besaßen und für den Ernstfall auf ungeheure Munitionserzeugung eingerichtet waren, hatte er ihn sehr gut verstanden, als der etwas komische, aber sympathische General (er sprach ganz anders als preußische Generale; schlapper, natürlich, aber man könnte doch auch sagen, von einer alten Kultur gesegnet! Freilich müßte man nun wohl schon hinzufügen: von einer untergehenden Kultur) sich vertraulich zu ihm – und seufzend, geradezu philosophisch! – über die Gespräche äußerte, die an diesem Abend ringsum geführt wurden und zum Teil wenigstens, wie man zugeben mußte, auch einen radikal pazifistischen Charakter hatten.
Der General, als der einzige Offizier, fühlte sich offenbar nicht ganz am Platze und beklagte sich über die Wandelbarkeit der öffentlichen Meinung, weil einige Ausführungen über die Heiligkeit des Menschenlebens Beifall fanden. »Ich verstehe diese Leute nicht«, mit solchen Worten hatte er sich an Arnheim gewandt und ihn, als einen international hervorragenden Geist um Aufklärung gebeten. »Ich verstehe nicht, warum diese neuen Leute mit solcher Unkenntnis von ›Blutgeneralen‹ sprechen? Ich habe das Gefühl, daß ich die älteren Herren, die sonst hieher kommen, ganz gut verstehe, obgleich sie doch gewiß auch ganz und gar unmilitärisch sind. Zum Beispiel wenn der berühmte Dichter – ich weiß nicht, wie er heißt, dieser große ältere Herr mit Bauch, der die Verse über die griechischen Götter, die Sterne und die ewigen Menschengefühle gemacht haben soll; die Dame des Hauses hat mir gesagt, er soll wirklich ein Dichter sein, in einer Zeit, die sonst höchstens Intelligenz hervorbringt – also wie gesagt, ich habe nichts von ihm gelesen, aber ich würde ihn bestimmt verstehn, wenn seine Bedeutung wirklich in der Hauptsache darin liegt, daß er sich mit nichts Kleinem abgibt, denn schließlich nennen wir beim Militär das einen Strategen. Der Feldwebel, wenn Sie mir diese untergeordnete Beispiel gestatten, muß sich natürlich um das Wohlergehen jedes einzelnen Mannes in seiner Kompagnie kümmern; der Stratege dagegen rechnet mit dem Menschentausend als kleinster Einheit und muß auch zehn solcher Einheiten auf einmal opfern können, wenn es ein höherer Zweck verlangt. Ich finde, daß es keine Logik hat, wenn man das in dem einen Fall einen Blutgeneral, in dem andern eine ewige Gesinnung nennt, und bitte Sie, es mir zu erklären, wenn das möglich ist!«
Arnheims sonderbare Lage in dieser Stadt und Gesellschaft hatte eine gewisse, sonst sorgsam zurückgehaltene Lust zu Spott in ihm geweckt. Er wußte, wen der kleine Herr meinte, wenn er es auch nicht zu erkennen gab; außerdem kam es auch nicht darauf an, er selbst hätte ihm noch einige andere Spielarten von dieser großen Sorte anführen können. Sie hatten an diesem Abend schlechte Figur gemacht, das war nicht zu übersehen.
Arnheim hielt, unangenehm einen Augenblick nachdenkend, den Rauch der Zigarre zwischen den geöffneten Lippen zurück. Seine eigene Lage war in diesem Kreis auch keine ganz leichte gewesen. Er hatte trotz aller Geltung manche böse Bemerkung zu hören bekommen, als wäre sie gegen ihn selbst gerichtet, und was verdammt wurde, war oft nicht weniger als das, was er in seiner Jugend geliebt hatte, gerade so wie diese jungen Leute nun die Ideen ihrer Generation liebten. Er erlebte es als ein sehr eigentümliches Gefühl, man könnte es beinahe unheimlich nennen, von jungen Leuten geehrt zu werden, die im gleichen Atem eine Vergangenheit, an der er selbst heimlich beteiligt war, rücksichtslos verhöhnten; Arnheim verspürte dabei Elastizität, Verwandlungsfähigkeit, Unternehmungslust in sich, fast könnte man sagen, die kühne Rücksichtslosigkeit eines gut verborgenen schlechten Gewissens. Er überlegte blitzschnell, was ihn von dieser neuen Generation trennte. Die jungen Leute widersprachen einander in allem und jedem, eindeutig gemeinsam war ihnen nur, daß es der Objektivität, der geistigen Verantwortung, der ausgeglichenen Person zu Leibe ging.
Ein besonderer Umstand erlaubte Arnheim, beinahe etwas wie Schadenfreude dabei zu empfinden. Die Überschätzung gewisser seiner Altersgenossen, an denen das Persönliche in einer besonders großen Weise hervortrat, war ihm immer schon unsympathisch gewesen. Namen nannte ein so vornehmer Gegner wie er natürlich nicht einmal in Gedanken, aber er wußte genau, an wen er dachte. »Ein nüchterner, modester Junge, lüstern nach illüstrer Lust« – um mit Heine zu sprechen, den Arnheim in verborgener Weise liebte und in diesem Augenblick zu sich zitierte. »Man muß seine Bestrebungen rühmen und seinen Fleiß in der Poesie… die bittere Mühe, die unsägliche Beharrlichkeit, die ingrimmigen Anstrengungen, womit er seine Verse ausarbeitet…« »Die Musen sind ihm nicht hold, aber er hat den Genius der Sprache in der Hand« »Den beängstigenden Zwang, den er sich antun muß, nennt er eine große Tat in Worten«. Arnheim besaß ein vortreffliches Gedächtnis und konnte seitenlang auswendig zitieren. Er schweifte ab. Er bewunderte, wie Heine, einen Mann seiner eigenen Zeit bekämpfend, Erscheinungen da vorweggenommen hatte, die jetzt erst in vollem Ansehen standen, und es regte ihn zu eigenen Leistungen an, als er sich nun dem zweiten Vertreter großer deutscher idealistischer Gesinnung, dem Dichter des Generals zuwandte. Das war nach dem mageren der fette Geistesschlag. Sein feierlicher Idealismus entsprach jenen großen tiefen Blasinstrumenten in den Orchestern, welche in die Höhe gestellten Lokomotivkesseln gleichen und ein ungefüges Grunzen und Schollern hervorbringen. Sie decken mit einem Ton tausend Möglichkeiten zu. Sie pusten große Pakete voll der ewigen Gefühle aus. Wer in einer von diesen Arten in Versen zu blasen vermag, – dachte Arnheim nicht ganz ohne Bitterkeit – gilt bei uns heute für einen Dichter, im Unterschied vom Literaten. Warum also wirklich nicht gleich für einen General? Solche Leute stehen doch mit dem Tod auf bestem Fuß und brauchen beständig einige Tausend Verstorbener, um den Augenblick des Lebens mit Würde zu genießen.
Aber da hatte jemand behauptet, daß sogar des Generals Hund, der in einer Rosennacht den Mond anheult, zur Rede gestellt, antworten könnte: Was wollt ihr, es ist ja doch der Mond, und es sind die ewigen Gefühle meiner Rasse; genau wie einer der Herrn, die dafür berühmt seien! Ja er könnte eigens noch hinzufügen, daß sein Gefühl ohne Zweifel erlebnisstark sei, sein Ausdruck reich bewegt und doch so einfach, daß ihn das Publikum verstehe, und was seine Gedanken anlange, so treten sie wohl hinter sein Gefühl zurück, aber das entspreche ganz und gar den geltenden Forderungen und sei in der Literatur noch nie ein Hindernis gewesen.
Arnheim hielt, unangenehm betroffen, den Rauch seiner Zigarre noch einmal zwischen den Lippen zurück, die als halbaufgezogene Grenzschranken zwischen Person und Außenwelt einen Augenblick offen blieben. Er hatte einige von diesen besonders reinen Dichtern, weil es sich so gehört, bei jeder Gelegenheit gelobt und bei einigen Gelegenheiten auch mit Geld unterstützt; aber eigentlich mochte er sie, wie er jetzt bemerkte, samt ihren aufgeblasenen Versen nicht ausstehn. »Diese heraldischen Herrschaften, die sich nicht einmal selbst erhalten können,« dachte er »gehören im Grunde genommen in einen Naturschutzpark, gemeinsam mit den letzten Wisenten und Adlern!« Und da es also, wie der verflossene Abend gezeigt hatte, unzeitgemäß war, sie zu unterstützen, schloß Arnheims Überlegung nicht ohne Gewinn für ihn.
Es war diesmal eine höchst unterhaltsame Gesellschaft gewesen; sehr viele der Besucher unter dreißig, höchstens fünfunddreißig Jahre alt, fast noch Boheme, aber doch schon bekannt und von den Zeitungen zur Kenntnis genommen; nicht nur Einheimische, sondern auch Gäste aus aller Welt, die von der Kunde angezogen worden, daß in Kakanien eine Frau aus den höchsten Kreisen dem Geiste eine Gasse in die Welt bahne. Zuweilen hatte man fast den Eindruck von einem Kaffeehaus, und Arnheim lächelte, wenn er Diotimas gedachte, die sich in ihren eigenen vier Wänden zu fürchten schien; aber im ganzen war es doch sehr anregend und jedenfalls ein außerordentliches Experiment gewesen, wie ihm vorkam. Seine Freundin hatte, enttäuscht von den ergebnislosen Zusammenkünften der ganz großen Männer, einen entschlossenen Versuch gemacht, den neuesten Geist in die Parallelaktion einströmen zu lassen, und Arnheims Verbindungen waren ihr dabei zunutze gewesen. Er schüttelte bloß den Kopf, wenn er sich an die Gespräche erinnerte, die er hatte anhören müssen; reichlich verrückt fand er sie, aber »man muß der Jugend nachgeben,« sagte er zu sich »man wird unmöglich, wenn man sie einfach ablehnt.« Er fühlte sich also, wenn man so sagen darf, ernsthaft belustigt davon, denn es war ein bißchen viel auf einmal gewesen.
Was sollte nur gleich der Teufel holen? Das Erlebnis. Jenes persönliche Erlebnis meinten sie, von dessen Erdwärme und Wirklichkeitsnähe fünfzehn Jahre zuvor der Impressionismus wie von einer Wunderpflanze geschwärmt hatte. Weichlich und kopflos nannten sie jetzt den Impressionismus. Sie verlangten Beherrschung der Sinnlichkeit und geistige Synthese!
Und Synthese, das war wohl im ganzen der Gegensatz zu Skepsis, Psychologie, Untersuchen und Zerlegen, den literarischen Neigungen der Väterzeit?
Soweit man verstand, meinten sie es nicht sehr philosophisch; eher war es das Bedürfnis junger Knochen und Muskeln nach ungehinderter Bewegung, was sie unter Synthese verstanden, ein Springen und Tanzen, bei dem man sich jede Störung durch Kritik verbietet. Wenn es ihnen paßte, standen sie nicht an, auch die Synthese zum Teufel zu wünschen, gleich mitsamt der Analyse und dem gesamten Denken. Dann behaupteten sie, daß der Geist vom Saft des Erlebens emporgetrieben werden müsse. Gewöhnlich waren es natürlich Mitglieder einer anderen Gruppe, die das behaupteten; aber manchmal waren es auch im Eifer die gleichen.
Was sie für famose Worte hatten! Das intellektuelle Temperament forderten sie. Den rapiden Denkstil, der der Welt an die Brust springt. Das zugespitzte Hirn des kosmischen Menschen. Was hatte er denn sonst noch gehört?
Die Neugestaltung des Menschen auf Grund eines amerikanisierten Weltarbeitsplans, durch das Medium der mechanisierten Kraft.
Den Lyrismus, verbunden mit dem eindringlichsten Dramatismus des Lebens.
Den Technismus; einen Geist, der des Zeitalters der Maschine würdig ist.
Blériot – hatte einer ausgerufen – schwebe soeben über dem Ärmelkanal mit fünfzig Kilometern Stundengeschwindigkeit! Dieses Fünfzig-Kilometer-Gedicht müßte man schreiben und die ganze andere, mulmige Literatur auf den Mist schicken!
Den Akzelerismus forderten sie, das ist die maximale Steigerung der Erlebensgeschwindigkeit auf Grund sportlicher Biomechanik und zirkusspringerischer Präzision!
Die photogenische Erneuerung durch den Film.
Dann hatte einer gesagt, der Mensch sei ein geheimnisvoller Innenraum, weswegen man ihm durch Kegel, Kugel, Zylinder und Kubus Beziehung zum Kosmos geben müsse. Aber auch das Gegenteil, die dieser Meinung zugrundeliegende individualistische Kunstauffassung gehe zu Ende, wurde behauptet; man müsse dem kommenden Menschen durch Volksbauten und Siedlungen neues Wohngefühl geben. Und während sich so eine individualistische und eine soziale Partei gebildet hatte, warf eine dritte ein, nur religiöse Künstler seien im wahren Sinn soziale. Darauf forderte eine Gruppe neuer Architekten die Führung für sich, denn das Ziel der Architektur sei eben Religion; außerdem mit der Nebenwirkung der Vaterlandsliebe und Bodenständigkeit. Die religiöse Gruppe, verstärkt durch die kubische, wandte ein, die Kunst sei keine abhängige, sondern eine zentrale Angelegenheit, Erfüllung kosmischer Gesetze; im weiteren Verlauf wurde aber die religiöse Gruppe von der kubischen wieder verlassen, die sich nun mit den Architekten zu der Behauptung verband, Beziehung zum Kosmos gebe man eben doch am besten durch Raumformen, die das Individuelle gültig und typisch machen. Der Satz fiel, man müsse sich in die Seele des Menschen hineinschaun und sie dann dreidimensional bannen. Dann stellte jemand streitbar und wirkungsvoll die Frage, was man denn nun eigentlich glaube: ob zehntausend hungernde Menschen wichtiger seien oder ein Kunstwerk?! In der Tat, da sie fast alle in irgendeiner Art Künstler waren, vertraten sie die Meinung, daß die seelische Genesung der Menschheit nur in der Kunst zu holen sei, und hatten sich bloß über die Natur dieser Genesung und die Ansprüche, die man ihretwillen an die Parallelaktion stellen solle, nicht zu einigen vermocht. Nun aber kam die ursprüngliche soziale Gruppe wieder in Führung und entfaltete neue Stimmen. Aus der Frage, ob ein Kunstwerk oder die Not zehntausender Menschen wichtiger sei, wurde die Frage, ob zehntausend Kunstwerke die Not eines einzigen Menschen aufwiegen? Ganz robuste Künstler verlangten, daß der Künstler sich nicht so wichtig nehmen dürfe; fort mit seiner Selbstverherrlichung, er werde hungrig und sozial, war ihre Forderung! Das Leben sei das größte und einzige Kunstwerk, sagte jemand. Eine Kraftstimme warf ein: Nicht Kunst macht einig, sondern Hunger! Eine Kompromißstimme erinnerte daran, daß das beste Mittel gegen die Selbstüberschätzung in der Kunst eine gesunde handwerkliche Basis sei. Und nach dieser Kompromißmeinung benützte jemand die aus Übermüdung oder gegenseitigem Ekel entstandene Pause und fragte wieder ruhig, ob man denn glaube, irgend etwas ausrichten zu können, solange nicht einmal der Kontakt zwischen Mensch und Raum hergestellt sei?! Dies war zum Signal geworden, daß sich nun auch wieder der Technismus, der Akzelerismus und so weiter zum Worte meldeten, und die Debatte ging noch lange hin und her. Schließlich einigte man sich aber, weil man nach Hause gehen und doch auch ein Ergebnis haben wollte; man stimmte sich darum gegenseitig in einer Behauptung zu, die ungefähr so aussah: Die gegenwärtige Zeit sei erwartungsvoll, ungeduldig, ungebärdig und unglückselig; der Messias, auf den sie hoffe und warte, sei aber noch nicht in Sicht.
Arnheim überlegte einen Augenblick.
Es hatte sich beständig um ihn ein Kreis versammelt gehalten; wenn sich vom Umfang Menschen, die schlecht hörten oder schlecht zur Geltung kamen, ablösten, so setzten sich sofort neue an ihrer Stelle an; er war entschieden zum Mittelpunkt auch dieser neuen Versammlung geworden, selbst wenn das in der etwas unmanierlichen Debatte nicht immer zum Ausdruck kam. Er kannte sich in dem, was sie beschäftigte, ja auch schon seit langem aus. Er wußte von den Beziehungen im Kubus; er hatte Gartensiedlungen für seine Angestellten angelegt; die Maschinen mit ihrer Vernunft und ihrem Tempo waren ihm vertraut; er verstand von der Einschau in die Seele zu reden und in der beginnenden Filmindustrie hatte er Geld stehn. Den Inhalt dieser Auseinandersetzung wieder herstellend, erinnerte er sich überdies, daß sie beiweitem nicht so geordnet verlaufen sei, wie sein Gedächtnis es unwillkürlich darstellte. Solche Gespräche haben einen eigentümlichen Gang, als ob man die Parteien mit verbundenen Augen in einem Vieleck aufstellte und mit einem Stock bewaffnet gerade vorgehen hieße; es ist ein wirres und ermüdendes Schauspiel ohne Logik. Aber ist es nicht ein Abbild des Ganges der Dinge im Großen? Auch der erfolgt nicht aus den Verboten und Gesetzen der Logik, denen höchstens die Wirksamkeit einer Polizei zukommt, sondern aus den ungeordneten Triebkräften des Geistes. So fragte sich Arnheim, wenn er sich an die Aufmerksamkeit erinnerte, die er empfangen hatte, und er fand, daß man auch sagen könne, die neue Art zu denken gliche dem freien Assoziieren bei gelockerter Vernunft, das unleugbar sehr anregend sei.
Er zündete sich ausnahmsweise eine zweite Zigarre an, obgleich er sich solche sinnlichen Schwächen sonst nicht gestattete. Und während er noch das Streichholz vorhielt und seine Gesichtsmuskeln für die ersten Saugebewegungen brauchte, mußte er plötzlich lächeln, weil er sich an den kleinen General erinnerte, der ihn während der Gesellschaft angesprochen hatte. Da die Arnheims eine Kanonen- und Panzerplattenfabrik besaßen und für den Ernstfall auf ungeheure Munitionserzeugung eingerichtet waren, hatte er ihn sehr gut verstanden, als der etwas komische, aber sympathische General (er sprach ganz anders als preußische Generale; schlapper, natürlich, aber man könnte doch auch sagen, von einer alten Kultur gesegnet! Freilich müßte man nun wohl schon hinzufügen: von einer untergehenden Kultur) sich vertraulich zu ihm – und seufzend, geradezu philosophisch! – über die Gespräche äußerte, die an diesem Abend ringsum geführt wurden und zum Teil wenigstens, wie man zugeben mußte, auch einen radikal pazifistischen Charakter hatten.
Der General, als der einzige Offizier, fühlte sich offenbar nicht ganz am Platze und beklagte sich über die Wandelbarkeit der öffentlichen Meinung, weil einige Ausführungen über die Heiligkeit des Menschenlebens Beifall fanden. »Ich verstehe diese Leute nicht«, mit solchen Worten hatte er sich an Arnheim gewandt und ihn, als einen international hervorragenden Geist um Aufklärung gebeten. »Ich verstehe nicht, warum diese neuen Leute mit solcher Unkenntnis von ›Blutgeneralen‹ sprechen? Ich habe das Gefühl, daß ich die älteren Herren, die sonst hieher kommen, ganz gut verstehe, obgleich sie doch gewiß auch ganz und gar unmilitärisch sind. Zum Beispiel wenn der berühmte Dichter – ich weiß nicht, wie er heißt, dieser große ältere Herr mit Bauch, der die Verse über die griechischen Götter, die Sterne und die ewigen Menschengefühle gemacht haben soll; die Dame des Hauses hat mir gesagt, er soll wirklich ein Dichter sein, in einer Zeit, die sonst höchstens Intelligenz hervorbringt – also wie gesagt, ich habe nichts von ihm gelesen, aber ich würde ihn bestimmt verstehn, wenn seine Bedeutung wirklich in der Hauptsache darin liegt, daß er sich mit nichts Kleinem abgibt, denn schließlich nennen wir beim Militär das einen Strategen. Der Feldwebel, wenn Sie mir diese untergeordnete Beispiel gestatten, muß sich natürlich um das Wohlergehen jedes einzelnen Mannes in seiner Kompagnie kümmern; der Stratege dagegen rechnet mit dem Menschentausend als kleinster Einheit und muß auch zehn solcher Einheiten auf einmal opfern können, wenn es ein höherer Zweck verlangt. Ich finde, daß es keine Logik hat, wenn man das in dem einen Fall einen Blutgeneral, in dem andern eine ewige Gesinnung nennt, und bitte Sie, es mir zu erklären, wenn das möglich ist!«
Arnheims sonderbare Lage in dieser Stadt und Gesellschaft hatte eine gewisse, sonst sorgsam zurückgehaltene Lust zu Spott in ihm geweckt. Er wußte, wen der kleine Herr meinte, wenn er es auch nicht zu erkennen gab; außerdem kam es auch nicht darauf an, er selbst hätte ihm noch einige andere Spielarten von dieser großen Sorte anführen können. Sie hatten an diesem Abend schlechte Figur gemacht, das war nicht zu übersehen.
Arnheim hielt, unangenehm einen Augenblick nachdenkend, den Rauch der Zigarre zwischen den geöffneten Lippen zurück. Seine eigene Lage war in diesem Kreis auch keine ganz leichte gewesen. Er hatte trotz aller Geltung manche böse Bemerkung zu hören bekommen, als wäre sie gegen ihn selbst gerichtet, und was verdammt wurde, war oft nicht weniger als das, was er in seiner Jugend geliebt hatte, gerade so wie diese jungen Leute nun die Ideen ihrer Generation liebten. Er erlebte es als ein sehr eigentümliches Gefühl, man könnte es beinahe unheimlich nennen, von jungen Leuten geehrt zu werden, die im gleichen Atem eine Vergangenheit, an der er selbst heimlich beteiligt war, rücksichtslos verhöhnten; Arnheim verspürte dabei Elastizität, Verwandlungsfähigkeit, Unternehmungslust in sich, fast könnte man sagen, die kühne Rücksichtslosigkeit eines gut verborgenen schlechten Gewissens. Er überlegte blitzschnell, was ihn von dieser neuen Generation trennte. Die jungen Leute widersprachen einander in allem und jedem, eindeutig gemeinsam war ihnen nur, daß es der Objektivität, der geistigen Verantwortung, der ausgeglichenen Person zu Leibe ging.
Ein besonderer Umstand erlaubte Arnheim, beinahe etwas wie Schadenfreude dabei zu empfinden. Die Überschätzung gewisser seiner Altersgenossen, an denen das Persönliche in einer besonders großen Weise hervortrat, war ihm immer schon unsympathisch gewesen. Namen nannte ein so vornehmer Gegner wie er natürlich nicht einmal in Gedanken, aber er wußte genau, an wen er dachte. »Ein nüchterner, modester Junge, lüstern nach illüstrer Lust« – um mit Heine zu sprechen, den Arnheim in verborgener Weise liebte und in diesem Augenblick zu sich zitierte. »Man muß seine Bestrebungen rühmen und seinen Fleiß in der Poesie… die bittere Mühe, die unsägliche Beharrlichkeit, die ingrimmigen Anstrengungen, womit er seine Verse ausarbeitet…« »Die Musen sind ihm nicht hold, aber er hat den Genius der Sprache in der Hand« »Den beängstigenden Zwang, den er sich antun muß, nennt er eine große Tat in Worten«. Arnheim besaß ein vortreffliches Gedächtnis und konnte seitenlang auswendig zitieren. Er schweifte ab. Er bewunderte, wie Heine, einen Mann seiner eigenen Zeit bekämpfend, Erscheinungen da vorweggenommen hatte, die jetzt erst in vollem Ansehen standen, und es regte ihn zu eigenen Leistungen an, als er sich nun dem zweiten Vertreter großer deutscher idealistischer Gesinnung, dem Dichter des Generals zuwandte. Das war nach dem mageren der fette Geistesschlag. Sein feierlicher Idealismus entsprach jenen großen tiefen Blasinstrumenten in den Orchestern, welche in die Höhe gestellten Lokomotivkesseln gleichen und ein ungefüges Grunzen und Schollern hervorbringen. Sie decken mit einem Ton tausend Möglichkeiten zu. Sie pusten große Pakete voll der ewigen Gefühle aus. Wer in einer von diesen Arten in Versen zu blasen vermag, – dachte Arnheim nicht ganz ohne Bitterkeit – gilt bei uns heute für einen Dichter, im Unterschied vom Literaten. Warum also wirklich nicht gleich für einen General? Solche Leute stehen doch mit dem Tod auf bestem Fuß und brauchen beständig einige Tausend Verstorbener, um den Augenblick des Lebens mit Würde zu genießen.
Aber da hatte jemand behauptet, daß sogar des Generals Hund, der in einer Rosennacht den Mond anheult, zur Rede gestellt, antworten könnte: Was wollt ihr, es ist ja doch der Mond, und es sind die ewigen Gefühle meiner Rasse; genau wie einer der Herrn, die dafür berühmt seien! Ja er könnte eigens noch hinzufügen, daß sein Gefühl ohne Zweifel erlebnisstark sei, sein Ausdruck reich bewegt und doch so einfach, daß ihn das Publikum verstehe, und was seine Gedanken anlange, so treten sie wohl hinter sein Gefühl zurück, aber das entspreche ganz und gar den geltenden Forderungen und sei in der Literatur noch nie ein Hindernis gewesen.
Arnheim hielt, unangenehm betroffen, den Rauch seiner Zigarre noch einmal zwischen den Lippen zurück, die als halbaufgezogene Grenzschranken zwischen Person und Außenwelt einen Augenblick offen blieben. Er hatte einige von diesen besonders reinen Dichtern, weil es sich so gehört, bei jeder Gelegenheit gelobt und bei einigen Gelegenheiten auch mit Geld unterstützt; aber eigentlich mochte er sie, wie er jetzt bemerkte, samt ihren aufgeblasenen Versen nicht ausstehn. »Diese heraldischen Herrschaften, die sich nicht einmal selbst erhalten können,« dachte er »gehören im Grunde genommen in einen Naturschutzpark, gemeinsam mit den letzten Wisenten und Adlern!« Und da es also, wie der verflossene Abend gezeigt hatte, unzeitgemäß war, sie zu unterstützen, schloß Arnheims Überlegung nicht ohne Gewinn für ihn.