MoE 5 | Zweites Buch | 1933-1936 | Erste Fortsetzungsreihe

Band 5 (mit Seitensiglen und einfachem HTML-Code

39.
Der Tugut


Der Mann, dem Agathe begegnet war, Professor August Lindner, sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich.
Hätte ihm Agathe nachgesehn, so würde ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang des Mannes aufgefallen sein; es war ein eigenartig stolzer, ein gewisses Absonderungsbedürfnis verratender, und doch unsicherer Gang. Lindner trug seinen Hut in der Hand und strich sich zuweilen übers Haar; so wohlig warm war ihm zumute geworden. Aber Agathe hatte damals mit sich selbst zu tun.
»Wie wenig Menschen« sagte Lindner zu sich selbst »haben eine wahrhaft mitfühlende Seele.«
Stolz und heiter. Eine wahrhaft mitfühlende Seele. Empfindlich gegen Nicht-Zuhören! Schutz des Schwachen als Hygiene. Männlichkeit ist Hilfsbereitschaft. Der Gesundheitsinstinkt der Lebendigen und Starken, der sie zum Gehorsam führt! Sack voll Teufel, Überzeugung, daß er sich auf Schritt und Tritt bezähmen müsse (etwas leichthin in Verbindung gesetzt mit bewaffnetem Frieden). Rechtfertigung durch Mobilmachung.
Er will Agathe unnachsichtig vor Augen führen, daß ichsüchtige Kräfte nur zerstören und daß man seine Wünsche dem Zusammenleben unterordnen müsse. Er will sie zu unerschütterlichen Überzeugungen führen. Besuch widerstreitet seinen Vorstellungen vom Weib und Familie. Will sie mit unbeirrbarer Geduld ins Herz treffen, empfindet brüderliche Weihe, redet sich ein, daß die Frau sich nach dem Mann sehnt, der sich durch geschlechtliche Gefallsucht nicht reizen läßt.


40.
Planmäßigkeit


Gegen die Regungen eines leidenschaftlichen Menschen gibt es nur ein Mittel: streng bis ins einzelne durchdachte Planmäßigkeit der Lebensführung; und ihr, die er beizeiten erworben hatte, verdankte Lindner die Erfolge seines Lebens, was ihn nicht zuletzt wieder in der Annahme bestärkte, von Natur ein so leidenschaftsstarker und schwer zu disziplinierender Mann gewesen zu sein wie nur einer. Er stand früh auf, Sommer und Winter um die gleiche Stunde, und wusch sich an einem kleinen eisernen Waschtisch Gesicht, Hals, Hände und ein Siebentel seines Körpers; jeden Tag ein anderes Siebentel, heißt das natürlich, so daß das Bad, dieser zeitraubende und wollüstige Vorgang, auf einen Abend alle drei Wochen beschränkt werden konnte. Es liegt darin ein kluger Sieg über die Materie, und wer je Gelegenheit hatte, die unbequemen Betten und unzureichenden Waschgelegenheiten großer Tatmenschen wie Napoleon, Friedrich oder Goethe zu betrachten, wird den Eindruck gehabt haben, daß zwischen dem Verzicht auf üppige Erleichterungen und dem Hervorbringen großer Leistungen möglicherweise ein Zusammenhang bestehen könnte. Nachdem er sich so gewaschen hatte, nutzte dann Lindner auch das Abtrocknen nur mit Maß dazu aus, um dem Körper durch geschickte Benutzung des Handtuchs einige Bewegung zu geben. Diesem Teil des Vorgangs hatte Lindner sogar eine besondere Ausbildung zugewendet. Ist es doch ein verhängnisvoller Irrtum, die Gesundheit vorwiegend auf den tierischen Teil des Menschen zu gründen; geistiger und sittlicher Adel ist es vielmehr, woraus auch die körperliche Widerstandsfähigkeit und Gesundheit hervorgeht, und zwar im Leben der Staaten nicht anders als in dem des Frühaufstehers. Lindner hatte darum seinen Abreibungen eine besondere Ausbildung gewidmet, die es vermied, mit rücksichtslosem Zugreifen Götzendienst zu treiben, dafür aber Gemüt, Charakter und Verstand beteiligte, indem er die Bewegungen seines Körpers mit schönen Gedanken und Gefühlen verband. Zum Beispiel war er überzeugt, daß die reichsdeutsche Tatkraft, die seit Achtzehnhunderteinundsiebzig Mode geworden war und auch in seinem weise gelenkten Vaterlande manchem als das Neuere vorschimmerte (»M.W.« sagte man damals, und das war ein aufs kürzeste angebundenes kurzangebundenes »Machen wir«, das ungerührt hervorgestoßen wurde, wenn einem Mann des Reiches etwas erstrebenswert erschien; ehe er die Schwierigkeiten auch nur eines Blickes gewürdigt hatte), Lindner war also überzeugt, daß diese halsbrecherische Tatkraft nicht nachahmenswert sei und ersetzte sie im turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen durch ein staatsmännischeres Verhalten. Zurückhaltendes Selbstvertrauen, aber Beständigkeit; Schmerzüberwindung und Willensanspannung, aber auch Nachgiebigkeit; Mut, wenn er etwa über einen Stuhl sprang: machten ihm seine Leibesübungen, die er erst in reifen Jahren aufgenommen hatte, zu wahren Tugendübungen. Soviel wäre aber im Fluge auch über sein Verhalten gegen den Ungeist vergänglicher Selbstbehauptung zu sagen, der sich unter dem Schlagwort der Körperpflege allerorts des an sich gesunden Gedankens des Sports bemächtigt hat. Lindner durfte sich schmeicheln, zu den wenigen Menschen zu gehören, die das rechtzeitig durchschaut hatten, und er brachte die Körperkultur auf ein bekömmliches Maß. Er war bereit, dem Sport das Gesunde zu entnehmen, so wie er das nicht ganz Verwerfliche Nietzsche entnahm und es von der lebensfremden Übertreibung reinigte, und zu diesem Zweck hatte er schon vor langem in öffentlicher Rede das eindrückliche Wort »körperliche Innenpflege« geprägt, der die Körperpflege zu dienen habe. Freilich hätte es geschehn können, daß ein unvorbereiteter Fremder durch das Bild der Innenpflege, das Lindner während des Waschens und Abtrocknens so darbot, zum Lachen gereizt worden wäre: seine Bewegungen riefen, wenn sie bloß oberflächlich betrachtet wurden, die Vorstellung eines Schwanenhalses hervor, die mit dem spitzen Element von Knien und Ellenbogen verwirklicht wird, die von der Brille befreiten, kurzsichtigen Augen blickten märtyrerhaft in die Weite, so als ob man den hervorbrechenden Blick nahe beim Auge abgeschnitten hätte, und unter dem Bart warfen sich die weichen Lippen unter dem Schmerz der Anstrengung auf. Wer aber auch innerlich sah, dem bot sich das Schauspiel äußerer und innerer Schönheit in gegenseitiger Befruchtung dar, und wenn Lindner an die armen Frauen dachte, die Stunden im Bade- und Ankleidezimmer verbringen und die Phantasie einseitig durch Leibeskultus erhitzen, konnte er sich selten der Vorstellung erwehren, wie gut es ihnen täte, wenn sie ihm auf diese Weise zusehen könnten. Harmlos und rein begrüßen sie die moderne Körperpflege oder machen sie mit, ohne in ihrer Lebensunkenntnis zu ahnen, daß solche dem Körper gewidmete Aufmerksamkeit allsogleich Ansprüche in ihm erweckt, die das Leben leicht zerstören können, wenn man sie nicht in strenge Dienstbarkeit nimmt!
In solche Dienstbarkeit verwandelte aber Professor Lindner alles, was mit ihm in Berührung kam und auch von dem Augenblick an, wo er sich in seinen Kleider befand, war jede Stunde bis zum Eintritt des nächtlichen Schlafs von einem planmäßigen Inhalt erfüllt, dem ein Übergreifen auf andere Stunden verwehrt blieb. Lindner schlief sieben Stunden; seine Lehrverpflichtung, die das Ministerium mit Rücksicht auf seine wohlgelittene schriftstellerische Tätigkeit eingeschränkt hatte, forderte täglich durchschnittlich fünf Stunden von ihm, in welcher Zeit auch das Kolleg über Pädagogik begriffen war, das er wöchentlich zweimal an der Universität las; fünf zusammenhängende Stunden – das sind fast zwanzigtausend Stunden in einem Dezennium! – waren dem Lesen vorbehalten; eineinhalb Stunden dienten der aus dem harten Gestein seiner Persönlichkeit wie eine klare Quelle ohne Zaudern fließenden Niederschrift seiner eigenen Arbeiten; die Mahlzeiten beanspruchten eine Stunde für sich; eine Stunde war dem Spaziergang gewidmet und zugleich dem Nachdenken über große Fach- und Lebensfragen, während eine andre Stunde, die er auf den Wegen von einem Arbeitsort zum andren verbrachte, dem diente, was er das kleine Nachdenken nannte, der Sammlung nämlich des Geistes auf den Inhalt der eben vergangenen oder der kommenden Beschäftigung; endlich blieb eine dem Briefschreiben, Wirtschaftsangelegenheiten, dem Verkehr mit Behörden und dergleichen. Es versteht sich von selbst, daß die Durchführung nicht nur einen genauen Plan des Ineinandergreifens, sondern auch allerlei Besonderheiten mit sich brachte, wie den größeren Überlandspaziergang alle vierzehn Tage oder das Vollbad, und tägliche Doppeltätigkeiten, zu denen zum Beispiel der Umgang Lindners mit seinem Sohn während der Mahlzeiten gehörte oder beim Ankleiden die Übung des Charakters in der geduldigen Überwindung von unvorhergesehenen Schwierigkeiten.
Charakterübungen solcher Art und überhaupt die Betätigung der Moral zogen sich wie ein weißer Faden durch das gesamte Tageswerk Lindners. Seine beiden obersten Grundsätze der Lebensführung, von denen die Planmäßigkeit erst sittlichen Rang erhielt, waren die, daß Arbeit ja nichts als Gottesdienst ist, da in ihr die höheren Seelenkräfte Macht gewinnen über die Unbeständigkeit der bloßen Natur, und daß man den Charakter in erster Linie bei den kleinen und einfachen Tätigkeiten des Lebens bilden müsse. »In dem Kleinen, was ich recht tue, sehe ich ein Bild von allem Großen, was in der Welt recht getan wird« – heißt es im Wilhelm Meister. Lindner betrachtete Goethe natürlich keineswegs in allem als Vorbild. Aber welch köstliche Demut hatte er oft daraus gewonnen, wenn er gelegentlich mit Hammerschlägen einen Nagel in die Wand zu treiben suchte, einen zerrissenen Handschuh selbst zu stopfen unternahm oder eine verdorbene Klingel selbst wieder herzustellen: Wenn er sich dabei auf den Daumen schlug oder in die Fingerspitze stach, so dachte er, wenn auch nicht sofort, so doch nach einiger Überwindung, daran, welch geniale Leistung des Menschheitsgeistes selbst in solchen Fertigkeiten steckt, über die der Gebildete sich überhoben dünkt! Solche Erkenntnis erinnerte ihn jedesmal wieder mit Behagen an Goethe, dessen praktische Liebhaberei und gelegentliche Freude an besonnener Handfertigkeit in Lindner dann eine Auferstehung feierte. Aber dank der Grundsätze eines neueren Zeitalters war es ihm auch vergönnt, sich in mancher Hinsicht weitergelangt zu fühlen als den verführerischen Geist des großen Autors, der doch in einer sich erst aufklärenden bürgerlichen Welt gelebt hat. Denn Professor Lindner hatte eine andere Auffassung von Heldentum als die Vergangenheit. Scaevolas, die ihre Hand ins Feuer stecken, Lukretien, die sich durchbohren, oder Judithen, die den Bedrückern des Volks das Haupt abschlagen, kurz Männer und Frauen, die für ihre Überzeugungen Verbrechen begingen oder das Märtyrertum auf sich nahmen, wie es von den Klassikern, wenn nicht gestaltet, so doch bedeutsam gefunden wurde, erregten sein heimliches Mißfallen, und eigentlich war er überzeugt, daß sie nicht sowohl auf den Kothurn als vielmehr in den Gerichtssaal gehörten. Er liebte wohl auch das Heroische, aber er verinnerlichte es. Eine wohlüberlegte Eintragung ins Klassenbuch, die verantwortliche Erwägung, in welchen Worten seine Wirtschafterin für einen schlecht abgestaubten Tisch zu tadeln sei, die Niederkämpfung des eigenen Ärgers und vorurteilslose Erschütterung der persönlichen und allgemein menschlichen Schwächen eines Widerspenstigen an deren Wurzeln: solche Vorkommnisse gestatteten ihm, lebhaft seelisch bewegt zu sein und schenkten ihm zugleich das Überlegenheitsgefühl, im schlichten Zivil einer neueren Zeit auf das bombastische moralische Kostüm einer älteren zurück zu blicken.
Nach Lindners Lebenserfahrung waren Anläs se einer kleineren Art auch deshalb geeigneter zur Vertiefung der Menschlichkeit als die sogenannten großen Gelegenheiten, weil die glanzvolle Ausübung der Tugend von der menschlichen Neigung zu Eitelkeit und Überhebung unterstützt wird; wogegen die bescheidene alltägliche, damit verglichen, schlechthin nur aus einer reineren und unvermischteren Tugend besteht. Er blickte in die Zukunft. Eine planvolle Bewirtschaftung der menschlichen Kräfte, vornehmlich der des Gemüts, ist ihre Aussicht und verspricht eine von äußerlichen Übertreibungen gereinigte, innerlich desto mehr ins Große gestaltete Gemeinschaft aller Menschen, zu der gegenwärtig erst Ansätze ausgebildet sind.


41.
Auf der Himmelsleiter in eine fremde Wohnung


Als Ulrich bald nach Agathes Verschwinden gleichfalls die streitbar angeregte Gesellschaft und das Haus seiner Kusine verlassen hatte und bei sich angekommen war, hatte er dort seine Schwester wohl vorgefunden, sie aber nicht mehr sprechen können, weil sie sich eingeschlossen hatte und entweder schon schlief oder die leisen Fragen des Lauschenden, ob sie noch wache, mit Absicht nicht erwiderte.
Der nächste Morgen brachte dann einen Regentag. Die Blätter der Bäume glänzten vor den Fenstern wie nasses Linoleum, der Fahrdamm hinter den Lücken des Laubs spiegelte wie ein Gummischuh. Unwillkürlich und einfach hatte der Sinn nach dem andauernd guten Wetter der letzten Zeit wieder einen schönen Tag erwartet und war nun voll versagter Lust. Die Augen mochten den nassen Anblick nicht fassen. Hinter der grauen rinnenden Wasserwand gaukelten die unausgeführten Entwürfe von Ausflügen und Grün der Welt, und geisterte jenes herbsüße Alleinsein, durch das eine Trennung manchmal zwei Menschen erschöpfender als eine Umarmung zu verbinden vermag. Die Geschwister beschäftigten sich gemeinsam, aber jedes für sich, mit ihren Büchern und Sachen. In den Aschenbechern häuften sich die Zigaretten, als ein Zeichen davon, daß etwas nicht in Ordnung sei. Das Frühstücksgeschirr war nicht abgeräumt worden. Das Gespräch war lebhaft gewesen, verstummt, wieder lebhaft geworden, wieder verstummt: in der Gesamtwirkung glich es einem langen Schweigen.
»Tröstliche Menschen?« rief Ulrich endlich aus.
»Sie sind wie Kodein. Sie beseitigen den Katarrh nicht im mindesten, aber sie lindern seinen Reiz, und dann heilt er mit der Zeit von selbst aus!«
Dieser Vergleich war ihm in seinem Ärger noch eingefallen, und er fuhr fort: »Solche Menschen trösten in Wahrheit nur damit, daß sie viel reden; denn wer zu einem andern lange von dessen Leid redet, entlädt es tropfenweise wie ein Regen die Gewitterwolke: das ist doch die bekannte Linderung jedes Kummers durch die Kraft der Aussprache!«
Agathe lächelte unnachgiebig und schwermütig. Ulrich sagte beinahe heftig: »Aber ich bestreite, was sich solche Menschen in ihrer Eitelkeit einbilden, dass sie an einem Menschen teilnehmen und sich in ihn hineinversetzen können! Niemand kann an einem andern teilnehmen, sie so wenig wie irgendwer! Ja, gerade sie wissen nicht ein einmal, was es heißt! Sie fühlen einfach die Schwierigkeit nicht! Sie haben nichts als die Geschicklichkeit von Krankenschwestern, die geübt sind, das zu sagen und zu tun, was dem Leidenden wohl tut!«
»Also müssen sie doch wissen, was ihm wohltut« wandte Agathe ungerührt ein.
»Nein« wiederholte Ulrich. »Sie trösten nur, weil sie viel reden!«
Agathe antwortete darauf nicht.
Ulrich bereute es, seiner Schwester die Freude an ihrer Entdeckung zu verderben, wenn ihm diese auch unverständlich war, denn sie sprachen von Lindner. Er schwieg nun. Und dann sagte er doch wieder: »Ich wollte gar nicht davon sprechen. Ich will sagen: Wenn man einen andern noch so sehr liebt, kann man doch nicht miterleben, wie ihn der Kopf schmerzt! Man kann daran denken, kann es sich vorstellen, kann sich zusammennehmen, um es lebhaft zu bedauern: aber schlechterdings behält man dabei in seinem eigenen Kopf ein gesundes Wohlempfinden! Das ist natürlich unsäglich selbstverständlich, was ich vorbringe,« fügte er hinzu
»aber es ist auch ebenso traurig! Es ist, als wären wir in rohe Tierfelle eingenäht! Und diesen Schreck in der Zärtlichkeit, diesen Albtraum des Steckenbleibens in der Annäherung an einen geliebten Menschen erleben regelrecht gute Menschen nie! Was sie ihr Mitgefühl nennen, ist ein Ersatz dafür, der nicht einmal zuläßt, dass sie es vermissen. Man darf geradezu behaupten, daß niemand so unempfindlich gegen das Mitgefühl wie die ist, die es immer bereithaben!«
Die zwei sahen einander dann eine lange Weile an. Taten irgendetwas dazwischen und sahen wieder zueinander hin. Die Zeit rann; man hätte glauben können, sie rinne vom Himmel. Der Traum, nicht so sehr zwei Menschen zu sein wie einer – war die Wirkung dieser gemeinsamen Einbildung auf sie in manchen Augenblicken der eines über die Grenzen der Nacht hin ausgetretenen Traums nicht unähnlich – schwebte in einem solchen Gefühlszustand zwischen Glaube und Leugnung, dass die Vernunft dabei nichts zu bestellen hatte; wohl aber stieß das Gefühl jedesmal an die unnachgiebige Grenze der Körper. Ihre Körper breiteten ihr Sein, da sie einander doch schon liebten, in Überraschungen und Entzückungen aus, die sich beständig erneuten, wie ein in den Strömen des Begehrens schwebendes Pfauenrad; aber sobald der Blick nicht an den hundert Augen des Schauspiels hing, das der Geliebte dem Geliebten gibt, und die verschlossene Person suchte, die dahinter dachte und fühlte, wurde der Körper zu einem Kerkermeister, der hämisch den anderen in sich gefangen hielt und verbarg. Das hatten die Geschwister nun schon oft genug erlebt, und wieder befand sich einer vor dem andern, sah ihm ohnmächtig nach, wenn er in sich verschwand, und wußte nichts zu sagen, weil alles, was sie erlebten, einem in Sehnsucht überweit hinausgebeugten Zustand angehörte, der keinen Stand und Boden hatte.
Und Ulrich sagte nun noch einmal: »Es ist ein Kummer, der an der Einrichtung der Welt verzweifeln lässt, daß man die Kopfschmerzen einer Geliebten nicht mitempfinden kann, aber man kann es nicht!«
Agathe lächelte. Sie kannte das jetzt schon. Da beschrieb er also die Liebe, als ob sie überhaupt nur am Erlebnis des Liebe-Leerausgehns und LiebeleerAusgehns zu erkennen wäre. Sie verstand, daß es einen Begriff der Anteilnahme aussprechen sollte, der über alles Menschliche hinausging. Aber vielleicht faßt man einen solchen Begriff nur, um seine Herzenskälte zu bemänteln? Sie bewunderte und haßte diese Verlegenheiten. Es war Monate her, seit ihr Körper von niemand berührt worden. Sie war empfindlich, und die tiefe Zärtlichkeit, die sie für ihren Bruder empfand, war nicht bloß eine geistige. Vor den Fenstern füllte noch immer der Regen die Luft mit seinen einschläfernden Geräuschen und dem zuckenden Vorhang der Tropfen, durch den die himmelhohe Öde herabfloß. Im Zimmer war ein Licht wie ein ausgehöhlter Silberwürfel. Süßer erkalteter Rauch umschlang mit blauen Schärpen die beiden Geschwister. Und während Ulrichs erstarrter Blick wie zwei Monde in dieser unsicheren Atmosphäre zu schweben schien, glaubte Agathe plötzlich, daß das Wasser vor den Fenstern fleischig werde wie eine aufgeschnittene Frucht und seine schwellende Weichheit durch die Scheiben hereindränge. Eine wahre sinnliche Ausgelassenheit wollte sie überwältigen, und sie kam ihr gerade noch zuvor, indem sie aufsprang und mit der eiligen Ausrede, daß sie außer Haus etwas besorgen müsse, ihren Bruder verließ.
Sie war in diesem Augenblick zu dem Beschluß gekommen, den sonderbaren Mann aufzusuchen, der ihr seine Hilfe angeboten hatte, und sie wollte diesem Mann gestehn, daß sie nicht mehr wisse, was sie mit sich beginnen solle. Sie kannte Männer dieser Art nicht und wußte ebensowenig von ihrer Stärke wie von ihren Schwächen. Sie dachte darüber nach. Sie hatte einmal auf einer kleinen Insel zwischen der großen und harten Herrlichkeit von Himmel und Meer einen Nistplatz entdeckt, eine Mulde voll verlorener winziger Vogelfedern. Dieser Mann war wie ein Nistplatz. Sie glaubte nüchtern darüber nachzudenken. Aber in Wahrheit dachte sie ganz phantastisch. Sie eilte durch die Straßen und trug noch immer in ihren Augen das Licht, von dem ihres Bruders Zimmer ausgefüllt worden war. Rechtes Licht war das allerdings nicht gewesen, sondern eher ein Etwas, das man so beschreiben müßte: alle Dinge verloren plötzlich eine Verständigkeit, die an ihnen gewesen war, ohne daß man davon gewußt hatte, und so geriet man in eine Freiheit, worin Geschehnisse ohnegleichen möglich erschienen. »Im nächsten Augenblick hätte uns dieses Licht geschält wie ein silbernes Messer,« dachte Agathe »ohne daß wir auch nur einen Finger hätten an unsere Kleider rühren müssen.« Ihr Blut war noch immer erregt und sie schämte sich.
Allmählich beruhigte sie sich doch an dem Regen, der ihr harmloses, graues Wasser prasselnd auf Hut und Mantel schüttete; und vielleicht war es diese einfache Kleidung, die sie in Eile übergeworfen hatte, was sie an schirmlose Schulwege ihrer Mädchenzeit erinnerte. Freilich wäre es, so gestand sie sich alsbald ein, bei der strengeren Aufrichtigkeit, die zum Verlangen der Jugend nach Erfahrung gehört, kaum vorgekommen, daß sie sich, wie es nun erst recht geschah, so unlogisch und phantastisch, ja zuletzt erst geradezu jugendlich unreif, der Unklarheit darüber überlassen hätte, ob alles, was ihr widerfahre, nicht in geheimer Berührung mit dem Übersinnlichen stehe. Dergleichen tut eher der Mensch, dessen Selbstgefühl bereits die Niederlage kennen gelernt hat. Sie stellte es sich wohl als eine Erweiterung des Irdischen vor.
Es geschah nun in weniger als vierundzwanzig Stunden schon zum zweitenmal, daß sie den Ort ihres Lebens in wirrem Verlangen und unklarer Zuversicht auf etwas noch nie Erfahrenes verließ, das sie in Obhut nehmen, ausruhen machen, nichts mehr von Schwierigkeiten wissen lassen sollte. Sie bedurfte des Handgreiflichen und konnte sich nicht wie Ulrich am Geist genugtun. Heftig drückte sie im Lauf den Fuß auf den Boden; sie atmete den Regen ein: wenn sie aber an sich und Ulrich dachte, war sie bis ins Innerste ratlos. Sie fühlte sich von Wünschen ergriffen, die keinen Halt an der Welt hatten. Im Nu glaubte sie, es wäre das Richtigere, nachzugeben und auf der schwindligen Himmelsleiter, die sie hinanstieg, der überforderten Natur eine Ruhestufe einzuräumen; im gleichen Nu fand sie das erschreckend unzulänglich und ungesäumt gehandelt und kam sich in ihrer weibischen Schwäche wie jene unfähigen Märchengeschöpfe vor, die nicht an sich halten können und vor der Zeit das Schweigen oder ein anderes Gelübde brechen, worauf alles unter Donner zusammenfällt.
Richtete sich dann ihre Erwartung auf den Mann, der sie Rat finden lassen sollte, so hatte dieser Unbekannte, der so gewiss von Gott sprach, als verkehrte er in dessen Hause, und dabei noch zu verstehen gegeben hatte, dass er die Phantasie und alles Phantastische verachte, die großen Vorteile für sich, die der Ordnung, der Gewißheit, der gütigen Strenge und einem zusammengenommenen Betragen vor der Unordnung, der Ungewißheit und einer unartig verzweifelten Aufführung verliehen sind. Es war auch erst sehr kurze Zeit, kaum vierundzwanzig Stunden, her, daß Agathe den Brief ihres Gatten empfangen hatte, und dieses Schreiben wirkte noch mächtig auf sie. Sie sah sich darin des krankhaft Einsamen verdächtigt, und so, wie man sein Bild abscheulich entstellt in einem schlechten Spiegel erblickt, ohne doch die Nämlichkeit der Züge leugnen zu können, kam sie sich von der Beschreibung nicht ganz verfehlt vor, umso weniger, als Ulrich es nicht verstanden hatte, sie darüber zu beruhigen, ja die Liebe zu ihm, mit phantastischen Möglichkeiten vermengt, gerade durch diese Vermengung des sinnlichen wie des übersinnlichen Wahnsinns verdächtig sein mochte. So suchte Agathe Frieden und Weiterhilfe, und allmählich mengte sich auch ein wenig Neugierde in sie, wie ihr Unbekannter sich aus dem Geschäft ziehen werde, das sie ihm in Stellvertretung Gottes zutraute, geflissentlich ohne daß sie allzu genau noch zwischen himmlischer und irdischer Neugierde unterschied. Ja, Lindner teilte, ehe sie ihn erreicht hatte, als Richter über ihr Gemüt mit dem Großen Unzugänglichen auch schon die menschliche Schwäche, daß er nach Agathens uneingestandener Absicht eigentlich bloß Ja zu ihrer Leidenschaft sagen sollte, ohne diese zu kennen; denn so weit ging ihre augenblickliche Verwirrtheit nun nicht mehr, daß sie sich gleich zu einem Geständnis bereitgefunden hätte.
Der Mann, auf den so leidenschaftliche Gefühle und Einbildungen unterwegs waren, saß indessen in seinem Speisezimmer in Gesellschaft seines Sohnes Peter bei der Mittagsmahlzeit, die von ihm, einer guten Regel älterer Zeiten folgend, zur wirklichen Mittagsstunde eingenommen wurde. In seiner Umgebung gab es keinen Luxus oder, wie man in deutscher Sprache besser sagt, keinen Überfluß; denn das deutsche Wort eröffnet uns den Sinn, den das fremdländische verschließt. So hat auch Luxus die Bedeutung des Überflüssigen und Entbehrlichen, das müßiger Reichtum ansammeln mag; Überfluß dagegen ist nicht sowohl überflüssig, und insofern gleichbedeutend mit Luxus, als vielmehr auch überfließend und bedeutet dann eine leicht über dem Rahmen schwellende Polsterung des Daseins oder jene überschüssige Bequemlichkeit und Weitherzigkeit des europäischen Lebens, die nur den ganz Armen fehlt. Lindner unterschied diese zwei Begriffe des Luxus, und ebenso wie Luxus im ersten seiner Wohnung fehlte, war er im zweiten Begriff darin vorhanden. Schon wenn sich die Eingangstür öffnete und den mäßig großen Vorraum darbot, empfing man diesen eigentümlichen Eindruck, von dem nicht zu sagen war, woher er kam. Sah man sich dann um, so fehlte keine der Einrichtungen, die dazu geschaffen sind, dem Menschen durch eine nützliche Erfindung zu dienen: Ein Schirmständer, aus Blech gelötet und mit Email bemalt, sorgte für den Regenschirm. Ein Laufteppich aus derbfaserigem Stoff nahm den Schuhen den Schmutz ab, den die Abstreifbürste daran gelassen haben mochte. In einer Tasche an der Wand stacken zwei Kleiderbürsten, und auch der Rechen zum Aufhängen der Überkleidung fehlte nicht. Eine Glühbirne erhellte den Raum, sogar ein Spiegel war vorhanden, und alle diese Geräte wurden aufs beste gewartet und rechtzeitig erneuert, wenn sie Schaden nahmen. Aber die Glühbirne hatte die geringste Lichtstärke, bei der man gerade noch sehen kann, der Kleiderrechen hatte bloß drei Haken, der Spiegel faßte nur vier Fünftel eines ausgewachsenen Gesichts, und die Dicke wie die Güte des Teppichs waren gerade so groß, daß man noch den Fußboden durchspürte und nicht in Weichheit versank: Mag es übrigens vergeblich sein, durch solche Einzelheiten den Geist der Örtlichkeit zu beschreiben, so brauchte man bloß einzutreten und empfand ihn im ganzen als etwas eigentümlich Anwehendes, das nicht streng und nicht lässig, nicht wohlhabend und nicht arm, nicht würzig und nicht geschmacklos, sondern eben etwas so bejahend aus zwei Verneinungen Hervorgehendes war, wie es sich am besten durch das Wort Mangel an Verschwendung ausdrücken läßt. Das schloß aber, wenn man die inneren Räume betrat, ein Gefühl für Schönheit, ja sogar für Behagen keineswegs aus, das sich allenthalben merken ließ. An den Wänden hingen gerahmte Prachtstiche, das Fenster neben Lindners Schreibtisch war durch ein buntes Schmuckstück aus Glas geziert, das einen Ritter darstellte, der mit spröder Bewegung eine Jungfrau befreite, und in der Wahl einiger bemalter Vasen, die schöne Papierblumen enthielten, in der Anschaffung eines Aschenbechers durch den Nichtraucher sowie in den vielen Kleinigkeiten, durch die gleichsam ein Sonnenstrahl in den ernsten Pflichtkreis fällt, den die Erhaltung und Betreuung eines Hauswesens darstellt, hatte Lindner gerne einen freien Geschmack walten lassen. Immerhin drang überall die zwölfkantige Strenge der Zimmerform gerade noch durch alles hindurch wie eine Erinnerung an die Härte des Lebens, deren man auch in der Annehmlichkeit nicht vergessen soll, und selbst dort, wo, aus vergangenen Zeiten herrührend, noch etwas weiblich Undiszipliniertes, ein Kreuzstichdeckchen, ein Polster mit Rosen oder ein Unterröckchen von Lampenschirm, diese Einheitlichkeit durchbrach, war sie stark genug, das schwelgerische Element daran zu finden, daß es ganz aus ihrem Rahmen falle.
Trotzdem war Lindner an diesem Tag beinahe um eine Viertelstunde zu spät zur Mahlzeit erschienen. Der Tisch war gedeckt; die Teller, je drei vor jedem der beiden Plätze aufeinandergestellt, sahen ihn mit dem runden Blick des Vorwurfs an; die Messerbänkchen aus Glas, auf denen Messer, Löffel und Gabel wie Kanonenrohre von der Lafette starrten, und die eingerollten Servietten in ihren Ringen waren aufmarschiert wie eine Armee, die ihr General im Stich gelassen hat. Lindner hatte flüchtig die Post zu sich gesteckt, die er sonst vor dem Essen zu öffnen pflegte, war schlechten Gewissens ins Speisezimmer geeilt und wußte nun in seiner Befangenheit nicht, was ihm eigentlich dort zustieß – es mochte wohl etwas Ähnliches wie Mißtrauen sein –, als im gleichen Augenblick von der anderen Seite ebenso eilig wie er sein Sohn Peter eintrat, als hätte er dazu bloß auf den Vater gewartet.


42.
Der Tugut und der Tunichtgut.
Aber auch Agathe


Peter war ein recht beträchtlicher, ungefähr siebzehnjähriger Bursche, in dem sich die abschüssige Größe Lindners mit einer breiteren Körperlichkeit durchdrungen und verkürzt hatte; er reichte seinem Vater nur an die Schultern, aber sein Kopf, der einer großen eckig-runden Kegelkugel glich, saß auf einem Nacken von strammem Fleisch, dessen Umfang für einen Oberschenkel von Papa ausgereicht hätte. Peter hatte statt in der Schule auf einem Fußballplatz geweilt und unseligerweise am Heimweg ein Mädchen angesprochen, dem seine männliche Schönheit das halbe Versprechen eines Wiedersehens abrang: dadurch in Verspätung, hatte er sich heimlich in die Wohnung und an die Tür des Speisezimmers geschlichen, unschlüssig bis zum letzten Augenblick, wie er sich ausreden werde, hatte zu seiner Überraschung niemand im Zimmer gehört, war hineingestürzt, und gerade im Begriff, die gelangweilte Miene langen Wartens aufzusetzen, wurde er jetzt sehr verlegen, als er mit seinem Vater zusammenprallte. Sein rotes Gesicht überzog sich mit noch röteren Flecken, er ließ augenblicklich einen großen Wortschwall los und schielte seinen Vater ängstlich an, wenn er glaubte, daß dieser es nicht bemerke, wogegen er sein Auge sofort furchtlos in das väterliche springen ließ, wenn er es auf sich gerichtet fühlte. Das war ein wohlberechnetes und oft erprobtes Verhalten, das die Aufgabe hatte, den Eindruck eines bis zur Unklugheit offenen und unbeherrschten jungen Mannes hervorzurufen, der alles imstande sein könnte, bloß das eine nicht, etwas zu verbergen. Aber wenn das nicht genügte, so schreckte Peter auch nicht davor zurück, sich scheinbar versehentlich unehrerbietige oder andre seinem Vater mißliebige Worte entschlüpfen zu lassen, die nun wie Spitzen wirkten, die den Blitz anzogen und von gefährlicheren Bahnen ablenkten. Denn Peter fürchtete seinen Vater wie die Hölle den Himmel, mit dem Ehrgefühl des schmorenden Fleisches, auf das der Geist herabblickt. Er liebte das Fußballspiel, und selbst dabei liebte er es mehr, mit sachkundiger Miene zuzusehn und gewichtige Urteile zu fällen, als sich selbst anzustrengen. Er hatte vor, Flieger zu werden und eines Tags Heldentaten zu vollbringen; er stellte sich das aber nicht als ein Ziel vor, für das man arbeiten müsse, sondern als eine persönliche Anlage, wie eben Wesen, zu denen das gehört, eines Tags fliegen können. Auch daß seine Abneigung zu arbeiten in Widerspruch zu den Lehren der Schule stehe, beeinflußte ihn nicht: Dieser Sohn eines anerkannten Pädagogen legte überhaupt keinen Wert darauf, von seinen Lehrern geachtet zu werden; es genügte ihm, körperlich der Stärkste in seiner Klasse zu sein, und wenn ihm ein Mitschüler zu gescheit vorkam, so war er bereit, durch einen Fausthieb gegen Nase oder Magen das Verhältnis wieder erträglich zu gestalten. Bekanntlich kann man auch auf diese Weise ein geachtetes Dasein führen, und sein Verfahren hatte bloß den einen Nachteil, daß er es zu Hause gegen seinen Vater nicht anwenden konnte, ja daß dieser davon möglichst wenig erfahren durfte. Denn vor dieser geistigen Autorität, die ihn erzogen hatte und sanft umklammert hielt, brach Peters Ungestüm zu jammernden Versuchen der Auflehnung zusammen, die Lindner senior das klägliche Geschrei der Begierden nannte. Von klein auf mit den besten Grundsätzen vertraut gemacht, hatte es Peter schwer, sich ihrer Wahrheit zu verschließen, und vermochte seiner Ehre und Wehrhaftigkeit nur durch einen indianischen Gebrauch von Kriegslisten genug zu tun, die den offenen Wortkampf vermieden. Zwar bediente er sich, um sich seinem Gegner anzupassen, auch vieler Worte, doch ließ er sich dabei niemals zu dem Bedürfnis herab, die Wahrheit zu reden, das nach seiner Auffassung unmännlich und geschwätzig war.
So sprudelten auch diesmal gleich seine Beteuerungen und Grimassen, fanden aber keine Gegenwirkung auf seiten des Meisters. Professor Lindner hatte eilig das Kreuz über der Suppe geschlagen und aß ernst, schweigend und hastig. Nur zuweilen ruhte sein Auge kurz und ohne Sammlung auf dem Scheitel seines Sohnes. Dieser Scheitel war an diesem Tag mit Kamm, Wasser und viel Pomade durch das dicke, braunrote Haar gezogen wie eine Schmalspurbahn durch unwillig ausweichendes Walddickicht. Fühlte Peter den Blick seines Vaters darauf ruhn, so senkte er den Kopf, um mit dem Kinn die rote, schreiend schöne Krawatte zu verdecken, die sein Erzieher noch nicht kannte. Denn einen Augenblick später konnte sich der Blick sanft an einer solchen Entdeckung erweitern, der Mund ihm folgen, und Worte hervorbringen von der »Unterwerfung unter die Parolen von Hanswursten und Laffen« oder von »sozialer Gefallsucht« und »knechtischer Eitelkeit«, die Peter kränkten. Diesmal geschah aber nichts, und erst nach einer Weile, während die Teller gewechselt wurden, sagte Lindner gütig und unbestimmt – es war nicht einmal sicher, ob er die Krawatte meine oder nur von einem unbewußt aufgenommenen Anblick zu seinem Wahrwort bestimmt werde: »Menschen, die noch sehr mit ihrer Eitelkeit zu kämpfen haben, sollten in ihrer äußeren Erscheinung alles Auffallende vermeiden … !«
Peter benützte diese unerwartete Charakterabwesenheit seines Vaters, um eine Geschichte von einem Ungenügend vorzubringen, das er aus Ritterlichkeit erhalten haben wollte, weil er, nach einem Kameraden geprüft, sich unvorbereitet gezeigt habe, um diesen, angesichts unerhörter Anforderungen, die für Schwächere einfach unerfüllbar seien, nicht in den Schatten zu stellen.
Professor Lindner schüttelte bloß den Kopf dazu. Aber als der Mittelgang abgetragen wurde und die Nachspeise auf den Tisch kam, begann er nachdenklich und behutsam: »Sieh, gerade in den Jahren des größten Appetits kann man die folgenreichsten Siege über sich gewinnen, und zwar nicht etwa durch ungesundes Hungern, sondern nach ausreichender Ernährung durch gelegentlichen Verzicht auf ein Lieblingsgericht!«
Peter schwieg und zeigte kein Verständnis dafür, aber sein Kopf bedeckte sich wieder bis über die Ohren mit lebhaftem Rot.
»Es wäre verfehlt,« fuhr sein Vater bekümmert fort »wenn ich dich für dieses Ungenügend strafen wollte, denn da du überdies kindisch lügst, liegt noch ein solcher Mangel an sittlichem Ehrbegriff vor, daß man den Boden erst urbar machen muß, auf dem die Strafe wirken kann. Ich verlange darum von dir nichts, als daß du das selbst einsiehst, und bin sicher, daß du dich dann auch selbst bestrafen wirst!«
Dies war der Augenblick, wo Peter lebhaft auf seine schwache Gesundheit hinwies wie auf seine Überarbeitung, die in letzter Zeit sein Versagen in der Schule verursacht haben konnten und ihn außerstande setzten, seinen Charakter durch Verzicht auf den letzten Gang zu stählen.
»Der französische Philosoph Comte« erwiderte Professor Lindner gelassen darauf »pflegte nach dem Essen an Stelle des Desserts auch ohne besonderen Anlaß ein Stück trockenen Brots zu kauen, nur um dabei an diejenigen zu denken, die nicht einmal trockenes Brot haben. Möge uns dieser feine Zug daran erinnern, daß jede Übung in der Enthaltsamkeit und Einfachheit nicht nur eine tiefe soziale Bedeutung hat, indem sie uns vor Herzenskälte und Selbstsucht bewahrt, sondern daß man damit auch ein Mann von Leistungen wird!«
Peter hatte schon längst eine äußerst unvorteilhafte Vorstellung von der Philosophie, aber auch die Dichtkunst brachte ihm sein Vater nun in üble Erinnerung, denn er fuhr fort: »Auch der Dichter Tolstoi sagt, die Enthaltsamkeit sei die erste Stufe zur Freiheit. Denn der Mensch hat viele knechtische Begierden, und damit der Kampf gegen sie erfolgreich sei, muß man ihn bei den elementarsten beginnen: der Eßsucht, dem Müßiggang und der Sinnenlust.« Professor Lindner pflegte jedes dieser drei Worte gleich unpersönlich auszusprechen, und lange ehe Peter mit dem Worte Sinnenlust eine bestimmte Vorstellung zu verbinden vermochte, hatte er schon den Kampf gegen sie an der Seite des Kampfes gegen Eßsucht und Müßiggang kennengelernt, denn sein Vater pflegte das den Elementarunterricht in der Selbstbestimmung zu nennen. So kam es, daß Peter an diesem Tag, wo er die Sinnenlust zwar auch noch nicht in ihrer begehrtesten Gestalt kannte, ihr aber doch schon um die Röcke strich, gegen ihre lieblose, von seinem Vater beständig ausgeführte Verbindung mit Eßsucht und Müßiggang plötzlich zornigen Widerwillen empfand; er durfte es bloß nicht gerade ausdrücken, sondern mußte lügen und rief aus: »Ich bin ein schlichter Mensch und kann mich nicht mit Dichtern und Philosophen vergleichen!« wobei er trotz seiner Erregung die Worte nicht ganz unbedacht wählte.
Sein Erzieher schwieg darauf.
»Ich habe Hunger!« fügte Peter noch leidenschaftlicher hinzu.
Lindner lächelte schmerzlich und verächtlich.
»Ich gehe zugrunde, wenn ich nicht genügend zu essen bekomme!« plärrte Peter beinahe.
»Die erste Erwiderung des Menschen auf alle Eingriffe und Angriffe von außen geschieht mittels der Stimmwerkzeuge!« belehrte ihn sein Vater.
Und das »klägliche Geschrei der Begierden«, wie Lindner es nannte, erstarb. Peter wollte an diesem besonders männlichen Tag nicht weinen, aber die Forderung, beredten Verteidigungsgeist zu entwickeln, lastete furchtbar auf ihm. Es fiel ihm durchaus nichts mehr ein, und er haßte in diesem Augenblick sogar die Lüge, weil man sprechen muß, um sich ihrer zu bedienen. In seinen Augen wechselte Mordgier mit Klagegeheul. Als es so weit gekommen war, sagte Professor Lindner gütig zu ihm: »Du mußt dir ernsthafte Übungen in der Schweigsamkeit auferlegen, damit nicht der unbewachte und ungebildete Mensch in dir rede, sondern der besonnene und erzogene, von dem Worte ausgehn, die Friede und Festigkeit bringen!« Und dann dachte er mit freundlichem Antlitz nach. »Ich habe, wenn man andere gut machen will, keinen besseren Rat,« eröffnete er das Ergebnis, zu dem er kam, seinem Sohn »als daß man selbst gut sei; auch Matthias Claudius sagt: ›Ich kann nichts anderes aussinnen, als daß man selbst sein muß, wie man die Kinder machen will‹!« Und mit diesen Worten schob Professor Lindner gütig und entschieden die Nachspeise von sich, obgleich es seine Lieblingsspeise Milchreis mit Zucker und Schokolade war, ohne sie zu berühren und seinen Sohn durch liebende Unerbittlichkeit zwingend, zähneknirschend das gleiche zu tun.
Da geschah es, daß die Wirtschafterin hereinkam und Agathe anmeldete. August Lindner richtete sich verstört auf und schien plötzlich in einer wahnwitzigen Ideenflucht seinen Gedanken nachzujagen, ehe er den einfachen Befehl gab, die Dame ins Empfangszimmer zu führen.
»Du erwartest mich hier!« sagte er streng zu Peter und entfernte sich großen Schrittes. Peter aber hatte etwas Ungewohntes an seinem Vater bemerkt, er wußte bloß nicht was; immerhin gab es ihm so viel Leichtsinn und Mut, daß er sich nach dessen Abgang und nach kurzem Zögern einen Löffel voll Schokolade in den Mund strich, die zum Überstreuen bereitstand, dann einen Löffel Zucker und schließlich einen großen Löffel voll Reis, Schokolade und Zucker, was er mehrmals wiederholte, ehe er die Schüsseln auf alle Fälle wieder glättete. Und Agathe saß eine Weile allein in der fremden Wohnung und wartete auf Professor Lindner, denn dieser ging in einem andern Zimmer hin und her und sammelte seine Gedanken, ehe er dem schönen und gefährlichen Weib entgegentrat. Sie sah sich um und fühlte plötzlich eine Angst, so als hätte sie sich in den Ästen eines geträumten Baums verstiegen und müßte fürchten, aus seiner Welt von gewundenem Holz und zackichten Blätterhaufen nicht mehr heil zurückzufinden.
Eine Fülle von Einzelheiten verwirrte sie, und in dem dürftigen Geschmack, der sich in ihnen aussprach, verschränkte sich, ohne daß sie es in ihrer Aufregung scheiden konnte, auf das merkwürdigste abweisende Herbheit mit einem Gegenteil, das altweibisch verzärtelt wirkte. Das Abweisende mochte dabei an die gefrorene Steifheit von Kreidezeichnungen erinnern, doch sah das Zimmer auch aus, als röche es großmütterhaft nach Arznei und Salbe, und es schwebten altmodische wie unmännliche, mit unangenehmer Geflissentlichkeit auf das menschliche Leiden gerichtete Geister in dem Raum. Agathe schnupperte. Und obwohl die Luft nichts als ihre Einbildungen enthielt, sah sie sich von ihren Gefühlen allmählich weit zurück geführt und erinnerte sich nun an den bänglichen »Geruch des Himmels«, jenen halb entlüfteten und seiner Würze entleerten, an den rauhen Stoffen der Sutanen haften gebliebenen Weihrauchduft, den ihre Lehrer an sich getragen hatten, als sie ein Mädchen war, das gemeinsam mit seinen kleinen Freundinnen in einem frommen Institut erzogen wurde und keineswegs vor Frömmigkeit erstarb. Denn so erbaulich dieser Geruch auch für Menschen ist, die das Richtige mit ihm verbinden, in den Herzen der heranwachsenden weltlichen Mädchen bestand seine Wirkung in der lebhaften Erinnerung an Protestgerüche, wie sie Vorstellung und erste Erfahrungen mit dem Schnurrbart eines Mannes oder mit seinen energischen, von scharfen Essenzen bespritzten und von Rasierpuder überhauchten Wangen verbinden. Weiß Gott, auch dieser Geruch hält nicht, was er verspricht! Und während Agathe auf einem der entsagungsvollen Lindnerschen Polsterstühle saß und wartete, schloß sich nun der leere Geruch der Welt mit dem leeren Geruch des Himmels unentrinnbar um sie zusammen wie zwei hohle Halbkugeln, und eine Ahnung wandelte sie an, daß sie im Begriff sei, eine schlecht verstandene Lebensschulstunde nachholen zu müssen.
Zaghaft-willig gedachte sie der Glaubenslehren, von denen sie sich so früh hatte abwenden lassen. Aber ihr Herz scheute bei dieser Willigkeit wie ein Pferd, das keinem Zuspruch zugänglich ist, und fing in wilder Angst zu laufen an, wie dergleichen nur auftritt, wenn Gefühle da sind, die den Verstand warnen möchten und keine Worte finden. Trotzdem versuchte sie es nach einer Weile von neuem. Es kam ihr erstaunlich vor, daß ihr Vater, dieser liberale Mann, der für seine Person immer einen etwas seichten Aufklärungsstil zur Schau getragen hatte, des Entschlusses fähig gewesen sei, sie einer Klosterschule zur Erziehung zu übergeben, und das war etwas, das sie bisher noch nie überlegt hatte. Sie fühlte sich versucht zu denken, daß es eine heimliche Schwäche und Unsicherheit gewesen sein mochte, vielleicht ein Versöhnungsopfer und der durch die Unsicherheit erzwungene Versuch, einmal das Gegenteil von dem zu tun, wovon man überzeugt zu sein glaubt; und weil sie solche Inkonsequenz verstand und sich fast in ähnlicher Lage fühlte, mutete sie einen Augenblick wirklich eine ebenso töchterliche wie geheimnisvolle Erwartung an. Aber auch dieser fromme Schauer hatte keinen Bestand, und anscheinend hatte sie damals, als sie in allzu sorgliche Obhut gesteckt worden, ein für allemal die Fähigkeit verloren, ihren gotteswilligen Ahnungen das Gerüst eines Glaubens zu geben; denn sie brauchte bloß ihre Umgebung zu mustern, und mit dem boshaften Ahnungsvermögen, das die Jugend für den Abstand hat, der so oft zwischen dem Inhalt einer Lehre und den Personen ihrer Vertreter besteht und leicht dahin führt, von den Dienern auch auf den Herrn zurückzuschließen, sah sie sich von dem sie umrahmenden Heim, darin sie sich gefangen begeben und erwartungsvoll niedergelassen hatte, plötzlich wieder zum Lachen gebracht.
Doch grub sie dabei unwillkürlich die Nägel in das Holz des Sessels, denn sie schämte sich der Unschlüssigkeit, in die sie nun wieder geraten war. Am liebsten hätte sie dem Unbekannten, der sich anmaßte, sie trösten und erlösen zu können, jetzt alles ins Gesicht geschleudert, so er bloß geruht hätte, sich endlich zu zeigen: Den Handel mit dem Testament. Hagauers Briefe. Daß sie Hagauer zuerst habe töten wollen, und doch nicht ganz wirklich töten. Dann, daß es ihr schon vorher ebenso mit dem Heiraten ergangen wäre. Und schließlich, was wollten alle diese Fragen dagegen bedeuten, daß sie nicht wußte, was Ulrich wolle. Sie fühlte sich unwirsch wie ein Kind, dem stets eine zu schwere Aufgabe zugemutet wird. Warum wurde das Licht, das sie manchmal sah, jedesmal gleich wieder verlöscht wie eine durch weites Dunkel schwankende Laterne, deren Schimmer von der Finsternis bald eingeschluckt, bald freigegeben wird?! Da erinnerte sich Agathe daran, daß Ulrich auf eine ähnliche Klage einmal zur Antwort gegeben habe, was sie vermisse, das liege nicht an ihr, sondern fehlte außen, an der Welt, und wer es suche, der stehe zuletzt immer vor einem Abgrund: und sie wußte nicht weshalb, aber sie schloß daraus, daß er zuinnerst nicht an die Möglichkeit von dem glaube, was sie gemeinsam suchten. So dachte sie und war tief erschüttert. Niemand konnte ihr also helfen als der Abgrund selbst! Dieser Abgrund war Gott: ach, was wußte sie! Mit Abneigung und verächtlich musterte sie die Brücklein, die hinüberführen wollten, die Demut des Zimmers, die fromm an den Wänden angebrachten Bilder, alles das, was ein vertrauliches Verhältnis zu ihm vortäuschte. Sie war ebenso nahe daran, sich selbst in den Staub zu demütigen, wie hochzufahren. Und da fiel ihr noch etwas ein, das auch Ulrich gesagt hatte; denn er hatte einmal gesagt: »Überhaupt findet sich kein Mensch völlig schlecht; wenn ein Mensch vor etwas erschrickt, so läuft er genau so weit davon, daß er sich wieder als Held vorkommt!« Und da saß sie also!
In diesem Augenblick trat Lindner ein und hatte sich ebensoviel zu sagen vorgenommen wie Agathe, aber es kam alles anders, als sie sich einander gegenüber befanden. Agathe, die sich keine Zeit ließ, ging mit Worten, die weitaus landläufiger waren als die Empfindungen, von denen sie verursacht wurden, zum Angriff über. »Sie erinnern sich, daß ich Sie gebeten habe, mir einiges zu erklären, das ich nicht verstehe? Ich bin nun da« begann sie. »Ich weiß, was Sie gesagt haben, ich habe es auch vielleicht seither besser verstanden.« Sie saßen an dem großen, runden Tisch, die ganze Länge seines Durchmessers trennte sie.
Lindner erwiderte sogleich: »Ich weiß sehr gut, warum Sie diese Erklärungen von mir verlangen! Man hat Ihnen suggeriert, daß der Glaube an Überirdisches und der Gehorsam gegen Gebote, die dort ihren Ursprung haben, dem Mittelalter angehörten! Solche Märchen seien durch die Wissenschaft verdrängt worden, haben Sie erfahren: Sind Sie aber dessen gewiß, daß es wirklich so ist?!«
Agathe sah erstaunt, daß sich ungefähr bei jedem dritten Wort seine Lippen unter dem schütteren Bart wie zwei Angreifer aufrichteten. Sie schwieg.
»Haben Sie je darüber nachgedacht?« fuhr Lindner streng fort. »Kennen Sie alle die Fragen, die sich daran knüpfen? Ich sehe: nein. Aber Sie haben eine Handbewegung, mit der Sie das abtun! Sie stehn unter der Suggestion der gewöhnlichen Vorurteile!«
Es blieb ungewiß, an welchen Einflüsterer er dabei denke, ob an Hagauer oder an Ulrich. Er fühlte sich fortgerissen. Seine Rede war ein langer Tunnel, den er durch einen Berg bohrte, um über eine Vorstellung »Lügen freigeistiger Männer« herfallen zu können, die am andern Ende in prahlerischem Licht prangte. »Und wenn Sie auch nachgedacht hätten« rief er aus »und von alledem überzeugt wären: der Körper nichts als ein System toter Korpuskeln, die Seele ein Drüsenspiel, die Gesellschaft ein wirtschaftlich-mechanisches Spiel; und wenn es selbst stimmte – wovon es weit entfernt ist! –: so spräche ich diesem ganzen modernen Denken doch das Wissen von den wirklichen Tatsachen des Lebens ab! Die sogenannte Wissenschaft hat doch nicht die geringste Kompetenz, die innere geistige Gewißheit des Menschen zu erklären, und die Tatsachen des wahren Lebens werden nicht durch Beweis vermittelt: Die Lebenswahrheit ist ein anfangsloses Wissen! Wer lebt und leidet, hört sie in sich selbst als die geheimnisvolle Macht höherer Ansprüche und zugleich als die lebendige Deutung seiner selbst!«
Lindner war aufgestanden. Seine Augengläser blitzten wie zwei Schilde, hinter denen der Pfeil seines Blicks auf Agathe losschnellte. »Warum spricht er gleich so viel?« dachte sie. »Und was hat er gegen Ulrich? Er kennt ihn kaum und spricht doch offenbar gegen ihn?!« Da gab ihr die weibliche Geübtheit im Erregen von Gefühlen, ohne daß es eines gedanklichen Verständnisses dieser unangebrachten Mitteilungen bedurft hätte, die Gewißheit ein, daß Lindner nur deshalb so spreche, weil er in einer lächerlichen Weise eifersüchtig sei. Sie sah mit einem bezaubernden Lächeln zu ihm auf. Er stand groß, schwank und bewaffnet vor ihr, wie eine kampflustige Riesenheuschrecke aus vergangenen Erdzeitaltern. »Du lieber Himmel,« dachte Agathe »jetzt werde ich wieder etwas sagen, das ihn ärgert, und er wird wieder hinter mir drein laufen: Wo bin ich?! Welches Spiel treibe ich?!« Denn obwohl sie Lindner zum Lachen fand, wurde sie einzelne seiner Wor te nicht ohne weiters los, wie »anfangsloses Wissen« oder »lebendige Deutung«; so fremde Worte in der Gegenwart, aber ihr heimlich vertraut, obwohl sie sich nicht erinnerte, davon gehört zu haben. Sie dachte: »Es ist schauerlich, aber einzelne Worte hat er mir schon wie Kinder ins Herz gesenkt!«
Lindner bemerkte, daß er auf sie Eindruck gemacht habe, und diese schmeichelhafte Genugtuung versöhnte ihn ein wenig. Er sah eine junge Frau vor sich: Erregung und gespielte Gleichgültigkeit, ja Keckheit schienen verdächtig zu wechseln. Professor Lindner war ein genauer Kenner der Frauenseele: Die Versuchung zu Hochmut und Eitelkeit ist für schöne Frauen außerordentlich groß, darum konnte er ein schönes Gesicht selten ohne eine Beimischung von Trauer betrachten. Solche Menschen waren nach seiner Überzeugung meist Märtyrer ihrer schönen Außenseite, die sie zu Dünkel verführte und seinem schleichenden Gefolge von Herzenskälte und Äußerlichkeit. Immerhin kann auch hinter einem schönen Gesicht eine Seele wohnen, und wieviel Demütigung verbirgt sich dann oft hinter Hochmut, wieviel Verzweiflung hinter Leichtsinn! Lindner fühlte es immer und darum jetzt besonders, daß sich der erfolgreiche und starke Mensch in die Stimmung solcher Vernachlässigten und Zurückgesetzten hineinzuversetzen habe. Als er es tat, nahm er denn auch wahr, daß die ruhige, volle Form von Agathes Antlitz und Körper so sei, wie es nur dem Edlen und Gesicherten zukomme, ja, das Knie in den Falten der Umhüllung war sogar das einer Niobe. Er wußte nicht, warum sich ihm dieser äußerlich unpassende Vergleich aufdrängte, aber anscheinend verband sich darin der Adel seines moralischen Schmerzes mit der verdächtigen Vorstellung vieler Kinder, denn er fühlte sich hingezogen und geängstigt. Er bemerkte nun auch den Busen, der in raschen kleinen Wellen atmete. Aber in dieser Not kamen ihm sein Feingefühl und seine Weltkenntnis zu Hilfe und flüsterten ihm ein, daß dieser Busen ein Geheimnis umschließen müsse, das mit der Scheidung zusammenhänge, und das rettete ihn vor beschämender Torheit, indem es ihm gestattete, sich die Enthüllung dieses Geheimnisses statt der des Busens zu wünschen.
Agathe kam ihm jedoch mit der Frage zuvor: »Sie haben mir letzthin den Rat gegeben, nicht an mich zu denken, sondern an andere. Ich möchte Sie nun allen Ernstes fragen: Wie macht man das?«
Lindner sah sie verständnislos an, er konnte nicht gleich die nötige Gedankenverbindung finden. Dann sagte er mit Festigkeit etwas, das er für richtig hielt: »Man muß Pflichten suchen.«
»Ich weiß nicht, was Pflichten sind« erwiderte Agathe.
Lindner zuckte die hohen Schultern und lächelte grimmig. »Da haben Sie die Freiheit des Menschen! Eitel Spiegelung! Sie sehen doch an sich: wenn der Mensch frei ist, ist er unglücklich! Wenn der Mensch frei ist, ist er ein Phantom!« Er senkte aber wieder die Stimme und schloß überzeugt: »Die Rechte der freien Persönlichkeit kann nur verteidigen, wer nie tief darüber nachgedacht hat!«
»Was soll ich also nach Ihrer Meinung tun?« fragte Agathe ruhig.
»Ihre Pflicht!« wiederholte Lindner.
Agathe schüttelte gelangweilt den Kopf, und mit der unwillkürlichen Sicherheit, durch die ein erregter Mensch vom andern zu dem verführt wird, was die bedenkliche Lage ganz zum Sturz bringt, erwiderte sie trotzig: »Was Sie meinen, ist nicht meine Pflicht … «
Lindner fühlte, daß ihn bei diesem Widerstand eine glühend aufsteigende Trunkenheit seiner Besinnung beraubte. »Unsere Pflicht ist schmerzhaft!« rief er aus und wunderte sich des Unpassenden seiner Worte. »Ihre Pflicht mag widerwärtig und ekelerregend sein! Glauben Sie ja nicht, daß ich von Natur auf seiten Ihres Gatten stehe. Aber Sie müssen dem Gesetz gehorchen, weil es das einzige auf der Welt ist, was uns dauernd Friede gewährt und uns vor uns beschützt!«
Agathe lachte ihn aus. »Ich begreife Sie nicht,« sagte sie »aber darf ich Ihnen aufrichtig einen Eindruck bekennen? Sie strafen meine Freiheit, als ob Sie sich einer Freiheit bemächtigen wollten!?«
Lindner prallte zurück. Er fühlte sich auf unbewußten Schleichwegen ertappt und konnte das nicht zugeben. Er hob plötzlich abwehrend die Stimme und beschwor das vor ihm sitzende sündliche Phantom. »Der Geist darf sich nicht dem Fleisch unterwerfen und seinen Reizen und Schauern! Das ist es doch, was Sie hören wollen, denn sonst wären Sie nicht zu mir gekommen. Und ich sage Ihnen: Es mag die Beherrschung des fleischlichen Abscheus, welche die Schule der Ehe anscheinend von Ihnen verlangt hat, schmerzlich sein, so dürfen Sie ihr doch nicht entfliehn. Denn es lebt im Menschen ein Verlangen nach Befreiung der Seele, und wir dürfen so wenig die Knechte des Abscheus unseres Fleisches sein wie die seiner Wollust!« Er stand hochgereckt vor Agathe, die Bartfäden bewegten sich um seine Lippen. Noch nie im Leben hatte er solche Worte zu einer Frau gesprochen außer zu seiner verstorbenen eigenen, und da waren die Gefühle anders gewesen. Jetzt waren sie, als schwänge er eine Geißel in seiner Faust, den Erdball zu züchtigen, und zugleich waren sie ängstlich, als schwebte er gleich einem entführten Hut auf der Höhe des bußpredigerlichen Wirbelsturms, der ihn erfaßt hatte.
Agathe sagte ohne zu lachen: »Ich bin gekommen, weil ich Ihnen glaube.« Aber dann lachte sie doch.
Lindner, in ratlosem Eifer, schwang die Wortgeißel weiter, er wußte keinen anderen Ausweg: »Lebenslänglich an einen Mann gefesselt zu sein, ohne körperliche Neigung zu empfinden, ist eine schwere Strafe!« rief er aus, den Blick wie eine zweizinkige Gabel vorgestreckt. »Aber hat man sich diese nicht zugezogen, weil man auf die Zeichen des inwendigen Lebens zu wenig achtsam war!? Und wer weiß, ob man nicht deshalb gestraft wird, um aufgerüttelt zu werden?!« Plötzlich überschlug sich seine Stimme und er schmetterte in der Fistel: »Denn der die Rute spart, der haßt sein Kind, der es aber liebt, züchtigt es!!«
Er war von einer ihm unbekannten Empfindung berauscht, die aus einer innigen Verbindung der moralischen Zurechtweisung, durch die er seinen Besuch stachelte, mit einer Aufreizung seiner ganzen Männlichkeit hervorging, die man symbolisch als wollüstig bezeichnen konnte.
Aber die »arrogante Eroberin«, die von der leeren Eitelkeit ihrer weltlichen Schönheit zur Verzweiflung getrieben sein sollte, fragte, sachlich an seine Drohungen mit der Rute anknüpfend: »Von wem werde ich nach Ihrer Ansicht gestraft?«
Und das ließ sich nicht aussprechen! Lindner verlor plötzlich den Mut, in diesem Zusammenhang den Namen Gottes zu nennen. Das Blut strömte ihm aus dem Kopf und nahm seine gleichmäßige Bahn wieder auf; er erwachte wie ein Mensch, der sich weit weg von der Tür seines Hauses nackt dastehend findet, und erinnerte sich, daß er Agathe nicht ohne Hilfe und Belehrung fortschicken wollte. Tief aufatmend trat er von ihr zurück und sagte verweisend: »Sie haben ein unruhiges und phantastisches Selbst!«
Agathe hatte jetzt keine Lust zu erwidern. Lindner fand es zu seiner Rehabilitierung erforderlich, noch etwas zu sagen: »Sie müßten in der strengen Schule der Wirklichkeit lernen, Ihre Subjektivität unerbittlich in die Zügel zu nehmen« brachte er hervor; »denn wer das nicht kann, dessen Phantasie und Einbildung wird ihn gar zu bald am Boden schleifen … !« Die sonderbare Frau zog noch immer die Stimme unerwünscht aus seiner Brust hinaus.
Agathe zuckte die Achseln. »Sie sollten uns einmal besuchen« schlug sie vor.
»Da muß ich doch erwidern: Nie!« verwahrte sich Lindner heftig. »Zwischen Ihrem Bruder und mir bestehen Gegensätze der Lebensauffassung, die einen Verkehr besser meiden lassen« fügte er hinzu.
»Also dann muß ich fleißig in die ›Schule der Wirklichkeit‹ gehen« gab Agathe lächelnd zur Antwort. Die Unsicherheit Lindners zog sie eigentümlich grausam zu Handlungen an, die ihr jetzt fremd waren.
»Nein!!« wiederholte Lindner und vertrat ihr merkwürdigerweise drohend den Weg, als sie sich mit ihren Worten zum Gehen anschickte. »Das darf nicht geschehen! Sie dürfen mich Professor Hagauer gegenüber nicht in die peinliche Lage bringen, ohne sein Wissen Ihre Besuche zu empfangen!«
Agathe sagte: »Ach, was Ihnen nicht alles einfällt!« und zwang ihn lachend, ihr den Weg freizugeben. Während sie die Forderungen Ulrichs oft entmutigten, weil sie ihr zu schwer vorkamen, gab ihr dieser Mann die Freiheit zurück, ihr Inneres nach Belieben zu regen, und es tröstete sie, ihn zu verwirren.
»Habe ich mir vielleicht etwas vergeben?« sagte sich Lindner, nachdem sie gegangen war. Er steifte die Schultern und marschierte einige Mal durch das Zimmer hin und her. Der Besuch war anders verlaufen, als er es sich vorgestellt hatte. Schließlich faßte er aber sein Unbehagen, das sehr groß war, in die soldatischen Worte: »Man muß den festen Willen zur Tapferkeit gegenüber allem Peinlichen haben!«
Und Peter war, als Agathe aufbrach, vom Schlüsselloch fortgehuscht, wo er nicht ohne Staunen belauscht hatte, was sein Vater mit der großen »Gans« anhebe.


43.
Beginn einer Reihe wundersamer Erlebnisse


Bald danach trat zwischen Agathe und Ulrich, eigentlich unerwartet, die entscheidende Veränderung ein. Sie hatten sich etwas von der Gesellschaft zurückgezogen, indem sie einige Zusagen, die sie in Berührung mit ihren Bekannten gebracht hätten, widerriefen und neue Aufforderungen ablehnten; aber das war nicht etwa auf Grund eines Beschlusses, ja kaum mit Absicht geschehn, sondern eher in unbewußtem Überdruß und Zögern. Sie gingen dafür in Theater oder Konzerte, wo sie keine Bekannten trafen, aßen in Gasthäusern, die ihnen fremd waren, oder ließen sich von einem Anschlag an einer Straßensäule bereden, Vergnügungsstätten zu besuchen, von denen sie sich etwas Unerwartetes versprachen; doch nahmen sie in dieser Zeit auch noch Einladungen zu Gesellschaften an, ohne daß etwas anderes als ihre Unbestimmtheit darüber entschieden hätte, ob sie annahmen oder ablehnten. Und gerade bei einer solchen Gelegenheit geschah das, was die Erfüllung ihrer Bestimmung einleitete. Ulrich mußte seiner Schwester wieder einmal beim Ankleiden Beistand leisten, sie sollten bei vornehmen Bekannten zu Tafel gehn, es war niemand zur Hilfe im Haus, sie hatten ein schönes Abendkleid ausgewählt, auf den Lehnen und Flächen des Zimmers lag der ganze Kriegsschmuck ausgebreitet, der Stück nach Stück von einer »arroganten Eroberin« angelegt wird, wie Lindner angesichts solcher Vorbereitungen – und sicher verhüllten Angesichts – wohl gesagt hätte, und Agathe bückte sich soeben über ihren Fuß, mit der ganzen Aufmerksamkeit, die das Anziehen eines dünnen Seidenstrumpfs erfordert. Ulrich stand in ihrem Rücken. Er sah ihren Kopf, den Hals, die Schulter und diesen beinahe nackten, schon für fremde Menschen entblößten Rücken; der Körper bog sich über dem emporgezogenen Knie ein wenig zur Seite, und am Hals rundete die Spannung des Vorgangs drei Falten, die so schlank und lustig durch die klare Haut eilten wie drei Pfeile: die liebliche Körperlichkeit dieses Bilds hatte keinen geistigen Rahmen und wirkte darum unmittelbar auf den Körper des Beobachters, so daß Ulrich, nicht ganz so bewußtlos, wie ein Fahnentuch vom Wind entrollt wird, aber auch nicht mit bewußter Überlegung, auf den Fußspitzen näher schlich und, die Gebeugte wie ein sanftes wildes Tier überfallend, vorsichtig in einen dieser Pfeile biß, wobei sein Arm die Schwester umschlang. Dann ließen seine Zähne ebenso vorsichtig die Überraschte los, die rechte Hand hatte ihr Kinn umfaßt, und während sein linker Arm ihren Körper an seinen drückte, riß er sie auf federnden Beinsehnen mit sich in die Höhe. Agathe schrie erschrocken auf. Bis hieher hatte sich alles so übermütig und scherzhaft abgespielt wie vieles zuvor, vertraulich, und wenn auch in den Farben der Liebe gestreift, so doch mit der eigentlich schüchternen Absicht, das gefährlich ungewöhnliche wirkliche Gefüge des Geschehens hinter solchem Anstrich der Gewöhnlichkeit zu verbergen. Aber als Agathe ihre Überraschung überwand und sich nicht sowohl durch die Luft fliegen als vielmehr in dieser ruhen fühlte, von aller Schwere plötzlich entbunden und an ihrer Stelle von dem sanften Zwang der allmählich langsamer werdenden Bewegung gelenkt, bewirkte es einer jener inneren Zufälle, die niemand in seiner Macht hat, daß sie sich in diesem Zustand wundersam beruhigt, ja gleichsam endgültig aufgehoben empfand; mit einer Bewegung, die sie nicht hätte wiederholen können, die das Gleichgewicht ihres Körpers anders verteilte, streifte sie auch noch den letzten Seidenfaden von Zwang ab, wandte sich fallend ihrem Bruder zu und lag niedersinkend als eine Wolke von Glück in seinen Armen. Ulrich trug sie, ihren Körper still an sich drückend, durch das dunkle Zimmer ans Fenster und stellte sie neben sich in das milde Licht des Abends, das ihr Gesicht wie Tränen überströmte. Trotz der Kraft, die alles erforderte, und des Zwanges, den seine Schwester erlitt, kam ihnen beiden, was geschehen war, so ungreifbar vor wie ein Bild, ergriff sie aber auch ebenso heftig, wie es Bilder tun können, wenn sie auf die rechte Verfassung wirken. Es war ihnen nichts Besonderes in den Sinn geraten; der leibliche Vorgang füllte ihr Bewußtsein ganz mit sich aus, und trotzdem besaß er neben seiner Natur als harmloser, etwas derber, alle Muskeln bewegender Scherz eine merkwürdig gleichnisartige zweite Geltung als schattenhaft zartes, alle Muskeln lähmendes Glück, das sich unter seinem robusten Schutz verwirklicht hatte. Sie schlangen die Arme einander um die Schultern. Der geschwisterliche Wuchs der Körper teilte sich ihnen mit, als stiegen sie aus einer Wurzel auf. Sie sahen einander so neugierig in die Augen, als sähen sie dergleichen zum erstenmal. Und in diesem Augenblick zogen sie sich von fast allem weit zurück, was ihnen bishin vertraulich, wenn auch gleichgültig nah gewesen war, doch hätten sie nur mit Mühe erklären können, was eigentlich vor sich gegangen sei, gerade weil ihre Beteiligung daran viel zu inständig war, eine Übertreibung zu dulden.
Nüchtern geprüft, bedeutete es einen Schwund: auf einen scherzhaften Augenblick war plötzlich ein tiefes Versinken der Gefühle ineinander gefolgt, und konnte sich im nächsten Augenblick oder im Verlauf der nächsten Stunden ebensogut wieder heben und auflösen. Trotzdem geschah das nicht. Sie hatten, als sie das Fenster verließen, Licht gemacht und ihre Tätigkeit wieder aufzunehmen versucht, ließen aber bald von ihr ab, und ohne daß sie sich darüber hätten verständigen müssen, ging Ulrich an den Fernsprecher und entschuldigte ihr Ausbleiben von der Festlichkeit, wo sie erwartet wurden. Er hatte da schon den Frack an, aber Agathes Kleid hing noch ungeschlossen an der Schulter herab, und sie bemühte sich soeben, ihrem Haar eine wohlgesittete Ordnung zu geben; der technische Beiklang seiner Stimme im Gerät und die Verbindung mit der Welt, die sich herstellte, hatten Ulrich nicht im geringsten ernüchtert; er setzte sich seiner Schwester gegenüber, die in ihrer Beschäftigung einhielt, und nichts war, als das geschah und sich ihre Blicke nach der von ihm herbeigeführten halben Entscheidung zum ersten Mal begegneten, so gewiß, als daß sie zu Hause blieben, um noch in dieser Nacht einander auch in der gewöhnlichen Weise von Mann und Frau anzugehören. Trotzdem kam es anders. Die Gewißheit des geheimen Beschlusses tat sich ihnen mit jedem Atemzug kund und steigerte den Anblick ihrer reglos auf das Signal zur Empörung wartenden Körper so, daß sich die Vorstellungen der Verwirklichung fast von ihnen los zu reißen schienen und sie in der bereits unwiderstehlichen Einbildung vereinten, wie der Sturm einen Schaumschleier den Wellen voranpeitscht; das war nur das Gewöhnte. Aber eine noch größere Macht gebot ihnen Stille, und sie vermochten sich nicht von der Stelle zu rühren. Mag man davon sagen, daß ihnen, den doch nicht Unerfahrenen und nicht Schüchternen, die Gebärden des Fleisches mit einem Mal unmöglich geworden waren, so ist das nur der erste Kreis der Worte; im zweiten fühlten sie eine unaussprechliche Warnung, als ständen sie im Begriff, wenn sie dem süßen natürlichen Verlangen nachgäben, das Gebot eines höheren Verlangens zu verletzen. Dieses konnte nur der schattenhafteren, aber vollkommeneren Vereinigung gelten, von der sie zuvor wie in einem schwärmerischen Gleichnis gekostet hatten, und als die Geschwister nach einem längeren Schweigen, das ihre Gefüh le besänftigte, wieder zu einem ruhigen Sprechen übergegangen waren, eröffnete Ulrich den Angriff auf diese Frage mit der Feststellung: »Ein Gleichnis stimmt doch bloß soweit, als es unwahr ist; soweit es wahr ist, deutet es auf eine Wirklichkeit hin!« Vielleicht war es feig, noch ein Ausweichen, daß er so sprach.
Verläßt man hier das Gespräch der Geschwister und benutzt dessen Zeit, um eine Vergleichsmöglichkeit zu entwickeln, von der sie nun zum erstenmal Gebrauch machten und natürlich nicht gleich in geradestem Fortgang, so kann man sagen: Am nächsten war diese Wirklichkeit vielleicht mit der so abenteuerlich veränderten in Mondnächten verwandt. Begreift man doch auch diese nicht, wenn man in ihr bloß eine Gelegenheit zu etwas Schwärmerei sieht, die bei Tag besser unterdrückt bleibt, muß sich vielmehr, wenn man das Richtige bemerken will, das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirklich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es aus der geschäftigen Leere des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neuen im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken in einer neue Weise zusammen: das gesprochene Wort bedeutet nichts Festes mehr. Alle Versicherungen drücken nur ein einziges flutendes Erlebnis aus. Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort mehr falsch und keines wahr, sondern jedes ist die unvergleichliche und einmalige Gestalt, die ein Mensch in einem Gedanken annimmt. So hat jeder innere und jeder äußere Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist ein neidloses miteinander Teilen. Jedes Geben ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht. So zu sein, ist der einzige Zugang zum Wissen dessen, was vor sich geht. Denn das Ich behält keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst davon zurück, kaum eine Erinnerung, das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein, und diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen müsse, wie es noch nie da war, ja wie es mit der verarmten Vernunft des Tages nicht einmal vorgestellt werden kann. Und nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper vom Kopf bis zu den Füßen ist über dem Dunkel der Erde und unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit dem Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird.
Nun war Ulrich zwar wie ein Mondscheinschwärmer gewesen; aber wie man gewöhnlich das Leben ohne Gefühl hinunterschlingt, so hat man manchmal viel später seinen geisterhaft gewordenen Geschmack auf der Zunge, und derart fühl te er alles, was er damit versäumt hatte, alle achtlos und einsam verbrachten Nächte, ehe er seine Schwester kannte, als silberübergossenes unendliches Gebüsch, als Mondflecken im Gras, als hängende Apfelbäume, singenden Frost und vergoldete Schwarzwässer. Es waren lauter Einzelheiten, die nicht zusammenhingen und nie beisammen gewesen waren, die sich nun aber wie der Duft vermengten, der aus vielerlei Kräutern eines berauschenden Getränks aufsteigt. Und als er das Agathe sagte, fühlte sie es auch.
Ulrich faßte es schließlich mit den Worten zusammen: »Alles, was uns vom ersten Tag an verbunden hat, könnte man auch eine Moral der Mondnächte nennen.« Doch Agathe sprach das andere aus: »Aber warum hat sie uns getrennt?«
Sie seufzte so natürlich und vertraulich, daß sie es gar nicht wußte.
Die gemeinsam erlebte Befriedung einer starken Erregung hinterläßt, auch wenn sie keine Befriedigung, sondern eine Störung und Unterbrechung war, die Vertrautheit des Erschöpftwordenseins; alles, was kurz auf sie folgt, geschieht als »schon zum zweiten Mal«: So hätte beinahe auch Ulrich, als er sie seufzen hörte, Agathe nun doch noch entzückt und gerührt umarmt, wie ein Liebhaber am Morgen nach den ersten Stürmen der Vereinigung. Seine Hand hatte sich schon ausgestreckt und berührte ihre entblößte Schulter. Agathe lächelte. Ulrich fühlte die Hingabe und die Verwahrung in diesem Ausdruck. So lächelt die Geliebte hinter Gittern, so mag sie, schon aus der Entfernung, lächeln, wenn die trennende Gewalt fremder Fäuste sie fortreißt. Er selbst war dabei der Trennende und der ohnmächtig Verabschiedete. Seine Schwester blickte nun von ihm weg zum Fenster. Dann stand sie auf. Die Wärme der Liebe war in ihrem und Ulrichs Körper, aber ihr Verlangen, im entscheidenden Augenblick von der Phantasie im Stich gelassen, wagte keine Wiederholung. Jenseits der Fenster, deren Vorhänge nicht zugezogen waren, befand sich das, was ihm die Einbildungskraft entführt hatte; sie sahen es beide, und vielleicht war schon ihr Gespräch davon bestimmt worden, ohne daß sie es wußten: während Agathe die ersten Schritte zum Fenster tat, löschte Ulrich das Licht aus, um den Blick in die Nacht freizumachen. Der Mond war hinter den Fichtenwipfeln emporgekommen, deren grünglimmerndes Schwarz sich schwerblütig von der goldblauen Höhe und der mehlstaub-feinen Weite abhob. Unwillig musterte Agathe das tiefe kleine Stück Welt.
»Doch einfach nur in irgendeiner Weise Mondscheinromantik?« fragte sie.
Ulrich sah sie ohne zu antworten an. Ihr blondes Haar wurde im Halbdunkel neben der weißlichen Nacht feurig, ihre Lippen waren von Schatten geöffnet, ihre Schönheit war schmerzlich und unwiderstehlich. Wahrscheinlich stand aber auch er ähnlich vor ihr, mit blauen Augenhöhlen im weißen Gesicht, denn Agathe fuhr fort: »Es mahnt zur Vorsicht: Du siehst aus wie der Pierrot lunaire!«
In dieser lyrischen Maske des mondeseinsamen Pierrots waren sich früher unzählige junge unnütze Leute tragisch-kapriziös vorgekommen, kreidebleich gepudert bis auf die blutstropfenroten Lippen, und von einer Kolombine verlassen, die sie niemals besessen hatten. Agathe wollte damit Ulrich unrecht tun, ihm schuld geben und in ihrer Unruhe ihn versuchen. Aber ihr Bruder pflichtete ihr bereitwillig bei. »Von dieser milden und unwahren Ablehnung der Welt ist sogar kein weiter Abstieg mehr zum ›Lache Bajazzo‹, das auch tausenden Spießbürgern schon den Rücken kalt vor innerster Zustimmung gemacht hat, wenn sie es singen hörten« sagte er gedämpft. Und dann fügte er hinzu: »Dieser ganze Gefühlskreis ist also wahrhaft verdächtig. Trotzdem siehst du in diesem Augenblick so aus, daß ich alles, was ich erlebt habe, dafür geben möchte!« Obwohl er das sagte, rührte sich kein Muskel aus der Erstarrung. Agathe dachte an den Kindheitstraum der Clowns mit ihren schwirrenden Instrumenten und in den Manegesand tropfenden Tränen, der unter so auszeichnenden Umständen wiedergekehrt war; ja sogar die beiden Pierrots, die am Anfang aller Zeiten überrascht voreinander gestanden waren, gerieten in Verdacht. Beinahe weinte sie vor Unsicherheit. Sie stieß jetzt leise und rauh hervor: »Wir sind bloß sentimental!«
Ulrich entgegnete lebhaft: »Der Mondrausch ist nur deshalb zum Sentimentalen herabgewürdigt worden, weil das Sentimentale selbst schon entwürdigt ist! Die Gefühlseligkeit gehört heute zum Trivialsten und Meistbesungenen auf Erden, aber anscheinend will niemand bemerken, daß sie einfach eine Geistesstörung wäre, wenn sich nicht ein zweiter Geist des Lebens hinter ihr verbürge!« Diese Worte hatten etwas von dem unmittelbaren Drängen eines Abenteuers, und in seine Augen kehrte der Wille zurück, kriegerisch, wie es der Sentimentalität sonst durchaus fremd ist.
»Gute Nacht!« sagte Agathe unerwartet. Ihre Finger hatten haltsuchend mit der Schnur des Vorhangs gespielt und zogen ihn nun so heftig zu, daß das Bild der beiden mit ihren Gefühlen kämpfenden Menschen auf einen Schlag verschwand, und ehe Ulrich Licht zu machen vermochte, gelang es ihr trotz der Dunkelheit, aus dem Zimmer zu finden.
Ulrich ließ ihr Zeit, daß sie sich unverfolgt zur Ruhe begebe. Er fühlte, daß sie in dieser Nacht beide ungeduldig schlafen werden wie Kinder vor einem Fest.


44.
Mondstrahl bei Tage


Dann verging eine Woche: sie hätten nicht sagen können, mit welchem Ergebnis.
Als sie einander am ersten Morgen begegneten, waren sie anfangs beide leicht erregt und befangen, und in den Blicken war die vergangene Nacht zu spüren, die sie mit warmer Ermattung beschattete. Als sie das bemerkten, machte es sie glücklich wie Liebesleute. Sie sahen sich voreinander stehen, und die Freude, die sich ihrer bemächtigte, war ebensosehr ein Gefühl wie ein Sinnengehalt. Grundlos, wie ein Blumenstrauß, der auf einem See treibt, erschienen ihnen die Farben und Formen, in denen sie sich sahen; nachdrücklicher begrenzt als sonst, aber auf eine Weise, von der sich nicht sagen ließ, ob sie deutlicher und genauer oder lebhafter und gefühlvoller sei: sie gehörte ebensowohl dem bündigen Bereich der Empfindung und Aufmerksamkeit an als auch dem ungenauen des Gefühls. Und gerade das machte ihre Wirkung aus, denn diese Nachdrücklichkeit schien zwischen Innen und Außen zu schweben, so daß nicht zu unterscheiden war, ob sie in der Welt des Körperlichen oder in einer erhöhten Teilnahme des Ich ihr Wesen habe. Das Verhältnis der Geschwister zu einander war das geworden, was man mit einem halbverschollenen Wort empfindungsvoll nennt, und so blieb es auch in der Folge. Obgleich sie nun fürs erste nur freundliche alltägliche Worte wechselten, Erkundigungen nach ihrem Befinden und dergleichen, und ihr Tagwerk in der gewohnten Weise aufnahmen, ja es sogar damit begannen, daß sie gemeinsam frühstückten, also wahrhaftig auf das ungeistigste anfingen, geschah alles mit einer tieferen persönlichen Erregung, als ginge ihnen die alltägliche Welt durch und durch. Sie waren im geheimen davon überzeugt, daß sich diese Welt seit gestern verändert habe, ohne daß sie sich getrauten, es einander mitzuteilen. Denn es hinderte sie die Scham der Vernunft, etwas so Unglaubliches nüchtern auszusprechen, und es berauscht zu tun, war da schon zu wenig geworden.
Es war zu dieser Zeit Hochfrühling, sie hielten sich viel im Freien auf, im Garten blühten die Sträucher und Blumen. Wenn Ulrich jetzt bloß eine Blüte betrachtete, fand er des Ansehns kein Ende, und die Wahrheit zu sagen, auch keinen Anfang. Wußte er zufällig den Namen zu nennen, so war das Rettung aus dem Meere der Unendlichkeit. Dann bedeuteten die goldenen Sternchen auf einer nackten Gerte »Goldbecher«, und jene zarten grünenden Blättchen waren Flieder. Wußte er es aber nicht, so rief er den Gärtner herbei, denn dann nannte dieser einen unbekannten Namen, und der uralte Zauber, daß der Besitz des richtigen Wortes Schutz vor der ungezähmten Wildheit der Dinge gewährt, bewies seine beruhigende Macht: Alles war plötzlich wieder in Ordnung, und es blieb höchstens das Gefühl zurück, dem alten Mann, der bei ihm wohnte und dafür ein wenig auf den Garten achtete, in einer Weise verbunden gewesen zu sein, die vor Jahrtausenden von Jahren üblich war. Denn es konnte auch anders kommen und konnte geschehn, daß sich Ulrich einem solchen Zweiglein und Blütlein verlassen und ohne Helfer gegenüber befand. Dann schien es ihm mit einemmal unmöglich zu sein, das helle Grün eines jungen Blattes zu verstehn und die geheimnisvoll begrenzte Formenfülle eines kleinen Blütenbechers wurde zu einem von nichts unterbrochenen Kreis unendlicher Abwechslung. Dabei hatte ein Mann wie er, wenn er sich nicht belog, und das durfte doch schon um Agathes willen nicht geschehn, keine ehrliche Möglichkeit mehr, an eine mystische Verbindung mit der Natur zu glauben, deren Raunen und geheimes Augenaufschlagen, Gottseligkeit und geheimes Musizieren wahrzunehmen, das Vorrecht jener besonderen Einfalt ist, die sich einbildet, wenn sie den Kopf ins Gras lege, kitzle sie Gott schon am Hals, obwohl er sonst auch gestatte, die Natur an der Fruchtbörse zu handeln. Diese Schleudermystik zum billigsten Preise Gottes, die im Grund ihrer beständigen Ergriffenheit über die Maßen liderlich ist, hatte Ulrich immer verabscheut, und lieber verstummte er ganz in Hilfslosigkeit. Dann war er außerstand, eine zum Greifen deutliche Farbe zu benennen oder eine der Formen zu beschreiben, die auf so gedankenlos-eindringliche Art für sich selbst sprachen. Denn das Wort schneidet nicht in solchem Zustand, und die Frucht bleibt am Ast, ob sie auch schon im Mund ist: das ist ja das erste Geheimnis der taghellen Mystik. Es läßt sich ganz und gar als ein verständliches ansehn, und Ulrich bemühte sich, das auch seiner Schwester so ehrlich wie möglich zu erklären, damit nicht eines Morgens alles als ein Märchen verschwunden sei.
Sie lagen im Garten auf zwei großen Leinenstühlen, die sie immer in die Sonne schleppten, diese Frühlingssonne schien zum millionstenmal auf den Zauber, den sie alljährlich anrichtet, und Ulrich erläuterte: »Alles Begreifen hat in seinem Wesen eine Art Oberflächlichkeit, einen natürlichen Zug zur Oberfläche, was damit zusammenhängt, daß die Erlebnisse ja nicht einzeln, sondern eines am andern verstanden werden, also notwendigermaßen in die Fläche und Breite. Wenn ich nun behaupte, dieser Rasen sei grün, so klingt das nach etwas, aber – du lieber Himmel, wie viele Grün gibt es! Da hilft es noch eher, wenn ich von einem Grün erzählen kann, es sei rasengrün. Oder es sei gar grün wie Rasen, auf den es soeben ein wenig geregnet hat –.« Er blinzelte träg über die junge sonnenbeschienene Grasnarbe und meinte: »So würdest du es wahrscheinlich auch beschreiben, wenn du von einem Kleiderstoff sprächest. Ich dagegen könnte dieses Grün hier sogar messen. Es dürfte schätzungsweise eine Wellenlänge von fünfhundertvierzig Mikromikron, das sind Millionstelmillimeter, haben. Ich beglückwünsche mich zu meiner Genauigkeit; denn das ist nun wirklich und ganz allein nur dieses Grün, und ich habe es in einer bestimmten Erlebnisreihe, nämlich der der reinen Farben, auf einen bestimmten Punkt festgelegt. Trotzdem ist es mir im gleichen Augenblick wieder entsprungen. Denn sieh hin: an dieser Bodenfarbe ist noch etwas Stoffliches, das sich mit einer Farbbezeichnung allein überhaupt nicht ausdrücken läßt, eben das Grasartige, das anders ist als das Wesen des gleichen Grüns in Seide oder Wolle! Und ich rate dir, sieh dir einmal einen Spiegel in der Nacht an: er ist dunkel, er ist schwarz, du siehst beinahe überhaupt nichts, und doch ist dieses Nichts deutlich etwas anderes als das Nichts der übrigen Finsternis, du merkst das Glas, die Verdopplung der Tiefe, irgendetwas von der Fähigkeit zu schimmern! Sag es mit Worten: es gehört anderen Reihen an als den ihren … !« Was Ulrich mit diesen Worten seine Schwester vernehmen ließ, kam darauf hinaus, daß die menschlichen Erlebnisse einzeln betrachtet ungewiß sind. Die Wahrnehmung erfaßt sie doch nie anders als in der Bedeutung, die sie dadurch erhalten, daß der Zusammenhang mit einem größeren Ganzen in sie hineinspielt; sie lehnen aneinander in Hinsichten, in Fluchten, als die Teile von Erfahrungszusammenhängen und werden von der verbindenden Spannung in ihrem eigenen Wesen ebensowohl geformt wie gestützt. So kommt es, daß ein Baum den Pflanzen angehört, manchmal aber auch dem Reich der Gespenster. Es ist bloß dem Grad nach anders, als daß man, mit zwei Frauen in einem verdunkelten Zimmer, nicht mehr weiß, welche Hand man drückt. »Und darum steht man,« sagte nun Ulrich »wenn durch irgendeinen Zufall die Zusammenhänge versagen und keine der inneren Ordnungsreihen anspricht, jedesmal alsogleich vor der unbeschreiblichen und unmenschlichen, ja vor der widerrufenen und formlosen Schöpfung!« Das gefiel Agathe und Ulrich dichtete weiter: »Der Raum entweitet sich, die Zeit gewinnt, das auf Maß auf Muß aufgebaute Verständnis des Daseins macht einem grenzenlosen Staunen Platz, und das geringste Erlebnis – dieses Fähnchen Gras oder die zwei Laute, wenn deine Lippen da drüben meinen Namen aussprechen – wird unvergleichbar, einzeln, hat eine unergründliche Selbstischkeit und strömt eine tiefe Betäubung aus … !«
So redend, bot er aber selbst ein Beispiel für das dar, was er sagte, denn er war dadurch auch zwischen zwei Wege gebracht worden, den einer vernünftigen Erklärung und den seiner Wünsche. Er schwieg, drehte einen Grashalm unschlüssig in der Hand und horchte erfreut zu, wie Agathe das Nichtzubegreifende einfach wieder herstellte. Denn sie sagte: »Wenn es wärmer wäre, möchte ich mich auf den Rasen legen! Ach, ich wollte so gern auf einer Wiese liegen! Aber ganz bescheiden. Nur so zurückgekehrt zur Natur wie ein weggeworfener vernutzter Schuh!«
»Das heißt doch auch nur, aus allen Gefühlen entlassen sein« rief Ulrich mit Nachdruck aus.
»Und unsere Gefühle gehören genau so zu Scharen wie unsere Gedanken: Liebt man, so liebt man eben; zankt man sich, so weiß man, daß jede Empfindung zänkisch ist. Aber schau dir einmal ein einzelnes Gefühl an, so als ob du ihm ganz allein begegnetest: Du weißt nicht mehr, was du fühlst! Du liegst in der Wiese, nur den Himmel über deinen Augen, und du bist allem, was aufrecht geht, entfremdet, so daß du nicht mehr weißt, ob das, was du fühlst, Liebe oder Trauer ist. Deine Empfindungen sind in einen Ozean zurückgeflossen!«
Er sah stirnrunzelnd seine Schwester an.
Aber Agathes Gesicht war noch klarer als die Luft, die es umgab und mit ihrem Haar spielte, als sie aus dem Gedächtnis etwas zur Bestätigung anführte: »Ich weiß nicht, wo das Ich ist,« sagte sie lächelnd »noch suche ich es, noch will ich davon wissen, noch Kunde haben. Ich bin so eingesetzt und untergetaucht in der Quelle seiner unmeßbaren Liebe, als wäre ich im Meere ganz unter Wasser und könnte von keiner Seite irgendein Ding tasten, sehen, fühlen als Wasser.«
»Was ist das?« fragte Ulrich neugierig.
Agathe lächelte und antwortete: »Ich habe alle meine Vermögen überstiegen bis an die dunk le Kraft. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht. Dann wurde mein Herz grundlos, meine Seele lieblos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos!«
Nun lächelte auch Ulrich: das erkannte er. Agathe sagte: »Aus einem deiner Bücher!« und schloß: »Bist du du selbst oder bist du es nicht? Ich weiß nichts davon, ich bin dessen unkundig, und ich bin meiner unkundig. Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht, in wen; ich bin weder treu noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich bin selbst meiner Liebe unkundig; ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich!« – Ihr Geist arbeitete seine Erfahrungen nicht gern zu Begriffen um, sondern bewahrte sie sinnlich-einzeln auf, und das verlieh ihr ein ausgezeichnetes Gedächtnis für die unzerlegte Bedeutung von Inhalt und Gebärde des Geschehens. Dieses eigentlich künstlerische und beinahe schauspielerische Erinnerungsvermögen hatte sich die Sätze wie Gedichte gemerkt und gab sie als Gedichte zur Antwort, und Ulrich bewunderte, wie zutreffend es geschah, so daß es genau das einschloß, was er meinte, aber wie es auch eine auf Flügeln schwebende Unfaßbarkeit war. Er sah den blonden Kopf seiner Schwester wie Licht im Licht vor dem Himmel, und die Luft, die in ihrem Haar spielte, sah er auch mit den Wolken spielen.
Aber er hatte schließlich nichts weiter gesagt, als daß die Veränderung, die sie ebenso in sich wie um sich gewahrten, eine vorübergehende und augenblickliche Abweichung von der dauernd bewährten Ordnung des Erlebens bedeute. Was sie fühlten, war das Ungewöhnliche, was sie dachten, geschah nach einem anderen Grundgesetz als dem der Logik und Erfahrung, auch die einfachen Erlebnisse glichen darum Bürgerskindern, die in eine fremde Schauspielertruppe geraten sind. Agathe sah mehr. Selbst der Raum, dieser gehaltlose, scheinbar immer sich gleich bleibende Würfel, war doch wohl verändert. Wenn sie die Augen eine Weile geschlossen hielt und wieder öffnete, so daß der Garten unberührt in ihren Blick trat, als wäre er eben erst erschaffen worden, bemerkte sie unkörperlich und deutlich wie eine Vision, daß die Richtung, die sie mit ihrem Bruder verbinde, unter allen anderen ausgezeichnet sei: der Garten »stand« um diese Linie, und ohne daß sich an den Bäumen, Wegen und anderen Stücken der wirklichen Umgebung etwas geändert hätte, wovon sie sich leicht überzeugen konnte, war alles auf diese Verbindung als Achse bezogen und dadurch in einer sichtbaren Weise unsichtbar verändert. Sie hätte ebensogut sagen können, daß die Welt dort süßer sei, vielleicht auch leidvoller: das Merkwürdige war, daß man es mit den Augen zu sehen meinte. Auch lag etwas Auffälliges darin, daß überdies alle die umgebenden Gestalten auf das unheimlichste verlassen dastanden, aber auch auf das unheimlichste entzückend belebt waren, in dem Anschein eines zarten Todes oder einer leidenschaftlichen Ohnmacht, als wären sie soeben von etwas Unnennbarem verlassen worden, was ihnen eine geradezu menschliche Sinnlichkeit und Empfindlichkeit verlieh. Und etwas Ähnliches wie am Eindruck des Raums hatte sich auch an dem der Zeit verändert; das fließende Band, die rollende Treppe, dieser wandernde Boden, der allem, was geschieht, eine unheimliche Nebenrichtung zum Tod gibt, schien jetzt in manchen Augenblicken stillzustehn, und manchmal floß er dahin, ohne etwas zu bewegen, als sei er aus der Verbindung geraten. Zwischen zwei Blicken konnte die Zeit verschwunden sein ohne eine Spur davon, ob sie eine Stunde oder eine Minute gedauert habe, aber in einem einzigen Blick konnte sie auch aus den Ufern treten bis an die Grenzen des Verstandes.
Einmal sagte Ulrich: »Es gibt eine Weissagung, daß für die Götter ein Jahrtausend nicht mehr als ein Öffnen und Schließen ihres Auges sei.«
Er sagte Götter und nicht Gott; Agathe erriet daran, daß er lächle. Er leugnete vielleicht alle Zeichen, er erklärte sie und wollte nicht, wie es bloß der Empfängnisbereitschaft eines in der üblichen Weise frommen Gemüts entspräche, eine andere Wahrheit als die gewöhnliche gelten lassen. Aber die Sonne fiel dabei mit ihrer beständig niederkommenden Wärme zart wie ein Schlafmittel auf seine geöffneten Lippen: das fühlte Agathe an den ihren. Sie dachte daran, daß sie in früherer Zeit leicht imstande gewesen wäre, sich der Vorstellung zu überlassen, dieser wache Schlaf sei Gott. Heute dagegen nannte ihr Bruder so etwas »Sentimentalität«. In einem guten Sinn. Er betonte es Senti-Mentalität. Es war irgendetwas, wodurch sich das Denken wieder ins Gefühl senken sollte. In einer neuen Bedeutung, von der er behauptete, sie wäre beinahe schon eine alte, da vor mehreren Menschenaltern nachweislich nicht viel daran gefehlt hätte, daß sie dem Verstandesjahrhundert der Aufklärung als seine eigentliche Vollendung aufgegangen wäre. Er hatte ja so viel Ansichten und Ausdrücke. Und er verfolgte offenbar mit ihnen die Absicht, jede übernatürliche Beziehung zu seiner Schwester beiseite zu lassen, anderseits bemühte er sich aber, der vorhandenen nicht gerade natürlichen Beziehung zu ihr die Widerstandsfähigkeit einer neuentdeckten Naturwahrheit zu geben. Agathe besann sich auf sich selbst und suchte sich nun wieder zu erinnern, wie sie es angefangen hätte, ohne ihn zu denken. Obwohl das nur einige Wochen zurücklag, ja mit seinen letzten Ausläufern sogar nur wenig Tage, kam es ihr ungemein fern vor; wahrscheinlich verwandelte sich das alte, daran haftende Erlebnis der Einsamkeit in eine Vorstellung der verlassenen Weite. Aber zu ihrem Erstaunen begann ihr etwas sehr Merkwürdiges daran aufzufallen. Denn eine Hängematte zwischen Bäume gespannt und von einer unendlichen Geduld geschaukelt, ein stilles Überragtwerden, worin man sich emporgehoben und verschwunden zugleich fühlt, ein Nichts, das einen unbegreiflichen Inhalt hatte –: das waren oft die Zwischengebilde von Eingebung und Einbildung gewesen, in denen ihr Trostbedürfnis die Anwesenheit von etwas Unbestimmbarem fand, das sie Gott nannte, aber waren es auch heute noch solche Zwischengebilde? Was Agathe mit dem gleichen wachsenden Staunen beachtete, wie einem nachträglich über etwas ein Licht aufgeht und sich verbreitet, war die handgreifliche Versicherung, daß der Inhalt jener ohnmächtig-unglaubwürdigen Voraussagen fast genau das gewesen sei, was jetzt dastand, wenn sie den Blick hob, was inzwischen durch lautlose Türen in die Welt getreten war, und worin sie sich mitten inne fühlte. Bloß Gott war davongeblieben, aber dafür war sie nicht mehr allein, sondern mit Ulrich. Das waren die zwei einzigen Änderungen, worin sich die Erfüllung von der Ankündigung unterschied, und zwar zugunsten irdischer Natürlichkeit. Ulrich hatte oft vom »Tausendjährigen Reich« gesprochen, und ohne daß sie sich im Augenblick genau entsinnen konnte, welchen Begriff und Wirklichkeitsgrad er damit verbände, war sie überzeugt, daß sie sich schon darin befänden, und hatte ganz die Vorstellung eines wirklichen Landes, über dessen Boden die Dämmerung aufgeht.
Agathe verließ jetzt ihren Gartenstuhl und stand eine Weile unschlüssig, indem sie lächelnd auf ihren Bruder blickte, der noch im Genuß einer schlemmerisch ausgereckten Lage war; sie streckte ihre Beine und klopfte mit kleinen Schlägen ihrer Hände ihren Rock zurecht. Jede einzelne dieser Bewegungen hatte eine Art bäurische Schönheit, einfach, gesund, gedankenlos, und zwar durch Zufall oder vielleicht, weil sie plötzlich in einer so natürlichen Art munter geworden war, das Haar fiel in einem Zacken zur Seite, und irgendein Hintergrund verband ihr Bild wie eine Stufe mit der Welt. Ulrich sah ihr mit weit geöffnetem Gefühl zu und frag te sich: »Was ist es nun wirklich, das ich empfinde: Ichsucht oder Hingabe? Verzweiter Egoismus oder Liebe zu allem? Das Äußerste an Individualismus oder sein als Dual beginnendes Gegenteil?« Der Anblick Agathes, wie er ihn vor sich hatte, war so, daß er neben sich nichts übrig ließ, was nicht herangezogen würde. Ihm fiel auch der Ausdruck Zurechnungsfähigkeit ein, wahrhaft erhöhte Zurechnungsfähigkeit der ganzen Welt zu einem einzigen Menschen war das! Denn wie sich die verminderte Zurechnungsfähigkeit dem kranken Geiste darin äußert, daß die Einzelheit aus dem Ganzen gerät, so waltete hier eine erhöhte, und vielleicht eine Steigerung des Geistes, und in diesem Augenblick glichen alle Wesen im Garten Strahlen, die auf Agathe fielen und sie in ein inneres Licht setzten, für das Ulrich nicht nur kein Wort genügte, sondern auch jeder andere Ausdruck und Ausweg fehlte. Jede Falte an ihrem Kleid war so mit Kräften geladen, daß es kein größeres Glück, aber auch kein ungewisseres Abenteuer zu geben schien, als diese Falte vorsichtig mit der Fingerspitze zu berühren. (Das war in seinem Anschwellen geradezu unheimlich.)


45.
Hinter dem Gartengitter


Wahrscheinlich gehört auch zum Wesen der Kunst, und namentlich dort, wo es dem des Künstlichen verwandt ist, eine solche scheinbar erhöhte Zurechnungsfähigkeit: er hatte von dem isoliert-verbundenen Dastehn seiner Schwester einen Eindruck empfangen, der in manchem den Beleuchtungskünsten einer Bühne ähnlich war oder der sich selbst genügenden albisch anlockenden Abgeschlossenheit einer Porzellanfigur in einem Ausstellungsschrank, Erlebnissen, die eine eigenartige Beklemmung enthalten, eine unbeschreibliche Ansammlung unbeschreiblichen Gefühls an der Oberfläche eines künstlich vereinzelten Gegenstands. Es erinnerte ihn auch an die Tiere, die Ulrich einst als Knabe aus dem Papier der Zirkusankündigungen herausgeschnitten hatte, um ihnen Selbständigkeit zu geben, und an den Durst des verlangenden Auges, den ihr Anblick nicht löschte, sondern ins Unendliche verlängerte. Diese atemraubende Fesselung der sonst immer verteilten Geisteskräfte an den Raum einer Einzelheit gemahnte aber auch an das größte, nur noch von seiner eigenen Unstillbarkeit übertroffene Glück, etwas aus ungeteiltem Wesen zu erleben. In alle Seelenkräfte kommt der Rausch des Bienenschwarms, der sich an die Königin hängt: Ulrich wußte, daß er und Agathe nahe daran sein mußten, so zu handeln. Aber es war ihm in seiner vielseitigen Offenheit viel klarer als ihr, wie gefährlich das sein konnte. Ließen sich diese Heimlichkeiten denn nicht »verkrüppelt« auch mit der unheimlichen Liebe zu einer Toten vergleichen, die keinen Blick verscheucht, der sich auf ihr niederläßt? Verriet der holde Beziehungswahn, wodurch alle Strahlen der Welt auf dem Umriß eines geliebten Einzelnen verdichtet werden, nicht auch Ähnlichkeit mit dem unholden, wo ein Fingernagel, ein Schuh, irgendein Fetisch alle Winkel des Leibs sich zukehrt, daß ihnen unstillbare Ströme des Begehrens entfließen? War nicht überhaupt jede Idee, die andere verdrängt, und sogar jede Manie schon eine solche »erhöhte Zurechnung« des Alls auf das Einzelne? Ulrich gestand sich ein, daß es sich wahrscheinlich so zutrage; aber er sagte sich, daß auch jedes Ideal, das man sich im Verhalten zur Wirklichkeit mache, nichts anderes sei als eine zauberisch beleuchtete Wachspuppe. Es gibt nichts, was nicht kranke Geschwister hätte, denn die gesunde Welt ist aus dem gleichen Stoff gemacht wie die kranke, nur die Verhältnismaße sind andere. Und so schien es Ulrich doch richtig zu sein, daß ein Abenteuer der Loslösung aus allen Gefühlszusammenhängen nicht ungefährlicher sein könne, als es der Fall war.
Aber in manchen Augenblicken war die gewagte Abseitigkeit auch ihm zuviel und das nötigte ihn dann nicht sowohl zu einem ruhig-ausgleichenden Fühlen für das allgemein und behutsam Menschliche, als vielmehr zu einer ebenfalls wunderlich erregten Beschäftigung mit dem Dasein und Fernsein anderer Menschen. Darum sprang er jetzt auch auf, nahm den Arm seiner Schwester und bewog sie, mit ihm den Garten zu durchstreifen. Die nachgiebige Natürlichkeit des Arms beruhigte ihn, als er sie fühlte. Er sagte trotzdem: »In diesem Augenblick kämpfen Menschen um ihr Leben. Stürme treiben Schiffe. Lawinen reißen Wälder mit, samt allem, was darin ist!« Er sagte es bloß, um die Stille der Liebe zu sprengen. Er fuhr fort: »Im Norden endet jetzt die Polarnacht, und den Menschen bereitet es Freude, daß sie sich zum erstenmal wieder auseinanderregen, nachdem sie monatelang aneinandergeschmiegt waren!«
Agathe verstand das »Auseinanderregen«. Die mündliche Nähe eines zum andern, die von jedem Augenblick um ein weniges noch vertieft wurde, in ihrem letzten Widerstand aber desto unüberwindlicher war, ließ den Wunsch zu, es möge sich, wenn nichts anderes geschehe, einmal etwas wie ein Zufall ereignen, wonach die Leidenschaft vielleicht den natürlichen Weg fände. Sie fühlte während dieses Gedankens dort, wo sich Ulrichs Fingerspitzen hart in ihren Arm senkten, fünf wilde weltliche Quellen springen, trotz des versonnenen Zustands, worin sie sich im ganzen befand und, wie immer, nahmen die beiden noch eine Weile den Weg an die Grenzen ihres Gartenreichs. Wenn sie des Gitters ansichtig wurden, dahinter die Straße ihren abwechslungsreichen Inhalt vorbeiwälzte, gingen sie, von den Bäumen gedeckt, nahe heran und blieben darauf bedacht, ihr Versteck nicht aufzugeben. Ohne ihr Wissen beobachtete Menschen gewähren meist einen bloß tierhaft lebendigen Eindruck: so kamen Menschen vorbei, in lebhaftem Gespräch, das man nicht hörte, und Menschen, die mit ihrem eigenen Gesicht allein waren, alle merkwürdig damit beschäftigt, auf ihren Füßen zu gehn, und wenn sie fuhren, bildhaft in eigenem Gefährt zurecht gerückt oder aus den Fensterrahmen der Straßenbahn blickend, waren sie abermals anders.
»Liebst du sie eigentlich?« fragte Agathe leise. Ihr Bruder antwortete mit einem Achselzucken.
»Möchtest du nicht einen anhalten und mit ihm ein Gespräch beginnen?« fragte sie.
»Halt ein, Vorbeieilender, und schenke zwei Menschen, die dich lieben, einen Augenblick deiner köstlichen Seele!« malte es Ulrich mit nachdenklichem Spott aus.
Agathe verbesserte: »Man kann nicht einen Augenblick schenken, man muß alles und grenzenlos schenken!«
»Ein Park, ein mächtiges Gitter, dahinter wir« stellte Ulrich fest: »Und was dächte er bei unserem Anruf, nachdem er seinen Schritt unwillkürlich verlangsamt hat und ehe er ihn wieder verdoppelt? Daß er sich am Gartengitter einer Privatirrenanstalt befinde!«
Agathe schwieg darauf.
»Und wir?« fragte Ulrich. »Brächten wir es denn über uns? Weißt du nicht sehr bestimmt, daß wir es nicht tun werden? Und sind wir nicht im ganzen überzeugt, daß man es auch gar nicht tun darf?!«
Agathe fühlte, daß er recht habe.
»Wenn wir dem vorbeieilenden ›Bruder‹, statt ihn mit ›Guter Freund‹ und ›Seele‹ anzusprechen, ›Hund‹ oder ›Verbrecher‹ zurufen, so hielte er uns wahrscheinlich nicht für Irre, sondern bloß für ›Andersdenkende‹, die an ihm Ärgernis nahmen« sagte Ulrich.
Agathe dachte an die letzte allgemeine Zusammenkunft, die bei ihrer Kusine stattgefunden hatte, ohne zu einer Entscheidung darüber zu führen, ob der Mensch geliebt oder geprügelt werden müsse.
Ulrich ergänzte es, indem er seine Schwester erinnerte, sie habe damals gemeint, Güte sei von selbst etwas Besseres als Haß. Dem widersprach er nun noch einmal. Wenn sich das menschliche Verhalten in blutunterlaufene Roheit und nach Harfen klingende Liebe spalte, dann sei nicht bloß das Rohe falsch, sondern seine Gegenergänzung, die Güte, müsse es in ihrer Art auch sein: das war die Einrede Ulrichs dagegen, daß es einfach sei zu lieben, und unter diesen Worten ließen sie sich auf einem kleinen Hügel nieder, dessen trockener Boden den Standplatz einer Lärche bildete, von der man die Straße gut sehen konnte, ohne daß man sich selbst von dem hellen Stamm auffällig abhob.
Was Ulrich gesagt hatte, bedeutete einen der vielen Einwände und Querwiderstände, trotzdem kam nichts davon gegen das Erlebnis selbst auf. Er empfing vollauf den Eindruck, die Spannung seines Lebens hätte ihn immer in der Schwebe zwischen dem Guten und Bösen gehalten, wogegen jetzt die eine Anknüpfung gerissen wäre und ihn einem Verlangen nach Hingabe überlasse, das bisher in seiner Entwicklung ohnegleichen war. Dafür genügte nicht mehr eine gemäßigte Bezeichnung wie Freundlichkeit. Der Glückliche ist freundlich und möchte das in heiterer Gefälligkeit gern andern mitteilen, und gewiß fühlte sich Ulrich oft auch von solcher Fröhlichkeit gehoben wie einer, der auf den Schultern getragen wird und allen zuwinkt, aber er achtete dessen nicht so sehr wie einer anderen Erscheinung. Denn er hatte sich wohl schon manchmal den anderen Menschen im Großen genähert gesehn, durch Gedanken und Gefühle, die ihnen allen galten, jetzt aber geschah es auch im kleinen, einzeln und zu jedem selbst haltend, doch geschah nun gerade das mit jener Unersättlichkeit, von der er noch vor einigen Tagen behauptet hatte, sie sei eher die Mitgefühlsekstase einer Natur, die niemals an einer anderen teilnehmen könne, als die einwandfreie Äußerung sich vollziehender Teilnahme. – Agathe erging es ähnlich; den Gemeinschaftserlebnissen, die sie bisher kennengelernt hatte, und es waren meistens Liebeserlebnisse oder ungewisse Stimmungen gewesen, hatte immer etwas gefehlt, bald die Wärme, bald die Größe, bald das geistige Vertrauen, jedesfalls immer der volle Einklang, jetzt aber war es gerade diese Völligkeit, deren Quellen sie spürte, ohne daß recht eine Möglichkeit zu handeln vorhanden gewesen wäre oder auch nur die Vorstellung, etwas zu tun, die dem beklemmenden erhöhten Mit-allen-Empfinden eine verständliche Form hätte geben können. Somit war manches von dem, was die Geschwister aneinander kennenlernten, auch an der veränderten Beziehung wiederzufinden, die sie zur Welt hatten. Der Blick ihrer Augen schien weiter in »das Andere« hinein zu reichen als sonst, die Bewegungen ließen ein weiches Ausschwingen zurück: eine unbezeichenbare persönliche Reichweite war größer geworden. So man davon sprechen konnte, daß sie in dem Gefühl taumelten, sie seien für einander von Geburt auserkoren, war dem nun auch ein befreites Empfinden für die Schönheit der anderen und der ganzen Welt taumelnd an die Seite gekommen.
So saßen Ulrich und Agathe also mit den Rücken an den großen Baum gelehnt, und sahen ‒ immerhin durch ein schweres Eisengitter abgeschlossen – in die freundliche Helle der Straße wie auf einen tief durchsichtigen Strom voll heiliger Fische. Kam einer von diesen ihrem Ufer näher als die anderen, wie es auch jetzt bald geschah, so erlebten sie immer das gleiche. Ein Mann blieb am Gitter stehn, angehalten von der guten Gelegenheit, die sich des Weges entlang darbot, stemmte ein Bein, dann das andere auf den Sockel und brachte die Schnüre seiner Schuhe in Ordnung. Hinter seinem Rücken strömten nun die anderen achtlos vorbei, sein Gesicht aber blickte scheinbar ohne Gedanken von der Straße fort und musterte fassungslos das viele Grün, das sich ihm nebenbei auftat. Die Blicke der Geschwister warteten, schon zum voraus empfindlich, darauf, von dem seinen getroffen zu werden, und das Gesicht erschien ihnen in der Vergrößerung des vereinsamten Daseins. Wie ein Ding, ja fühlloser als ein solches angesehen, wirkte es sehr befremdlich, und die Linien und Flächen bewegten sich in ihm unmenschlicher als ein Uhrpendel oder ein Rad. Nach einer Weile floß in das mühsam Erkannte dann aber doch das seelische Anerkennen hinein, und sodann geschah es verdoppelt. Agathe sagte: »Jetzt erst sieht man, wie sehr man sich fortwährend in einem Signalaustausch mit dem Unbekannten befindet. Man liest Mitteilungen, wenn man die Mienen Fremder anschaut; ob man sich vorsehen müsse, ob man etwas von ihnen wolle. Als es vorhin nicht der Fall war, blieb das Gesicht fremder als der Tod. Aber später, als man sich auch daran gewöhnt hatte: was waren das dann für Zeichen, was für ein Winken und Rufen in dem Gesicht, das man nicht verstand? Als hinge ich an diesem Gesicht. Ich selbst, und nicht bloß meine Neugierde!«
»Es geschah wie in einem Traum,« schlug Ulrich zur Erklärung vor «man begegnet sich selbst in der Gestalt eines anderen: rauh-süß, fremd-selbst.«
»Nein« sagte Agathe. »So unbeschreiblich sinnlich wie solche Träume war es aber auch nicht.«
»Es ist die ›hundertprozentige‹ Beteiligung an einem Vorgang« erinnerte Ulrich, lächelnd das Gespräch heraufbeschwörend, wo er über das Gesicht seiner Schwester gebeugt gewesen war, das mit geschlossenen Augen in den Bettkissen lag. »Der Augenblick, wo es gelingt, ohne Abstrich an etwas teilzunehmen, erschüttert die Mauern des Ich. Das Ich besteht aus ›Teilnehmen‹ und ›Sichselbstbewahren‹; ein vorsichtiger Sparer, ahnt es zitternd, daß Gott ein Verschwender ist!«
»Vielleicht ist es das« antwortete Agathe ohne Überzeugung.
Ulrich sagte ernst noch etwas Drittes: »Was wir eine Sekunde lang für diesen Menschen gefühlt haben, war das vorbehaltlose Einverständnis, gleich dem, das man sich selbst entgegenbringt. Wir haben nichts von ihm gewußt, aber sich selbst liebt man ja auch, ohne sich zu kennen! Wir haben ihn geliebt, wie er sich liebt, und er war einen Augenblick schön, weil Schönsein das gleiche ist wie Geliebtwerden.«
»Dann ist Liebe etwas Unheimliches!« sagte Agathe. –
Ulrich hatte, während sie sprachen, ihre Hand ergriffen, die sich neben der seinen auf den Boden stützte. Aus den Händen ging das Zusammengehören in die Arme und Schultern über, die sich aneinander lehnten, und dann sprang es auf die Lippen, die ihm nicht widerstehen konnten und sich zu einem flüchtigen und scherzhaften Kuß vereinten, der lange und ernst wurde, ehe sie sich wieder zu trennen vermochten. Agathe schöpfte tief Atem. Der Mann am Gitter war fort. Andere Menschen gingen oder standen dort, und ihre Gesichter kamen als helle, kleine Scheiben unter dem dunklen Schleier zum Vorschein, der sich wie beim Erwachen aus dem Schlaf von den Augen löste. Ein Gefühl der Scham darüber, daß sie sich zur Schau gestellt hätten, wollte Agathe ergreifen, wurde aber wunderlich gehindert durch den Gedanken, daß ohnehin jede Handlung von Liebenden der Welt gehöre. Sie empfand auf diese Weise zum erstenmal ohne Verbitterung die Möglichkeit, daß Ulrich nicht ihr gehöre, sondern Gott, den Mitmenschen, einer unbekannten Aufgabe …: sie unterschied das weiter nicht, es gab irgendeine Güte, die durch jede gute Handlung gemehrt wurde, und ihr diente man; man brauchte nicht gleich an Allgüte zu denken, eine Überall-Güte war es, wie Sonnenschein überall ist und ganze Landstriche badet. Das schloß auf eine himmlisch-unanständige, anstößig-keusche Weise auch die Menschen jenseits des Gitters ein, die ihre Umarmung gesehen haben mochten, obwohl es eine Beruhigung war, daß die zurückgezogene Stellung bei dem Baum eine Beobachtung unwahrscheinlich machte.
Wenn man es für nützlich hält, so kann man den Zustand, worin sie sich so befanden, als egoistisch bezeichnen; es wäre der als Liebe bekannte Egoismus zu zweien. Auf einer gewissen Kulturstufe ist Liebe der sich am laufenden Band wiederholende Beweis, daß Gott nicht die Menschheit oder den Staat geschaffen hat, sondern den einzelnen Menschen; zum Zeichen dafür werden von ihm seit Ewigkeit immer wieder je zwei Menschen einander geschickt. In dieser Fassung ist die Liebe also eine Form der Auflehnung gegen die Menschheit. Sie hebt heraus und überhebt sich, sie ist von einem unendlichen Hochmut ebenso beglänzt wie von einer zarten Einsamkeit, und in nichts ist sie bekanntlich so gewöhnlich wie in der gemeinsamen Einbildung, etwas anderes zu sein als die anderen, und sei es nur dadurch, daß sich das ausgezeichnete Paar zuflüstert: so wie wir hat sich noch kein anderes geliebt! Das pflegt sich dann später freilich auf verschiedene Weise zu rächen, sei es durch unaufhaltsame Abstumpfung, sei es plötzlich durch den heftigen Rückschlag, worin jeder der beiden Erhöhten zuerst im anderen die verkörperte Alltäglichkeit entdeckt; doch kannten Agathe und Ulrich diesen trüben Psychologismus der Liebe mit seinem todsicheren Auf- und Abstieg viel zu genau, als daß sie ihm leicht hätten verfallen können. Vielleicht entwickelten sich ihre Stimmungen manchmal trotzdem fast ans Gewöhnliche, bis zu jener »Beschäftigung mit dem lieben Ich«, die als ein bekannter Zustand nicht gerade ehrenvoll sprichwörtlich ist; aber das entsprach in seinem Ablauf eher dem Glänzen einer Farbe, das bei allzu großer Steigerung in Farblosigkeit übergeht, denn das Ich dieser beiden Menschen war von Anfang an so sehr kein eigenhäuslerisch zufriedenes, sondern ein weltbeschwertes, in seiner Ich- und Andernliebe auf allerhand Zweifel geführtes, daß auch ihre heftigste Beschäftigung mit sich selbst fast immer in ihr Gegenteil ausging und sich verflochten und verloren in die Verhältnisse der Welt fühlte.
Die Erlebnisse, die ihnen begegneten, hatten die gespannte, die hochseiltänzerische Natur des Einmal und nicht wieder. Sprachen sie von ihnen, so geschah es in Begleitung der eigentümlichen Empfindung, daß sich nicht ein einziges Wort zweimal gebrauchen lasse, ohne seinen Sinn zu wechseln. Auch waren die Gespräche mit dem Eindruck verknüpft, eine Entdeckung zu sein, doch ließ diese keine allgemeine Anwendung zu, weil die andern Menschen eben nicht so waren wie Ulrich und Agathe. Alles das lag aber an den Erlebnissen selbst und ist nichts als ihre Beschreibung. Und auch die Erniedrigung des Welthintergrunds, die ergänzend zu einer solchen Steigerung des Ichzustands gehört, stellte sich von selbst ein. Irgendein geringschätziges Vorurteil über alles, was außerhalb vorging, lag beständig auf den Lippen; es hing das aber mit keinerlei Überlegung zusammen, sondern die Geschehnisse der Welt wurden von selbst, ohne geistiges Zutun unwichtig, ja beinahe unwirklich. Die moralischen Verpflichtungen, die aus ihnen hervorgehn, klangen meist nur noch wie fein herandringendes rohes Geschrei oder waren schwerfällig und aufgeblasen anzusehn wie ein Fesselballon neben Schwalben, die ihn umkreisen. Es lag ein merkwürdiger Friede darin. Der Geist hatte seine gewöhnlichste moralische Tätigkeit eingestellt, die wohl darin besteht, aus allem Unrecht, von dem man umgeben, in das man verwickelt ist, ein gutes persönliches Gewissen zu gewinnen. Nun schien es aber schlechtweg so zu sein, daß man auch auf Unrecht ruhen könne. Blickte man in sich oder in die Welt, sah man es überall verschlungen mit dem Recht. Kein Gedanke konnte Folgerichtigkeit hineinbringen. Keine Lösung war möglich, die nicht den Ausgangspunkt einer neuen Verwirrung bildete. Ein Grundsatz »Von der Erhaltung des Unrechts« schien das Leben zu beherrschen, wie der Satz von der Erhaltung des Stoffes oder der der Energie die tote Schöpfung beherrscht: man konnte offenbar niemals einem Menschen oder einem Etwas Recht geben, ohne es einem anderen zu nehmen! Damals kamen Briefe von Hagauer, Agathes verbittertem Gatten. Agathe öffnete sie nicht. Ulrich verbrannte sie in geschlossenem Umschlag an einer Kerze. Er fühlte plötzlich wieder den wirr sich wiegenden, schwebend aufsteigenden Zustand um sich wie bei dem Begräbnis seines Vaters: eine ungeheure Ordnung, die zuletzt nichts als eine ungeheure Absurdität ist. Agathe erzählte jetzt zuweilen auch von ihrer neuen Bekanntschaft, Professor Lindner. Das war so klein, wie es ein ferner Schrei oder ein weit entferntes Lachen ist, es vermochte nicht zu beunruhigen. Eher war es damals wichtig, wie lange es schon her sei, daß sie einander gesagt hätten, sie seien Zwillingsgeschwister; überhaupt alles Unmögliche, was sie einander schon gesagt hatten. Denn dann entdeckte man zugleich immer mehr an Einzelheiten, Gedanken und Geschehnissen, das ganze Leben und die ganze Welt eigentlich. Dieses Leben und diese Welt, denen mit allen Studien, Theorien, Versuchen, Leidenschaften immer etwas gefehlt hatte, auch wenn man das Gewagteste dagegen unternahm. Man mochte es die sinnvolle Verknüpfung der Geschehnisse nennen oder wie immer genannt haben: jetzt war es manchmal zum Lachen, daß es da war. Denn der Mittelpunkt der äußeren und inneren Welt, worin diese zusammenfielen, konnten in solchen Augenblicken zwei Hände sein, die einander umschlungen hielten. Die Sonne schien warm auf die Hände. Ringsum war Freiheit und Natur, alles war herrlich gewöhnlich. Und man erspähte fast nur durch Zufall, daß alles das auch Kristall und persönliches Geheimnis war.


46.
Die Hinauswendung


Und trotzdem konnte sich dieses gespannte und empfindliche Selbstgefühl ohne merklichen Anlaß in sein Gegenteil verwandeln, und diese Hinauswendung geriet nicht weniger weit, als es davor die Hereinwendung gewesen war. Hatte zuvor – höchst metaphorisch gesprochen – das Zentrum der Welt im Ich gelegen, so lag jetzt die Mitte des Ich außerhalb oder es gab sie überhaupt nicht. So wenig aber freilich das Verhalten vorher selbstsüchtig genannt werden konnte, so wenig war es jetzt selbstlos, vielmehr war es noch immer das etwas gesteigerte Selbst, aber diese Steigerung hatte keine Schwere mehr in sich, sondern breitete sich schwebend aus. Auf das unübersehbar Erlebte eingeschränkt, – und wer fühlte da nicht ein Verlangen nach den einfachsten und verläßlichsten Begriffen! – bedeutete es, daß die Richtfrage »Was bist du wirklich?« samt allen zurechtweisenden Wo- und Wann-Fragen, die man, ohne es zu wissen, beständig an seine Umgebung richtet, mit einemmal keinen Sinn mehr zu haben schien. Das praktische, das handelnde Verhalten war plötzlich nebensächlich geworden. Aus ihm als seine Stütze und sein Stab, auch das Handeln im Geiste. Da klang vielleicht ein Schall von der Straße herüber und schnitt in die Stille. Unter allen andern Umständen hätte Ulrichs Frage gelautet: »Was ist das? Wo kommt es her? In welcher Lage finde ich mich?« und die Antwort wäre ja wohl nicht schwer gefallen; so, wie es wirklich geschah, blieb Ulrich aber, und Agathe mit ihm, in der Macht der Erscheinung. Sie verweilten in dem Klang als einem Zuwachs ihrer selbst. Fragten sie nach ihm, so hatte es höchstens die Form: »Was wirkt er in uns?« Oder: »Wie wirkt er uns?« Denn es war nicht entschieden, ob er etwas in ihnen bewegte oder ob sie in ihm bewegt wurden.
Wahrscheinlich ist es, auch nüchtern beurteilt, eine Art Einseitigkeit, die Erlebnisse des Menschen so darzustellen, wie es allein als das Richtige gilt, daß ein Etwas, das jenseits der Haut geschieht, diesseits eine Empfindung erzwingt, an die sich Gefühl und endlich eine wieder hinausführende Handlung nach Beschaffenheit der Person anschließen. Es entspricht dem Bedürfnis des Erkennens nach festen Teilungen, wo eines nach dem anderen bewirkt und bestimmt wird, ebenso wie es dem Übergewicht des Außermenschlichen entspricht, daß man einen solchen Ausgangspunkt setzt, aber das Ursprünglichere und näher an der Natur Liegende ist doch wohl ein ungeteilt bleibender Vorgang. So empfand es Ulrich wenigstens in diesen Augenblicken, die sich gleichsam unter einem Vergrößerungsglas abspielten. Er fühlte, daß man schon von den Sinnesempfindungen nicht sowohl sagen sollte, daß sie zwangsweise verursacht oder hervorgerufen, als vielmehr daß sie erweckt, wachgerufen und wahrhaft hervor gerufen werden; denn er gewahrte in sich das, was diesem Anruf entgegenkam, und ohne das selbst die einfachsten Sinneseindrücke entweder gar nicht entstünden oder ein sinnlos-unverständliches Gewirr unverständlicher Zeichen blieben, mit denen der Mensch so wenig anzufangen wüßte wie ein Tier mit seinem Spiegelbild. An dieses Etwas war nun seine Aufmerksamkeit gebunden. Es gleicht noch in der nüchternsten Sachlichkeit einem winzigen zärtlichen Zug der Empfängnisbereitschaft. Denn in einem weitesten Verstand sieht jeder nur das, was er zu sehen geschaffen ist; versteht er nur das, was er wissen will; erkennt er nur das, was er zu erkennen neugierig ist, und die Schüler lernen wohl vieles von den Lehrern, aber was sie dauernd aufnehmen, das haben sie doch schon in sich gehabt: so ist es niemals der Zwang, sondern etwas der Liebe Ähnliches, was den Geist weckt. Das bedeutete desto mehr, je weiter Ulrich von den klaren Erkenntnisvorgängen, an denen nur unerhebliches und gewissermaßen kaltgestelltes Gefühl beteiligt ist, zu denen kam, die mehr und mehr im Gefühl fußen. Wie schon unverlangte Belehrung bloß verwirrt und ihr Verständnis also in einem Verlangen wurzelt, so ist vollends alles, was seinem Wesen nach nicht ein für allemal verstanden werden kann, weil es jedesmal ein-leuchten muß – die wechselnden Begriffe der persönlichen Erfahrung ebensowohl wie die Beziehungen, die sich als eine Meinung, eine Überredung, eine Überzeugung, ein Entschluß äußern, alles das ist bis in seinen Kern dauernd von Wille und Gefühl durchflossen. Diese Ungeteiltheit, deren Vorstellung schon von alters her Ulrich nichts Fremdes war, hatte jetzt von ihm und seiner Schwester in einer Weise Besitz ergriffen, die sich zunächst nicht genau beschreiben ließ. Der Zustand, worin sie sich befanden, war ja durchaus nicht als einer der Betrachtung zu verstehn, wie etwa eine Philosophie das Seelische vom Leiblichen zu trennen sucht, um es danach mit dem Zwirn ihres Systems neu zusammenzunähen – denn Agathe kannte solche Bedürfnisse der Vernunft beinahe nicht –, sondern er war Erlebnis und wurde schlechthin als ein empfindsam gewordenes Sichin-der-Welt-befinden und Mitten-darin-sein erfahren, das allerdings nicht bloß am Leibe, sondern auch mit jedem Wort, in dem sich der Geist regte.
Vieles davon hatte nun Ulrich seiner Schwester gesagt. Agathe hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und wenn sie durch die Luft sah, hielt sich hinter der Luft am Gitter des Gartens fast immer einer auf, man konnte sagen, am Ende ihres Blicks. »Und der dort?« fragte sie jetzt, den Augenstrahl ihres Bruders an dem ihren hinlenkend. Ulrich lächelte, weil es anscheinend ein häßlicher und unangenehm aussehender Mensch war, der am Gitter stand. »Und dann behauptet die Philosophie also wirklich, daß er in meine Empfindungen gekleidet ist?« Ulrich zuckte die Achseln, doch sie fuhr fort, ihre Betrachtung anzustellen: »Er hat eine abscheuliche Säufernase. Diese blaue Nase ist aber nur die Außenseite von irgendwelchen Vorgängen, die in mir liegen. Für Vorgänge in mir müßte ich aber doch eine Art Mutterzärtlichkeit haben, selbst wenn sie mich schmerzten oder ärgerten –.« Sie brachte das nicht zu Ende; sie fand eigentlich bloß sonderbar, daß man ein solches Verhältnis nicht fühlen solle, und im Grunde glaubte sie ihm ebensowenig wie allen anderen allgemeinen Wahrheiten, aber ein wunderlicher, verschwommener Schauer ging von solchen Gedanken aus. Auf irgendeine Weise wurde sie daran erinnert, daß sie sich nie aus eigenem Vorsatz habe ändern können und in lauter vorbeirinnenden Umgebungen scheinbar hoffnungslos ungerührt die gleiche geblieben sei, so daß es sie schier schauderte, wie mit einemmal ohne jede Bemühung an die Stelle von Verdruß und Ekel ein von Sommerkräften getragenes Schweben gekommen war! Sie wandte sich ihrem Bruder zu, und jedes Wort zärtlich betonend sagte sie: »Ich bin wirklich das, wozu du mich gemacht hast!«
Aus Scheu rührte Ulrich nicht den Kopf und antwortete, als verstünde er nicht, die menschlichen Sinne hätten am Aussehen der Außenwelt in einer Weise teil, die allgemein sei und persönlich fast gleichgültig, so sagte er und schloß: »Du bist, wie ich dich mache, ich aber muß dich machen, wie du bist: Das ist erst der ganze Doppelzusammenhang, und so hebt er sich auf.«
Agathe schwieg. Aber nach einer Weile meinte sie leise und nachdenklich dazu: »Du kennst mich ja gar nicht.«
»Kennen ist gleichgültig. Nicht gleichgültig ist: auf einen Menschen antworten!« erwiderte Ulrich.
»Du antwortest etwas ›rüstig‹« sagte Agathe lächelnd.
»Es sollte wirklich keine andere Menschenkenntnis geben als diese der schöpferischen Erwiderung.«
»Wie bin ich dann aber wirklich?« fragte Agathe.
»Du bist überhaupt nicht wirklich!« sagte Ulrich lächelnd. Er wollte eigentlich fortfahren, das auch halbwegs vernünftig zu begründen, und zweifelte, ob er in dieser Absicht sagen müßte, daß einen Menschen zu kennen das Unmögliche bedeute, ihn so zu sehen, wie er sich selbst sehe, oder ob es richtiger wäre zu behaupten, daß sich niemand so sehe, wie er sei, sondern jeder bloß so, wie er sein möchte, ja daß man dabei nicht einmal sich selbst taste, sondern bloß an eine dunkle Selbstzufriedenheit stoße, die den persönlichen Abschluß bilde. Das waren Gedanken, die von jeder Selbstbetrachtung als einigermaßen richtig bestätigt werden können; trotzdem vermochte er sie nicht weiter zu verfolgen, denn als er damit begann, zeigte sich, daß alle die Ausdrücke und Fragen, die er mit seiner Schwester ausgetauscht hatte, wie man sei, von einander abhänge und mit seinem Selbst an der Welt mitbilde – gar nicht ihren sachlichen Sinn hatten, sondern eigentlich einen Einbruch des Moralischen ins Stoffliche darstellten. Ein einziger Schritt brachte ihn in diese andere Welt zurück; er sagte: »Du wirst mich niemals täuschen können; denn wenn mich etwas täuschen kann, dann habe ich von ihm das Falsche gewollt!«
Agathe sah ihn eine Weile an. Dann antwortete sie: »Ich weiß, an wen du dabei denkst.«
Nun verstand Ulrich erst, daß sie an Lindner denke; er selbst hatte es nicht getan.
Agathe fragte: »Bringst du es aber auch fertig, dich in dem ›nicht zu täuschen‹?« und ihr Blick zog den ihres Bruders nach sich ans Gitter. Dort hatte sich der Mann, der zuletzt durch die Stäbe hereingeblickt hatte, am Sockel niedergelassen, und ihn wie einen Stuhl benutzend, der für ihn dastehe, aus einem Bettelsack zu frühstücken begonnen. Der Anblick war abstoßend. Die Geschwister sahen ihr Eigentum verletzt; zwar nicht unmittelbar, denn sie hatten keine Besitzerantriebe, unwillkürlich aber in der verfeinerten, entkörperten Form des ihnen Eigentümlichen, die, durch die Abstoßung verletzt, plötzlich fühlbar mit ›ihrem Ursprung‹ zusammenhing. Es kam Ulrich lächerlich vor, angesichts der lebendigen Widerwärtigkeit die Behauptung aufrecht zu erhalten, daß man nur in Liebe und geistiger Zeugung erfahre, wer ein anderer sei. Sie erschien ihm jetzt als ein leeres Programm. Trotzdem wiederholte er: »Es liegt nur an mir. Ich bin nicht stark genug, wenn es ihm möglich bleibt, mich abzustoßen.«
Agathe sagte sanft: »Es kommt ja nicht darauf an, daß man mit allen Handlungen und Eigenschaften des anderen eins oder auch nur einverstanden sei! Man fühlt sich nicht von der Einzelheit aus, Zug um Zug, mit ihm verbunden! Sondern umgekehrt ist es –!«
Agathe biß sich auf die Zunge, weil das nun wieder als Lob Professor Lindners verstanden werden konnte oder zumindest als dessen Verteidigung gegen die von Ulrich einst aufgestellte Behauptung, niemand vermöge sich in einen andern hineinzuversetzen oder ihm auch nur Teilnahme zu erweisen, es sei denn, er gehe die höchst verschlungenen Wege Ulrichs.
Ulrich erwiderte: »Du hast recht: eher ist es umgekehrt. Man kann sich niemals in einen andern hineinversetzen, so habe ich es behauptet. Aber wenn es sein soll, geschieht ja viel mehr: man wird mit ihm in eins gesetzt, weil sich das Ganze zu ihm hin verändert!« Eine merkwürdige Eifersucht beherrschte ihn. Er konnte sich vorstellen, wie die Zärtlichkeit der Luft, in der sich Wärme und Kühle wie Wasser und Wein mengten, und die streichelnde Berührung der Haut durch die Sonnenstrahlen in einer unwiderstehlichen Weise in Agathe die Verbündeten eines ihm verächtlichen Mannes wären, vermöge der gleichen Versuchung, die ihn reizte, den herabgekommenen Trunkenbold am Gitter seines Gartens nicht als Fremden zu empfinden. Er sagte es seiner Schwester. Er nannte es das Verlangen, einen Menschen zu erkennen, wie man einst von einer Frau gesagt hätte: er »erkannte« sie, und bezeichnete es als eine schlüpfrige Vermischung!
Agathe schüttelte den Kopf; als es ihr Bruder nicht wahrnahm, schüttelte sie seinen Ärmel.
Ulrich wandte sich ihr zu und sein Gesicht war ein wenig verzogen bei der Frage, der er nicht widerstehen konnte: »Sag mir doch nur, was bedeutet dir denn dieser Lindner?«
Agathe antwortete: »Du bist doch die Veränderung im ganzen. Die anderen sind höchstens eine Erscheinung darin: Wie kannst du da denn überhaupt eifersüchtig sein?«
»Laß es!« bat Ulrich und schüttelte den Kopf.
»Vielleicht kommt das, was ich gesagt habe, bloß darauf hinaus, daß ich großmütiger sein müßte. Wer aus Großmut handelt, aus Größe, aus Edelmut, der fragt nicht viel. Da hast du es ja: der kann sich nicht in nichts täuschen, weil er alles in seinem Großmut färbt!« Er hatte die Knie angezogen, die Arme fest darum geschlungen und das Kinn darauf gepreßt; die ganze Figur machte den gespanntesten Eindruck, fast einen krampferfaßten, im Gegensatz zu Agathe, die sich mit gelockerten Gliedern ausgestreckt hatte und über das gleiche nachdachte wie er. Es war schwer auszudrücken, wenn man es nicht verfehlen und nicht übertreiben sollte, gewann aber an der Vorstellung, daß jemand »aus Größe« handle, einigermaßen ein Vorbild, das schon irdisches Bürgerrecht besaß. Denn in Lagen, die Großmut erfordern, darf man nicht ängstlich nach Sicherheit fragen und darf manches nicht wissen wollen, ja sein Verhalten nicht von Wahrheit und Wirklichkeit abhängen lassen; eine große Gesinnung hat immer etwas von einem Sprung ins Ungewisse an sich, sie wägt nicht, sondern sie wagt, und die Gewähr für ein Gelingen liegt nur darin, daß sie den Boden der Tatsachen nicht zu früh verläßt, denn dann stürzt sie rasch ins Lächerliche. Darum ist der Zustand, der mit Großmut oder ähnlichen Worten bezeichnet wird, wohl immer auch mit irgendeiner Aufgabe verbunden, der er dient und die für edel gilt, und recht eigentlich erst als deren Spiegellicht fällt der Schein der Größe auf das Verhalten: das Verwirrende am Fall Ulrichs und Agathes war aber gerade das Vorwalten einer starken und manchmal fast unerträglich anschwellenden Stimmung, die keinen Gegenstand hatte. Jede Art kraftvoller Selbstlosigkeit hätte darum ihren Sinn bilden können: die freudige Anerkennung fremder Leistung, die Hingabe an eine gute Absicht, jedes Sichselbstvergessen, sei es in der Liebe, sei es in der Dankbarkeit, sei es in der Kampfbereitschaft, der Wunsch sich in den Augen anderer auszuzeichnen, das Verlangen, sich ihnen zu schenken, ja zum Opfer zu bringen. Beinahe vergessene Gefühle zeigten, daß sie noch immer lebensbereit seien, Erlebnisse des kindlichen Heldentums, wie sie nur der Seele entsprechen, die sich noch nicht in der Geschlechtsliebe verausgabt hat und den glühenden Ehrgeiz fühlt, Gutes zu tun, klangen an, verwunderlich genug für zwei Menschen, die ihr Leben lang wenig für andere übrig gehabt hatten.
Es war weder Ulrich noch Agathe geglückt, in späteren Jahren den Anschluß an diese ursprünglichen Quellen zu finden, aus denen die meisten Menschen ihre alltägliche seicht und breit rieselnde Güte herleiten; darum drückte die Flut nun plötzlich nach einem Ausweg, den sie nicht fand, als sie auf unerwartete und ungewöhnliche Weise anfing. Es gab keine Handlung, die diesen Gefühlen einigermaßen hätte Ausdruck verleihen können oder die beiden sahen sie nicht. Eher war es noch vorstellbar, daß ihnen ein ganzes Leben in seiner Stimmung entspräche, denn auch das geschah dann ohne Einzelheiten und war wieder nichts als der Druck, der Überschuß und Überfluß des Zustands, der sich handelnd in die Welt ergießen wollte, ein gegenstandsloses Gefühl, das sich in seiner ganz enthusiastischen Gestalt, wenn es auch nur schattenhaft geschah, wider sich selbst kehrte. Dann war es ein Pathos, ein Erleiden, die Leidenschaft schien das Herz zu lähmen, es soll te etwas getan werden, gelang aber nicht, und der zurückströmende Überschuß glich einer unaussprechlichen Seelennot. Zu alledem gehörte aber als bezeichnender Zustand auch, daß es gleichsam bloß im Glaskolben und über dem eingeschränkten Feuer eines Versuchsraums geschah, denn ihre Gefühle spielten um Menschen, die sie nicht kannten, sondern bloß ansahen, und das Gitter des Gartens erlaubte ihnen, in einer dauernden Erwartung zu verharren.
Ulrich sagte etwas burschikos: »Es ist einem zumute, als könnte was aus sich hinausrutschen und als wäre es bloß eine Feigheit, es nicht zu tun!«
Agathe sagte: »Es kommt einem vor, als ob man mit durchstochenen Augen die Menschen erblickte; die Augen sind durchstochen, und zu meiner Überraschung sehe ich mehr!«
Ulrich folgte ihrem Blick, der hinaus führte, und sagte: »Da wir gewöhnlich in der Mitte stecken, halten wir es kaum für möglich, was unsere Grenzen sind. Denk aber einmal an einen heftigen Affekt. Da bedeutet es für den erdfestesten Menschen noch nichts Ungewöhnliches, ›außer sich‹ zu geraten; die ganze Person steckt ja eigentlich ›im Zorn‹, oder was es ist, darin, wenn nicht gar schon in der ausbrechenden Handlung. Eine solche Verschiebung von innen nach außen kann man, wenn auch nur ansatzweise, jetzt an uns bemerken. Und nun frage ich dich, wo das Ich ist, wenn es ›in der Leidenschaft‹ ist? Ein halb scherzhaftes, halb ärgerliches Wort spricht sogar von einem ›Aus der Haut fahren‹! Und wenn ich mich frage, was mir geschehen ist, so kann ich auch nur sagen: Etwas, das sonst das Innere ist, hat sich, ganz ähnlich wie in einem Affekt in das Empfinden und hinaus in das Empfundene verschoben – dort, in jenen Kerl oder in die Geräusche der Straße! Nur ist es heimlich und ohne Aufbrausen geschehn.«
Agathe dachte währenddem an die Männer, die sie umarmt hatte, ohne sie zu lieben, ja von denen sie sich hatte umarmen lassen, ohne daß sie ihr auch nur gefielen. Verschmilzt da nicht Fremdes, fast Feindliches zu einer einzigartigen, wenn auch nur kurz dauernden Lebensgemeinschaft? Die Leiber bleiben zwei, die Seelen bleiben zwei, in zwei Personen verbleibt das Bewußtsein, daß sie geistig nicht übereinstimmen, aber unter Zeichen, die ebensowohl eine Gewalttat wie eine Hingabe andeuten, wird beider gewöhnliches Wesen gleichsam gemeinschaftlich aus den Angeln gehoben. Vielleicht wußte Agathe kaum, daß sie daran dachte. Sie glaubte an ihren Bruder und ihrer beider Schicksal zu denken, daß sie nun vielleicht gemeinsam die Welt selbstlos lieben sollten, solange sie die hinter dem Gitter Vorübergehenden oder Verweilenden betrachtete. Alles, was sie von diesen zurückhalten konnte, war unvermindert vorhanden, im Abschreckenden sogar auch der Anteil des Schrecks, wenn sie sich in den Fremden Hagauer oder Lindner vorstellte; und gab sie trotzdem dem Hang zum Mitfühlen nach, so verschwand doch nicht im mindesten die Trennung. Jede Art von Übereinstimmung, Gleich- oder auch nur Ähnlichsein erwies sich also augenblicklich als Einbildung, und dennoch wurde dabei die Trennung geringer als sonst. Auf eine ungewöhnliche Art war sie vermindert, die Flamme des Ich hatte weniger Licht und mehr Wärme. Agathe dachte: »Ulrich erklärt das durch einen Anteil des Gefühls an den Empfindungen. Was geschähe, wenn man noch mehr dem Gefühl nachgeben könnte?« Sie wollte dem Neuen gehorchen, vielleicht bedurfte es dazu nur noch eines kleinen Mehr an Enthusiasmus. Dieser Antrieb zur Steigerung sollte in der Folge noch eine große Rolle spielen. Und plötzlich fiel Agathe ein: »Im Traum gelingt es uns doch auch, alle unsere Empfindungen nur aus Gefühl zu erschaffen!«
Was sollte also geschehn? Sie wußten es beide nicht. So wiederholte sich in diesen Tagen im Verhältnis zur Welt das gleiche, was sie zuerst im Verhältnis zu einander empfunden hatten, ein Gehören und Nicht-Können, eine ungeheuerliche Eindringlichkeit ohne Weg, ein Drang zum Handeln, ohne daß die Frage »Was sollen wir tun?« klar wurde, und eine Fülle von Widersprüchen, die sich gegenseitig belebten und scheinbar den Boden der Wirklichkeit bildeten.


49.
Ulrichs Tagebuch


Oft dachte Ulrich – und wenn er durch Nachdenken seiner Erlebnisse Herr werden wollte, konnte er eine solche Vermutung nicht außer acht lassen – daß alle die eigenartigen Erfahrungen, deren Zeuge er geworden, bloß durch eine wechselseitige Suggestion und den Einfluß der Vorstellung entstanden sein könnten, daß ein ungewöhnliches Schicksal ihn und Agathe der Gesetze des Alltags überhoben habe. Das Gefühl dieses Schicksals war vorhanden, und es wäre nicht undenkbar gewesen, daß zwei Menschen, die sich in eine Welt des Tausendjährigen Reichs, der Seraphischen Liebe, der Siamesischen Zwillinge und der »konkaven« Schau hineingeredet hätten, allerlei wahrnähmen, was ihren unbeeinflußten Augen nicht erschiene. Zwar wiederholten sich solche Gespräche jetzt nicht mehr, wie es die Geschwister auch vermieden, von Mystik und Heiligkeit zu reden, aber alles Gesprochene hatte in der Vergangenheit den kräftigeren Schatten wirklicher Vorgänge angenommen, von denen einmal die Rede gewesen ist. Der Grad der Überzeugung, den es damit vortäuschte, war Ulrich selbst nicht deutlich; man mag das bloß eine halbe Überzeugung nennen, wenn man meint, daß zur Überzeugung ein Denken gehöre, das sich seiner Sache völlig sicher wissen müsse, aber es gibt auch eine volle Überzeugung, die einfach aus dem Fehlen aller Einwände zustande kommt, weil eine stark und einseitig bewegte Gemütsstimmung jeden Zweifel dem Bewußtsein fernhält: auf diese Weise fühlte er sich manchmal überzeugt und wußte nicht einmal, wovon, so daß ihn das unheimlich gegenstandslose Bangen des Willens erschreckte, der sich heimtückisch von innen überfallen und seiner Kräfte bestohlen sieht.
»Wie habe ich das zu verstehn? Wie erkläre ich mir diesen Vulgärbegriff der Suggestion, den ich so geläufig gebrauche wie alle, ohne im entscheidenden Augenblick genug von ihm zu wissen? Ich habe heute darüber nachgelesen« trug Ulrich auf einem Zettel ein. »Suggestion ist ein Zustand, der viel weiter reicht als sein Sonderfall Hypnose. Diese ist nur für Medizin, Psychologie und die Anwendungen der beiden wichtig, während Suggestion eine allgemeine Form des menschlichen und tierischen Verkehrs bildet. Ich habe die Beobachtung ausgesprochen gefunden, daß sich die sozial lebenden Tiere alles Wesentliche durch Affektäußerungen anzeigen, die unter den Genossen die gleichen Affekte hervorrufen – Warnruf, Futterruf, Liebesruf! –, und daß diese affektive Suggestibilität auch beim Menschen noch vollkommen vorhanden sei, trotz der hoch entwickelten Verstandessprache. Die Affekte übertragen sich ja nicht nur durch Aussprache, sondern auch unmittelbar, indem sie anstecken: die bekanntesten Beispiele dafür sind das Gähnen und die Ausbreitung des Schrecks in einer Panik. Ein Affekt hat die Fähigkeit, die ihm dienlichen Vorstellungen hervorzurufen, sogar in anderen Personen: der Anblick eines frohen Menschen macht fröhlich. Ebenso schließt ein Affekt aus, was nicht zu ihm paßt: wir sind zum Beispiel nicht imstande, einen Menschen sachlich zu würdigen, den wir nicht mögen. Überhaupt hat der Affekt eine hemmungslose Neigung, sich auszubreiten und sich alles anzueignen, so daß er auf die unpassendsten Gegenstände überspringen kann: die Sammlung der Beispiele dafür reicht in allen Abstufungen von der schlichten Albernheit des gestohlenen Liebespfands, das der Anbeter heimlich an die Lippen drückt, bis zum höchst entwickelten Fetischismus! Auf diesen ursprünglichen Vorgängen beruht ein großer Teil dessen, was sich unter Menschen abspielt, und für mich ist viel daraus zu gewinnen. Ich füge bloß hinzu, daß der Warn- oder Liebesruf eines Tiers in seinen Gefährten ja nicht nur Angst oder Liebe weckt, sondern unmittelbar auch das dazu gehörende Handeln. Er durchdringt es; der Schreck-, der Liebesruf fährt in die Glieder! Wäre das Tier ein Mensch, so könnte es uns sagen: dein Wort ist in mir und bewegt mich! Und siehe: da ist die körperlich-körperlose Vereinigung zweier geheimnisvoller Geschwister!
Solcher Zettel begann Ulrich nun viele zu schreiben. Sie bildeten eine Art Tagebuch, mit dessen Hilfe er die Einfälle, die er an sich beobachtete, verständlich weiterzubilden trachtete. Und gleich nachdem er die erste seiner Aufzeichnungen mit dem Ende zu Papier gebracht hatte, daß er das Übermaß der Entdeckung in Spott vergrub, fiel ihm noch diese zweite ein: »Agathe fordert Großmut von uns: aber auch das ist mit Suggestion verwandt! Indem sie übergeht, was nicht zu ihr gehört, und das, was ihr dient, an sich reißt, ist Großmut großmütig.« Und er fügte hinzu: »Ich dürfte also diese Aufzeichnungen eigentlich nicht machen.« Seit seiner Reise hatte er oft den Eindruck, in einem anderen Bewußtseinszustand zu leben, bezaubert, ja wenn man will, betäubt im Geiste durch etwas, das recht wohl eine Suggestion sein konnte, die in seiner Schwester und ihm auf unbestimmbare Weise entstanden war. Wird der Zustand des unterwürfigen Wachschlafes durch die Nachhaltigkeit und Einheitlichkeit des Verhaltens gekennzeichnet, das dafür von der offenen Ganzheit des Lebens durch irgendetwas abgesperrt ist, so war das auch die Beschreibung ihres Zustands. Denn während sich gewöhnlich Strebungen und Eindrücke jeder Art zu einem vielfältig bewegten Zustand mischen, war in dem ihren Denken wie Gefühl in einem gemeinsamen Sinn verändert und stimmte nicht nur zusammen, sondern hob sich auch als etwas Einseitiges, ja fast Hangendes und Süchtiges von der Alltäglichkeit ab. Offenbar waren bestimmte Gefühle stillgelegt und eine andere Gefühlsgruppe verstärkt, und aus dieser Einheitlichkeit entstand die berückende Abgeschlossenheit, die sich eng wie ein gemeinsamer Mantel um Ulrich und Agathe legte. Auch die Passivität, die sich in ihrem Verhalten ausprägte, stimmte mit dem Wesen einer Suggestion überein. Aber wie sollte diese entstanden sein? Was war überhaupt die ursprüngliche Einbildung? War zuerst die mystische Auffassung der Zwillingsgeschwisterlichkeit aufgetreten und hatte durch die Vorstellung, daß sie beinahe ein Doppelwesen seien, das Empfinden bis in die Anfangsgründe verändert? Oder war diese Veränderung vor ihr dagewesen, als ein plötzliches Zartwerden des Willens oder ein entscheidender Lagewechsel des Fühlens, und die Wahrnehmung merkwürdiger Erlebnisse wuchs erst auf diesem dunklen Boden? Die beiden Fälle waren nicht ganz gleichwertig; denn, wenn man nicht vom Gefühl als autosuggestiver Kraft ausging, wie im zweiten Fall, durch welche Kraft sollten dann die veränderten Welterlebnisse entstehen? Am Ende dann überhaupt nicht durch Suggestion, und ernsthaft glaubte Ulrich ja auch nicht einen Augenblick an deren Vorhandensein, es sei denn in jener erweiterten, von ihm soeben erst wiederentdeckten Bedeutung einer allgemeinen Verkehrsform, wo sie eine zweite Bahn neben der des Logos war.
Er wußte, daß die Ansätze dazu längst, ja immer in seinem Leben zu finden seien, und seit sie sich in Berührung mit Agathe entwickelt hatten, muteten sie ihn oft wie die aufleuchtenden Teile einer älteren Art des Miteinanderlebens an, die von der heutigen unterdrückt und verdeckt worden ist. Waren die Gespräche recht im Gang – und dafür war die Empfindlichkeit überaus groß –, so machten sie niemals auf ihn den Eindruck, daß ein Wort ein anderes logisch notwendig erzwinge oder eine Handlung die nächste nach sich ziehe, sondern den, daß in ihrem Zustand etwas vor sich gehe, als dessen höhere Stufe dann die Antwort folge. Jede Bewegung des Gemüts wurde zur Entdeckung einer neuen Bewegung, wobei sie sich gegenseitig halfen, auf welche Weise nicht bloß der Eindruck einer sich ohne Senkung hebenden Aussprache entstand, sondern auch der einer nie endenden Annäherung. Niemals schien das letzte Wort gesprochen werden zu können, denn jedes Ende war ein Anfang und jedes letzte Ergebnis das erste einer neuen Eröffnung, so daß jede Sekunde ihr Beisammensein wie die aufgehende Sonne strahlen ließ, aber zugleich die friedevolle und vergebliche Vergänglichkeit der untergehenden mit sich brachte. »Wäre ich ein Gottgläubiger, so fände ich jetzt eine Bestätigung für die schwer verständliche Behauptung, daß uns seine Nähe ebenso eine unaussprechliche Erhöhung wie unsere niederdrückende Ohnmacht fühlen läßt!« zeichnete Ulrich auf.
Unwillig betrachtete er diese voreiligen Zeilen und gestand sich ein, daß er wahrscheinlich schon vor Tagen richtiger geurteilt hätte, als er die Ursache seines veränderten Sprechens und Denkens einfach in in einem verstärkten Gefühlsanteil an allen Wahrnehmungen und Vorgängen gesucht hatte. Rasch schrieb er nieder: »Jedes Wort will eindeutig und dauernd sein; aber jedes Gefühl verändert sich in dem Augenblick, wo es dauert. Gefühl hat keine Dauer und Identität; festgehalten, wird es in einem Nu unecht. Gefühle sind nicht nur veränderlich und unbeständig, wofür sie immer gegolten haben, sondern sie wären es mehr denn je auch in dem Augenblick, wo sie sich bemühten, es nicht zu sein. Ein Gefühl, das sich erhalten soll, muß von jedem Augenblick neu erschaffen werden, es muß beständig etwas Neues um dieses Gefühl geschehn, damit man es wieder fühlt.« Es wird sich auch immer ein wenig verschieden zeigen. Darum haben Worte, die Gefühle einschließen, eine andere Logik. Man könnte sagen, daß sie nicht die Logik des Entweder-oder hätten, sondern eine des Sowohlals-auch. Trockene Gedanken schließen einander, wenn sie sich widersprechen, in ihrer Geltung aus, passen sich bei nur teilweisem Widerspruch durch Ausschluß des Unpassenden aneinander an, und es gibt da einen steinbaukastenähnlichen Vorgang der Steigerung zur Wahrheit; wo aber Gefühl im Gedanken liegt, da kann man sich widersprechen und beidemal recht haben. Widerspruchsvolle Gefühle schließen sich ja auch nicht aus; sondern sie lähmen einander entweder zu einem Kompromiß oder sie treiben sich gegenseitig in die Höhe. Gedanken, die auf widerspruchsvollen Gefühlen beruhn, schließen einander also nicht aus, sondern ein; oft zu verwickelten Gebilden, denen sich kaum ein Name geben läßt.
Ulrich hatte sich mit diesen Einfällen von der Vermutung entfernt, daß sein gegenwärtiges Schicksal im Übergewicht einer bestimmten Gefühlsgruppe zu suchen sei, und suchte es im Übergewicht des Gefühls schlechthin; es mochte auch beides nebeneinander der Fall sein. Der Gedanke, daß kein Gefühl dauere, sondern in jedem Augenblick als ein neues erschaffen werden müsse, fesselte ihn, weil diese Annahme auf natürliche Weise ebenso den Eindruck einer ziellos-unendlichen Steigerung zu erläutern schien, der seine Liebe beherrschte, wie deren stolze, selten ausgesprochene, aber grausam wertende Moral, daß sie nur so lange leben werde, als sie sich in jedem Augenblick selbst übertreffe. Ulrich schrieb auf: »Es scheint die einzige Leidenschaft zu sein, die wir uns gestatten. Wenn wir auch müde sind, wollen wir doch nicht auseinandergehn. Agathe sagt: ›Sind wir denn nicht Geschwister?‹ Das heißt: Siamesische Zwillinge; denn sonst wäre es zusammenhangslos. Selbst wenn wir zu müde sind zu sprechen, will sie nicht zu Bett gehn, weil wir nicht beisammen schlafen können. Ich verspreche ihr, bis sie einschlafe, neben ihr sitzen zu bleiben, aber sie will sich nicht auskleiden und ins Bett legen; nicht aus Scham, sondern weil sie dann etwas vor mir voraushätte. Wir ziehen Hauskleider an. Einige Male sind wir schon aneinandergelehnt eingeschlafen. Sie war heiß vor Eifer.
Ich hatte, sie zu stützen, und wußte es gar nicht, meinen Arm um ihren Körper geschlungen. Sie hat weniger Gedanken als ich und eine höhere Temperatur. Sie muß eine sehr warme Haut haben. Am Morgen sind wir blaß vor Müdigkeit und schlafen in den Tag hinein. Es kommt übrigens nicht der kleinste geistige Fortschritt dabei heraus. Wir brennen an den Büchern wie der Docht im Öl. Wir nehmen sie eigentlich ohne jede andere Wirkung als diese auf, daß wir brennen …«
Ulrich fügte hinzu: »Der junge Mensch hört nur mit halbem Ohr auf die Stimme der Bücher, die ihm zum Schicksal werden; schon eilt er davon, seine eigene Stimme zu erheben! Denn er sucht nicht die Wahrheit, er sucht sich. So hat es sich auch mit mir verhalten. Folge im Großen: Es gibt immer neue Menschen, und immer die alten Geschehnisse, bloß neu aufgemischt! Moralische Gebrechlichkeit der Zeitalter. Sie sind im wesentlichen wie unser Lesen ein Brennen um seiner selbst willen. Wann habe ich mir das zuletzt gesagt? Kurz vor Agathes Ankunft. Letzte Ursache dieser Erscheinung? Das Fehlen von System, Grundsätzen, Ziel, also auch von Steigerungsmöglichkeit und Folgerichtigkeit des Menschenlebens. Ich hoffe, dazu noch einiges festhalten zu können, was mir eingefallen ist. Es gehört zum ›Generalsekretariat‹. Das Sonderbare an meinem gegenwärtigen Zustand ist aber, daß ich so weit entfernt wie noch nie von solcher tätigen Teilnahme am Geistigen bin. Das ist Agathes Einfluß. Es geht Reglosigkeit von ihr aus. Trotzdem hat dieser zusammenhanglose Zustand ein eigentümliches Gewicht. Er ist gehaltvoll. Ich möchte sagen: es ist der große Gehalt an Glückseligkeit, der ihn kennzeichnet; wobei dieser Begriff natürlich ebenso unbestimmt ist wie alles übrige. Zaudernde Einschränkung, die ich mir zuschulden kommen lasse! Unser Zustand ist das andere Leben, das mir immer vorgeschwebt ist. Agathe wirkt dahin, und ich frage mich: ist es als wirkliches Leben ausführbar? Unlängst hat mich auch sie danach gefragt …«
Agathe hatte aber, als sie das tat, bloß ihr Buch sinken lassen und gefragt: »Kann man zwei Menschen lieben, die einander Feinde sind?« Zur Erklärung fügte sie hinzu: »Manchmal lese ich in einem Buch etwas, das dem widerspricht, was ich in einem andern Buch gelesen habe, und liebe beide Stellen. Dann denke ich daran, daß wir beide, du und ich, einander ja auch in vielem widersprechen. Kommt es nicht darauf an? Oder ist das gewissenlos?«
Ulrich erinnerte sich sofort daran, daß sie ihn Ähnliches in dem unverantwortlichen Zustand gefragt habe, wo sie das Testament abänderte. Das erzeugte unter dem Gegenwartszustand eine merkwürdige Tiefe und Höhlung, denn der Hauptstrom seiner Gedanken führte Agathes Äußerung ohne Besinnen auf Lindner zurück. Er wußte, daß sie diesen besuche; sie hatte es ihm zwar niemals mitgeteilt, aber auch keine Anstalten getroffen, es zu verbergen.
Die Antwort auf diese offene Art von Verheimlichung war Ulrichs Tagebuch. Agathe sollte nichts von diesem Tagebuch wissen.
Wenn er daran schrieb, litt er unter dem Gefühl von ihm begangener Untreue. Oder stärkte und befreite sich damit, denn der kühlende Zustand des heimlich begangenen Unrechts zerstörte die geistige Verzauberung, die ebenso gefürchtet wie begehrt war.
Darum hatte Ulrich als Antwort auf Agathes Frage gelächelt und keine andere Antwort gegeben. Und nun hatte Agathe plötzlich gefragt : »Hast du Geliebte?« Zum erstenmal geschah es da, daß sie ihm wieder eine solche Frage stellte. »Du sollst natürlich,« fügte sie hinzu »aber du hast mir doch selbst gesagt, daß du sie nicht liebst?!« Und dann fragte sie: »Hast du einen andern Freund als mich?« Das sagte sie leichthin, als erwarte sie nun keine Antwort mehr, aber auch in der Art leicht und spielend, als hätte sie auf der Hand eine winzige Menge einer kostbaren Substanz liegen und beschäftigte sich mit ihr.
Ulrich schrieb spät nachts in seinem Tagebuch die Antwort auf, die er gegeben hatte.


50.
Eine Eintragung


Es ist nur eine kleine Herausforderung des Lebens gewesen, daß sie mir diese Fragen stellte, und sollte bedeuten: Du und ich leben doch auch noch außerhalb des »Zustands«! Man kann ebensogut ausrufen: »Bitte, reiche mir Wasser!« oder: »Halt! Laß das Licht doch brennen!« Es ist eine Augenblicksbitte, etwas Eiliges, Unbeaufsichtigtes, und nichts weiter. Ich sage: nichts weiter; aber weiß doch: es ist nicht weniger, als liefe eine Göttin einem Autobus nach, damit er sie noch mitnehme! Eine unmystische Gangart, ein Zusammenbruch des Wahnwitzes! An solchen kleinen Erlebnissen wird es deutlich, wie sehr unser Zustand eine bestimmte einzige Gemütslage zur Voraussetzung hat und augenblicklich umkippt, wenn man sie aus dem Gleichgewicht bringt.
Und doch machen solche Augenblicke erst recht glücklich. Wie schön ist Agathens Stimme! Welches Vertrauen liegt in einer solchen ganz kleinen Bitte, die mitten in einem hohen und feierlichen Zusammenhang auftritt! Sie ist rührend, wie es zwischen einem Strauß kostbarer Blumen ein Wollfaden ist, der vom Kleid der Geliebten hängen geblieben ist, oder ein vorstehendes Stückchen Draht, für das die Hände der Binderin zu schwach waren. In solchen Augenblicken weiß man genau, daß man sich überschätzt, und doch erscheint alles, was mehr ist als man selbst, erscheinen alle Gedanken der Menschheit wie ein Spinngewebe; der Körper gleicht dann einem Finger, der es in jeder Sekunde zerreißt und an dem ein wenig davon haften bleibt.
Soeben habe ich gesagt: Die Hände der Binderin, und habe mich dem Schaukelgefühl eines Gleichnisses überlassen, als könnte diese Frau niemals eine fettleibige ältere Person sein. Das ist Mondschein von der falschen Sorte! Und deshalb habe ich auch Agathe eher einen methodischen Vortrag gehalten als eine unmittelbare Antwort gegeben. Aber eigentlich habe ich ihr nur das Leben beschrieben, das mir vorschwebt. Ich will das wiederholen und, wenn ich kann, verbessern. In der Mitte steht etwas, das ich Motivation genannt habe. Im gewöhnlichen Leben handeln wir nicht nach Motivation, sondern nach Notwendigkeit, in einer Verkettung von Ursache und Wirkung; allerdings kommt immer in dieser Verkettung auch etwas von uns selbst vor, weshalb wir uns dabei für frei halten. Diese Willensfreiheit ist die Fähigkeit des Menschen, freiwillig zu tun, was er unfreiwillig will. Aber Motivation hat mit Wollen keine Berührung; sie läßt sich nicht nach dem Gegensatz von Zwang und Freiheit einteilen, sie ist tiefster Zwang und höchste Freiheit. Ich habe das Wort gewählt, weil ich kein besseres fand; es ist wohl verwandt mit dem Ausdruck Motiv der Malersprache. Wenn ein Landschaftsmaler des Morgens mit der Absicht auszieht, ein Motiv zu suchen, so wird er es meist finden, das heißt etwas, das seine Absicht erfüllt; doch muß man richtiger sagen, das in seine Absicht paßt – so wie ein Wort in jeden Mund paßt, wenn es bloß nicht zu groß ist. Denn etwas, das erfüllt, das ist etwas Seltenes, es überfüllt sogleich, strömt über die Absicht und ergreift den ganzen Menschen. Der Maler, der »etwas« malen wollte, wenngleich in »persönlicher Auffassung«, malt nun an sich, er malt um sein Seelenheil, und nur in solchen Augenblicken hat er wirklich ein Motiv vor sich, in allen anderen redet er sich das bloß ein. Da ist etwas über ihn gekommen, das Absicht und Wille zerdrückt. Wenn ich sage, es habe mit ihnen überhaupt nicht zu tun, übertreibe ich natürlich. Aber man muß übertreiben, wenn man die Heimat seiner Seele vor sich hat. Es gibt sicher alle Arten Übergänge, aber so wie in der Farbenleiter selbst: Du kommst durch unzählige Vermischungen vom Grün zum Rot, bist du aber erst dort, so bist du es ganz und gar und ohne die geringste Spur mehr von Grün.
Agathe sagte, es sei die gleiche Abstufung wie die, daß man das meiste gewähren lasse, manches aus Neigung tue, und endlich daß man aus Liebe handle.
Jedenfalls gibt es etwas Ähnliches auch im Sprechen. Man kann deutlich einen Unterschied machen zwischen einem Gedanken, der nur Denken ist, und einem, der den ganzen Menschen bewegt. Dazwischen gibt es alle Arten Übergänge. Ich habe Agathe gesagt: Wir wollen nur noch sprechen, was den ganzen Menschen bewegt!
Aber wenn ich allein bin, denke ich daran, wie unklar das ist. Mich kann auch ein wissenschaftlicher Gedanke bewegen. Aber das ist nicht die Art Bewegung, auf die es ankommt. Je wahrer etwas ist, desto mehr ist es von uns in einer eigenartigen Weise abgewandt, mag es uns noch soviel angehn. Andrerseits kann mich auch ein Affekt ganz bewegen, und doch bin ich nachher bloß bestürzt. Tausendmal habe ich mich schon nach diesem merkwürdigen Zusammenhang gefragt. Man könnte meinen, je weniger »objektiv« etwas sei, je »subjektiver«, desto mehr müßte es uns dann in der gleichen Weise zugewandt sein; aber das ist falsch; die Subjektivität kehrt unserem inneren Wesen geradeso den Rücken zu wie die Objektivität. Subjektiv ist man in Fragen, wo man heute so und morgen anders denkt, entweder weil man nicht genug weiß oder weil der Gegenstand selbst von der Willkür des Gefühls abhängt: aber was ich und Agathe einander sagen möchten, ist nicht der vor- oder beiläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebenso aber auch als Irrtum erkannt werden könnte, und nichts ist unserem Zustand fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit solcher geistreichen Einfälle, denn zwischen uns ist alles von einem strengen Gesetz beherrscht, wenn wir es auch nicht aussprechen können. Die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität kreuzt die, an der wir uns bewegen, ohne sie zu berühren.
Oder soll ich mich vielleicht an die ausgewählte Subjektivität der Redekämpfe halten, die man mit Jugendgefährten ausführt? An ihre Mischung von persönlicher Empfindlichkeit und Sachlichkeit, an ihre Bekehrungen und Apostasien? Sie sind die Vorstufe der Politik und Geschichte und der Humanität mit ihrem schwankenden, unbestimmten Inhalt. Sie bewegen das ganze Ich, sie stehen mit seinen Leidenschaften in Verbindung und suchen ihnen die Würde eines geistigen Gesetzes und den Anschein eines unfehlbaren Systems zu verleihen. Was sie uns bedeuten, liegt daran, daß sie uns andeuten, wie wir zu sein haben. Und gut, auch wenn mir Agathe etwas sagt, ist es immer, als ginge ihr Wort durch mich, und nicht bloß durch den Gedankenbereich, an den es sich wendet. Aber was zwischen uns geschieht, hat scheinbar gar nicht große Bedeutung. Es ist so still. Es weicht der Erkenntnis aus. Mir fallen die Worte milchig und opalisierend ein: was zwischen uns geschieht, ist wie eine Bewegung in einer schimmernden, aber nicht sehr durchlässigen Flüssigkeit, die immer ganz mitbewegt wird. Es ist beinahe völlig gleichgültig, was geschieht: alles geht durch die Mitte des Lebens. Oder kommt aus ihr zu uns. Ereignet sich mit dem merkwürdigen Gefühl, daß alles, was wir je getan haben und tun könnten, mitbeteiligt sei. Wenn ich es so greifbar wie möglich beschreiben will, muß ich sagen: Agathe gibt mir irgendeine Antwort oder tut etwas, und sogleich gewinnt es für mich ebensoviel Bedeutung wie für sie, ja scheinbar die gleiche Bedeutung oder eine ähnliche. Vielleicht verstehe ich sie in Wirklichkeit gar nicht richtig, aber ich ergänze sie in der Richtung ihrer inneren Bewegung. Wir erraten offenbar, weil wir in der gleichen Erregung sind, das, was diese steigern kann und müssen unwiderstehlich folgen. Wenn zwei Menschen in Zorn oder Liebe geraten, steigern sie sich gegenseitig auf eine ähnliche Weise. Aber die Eigenart der Erregung und der Bedeutung, die alles in dieser Erregung annimmt, ist eben das Außerordentliche. Könnte ich sagen, wir werden von dem Gefühl begleitet, in Einklang mit Gott zu leben, es wäre einfach; aber wie soll man voraussetzungslos beschreiben, was uns dauernd erregt? »In Einklang« ist richtig, aber womit, ist nicht zu sagen. Wir werden von dem Gefühl begleitet, daß wir die Mitte unseres Wesens erreicht haben, die geheimnisvolle Mitte erreicht haben, wo die Fliehkraft des Lebens aufgehoben ist, wo die unaufhörliche Drehung des Erlebens aufhört, wo das laufende Band der Eindrücke und Ausstöße, das der Seele Ähnlichkeit mit einer Maschine gibt, stillsteht, wo die Bewegung Ruhe ist, daß wir an die Achse des Kreisels gelangt sind. Das sind symbolische Ausdrücke, und ich hasse diese Symbole geradezu, weil sie sich so leicht anbieten und unendlich ausbreiten, ohne etwas zu ergeben. Ich will es lieber noch einmal versuchen, und so nüchtern wie möglich: die Erregung, in der wir leben, ist die der Richtigkeit. Von diesem Wort, das in solcher Anwendung ebenso ungewöhnlich wie nüchtern ist, fühle ich mich ein wenig beruhigt. Zufriedenheit und Sättigung der Wünsche sind im Gefühl der Richtigkeit enthalten, Überzeugung gehört zu ihm und Stillung, es ist der tiefe Zustand, in den man nach Erreichen seines Ziels verfällt. Wenn ich fortfahre, mir das so darzustellen, und mich frage: welches Ziel ist erreicht? so weiß ich es nicht. Das ist schon wieder der Einklang mit dem unbezeichenbaren »Womit«. Und eigentlich ist es auch nicht ganz richtig, von einem Zustand des erreichten Ziels zu sprechen; zumindest ist es ebenso wahr, daß der Zustand von einem dauernden Eindruck der Steigerung begleitet ist. Aber es ist eine Steigerung ohne Fortschritt. Ebenso ist es ein Zustand des höchsten Glücks, führt aber nicht über ein schwaches Lächeln hinaus. Wir fühlen uns in jeder Sekunde emporgerissen, verhalten uns aber äußerlich wie innerlich ziemlich reglos; die Bewegung hört niemals auf, aber sie schwingt auf engstem Raum. Auch ist eine tiefe Sammlung mit einer weiten Zerstreutheit verbunden, und das Bewußtsein lebhafter Tätigkeit mit der Überwältigung durch ein Geschehen, das wir nicht genügend verstehen. So endet der Vorsatz, daß ich mich auf das nüchternste beschränke, sogleich wieder in befremdlichen Widersprüchen. Aber das, was sich dem Geist so zerrissen darstellt, ist als Erlebnis von großer Natürlichkeit. Es ist einfach da; also müßte es auch dem richtigen Verständnis einfach sein!
Auch besteht zwischen Agathe und mir nicht die geringste Verschiedenheit in der Meinung, daß die Frage »Wie soll ich leben?«, die wir uns beide aufgegeben hatten, beantwortet ist: So soll man leben!
Und manchmal erscheint es mir verrückt.


51.
Das Ende der Eintragung


Ich sehe die Aufgabe nun doch deutlicher. Etwas gibt im menschlichen Leben dem Glück die Kürze, so sehr, daß Glück und Kürze scheinbar zusammengehören wie Geschwister. Es macht alle großen und glücklichen Stunden unseres Daseins zusammenhanglos – eine Zeit, die in Stücken in der Zeit treibt – und gibt allen anderen Stunden den notwendigen, den Not-Zusammenhang. Dieses Etwas bewirkt, daß wir ein Leben führen, das uns innerlich nicht berührt. Es bewirkt, daß man ebenso leicht Menschen fressen wie Dome bauen kann. Es ist die Ursache davon, daß immer nur »Seinesgleichen« geschieht, das bloß äußerlich Wirkliche. – Es hat Schuld daran, daß man von allen seinen Leidenschaften betrogen wird. Es ruft die sich immer wiederholende Vergeblichkeit der Jugend hervor und die sinnlose ewige Umwälzung der Zeiten. Ihm ist es zuzuschreiben, daß bloß der Tätigkeitstrieb in Tätigkeit tritt, und nicht der Mensch, daß unsere Handlungen sich so notwendig vollziehen, als gehörten sie mehr zu einander als zu uns, daß unsere Erlebnisse in der Luft liegen, aber nicht in unserem Willen. Dieses Etwas ist gleichbedeutend damit, daß wir mit all dem Geist, den wir hervorbringen, nichts Rechtes anzufangen wissen, es bewirkt auch, daß wir uns selbst nicht lieben, daß wir uns wohl begabt finden mögen, aber alles in allem keinen Zweck darin sehen.
Dieses Etwas ist: daß man immer wieder aus dem Zustand der Bedeutung in das an und für sich Bedeutungslose hinaustritt, um da hinein Bedeutung zu bringen. Wir treten aus dem Zustand des Sinnvollen in den Stand des Notwendigen und Notdürftigen, aus dem Zustand des Lebens in die Welt des Toten. Aber nun, wo ich es niedergeschrieben habe, bemerkte ich, daß es eine Tautologie und scheinbar etwas Nichtssagendes ist, was ich sage. Doch bevor ich schrieb, war in meinem Kopf: »Agathe gibt mir irgendeine Antwort, ein Zeichen; es macht mich glücklich«; und dann der Gedanke: »wir treten nicht aus der Welt des Geistes hinaus, um in eine des Ungeistes Geist zu setzen.« Und es schien mir, daß dieser Gedanke vollkommen sei und mit dem Hinaustreten genau das bezeichne, was ich meine. Ich brauche mich auch nur in diesen Zustand zurück zu versetzen, so scheint es mir noch so zu sein.
Ich muß mich fragen, wie mich ein Fremder verstünde. Sage ich Bedeutung, so versteht er gewiß: das Bedeutende. Wenn ich Geist sage, versteht er zuvörderst Angeregtheit, lebhaftes Denken, Aufnehmen und Wollen. Und es erscheint ihm natürlich, daß man aus der Welt des Geistes hinaustreten und ihre Bedeutung ins Leben tragen müsse, ja er hält ein solches Bestreben nach »Vergeistigung« für die würdigste Erfüllung der menschlichen Aufgaben. Wie kann ich es ausdrücken, daß »Vergeistigen« schon Sündenfall ist, und »nicht die Welt des Geistigen verlassen« ein Gebot, das keine Grade hat, sondern ganz oder gar nicht erfüllt wird?
Mir ist inzwischen eine bessere Erklärung in den Sinn gekommen. Die Erregung, in der wir uns befinden, Agathe und ich, drängt nicht zu Handlungen und nicht zu Wahrheiten, das heißt: sie bricht nichts vom Rande ab, sondern fließt durch das, was sie hervorruft, wieder in sich selbst zurück. Das ist allerdings nur eine Beschreibung der Form des Geschehens. Aber wenn ich das, was ich erlebe, auf diese Art beschreibe, so erfasse ich die veränderte, ja ganz andere Rolle, die nun mein Verhalten, mein Handeln hat: Was ich tue, ist nicht mehr die Entladung meiner Spannung und die Endform eines Zustands, in dem ich mich befunden habe, sondern es ist ein Durchgang und Relais auf dem Rückweg zur Bedeutung!
Allerdings hätte ich beinahe gesagt: »Rückweg zu einer Steigerung meiner Spannung« –; aber da fiel mir einer der Widersprüche ein, die unser Zustand aufweist, der nämlich, daß er keinen Fortschritt zeigt, also doch wohl auch keine Steigerung haben kann. Danach glaubte ich »Rückweg zu mir selbst« sagen zu sollen, – so ungenau ist alles das! – aber der Zustand ist gar nicht egoistisch, sondern liebevoll-weltzugewandt. Und so habe ich eben wieder »Bedeutung« geschrieben, und das Wort steht gut und natürlich in seinem Zusammenhang, ohne daß es mir bisher gelungen wäre, seinen Inhalt herauszuschälen.
So ungewiß das bleibt, hat mir aber immer ein Leben vorgeschwebt, dessen Hauptstück es wäre. Ich hatte bei jeder anderen Lebensführung das unklare Gefühl, es gesehen, vergessen und nicht wiedergefunden zu haben. Es hat mir die Befriedigung an allem, was bloß Rechnen und Denken ist, geraubt, hat mich aber auch nach jedem Abenteuer und von jeder Leidenschaft mit dem schalen Gefühl der Verfehlung nach Hause kommen lassen, bis ich schließlich beinahe alle Lust am Wirken verlor. Das ist geschehen, weil ich mich durch nichts zwingen lassen wollte, den Bereich der Bedeutung zu verlassen. Nun könnte ich auch sagen, was »Motiv« ist. Motiv ist, was mich von Bedeutung zu Bedeutung führt. Es geschieht etwas oder es wird etwas gesagt, und das vermehrt den Sinn zweier Menschenleben und verbindet sie durch den Sinn, und was geschieht, welchen physischen oder rechtlichen Begriff es darstellt, bleibt dabei ganz gleichgültig, es gehört überhaupt nicht dazu.
Aber kann ich mir vorstellen, was das in sei ner ganzen Ausdehnung besagt, ach, nur in seiner nächsten? Ich muß es versuchen. Ein Mensch tut etwas…: nein, ich darf nicht ausweichen, Professor Lindner tut etwas! Er erregt Agathes Neigung. Ich spüre dieses Geschehen, möchte es verderben und widerlegen, und – in dem Augenblick, wo ich meiner Abneigung nachgebe, trete ich aus dem Kreis der Bedeutung hinaus. Was ich fühle, kann niemals Motiv für Agathe werden. Meine Brust mag voll Ärger oder Zorn, mein Kopf ein Arsenal spitzer und blitzender Einwände sein – mein Herz ist leer! Mein Zustand ist dann plötzlich negativ! Mein Zustand ist nicht mehr positiv! Da ist mir nun wieder ein wunderliches Begriffspaar unter die Finger geraten. Warum komme ich auf die Bezeichnungen »positiv« und »negativ«? Ich erinnere mich unerwartet an einen Tag, wo ich auch vor einem Papier saß und den Versuch machte zu schreiben, – damals hätte es ein Brief an Agathe werden sollen. Und allmählich entsinne ich mich: Ein Zustand des »Tu!« und einer des »Tu nicht!« als die beiden Mischungsbestandteile jeder Moral, das »Tu« in ihrem Aufstieg vorwaltend, das »Tu nicht!« während ihrer gesättigten Herrschaft, ist dieses Verhältnis von »Forderung« und »Verbot« nicht das gleiche, was ich heute positiv und negativ nenne? Die Beziehung zwischen Agathe und mir dadurch gekennzeichnet, daß alles Forderung ist und nichts Verbot? Ich erinnere mich, daß ich damals von Agathes leidenschaftlicher, bejahender Güte gesprochen habe, die in einer Zeit, wo man so etwas nicht mehr versteht, wie ein uraltes Laster aussieht. Ich habe gesagt: es ist wie Heimkehr nach längster Zeit und das Wasser aus dem Brunnen seines Dorfes zu trinken! Und Forderung heißt natürlich nicht, daß wir fordern, sondern daß alles, was wir tun, das Höchste von uns fordert.
Den Kreis des Bedeutenden nicht zu verlassen, wäre also das gleiche wie ein Leben in reiner Positivität? Ich erschrecke beinahe bei dem Gedanken, daß es auch das gleiche ist wie »wesentlich leben«, obwohl ich das erwarten mußte. Denn was sollte wesentlich anderes bedeuten? Das Wort stammt wohl aus der Mystik oder der Metaphysik und bezeichnet den Gegensatz zu allem irdischen friedelosen und zweifelvollen Geschehen; aber seit wir uns vom Himmel getrennt haben, lebt es auf Erden als die Sehnsucht, unter tausenden moralischen Überzeugungen die einzige zu finden, die dem Leben einen Sinn ohne Wandel gibt. Gespräche ohne Ende zwischen mir und Agathe darüber! Ihr jugendliches Verlangen nach moralischer Belehrung neben dem Trotz, worin sie Hagauer töten wollte und ihn wenigstens am Besitz wirklich geschädigt hat! Und das gleiche Suchen nach Überzeugung allenthalben in der Welt; die Ahnung, daß der Mensch nicht ohne Moral leben kann, und die tiefe Beunruhigung darüber, daß seine eigenen Gefühle eine jede zersetzen! Worin liegt die Möglichkeit eines »ganzen« Lebens, einer »vollen« Überzeugung, einer Liebe, die ohne jede Beteiligung von Nichtliebe, ohne einen Rest von Selbst- und Ichsucht ist? Das heißt doch: nur positiv leben. Und es heißt: kein Geschehen ohne »Bedeutung« zulassen wollen, jedesmal wenn ich von einem »nie endenden Zustand« im Gegensatz zur »ewigen vergeblichen Augenblicklichkeit« unseres üblichen Handelns spreche oder von der Zuordnung jedes Augenblickszustands zu einem »Dauerzustand« des Gefühls, die uns die »Verantwortlichkeit« wiedergibt. Ich könnte seitenlang in der Wiederholung solcher Ausdrücke fortfahren, die das, was wir meinten, von irgendeiner Seite bezeichneten. Wir haben das als »wesenhaft leben« zusammengefaßt, und auch von andern so zusammenfassen hören, immer etwas in Verlegenheit wegen des schwülstig-übersinnlichen Beiklangs, den dieses Wort hat, aber wir besaßen keines, das einfacher zu gebrauchen war. Es ist also wohl keine geringe Überraschung, wenn ich das, was ich in den Wolken suchte, mit einemmal beinahe in meiner Hand finde!
Allerdings gehört es zu den Eigentümlichkeiten unseres Zustands, daß jede neue Betrachtung alle älteren in sich aufnimmt, so daß es unter ihnen keine Rangfolge gibt, sie scheinen vielmehr unendlich verstrickt zu sein. Ich könnte fortfahren und unseren Zustand ebensogut großmütig nennen, das habe ich überdies vor Tagen schon getan, wie ich ihn auch als schöpferisch zu kennzeichnen vermöchte, denn Schaffen und Schöpfung ist nur möglich in einem durch und durch positiven Verhalten, und so stimmt auch das überein; schließlich wäre ein solches Leben, wo jeder Augenblick so bedeutend wie möglich sein soll, auch noch jenes »Leben im Sinne der maximalen Forderung«, das ich mir manchmal als die seelische Ergänzung zu der wortkargen Entschlossenheit der wirklichen Wissenschaft vorgestellt habe. Aber ob maximal, großmütig, schöpferisch oder bedeutsam, wesenhaft oder ganz, wie mache ich es, daß meine Empfindungen für Professor Lindner so seien? Das ist die Frage, zu der es zurückzukehren heißt, das Experimentum crucis, der Kreuzweg! Mir fällt ein, daß ich ihm die Möglichkeit abgesprochen habe, an Agathe teilzunehmen. Warum? Weil Teilnahme, ja schon Verständnis, niemals durch ein »Sich in den anderen Hineinversetzen« möglich ist, sondern nur in der Weise, daß man gemeinsam an etwas Größerem teilhat. Auch ich vermag nicht die Kopfschmerzen meiner Schwester mitzuempfinden; aber ich finde mich mit ihr in einen Zustand versetzt, wo es keinen Schmerz gibt oder wo auch der Schmerz die schwebenden Flügel der Seligkeit hat!
Ich bezweifle es, ich sehe die Übertreibung darin. Aber vielleicht geschieht das nur, weil ich nicht der Ekstase fähig bin?
Zu Lindner müßte ich mich auch ungefähr so verhalten, als wäre ich mit ihm in Gott verbunden. Es genügt auch schon ein kleineres Ganzes wie die Nation oder irgendeine andere Bruderschaft. Wenigstens genügt es, um mir mein Verhalten vorzuzeichnen. Selbst eine gemeinsame Idee genügt. Es muß bloß etwas neues Lebendiges sein, das nicht bloß Lindner und ich ist. So lautet ja auch die Antwort auf Agathes Frage, was ein Widerspruch zweier Bücher bedeute, die man beide liebt: niemals eine Rechnung, ein Abwägen, sondern er bedeutet ein drittes Lebendiges, das beide Seiten in sich hüllt. Und so war das Leben, das mir immer, wenn auch selten deutlich, vor Augen stand: Die Menschen verbunden, ich mit den Menschen verbunden durch irgendetwas, das uns auf unsere hundert Abneigungen verzichten macht. Die Widersprüche und Feindseligkeiten, die es zwischen uns gibt, kann man nicht verleugnen, aber man kann sie sich »aufgehoben« denken, so wie der starke Strom einer Flüssigkeit aufhebt, was er auf seinem Weg trifft. Zwischen den Menschen gäbe es dann gewisse Empfindungen nicht, und andere gäbe es. Alle unmöglichen ließen sich zusammenfassen als neutrale und negative; als kleinliche, nagende, verengende, niedrige, aber auch als gleichgültige oder bloß in den notwendigen Beziehungen wurzelnde. So sind die verbleibenden groß, schwellend, fordernd, beschwert, bejahend, steigend: Ich kann das in der Eile nicht ausreichend beschreiben, aber es stak wie ein Traum in der Tiefe meines Körpers, und habe ich nicht am Ende einfach alle Menschen und das Leben lieben wollen?! Ich mit meinen Armen, meinen bis zur Bösartigkeit trainierten Muskeln wäre im Grund nichts als liebebedürftig und liebestoll? Ist das die Geheimformel meines Lebens?
Ich kann mir das vorstellen, wenn ich phantasiere und an die Welt und an die Menschen denke, aber nicht, wenn ich an Lindner denke, den bestimmten, lächerlichen, den Mann, den Agathe morgen vielleicht wieder besucht, um mit ihm zu besprechen, was sie mit mir nicht bespricht. Also bleibt übrig? Daß es zwei ungefähr zu trennende Gruppen von Gefühlen gibt, die ich jetzt wieder nur als positive und negative Zustände bezeichnen möchte, ohne sie damit zu bewerten und bloß nach einer Eigentümlichkeit ihrer Erscheinung; obwohl ich den einen dieser beiden Gesamtzustände aus tiefer (das heißt auch: gut verborgener) Seele liebe. Und es bleibt Wirklichkeit, daß ich mich jetzt in diesem Zustand fast dauernd befinde, und Agathe auch! Vielleicht ist das ein großer Versuch, den das Schicksal mit mir vorhat. Vielleicht ist alles, was ich versucht habe, nur dazu da gewesen, daß ich dieses erlebe. Aber ich fürchte auch, daß sich in allem, was ich bis jetzt zu sehen vermeine, ein Zirkelschluß verbirgt. Denn ich will nicht – wenn ich nun auf das ursprüngliche Motiv zurückgreife – aus dem Zustand der »Bedeutung« hinaus, und wenn ich mir sagen will, was Bedeutung sei, so komme ich immer wieder nur auf den Zustand, wie ich bin, und wie ich jetzt bin, das ist eben, daß ich aus einem bestimmten Zustand nicht hinaus will! So glaube ich nicht, die Wahrheit zu sehen, aber bloß subjektiv ist, was ich erlebe, gewiß auch nicht, es greift mit tausend Armen nach der Wahrheit. Es könnte mir deshalb wahrhaftig als eine Suggestion erscheinen. Alle meine Gefühle sind ja merkwürdig gleichartig oder gleichgerichtet, und die widerstrebenden sind ausgeschaltet, und ein solcher Affektzustand, der das Handeln einheitlich regelt, ist gerade das, was als das Hauptstück einer Suggestion angesehen wird. Aber kann etwas eine Suggestion sein, dessen Vorankündigung, dessen erste Spur ich beinahe mein ganzes Leben zurück zu verfolgen vermag?! Also bleibt übrig? Es ist meist Einbildung und nicht Wirklichkeit; ich müßte, wenn es auch nicht Suggestion ist, beinahe daraus schließen, daß es beginnende Überwirklichkeit sei.


52.
Die drei Schwestern


Ulrich fragte: »Was willst du von mir, meine Kleider, meine Bücher, mein Haus, meine Aussichten auf die Zukunft? Was soll ich dir schenken? Ich möchte dir alles geben, was ich habe.«
Agathe erwiderte: »Schneide dir einen Arm für mich ab oder wenigstens einen Finger!«
Sie hielten sich zu ebener Erde im Besuchszimmer auf, dessen hohe, schmale, oben runde Fenster das junge, weiche Vormittagslicht vermischt mit Baumschatten in den spiegelnden Fußboden fallen ließen. Blickte man an sich hinunter, so war das ähnlich auszunehmen, als erblickte man unter seinen Füßen den entfärbten Himmel mit Helligkeit und Wolken durch ein bräunliches Glas. Die Geschwister hatten sich so sehr zurückgezogen, daß kaum noch die Gefahr bestand, sie könnten durch einen Besuch gestört werden.
»Du bist zu bescheiden!« fuhr Ulrich fort. »Verlange doch mein Leben! Ich glaube, daß ich es für dich von mir streifen könnte. Aber Finger? Ich muß bekennen: ein Finger, das liegt mir gar nicht!«
Er lachte. Seine Schwester mit ihm; aber ihr Gesicht behielt doch den Ausdruck des Menschen, der einen anderen über etwas scherzen sieht, das ihm selbst ernst ist.
Nun kehrte Ulrich den Spieß um: »Wenn man liebt, schenkt man, man ›behält nichts für sich‹, man will nichts allein besitzen: warum willst du Lindner für dich allein besitzen?« fragte er.
»Ich besitze ihn doch überhaupt nicht!« erwiderte Agathe.
»Du besitzt deine heimlichen Gefühle für ihn und deine heimlichen Gedanken über ihn. Deinen Irrtum über ihn!«
»Und warum schneidest du dir denn nicht einen Arm ab?!« fragte Agathe herausfordernd.
»Wir werden ihn abschneiden« gab nun Ulrich zur Antwort. »Aber im Augenblick frage ich mich noch, welches Leben daraus entstehen müßte, wenn ich wirklich alle Selbstigkeit aufgäbe, und die andren ebenso täten? Alle sich selbst mit allen gemeinsam hätten nicht nur den Eßnapf und das Bett, sondern wirklich sich selbst, so daß jeder den Nächsten liebte wie sich selbst und keiner sich selbst am nächsten wäre.«
Agathesagte: »Irgendwiemüßtedasmöglichsein.«
»Kannst du dir denken, daß du einen Geliebten mit einer andern Frau gemeinsam hättest?« fragte Ulrich.
»Ich kann es mir denken« behauptete Agathe.
»Ich kann es mir sogar sehr schön denken! Ich kann mir bloß die Frau dazu nicht denken.«
Ulrich lachte.
Agathe machte eine abwehrende Bewegung dagegen. »Ich habe eine besondere persönliche Abneigung gegen Frauen« sagte sie.
»Eben! Eben! Und ich liebe Männer nicht!« Agathe war ein wenig beleidigt durch seinen Spott, weil sie fühlte, daß er nicht unberechtigt war, und sie sagte das nicht mehr, was sie zu sagen vorgehabt hatte.
Ulrich begann in die entstehende Leere hinein, um sie aufzumuntern, etwas zu erzählen, das er in dem abgelenkten Zustand während des Rasierens unlängst zusammengeträumt hatte: »Du weißt doch, daß es Zeiten gab, wo vornehme Damen,« sagte er »wenn ihnen ein Sklave gefiel, diesen verschneiden lassen konnten, so daß sie an ihm ihre Lust hatten, aber die Vornehmheit ihrer Nachkommenschaft nicht gefährdeten.«
Agathe wußte es nicht, aber sie zeigte das nicht. Dagegen erinnerte sie sich nun, einmal gelesen zu haben, daß bei irgendwelchen ungesitteten Völkern jede Frau auch alle Brüder ihres Mannes mit heirate und ihnen in allem dienen müsse, und jedesmal wenn sie sich solche sklavische Erniedrigung vorstellte, zog sie ein unwilliger, und doch nicht ganz unwillkommener, Schauder zusammen. Aber auch davon zeigte sie ihrem Bruder nichts.
»– Ob so etwas oft vorgekommen ist oder nur als Ausnahme, weiß ich nicht, das spielt auch keine Rolle,« war Ulrich unterdessen fortgefahren »denn ich habe, wie ich jetzt wohl gestehen muß, nur an den Sklaven gedacht. Ich habe, genau gesagt, an den Augenblick gedacht, wo er zum erstenmal das Krankenlager verläßt und der Welt wieder gegenübersteht. Zunächst wird sich natürlich der am Eingang der Ereignisse erstarrte Wille zur Auflehnung und Abwehr wieder regen und auftauen. Aber dann muß das Bewußtsein kommen, daß es zu spät ist. Der Zorn will sich empören, aber da kommen nacheinander hinzu: Erinnerung an erlittenen Schmerz, feiges Erwachen einer Angst, der bloß das Bewußtsein entzogen worden war, schließlich jene Demut, die unwiderruflich gewordene Demütigung bedeutet, und diese Gefühle halten jetzt den Zorn nieder, so wie man den Sklaven selbst niedergehalten hat, während man den Eingriff an ihm vornahm.« Ulrich unterbrach diese sonderbare Darstellung und suchte nach Worten, seine Augenlider waren nachdenklicherweise gesenkt. »Bloß körperlich könnte er sich ja zweifellos ermannen,« fuhr er fort »aber eine merkwürdige Beschämung wird ihn daran hindern, es zu tun, denn er muß erkennen, daß es in einer alles umfassenden Weise zwecklos ist, er ist ja kein Mann mehr, er ist in ein mädchenhaftes Dasein erniedrigt, in das Dasein eines Gebrauchsgegenstands, irgendwelcher Wesen, die, nicht ohne Zärtlichkeit, dienen dürfen. Ich möchte den Augenblick kennen, wo er dann, zum erstenmal wieder, vor seine Peinigerin gerufen wird und das, was sie mit ihm vorhat, in ihren Augen liest …«
Agathe lächelte spöttisch auf. »Recht seltsame Gedanken hast du dir gemacht, Ulo! Und wenn ich denke, daß dein Sklave vor seiner Entmannung vielleicht ein Metzger oder fescher Hausdiener gewesen ist –?«
Ulrich lachte harmlos mit. »Dann fände ich wohl selbst meine Schilderung seiner Seelenerweckung beunruhigend komisch« gab er zu. Er war selbst froh darüber, daß diesem anrüchigen Gefühlsbericht ein Ende bereitet werde. Denn es mußte ihm wohl unversehens verschiedenes in den Kopf gekommen sein, was nicht dahin gehörte: so als ob etwas von den mythologischen, ihre Anbeter verzehrenden Göttinnen oder den Siamesischen Zwillingen bis zum Masochismus oder zum Kastrationskomplex mit dem Fingernagel über das zweifelhafte Tastenwerk der zeitgenössischen Seelenlehre gefahren wäre! Als er zu lachen aufhörte, machte er unvermittelt ein erbittertes Gesicht.
Agathe legte die Hand auf seinen Arm. In ihren grauen Augen zuckten die winzigen Schatten einer verhohlenen Erregung. »Aber warum hast du mir das erzählt?« fragte sie.
»Ich weiß nicht« sagte Ulrich.
»Ich glaube, du hast an mich gedacht« behauptete sie.
»Unsinn!« wehrte Ulrich ab, und nach einer Weile fragte er: »Weißt du, daß heute wieder ein Brief von Hagauer gekommen ist?« und begann scheinbar damit von etwas anderem zu sprechen.
Die Briefe Hagauers, die damals eintrafen, wurden von einem zum andern bedrohlicher. »Ich verstehe nicht, warum er sich unter diesen Umständen nicht auf die Bahn setzt und herkommt, um eine Aufklärung zu erzwingen« fuhr Ulrich fort.
»Er wird keine Zeit dazu finden« sagte Agathe. Und so verhielt es sich auch. Hagauer war anfangs einigemal dazu entschlossen gewesen, aber da war jedesmal etwas dazwischen gekommen, und dann hatte er sich etwas an das Alleinsein gewöhnt. Es schien ihm ganz gut zu sein, eine Weile ohne Frau zu leben: der Mann soll nicht allzu glücklich sein oder es allzu bequem haben, – es ist das eine herrische Lebensauffassung. So trat Hagauer seinem Mißgeschick tatkräftig entgegen und hatte die Genugtuung wahrzunehmen, daß nicht nur die Zeit Wunden zu heilen vermag, sondern auch der Zeitmangel. Das hinderte ihn aber natürlich nicht, in der Forderung fortzufahren, daß Agathe zurückkehre, ja er konnte sich dieser Ordnungsfrage mit dem ungestörten Verstande eines Mannes widmen, der die Kinder seines Gefühls zu Bett geschickt hat. Er nahm gründlich noch einmal Einsicht in alle Dokumente, die er wohlgeordnet aufbewahrte, und las Abend für Abend alle persönlichen Schreiben seines verstorbenen Schwiegervaters durch, ohne auch nur in einem dieser Schriftstücke eine Andeutung der Überraschung zu finden, mit der man ihm aufgewartet hatte. Und daß ein Mann, den er immer als Vorbild hatte verehren dürfen, im letzten Augenblick seinen Sinn geändert haben könnte oder durch Jahre sein Testament mit Nachlässigkeit nicht veränderten Umständen angepaßt haben sollte, erschien Hagauer desto unwahrscheinlicher, je öfter er die Bändchen gelöst und die Aufschriftzettel entfernt hatte, mit denen er seinen Briefwechsel und andere schriftliche Angelegenheiten in Ordnung hielt. Er vermied es, darüber nachzudenken, wie dann das Ergebnis zustande gekommen sei, das schließlich vorlag, und kam mit sich überein, daß irgendein Irrtum, irgendeine Flüchtigkeit, irgendeine schuldhafte oder schuldlose Fahrlässigkeit, irgendein advokatorischer Kniff dahinter stecken müsse. In dieser Auffassung, die es ihm erlaubte, sein Gemüt noch zu schonen, ohne darüber seine Zeit zu versäumen, begnügte er sich damit, genaue Aufstellungen und Belege zu fordern, und als diese nicht kamen, einen Rechtsanwalt zu Rate zu ziehn, denn er setzte nun als ordnungsliebender Mensch voraus, daß Agathe und Ulrich in ihrem verstockten Bestreben offenbar schon das gleiche getan haben müßten, und durfte nicht hinter ihnen zurückbleiben. Nun übernahm der Rechtsanwalt zunächst das Briefeschreiben und wiederholte die Forderung der Aufklärung und verband mit ihr die der Rückkehr Agathes, teils weil es Hagauer so wünschte, der das Verhalten seiner Frau auf den Einfluß ihres Bruders schob, teils weil es in dieser unklaren und vielleicht düsteren Angelegenheit gegeben zu sein schien, daß man sich zunächst an den sicheren Tatbestand des »böswilligen Verlassens« halte; das andere sollte der Zukunft und vorsichtiger Auswertung der sich ergebenden Angriffspunkte überlassen bleiben.
Von da an las Ulrich wieder die gegnerischen Briefe und verbrannte sie nicht. Sooft er aber seither seiner Schwester vorhielt, daß es unaufschiebbar werde, sich gleichfalls rechtskämpferisch auszurüsten, hatte sie nichts davon wissen wollen, ja sie mochte nicht einmal seine Berichte anhören, und er hatte schließlich die ersten Schritte sogar ohne sie tun müssen, bis zuletzt sein eigener Rechtsanwalt darauf bestand, daß er Agathe selbst hören und seine Vollmachten von ihr empfangen müsse. Das war es, was ihr Ulrich jetzt mitteilte, alles auf einmal und hinzufügend, daß es ein recht unangenehmer juristischer Brief sei, was er zunächst schonend bloß ein »Schreiben Hagauers« genannt hatte. »Es ist wahrscheinlich sogar unvermeidlich und unversehens höchste Zeit geworden, daß wir unserem Anwalt mit aller Vorsicht und Zurückhaltung etwas von der gefährlichen Geschichte des Testaments anvertraun« verkündete er.
Agathe sah ihn lange und unentschlossen mit einem von innen geblendeten Blick an, ehe sie ihm darauf leise die Worte: »Das habe ich nicht gewollt …!« zur Antwort gab.
Ulrich führte mit den Armen eine entschuldigende Bewegung aus und lächelte. Er verstand ihre verzagte Abwehr. Es ließ sich im Feuer der Güte leben auch ohne Brandstiftung, und der verbrecherische Kunstgriff, den sie am Vermächtnis ihres Vaters vorgenommen hatte, war längst überflüssig geworden; aber er war eben geschehn und ließ sich nicht ändern, ohne daß man sich bloßstellte! Doch war es nicht nur das, was Agathe beeinflußte. Sie war aufgestanden und hatte sich zwischen den Gegenständen des Zimmers hin und her bewegt ohne zu sprechen, jetzt ließ sie sich schweigend auf einem entfernteren Platz nieder, und Ulrich wußte, daß sie auch ihn in das Schweigen zurückziehen wollte, das wie eine Ruhematte aus lauter kleinen Flammenspitzen war. Was er mitgeteilt hatte, so wichtig es sein mochte, erschien nun als Ausflucht, und ein süßes Martertum forderte sein Herz zurück.
Ähnlich wie in der Musik oder im Gedicht, an einem Krankenlager oder in einer Kirche war der Kreis dessen, was ausgesprochen werden konnte, eigenartig eingeengt, und es hatte sich in ihrem Verkehr deutlich ein Unterschied zwischen Gesprächen herausgebildet, die statthaft waren, und solchen, die man nicht führen konnte. Es geschah aber nicht durch Feierlichkeit oder sonst eine gehobene Erwartung, sondern hatte seinen Ursprung scheinbar außerhalb des Persönlichen. Sie zögerten beide. Was sollte das nächste Wort sein, was sollten sie tun? Die Unsicherheit glich nun einem Netz, worin sich alle unausgesprochenen Worte gefangen hatten: Das Geflecht bog sich wohl auseinander, aber sie vermochten nicht hindurchzubrechen, und in diesem Wortmangel schienen Blicke und Bewegungen weiter zu reichen als sonst, und die Umrisse, Farben und Flächen ein unaufhaltsames Gewicht zu haben: eine geheime Hemmung, die sonst in der Anordnung der Welt liegt und der Tiefe der Sinne Grenzen setzt, war schwächer geworden oder setzte zeitweilig aus. Und unabwendbar kam dann der Augenblick, wo das Haus, darin sie sich befanden, einem Schiff glich, das auf eine unendliche, nur dieses Schiff widerspiegelnde Einöde hinausgleitet: die Geräusche der Ufer werden immer schwächer, und schließlich erstirbt alle Bewegung; die Gegenstände werden dann ganz stumm und verlieren die unhörbare Stimme, mit der sie den Menschen ansprechen; die Worte fallen, ehe sie noch gedacht sind, wie kranke Vögel aus der Luft und ersterben; das Leben hat nicht einmal mehr die Kraft, die kleinen, flinken Entschlüsse hervorzubringen, die so wichtig wie unbedeutend sind: aufzustehen, einen Hut zu nehmen, eine Tür zu öffnen oder etwas zu sagen. Zwischen dem Haus und der Straße lag dann plötzlich ein Nichts, durch das weder Agathe noch Ulrich hindurch konnten, aber im Zimmer war der Raum zu einem höchsten Glanz geschliffen, der geschärft und gebrechlich wie alles Höchstvollendete war, wenn ihn das Auge auch nicht unmittelbar wahrnahm. Das war die Angst der Liebenden, die auf der Höhe des Gefühls nicht mehr wußten, welche Richtung aufwärts und welche abwärts führt. Sahen sie jetzt einander an, so konnte sich das Auge in süßer Qual nicht von dem Anblick zurückziehen, den es sah, und versank wie in einer Blumenwand, ohne auf Grund zu stoßen.
»Was mögen jetzt die Uhren machen?« fiel Agathe mit einemmal ein und erinnerte sich an den kleinen, idiotischen Sekundenzeiger von Ulrichs Uhr mit seinem genauen Vorrücken den engen Kreis entlang; die Uhr stak in der Tasche unter dem letzten Rippenbogen, als wäre dort die letzte Rettungsstelle der Vernunft, und Agathe sehnte sich danach, sie hervorzuziehen. Ihr Blick löste sich von dem ihres Bruders: wie schmerzhaft war dieser Rückzug! Sie fühlten beide, daß es hart ans Komische streifte, dieses gemeinsame Schweigen unter dem Druck eines schweren Berges von Seligkeit oder Ohnmacht. Und plötzlich sagte Ulrich, ohne daß er sich vorher überlegt hätte, gerade das zu sagen: »Die Wolke des Polonius, die bald als Schiff, bald als Kamel erscheint, ist nicht die Schwäche eines nachgiebigen Höflings, sondern bezeichnet ganz und gar die Art, in der uns Gott geschaffen hat!«
Agathe konnte nicht wissen, was er meine; aber weiß man es immer bei einem Gedicht? Wenn es gefällt, öffnet es die Lippen und macht lächeln, und Agathe lächelte. Sie war schön mit den geschwungenen Lippen, aber Ulrich hatte dabei Zeit, und nach und nach besann er sich auf das, was er gedacht hatte, ehe er das Schweigen brach. Natürlich hatte er viel gedacht. Er hatte sich zum Beispiel vorgestellt, Agathe trage eine Brille. Damals galt eine Frau mit einer Brille noch als komisch und sah wirklich zum Lachen oder auch bedauerlich aus; aber es bereitete sich auch schon die Zeit vor, wo sie damit, wie noch heute, unternehmungslustig, ja geradezu jung aussah. Dem liegen die fest erworbenen Gewohnheiten des Bewußtseins zugrunde, die wechseln, aber in irgendeiner Verbindung immer da sind und die Schablone bilden, durch die alle Wahrnehmungen hindurchgehn, ehe sie zu Bewußtsein kommen, sodaß in gewissem Sinn immer das Ganze, das man zu erleben glaubt, die Ursache von dem ist, was man erlebt. Und selten macht man sich eine Vorstellung davon, wie weit das reicht und daß es von schön und häßlich, von gut und böse, wo es noch natürlich zu sein scheint, daß des einen Morgenwolke des anderen Kamel sei, über bitter und süß oder duftig und übelriechend, die schon etwas Sachliches haben, bis zu den Sachen selbst reicht mit ihren genau und unpersönlich zugewiesenen Eigenschaften, deren Wahrnehmung scheinbar ganz unabhängig von geistigen Vorurteilen ist, und es in Wahrheit nur zum großen Teil ist. In Wahrheit ist das Verhältnis der Außenzur Innenwelt nicht das eines Stempels, der in einem empfangenden Stoff sein Bild prägt, sondern das eines Prägstocks, der sich dabei deformiert, so daß sich seine Zeichnung, ohne daß ihr Zusammenhang zerrisse, zu merkwürdig verschiedenen Bildern verändern kann. Also daß auch Ulrich, wenn er zu denken vermochte, daß er Agathe mit einer Brille vor sich sehe, ebenso denken konnte, daß sie Lindner oder Hagauer liebe, daß sie seine »Schwester« sei oder »das zwillinghaft halb mit ihm vereinte Wesen«, und keinmal war es eine andere Agathe, die vor ihm saß, sondern ein anderes Dasitzen, eine andere sie umschließende Welt, so wie eine durchsichtige Kugel, die in ein unbeschreibliches Licht taucht. Und es schien ihnen beiden, daß der tiefste Sinn des Halts, den sie aneinander suchten und den überhaupt ein Mensch an andern sucht, darin liege. Sie glichen ja zwei Menschen, die Hand in Hand aus dem Kreis, der sie fest umschlossen hat, hinausgetreten sind, ohne schon in einem anderen Kreis zu Hause zu sein. Darin lag etwas, das sich den gewöhnlichen Begriffen des Zusammenlebens nicht unterordnen ließ.