Vorabdrucke

Musil, Robert: Leona. (Aus der Vorarbeit zu einem Roman).

In: Literaria-Almanach [Jg. 1]. Wien: Literaria Verlag 1921, S. 66-72. {Kapitel 6} {MoE1_Kapitel6_Leona_LiterariaAlmanach1-7}
{ÖNB-Sign.:Neu Mag 541857-B}


Musil, Robert: Ein herausgerissenes Blatt.


In: Prager Presse vom 15. August 1926 [Dichtung und Welt, S. 3-4.
{Kapitel 6}{MoE1_Kapitel6_EinherausgerissenesBlatt_PragerPresse1-2}
{ÖNB-Sign.: Neu Mik MF 308}


Musil, Robert: Die beiden Geliebten. (Bild aus einem Roman).

In: Prager Presse vom 9. Mai 1923, S. 2-3. {Kapitel 6} {Kapitel 12} {MoE1_Kapitel6_12_DiebeidenGeliebten_PragerPresse1}
{ÖNB-Sign.: Neu Mik MF 308}


Musil, Robert: Kakanien. Ein Fragment.

In: Der Tag [Wien] vom 8. April 1928, S. 4-5. {Kapitel 8}
{MoE1_Kapitel8_Kakanien_DerTag1-2}
{ÖNB-Sign.: Neu Mag 545783-B}


Musil, Robert: Kakanien.

In: Deutsche Zeitung Bohemia [Prag] vom 13. Oktober 1929, S. 4-5. {Kapitel 8}
{kein Digitalisat vorhanden}
{ÖNB-Sign.: Neu Per 394190-D.101.1928- }


Musil, Robert: Der Mädchenmörder.

In: Das Tage-Buch. [Berlin] Jg. 11 (1930), Heft 23 (7. Juni)], S.903-912. {Kapitel 18} {MoE1_Kap18_DerMädchenmörder_DasTagebuch1-6}
{ÖNB-Sign.: Neu Per 534150-B.1930}


Musil, Robert: Bruchstück (Ein Kapitel aus seinem neuen Roman).

In: Die Literarische Welt. [Berlin] vom 30. April 1926, H. 18, S. 1 und S. 4-5.
[S. 137, 140 und 141 im Jahresband 1926 nach dem Kraus-Reprint 1973] {Kapitel 24} {MoE1_Kapitel24_Bruchstück_DieLiterarischeWelt1-3}
{Musil-Institut,Sign.: III 93128 2.1926}


Musil, Robert: Kleine Szene.

In: Berliner Tageblatt vom 8. Juni 1930 [Morgenausgabe], S. 2-3. {Kapitel 29} {Kapitel 31} {MoE1_Kap29_31_Kleine Szene_BerlinerTageblatt}
{ÖNB-Sign.: Neu Per 541546-E}


Musil, Robert: Es wird Musik gemacht.

In: Der Tag [Wien] vom 30. April 1930, S. 18. {Kapitel 38} {MoE1_Kap38_EswirdMusikgemacht_DerTag}
{ÖNB-Sign.: Neu Mag 545783-B}


Musil, Robert: Die Entdeckung der Familie.

In: Berliner Tageblatt vom 11. April 1926 [Morgenausgabe]. {Kapitel 99} {MoE1_Kapitel12_DieEntdeckungderFamilie_MagdeburgischeZeitung1-2}
{Staatsbibliothek zu Berlin: ZDB-89142- 3}



Leona (Aus der Vorarbeit zu einem Roman)


Instinktiv liebte Anders das Tempo, dieses Zeichen der kommenden Zeit. Vierzehn Tage verlumpen, vierzehn Tage rasende Arbeit, acht Tage rasender Sport. Alles auf ein enges Blickfeld abgeblendet wie eine Autolaterne.

Nach einer Weile kam seine Geliebte, Leontine, von ihm Leona genannt. Sie war Liedersängerin, Variété.

Groß, schlank, voll; junonisch, aber nicht in dem gebräuchlichen Sinn, der unter Juno eine hochgewachsene Amme meint.

Sie war ihm aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen. Durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts. Sie sah aus wie eine große schmachtende Frau aus dem Jahre siebzig.

Sie sah aus wie eine Frau nach den Bildern Makarts; wie das Mädchen mit den großen aufgerissenen Augen aus der Radierung jener Zeit, die seine Mutter sehr geliebt hatte; wie Scheffels Herzogin in der Seele des Lesers, als sie Ekkehard über die Schwelle des Klosters trug.

Ihm fiel sogleich eine ganze Wohnung ein. Rot-blau-braune Teppiche und Portièren, ein wie mit Mehl angerührtes Licht, Wedel aus Pfauenfedern und Schilfkolben, Möbel mit tausend gedrehten Säulchen und Zacken. Das war eine Spießbürgersinnlichkeit, die auf dem Maskenball Sultan und Suleika spielte. Durch und durch feig und verlogen. Aber –: das ganze Leben lang!

Wie soll man das bewerten?

Anders lag auf dem Diwan und dachte an die schöne Leona. Wie eine Löwin war sie – vom Kürschner ausgestopft. So war auch die Zeit seiner Mutter. Die Zeit also, der er selbst entsprang.

Warum sollte man eigentlich feig und verlogen sein, wenn man über der Sehnsucht ein Kostüm trägt und sich sonst benimmt wie ein Mensch der Gegenwart? Kann man überhaupt mehr tun? Er begriff die Dezenz jener Zeit, die sich türkische Hosen anzog, ohne zuzulassen, daß man daraus Konsequenzen ableite.
Auch bei Leona stand auf dem Zettel: Dezentes Familienprogramm.

Es ist geradezu unheimlich, wie wenig entfernt man von Zeiten ist, die man tief verachtet. Damals zog man seine Sinnlichkeit an, heute denkt man sie; und glaubt wesentlich mehr Kraft und Aufrichtigkeit zu beweisen.

Wenn Anders sich in Leonas Gesicht hineindachte, so bemerkte er darin eine Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Er witterte die Bedeutung solcher anachronistischer Gesichter:

Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen. Aber je eine wird vom Zeitgeschmack emporgehoben, glücklich gemacht. Schönheit. Alle anderen Gesichter suchen sich ihr anzugleichen und selbst ganz häßlichen gelingt das zuweilen mit Hilfe von Frisur und Kleidern. Nur jenen unglücklichen nicht, in denen sich ausdrücklich ein anderes Schönheitsideal ausprägt, ein abgesetztes, unterworfenes und in die Sklaverei verschlepptes.

Solche Gesichter zur Unzeit sind so hilflos und pervers! Bevor Anders darauf kam, hatte er es abstoßend gefunden, wie Leona allein auf der Bühne stand, groß und verlassen bis in die Knochen, und mit einer unpassenden Stimme unpassende Lieder sang, richtige Lieder voll bürgerlicher Sentimentalität nämlich, als hätte man eine beliebige Frau und Mutter vom Sonntagsnachmittagsspaziergang weg und da herauf geholt. Seltsamerweise findet sich diese Programmnummer in allen Variétés. Leona sang die ihre mit unendlicher Leidenschaftslosigkeit in ein Publikum hinein, das für sie nicht zu existieren schien; sie las sie aus einem unsichtbaren Buch ab, aber mit falscher Empfindung.

Anders freute sich auf Leona.

Ihr Vater war ein kleiner braver Mann gewesen und hatte sie geprügelt, wenn sie mit Verehrern ging. Das tat sie oft, aber warum, das war nicht zu begreifen. Daß sie unsinnlich war, könnte man nicht behaupten, aber wenn es erlaubt ist, möchte man sagen, sie war sinnlich unglaublich arbeitsscheu. Anders behauptete, in ihrem ausgedehnten Körper brauche jeder Reiz so lange, bis er das Gehirn erreiche, daß manchmal erst mitten am Tag ihre Augen zu zergehen begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt an der Zimmerdecke gerichtet gewesen waren. Oder sie begann unaufhaltsam über einen Scherz zu lachen, den man am Vortag gemacht hatte, weil sie ihn jetzt erst entdeckte.

Sie war durchaus anständig, die Unanständigkeiten, die ihr Beruf von ihr forderte, löste sie wie eine Schulaufgabe, bei der man im Können genügend und im Fleiß lobenswert erhält.

Sie hatte nur eine Leidenschaft und diese band sie sklavisch an Anders, seit er sie herausbekommen hatte: sie war in einem ungewöhnlichen Maß gefräßig.

Es war die Sehnsucht, die sie als armes kleines Mädchen, das sich nicht zu helfen vermag, nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; jetzt lebte sie sie aus. Sie tat es mit der ganzen Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen hat. Selbst jetzt gelang es ja nicht immer ohne Schwierigkeit. Männer erraten schwer und wollen von einer Frau, die sie sich abends aus dem Tingel-Tangel holen, etwas ganz andres, als ihr essen zusehen; sie aber wollte nicht enden, sie hätte am liebsten die ganze Nacht durchgegessen, wenn man am Morgen rasch die ganze Liebesrechnung in großer Münze hätte bezahlen können, statt in der zeitraubenden Konventionseinheit, worin eine größere Dankbarkeit mehrere Stunden verlangt.

So ging es nicht immer ohne tiefere menschliche Konflikte ab. Sie mußte Ausflüchte suchen und es ist klar, daß der Mann, wenn die Geliebte während der ganzen Nacht nicht vom Tisch aufstehen und heimgehen will, sich verraten und einer Intrigantin zum Opfer gefallen glaubt. Er kann diese weibliche Seele nicht begreifen und ahnt in seiner gewöhnlichen Psychologie einen dritten; einigemale wäre sie sogar beinahe durchgeprügelt worden.

Ihre Dankbarkeit für Anders, der ihr zu essen gab, was sie sich nur erträumen mochte, war grenzenlos. Sie verlängerte ihren Aufenthalt in der Stadt, indem sie unter immer schlechteren Bedingungen von einem Engagement ins nächste überging, wenn sie sich an dem Ort, wo sie war, nicht mehr länger halten konnte, und sie war ihm so treu wie ein Magen, der unmöglich etwas Neues aufnehmen kann, wenn er von einem erfüllt ist, was man sonst von keinem anderen Organ der Liebe zu behaupten vermag.

Anders hatte, wie immer an dem einzigen Sonntag der Woche, vom Traiteur zwei große Körbe, gefüllt mit auserwählten Eßwaren und Leckerbissen, holen lassen. Die Körbe waren eigens für den Zweck und Leonas Fassungsvermögen gebaut worden, ausgekleidet mit Porzellan, aber auch mit Aluminiumgeschirr, um, was nötig war, am elektrischen Apparat wärmen zu können.

Als Leona kam, durfte sie hineinsehen; hineinzugreifen wurde ihr wie immer verwehrt. Denn dann bekam sie ein ganz kleines Körbchen mit ganz gemeinen belegten Brötchen umgehängt und wurde aus der Wohnung hinausgedrängt.

Unten stand das Auto. Fahrt aus der Stadt. Leona hatte viel zu fragen nach dem Inhalt der Körbe.

Dann kam ein Fußmarsch. Drei, vier, manchmal auch sechs Stunden weit. Anders vor oder hinter Leona, fast nie neben ihr und stets schweigend. Er gab sich hin an Luft, Bewegung, Aussetzen der Gedanken; sein Kopf war wie ein leer laufendes Mühlrad, das Leonas nie endende Rede wie ein plätschernder Bach trieb. Wenn sie aufhörte, schrak er auf und antwortete irgend etwas; wenn sie wieder sprach, wußte er nach einer halben Minute nicht mehr, was.

Leona liebte diese Ausflüge, weil sie ihr Teint und Figur erhielten; dann auch, weil sie die süße Qual eines Opfers hatten, das sie ihrer Eßlust brachte. Am Abend war ihr Appetit wie neugeboren und ihr Körper glich dort, wo seine Wollust saß, dem einer Jungfrau.

Anders schämte sich, wenn sie so dahinzogen, daß es sein Feiertagsvergnügen sein sollte, mit dieser seelisch verunreinigten Person sich zu zeigen. Er ging durch Gottes Natur und führte ein Schwein an der Leine. Gab es nicht andere Frauen? Dieser junge Idealist traute dem nicht, was er darüber wußte.

Was er darüber wußte, war, daß es wunderbare Menschen geben müsse, die Frauen waren. Daß es Erlebnisse geben müsse wie Beethovensche Musik. Mit riesigen Pinseln in einem flammend dünnen Material entworfen; die Entzauberung von Stein und Bein. Er behauptete aber, die Sehnsucht sei eine Sache für sich und die Wirklichkeit eine andere. Die Ideale seien nicht ein unerreichbar vollkommener Grad der Wirklichkeit, dem man zustreben oder den man mit der Erbsünde verloren haben könne, sondern ganz etwas anderes. Das Leben ist eine ungewöhnlich lange Straße, welche durch die einander fremdesten Gegenden und Zonen führt. Die Tiere, welche auf ihr ziehen, haben im Süden mit ihrer Nahrung tropischen Samen gefressen und setzen ihn im Norden mit ihrem Kot ab oder umgekehrt und plötzlich blüht irgendwo fremde Pracht auf, eine wunderbare, vom Himmel gefallene Vegetation. Er war hartnäckig darin, daß Wunder, Sehnsucht, Ideale, Begeisterung, Größe irgendwie auf eine solche Weise entstehen müssen; indirekt so wie ein Schafsdarm immer ein Schafsdarm bleibt, auch wenn er präpariert ist und mit einem Bogen gekratzt wird, dennoch ist er dann eine Beethovensche Violinmelodie und eine Quelle der Seeligkeit. Er vermochte es bloß noch nicht treffend ausauszudrücken, aber er war sicher, daß mit seiner Auffassung ein neuer Idealismus anbrechen müsse, der das zwischen falsche Gegensätze eingespannte menschliche Leben grad biegen werde. Er wiederholte sich trotzdem, daß er Leona nie mehr versprochen habe als wenige Wochen, daß sie dann ein Geschenk bekommen würde und die Stadt verlassen müsse.

Er brachte sie zur Vorstellung ins Variété, gab dem Bühnendiener ein Trinkgeld, dem überdies eine Ergreiferprämie versprochen war, damit er verhindere, daß Leona vor der Zeit Nahrung zu sich nehme, und setzte sich in eine Loge. Sie sang nie so süß und leidenschaftlich wie an diesem Hungertage und in die Töne ihrer Sehnsucht nach dem verbotenen Genuß mischte sich echt deutsche Schalkhaftigkeit, weil sie wußte, ihre Prüfung sei nun bald zu Ende.

Zuhause durfte Leona das Mieder ablegen und wurde gefüttert. Dies bestand darin, daß sie eine Viertelstunde lang von allen Speisen gleichzeitig aß, ohne zu reden, bis sie rot im Gesicht wurde und ihre Augen glänzten. War ihre schmerzende Leidenschaft, daß noch irgend etwas Ungekostetes vorhanden sein könnte, danach gestillt, so kam eine Zeit, wo sie gleichzeitig sprach und aß und Anders benützte sie, um die nötigen Mengen Getränke in das Mädchen hineinfließen zu lassen. So kam unvermittelt der dritte Teil, wo sie nicht mehr konnte und nur noch wollte. Durch schwarzen Kaffee oder mit Sekt vermischtes Porterbier wurde künstlich für eine kleine Weile die Aufnahmsfähigkeit wieder hergestellt und Anders, der selbst immer mäßig blieb, reizte sie jetzt mit Überraschungen, die er ihr bis dahin verborgen hatte. Wenn sie ganz voll war mit fremden Sachen, wie eine Schachtel, die kaum mehr zusammenhält, sah sie aus wie eine bloß etwas erhitzte und aufgeregte Bürgersfrau und begann, um sich Luft zu schaffen, ihre sentimentalen Lieder zu singen. Leid, Liebe, Treue, Verlassenheit, Sultan, Suleika, der blasse Sklave, Waldesrauschen und Forellenblinken strömten ihr aus Mund und Augen, wenn sie nicht gerade eine arge Zote von sich gab, die so unanständig war, wie es bloß jemand sein kann, dem die geschlechtlichen Beziehungen weder im Guten, noch im Bösen auch nur das geringste bedeuten. Anders saß da, halb erstickt in der Atmosphäre ihres Lebens und unheimlich angeregt. Ihr Bauch ringelte sich wie eine dicke Katze und die göttliche Schönheit ihres Anblickes kämpfte sich wie ein Regenbogen zuweilen durch den Höllendreck dieses noch möglichen Grades menschlicher Entstellung hindurch.
Am Morgen packte er sie in einen Wagen und ließ sie acht Tage lang nicht vor seine Augen. Er hatte sie für die Wochentage in einem berühmten Restaurant eingekauft, wofür sie ihm treu war, ohne daß er sich darum zu kümmern brauchte.


Ein herausgerissenes Blatt


Sie hieß Leontine und war Liedersängerin in einem Variété; sie war groß, schlank und voll, aufreizend leblos, und er nannte sie Leona.

Sie war dem jungen Mann aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen, durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts und durch die sittlichen Lieder, welche sie an Stelle von unzüchtigen sang; denn alle diese altmodischen kleinen Gesänge hatten Liebe, Leid, Treue, Verlassenheit, Waldesrauschen und Forellenblinken zum Inhalt, und wenn dazwischen kleine sittliche Gewagtheiten unterliefen, so wirkten sie in solcher Umgebung merkwürdig schemenhaft. Leona stand groß und bis in die Knochen verlassen auf der kleinen Bühne und sang das mit der Stimme einer Hausfrau geduldig ins Publikum, was um so gespenstischer wirkte, als sie die tragischen und neckischen Gefühle des Herzens mit mühsam buchstabierten Gebärden unterstützte. Sie erinnerte ihn sofort an alte Photographien oder an schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter, ja sie kam ihm ebenso künstlich und verschollen vor, wie diese, und während er sich in ihr Gesicht hineindachte, bemerkte er darin eine ganze Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen; aber je eines wird vom Zeitgeschmack emporgehoben und zu Glück und Schönheit gemacht, während alle anderen Gesichter sich dann diesem anzugleichen suchen, und selbst häßlichen gelingt das ungefähr, mit Hilfe von Frisur und Mode, und nur jenen zu seltsamen Erfolgen geborenen Gesichtern gelingt es niemals, in denen sich das königliche und vertriebene Schönheitsideal einer früheren Zeit ausprägt. Solche Gesichter wandern wie Leichen früherer Gelüste in der großen Wesenlosigkeit des Liebesbetriebs, und den Männern, die in die weite Langweile von Leontinens Gesang gafften und nicht wußten, was ihnen geschah, bewegten ganz andre Gefühle die Nasenflügel als vor den kleinen frechen Chanteusen mit den Tangofrisuren. Da beschloß er, sie Leona zu nennen, und ihr Besitz erschien ihm mit einemmal begehrenswert wie der eines vom Kürschner ausgestopften großen Löwenfells.

Nachdem aber ihre Bekanntschaft begonnen hatte, entwickelte Leona noch eine überraschende Eigenschaft: sie war nicht nur unzeitgemäß schön, sondern sie war auch unzeitgemäß gefräßig, denn das ist ein Laster, dessen große Ausbildungen heute nicht minder aus der Mode gekommen sind. Weiß Gott, woher sie es hatte; es war wohl die endlich befreite Sehnsucht, die sie als armes kleines Mädchen, das sich noch nicht zu helfen vermag, nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; nun besaß es die Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen hat. Ihr Vater war ein kleiner braver Mann gewesen, der sie schlug, so oft sie mit Verehrern ging; und das geschah zwar oft, aber warum, war nicht anders zu begreifen, als weil sie schon damals für ihr Leben gern in dem Vorgarten einer kleinen Konditorei saß und vornehm auf die Vorübergehenden blickend, in ihrem Eis löffelte. Denn daß sie unsinnlich gewesen sei, könnte man zwar nicht behaupten, aber sofern es erlaubt ist, wäre zu sagen, sie war wie in allem, so auch sinnlich unglaublich faul oder arbeitsscheu. In ihrem ausgedehnten Körper brauchte jeder Reiz solange, bis er das Gehirn erreichte, daß manchmal mitten am Tag ihre Augen ohne Grund zu zergehen begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt der Zimmerdecke gerichtet waren, als ob sie dort eine Fliege beobachteten. Auch begann sie manchmal mitten in voller Stille zu lachen, über einen Scherz, der ihr da erst aufging, während sie ihn einige Tage zuvor ruhig angehört hatte, ohne ihn zu verstehen. Sie war deshalb in normalem Ruhestande auch durchaus anständig und die Unanständigkeiten, welche ihr Beruf von ihr verlangte, löste sie (darin übrigens gleich vielen Menschen) wie eine Schulaufgabe, bei der das brave Kind im Können entsprechend und im Fleiß sehr aufmerksam erhielt.

Auf welche Weise sie überhaupt zum Variété gekommen war, konnte er niemals aus ihr herausbringen. Anscheinend wußte sie es selbst nicht mehr genau. Sie erzählte, daß sie schon in der Volksschule – die sie gemeinsam mit Kindern aus vornehmen Bürgerhäusern besuchte – von ihrem Lehrer ausgezeichnet worden sei, weil sie die Töne immer richtig auswendig wußte, und schimpfte auf die »schlampigen Menscher« im Variété, welche an nichts als ans – denken (sie sprach dieses Wort groß langsam und dunkel aus) und keine Ehre haben. Es war anzunehmen, daß sie den Beruf einer Liedersängerin, wie sie ihn ausübte, für einen notwendigen Teil des Lebens hielt und alles Beiläufige, aber Große, was sie von Kunst und Künstlern je gehört oder gelesen hatte, damit verband, so daß es ihr durchaus richtig, erzieherisch und vornehm vorkommen mochte, wenn sie allabendlich auf eine kleine von Zigarrendunst umwölkte Bühne hinaustrat und Lieder vortrug, deren ergreifende Geltung sie für eine feststehende Sache hielt. Das Merkwürdige und Unaufgeklärte scheint es ja nur zu sein, daß es diese sentimentalen Liedersängerinnen mit dezentem Familienprogramm selbst in den unanständigeren kleinen Variétés gibt, woraus für Leona, die ihre Tätigkeit überaus natürlich fand, eine gewisse Überlegenheit über den Freund erwuchs, der sie nicht verstand.

Allerdings, falls man es Prostitution nennt, wenn eine Frau ihren Leib vermietet, so betrieb Leona Prostitution. Aber das ist wahrhaftig eine Angelegenheit, die von oben betrachtet anders aussieht als von unten gesehen, und wenn man die Kleinheit der Taggelder kennt, die in solchen Singhöllen gezahlt werden, und die Preise der Toiletten und die Höhe der Abzüge und Abstriche, so erscheint es nicht nur unvermeidlich, daß Leona daneben auf einen vorteilhaften Handel mit ihren Galanteriewaren bedacht war, sondern es imponiert als eine Einrichtung, welcher die Festigkeit von Berufsehren und Standesgesetzen durchaus nicht ganz gebricht. Denn bekanntlich hängt die soziale Bewertung solcher Mietsverhältnisse sehr von ihrer Dauer ab, und Leona hielt nach Möglichkeit darauf, nur achtbare Verhältnisse auf Engagementsdauer einzugehn. Es kam natürlich zuweilen auch anders vor, aber sie liebte es nicht, mit einer Abendbekanntschaft das Souper im Lokal einzunehmen und anschließend daran das kleine nebenan gelegene Hotel aufzusuchen, obgleich sie davon Prozente bekam und durch ihren Appetit ein großes Talent auf diesem Nebengebiet ihrer Tätigkeit gewesen wäre; sie verachtete Kolleginnen, welche das taten und nahm an solchen Vergnügungen solange teil, bis sie einen Kavalier gefunden hatte, der sie dessen enthob.

Denn was sie liebte, war, in vornehmen Restaurants in vornehmer Haltung vor einer vornehmen Speisekarte zu sitzen. Sie begann dann damit, daß sie eine Viertelstunde lang von allen erreichbaren Speisen fast gleichzeitig aß, ohne zu reden, und erst wenn die vorläufige, schmerzende Leidenschaft, daß noch etwas Ungekostetes vorhanden sein könnte, gestillt war, lächelte sie, und es begann die Zeit, wo sie gleichzeitig sprach und aß. Das Mädchen benützte sie, um anregende Mengen von Getränken in sich hineinfließen zu lassen, stellte durch schwarzen Kaffee oder mit Sekt vermischtes Porterbier für eine Weile die Aufnahmsfähigkeit künstlich wieder her und reizte sich, indem Überraschungen hervorgesucht wurden, die sich bis dahin in der Speisekarte verborgen hatten. Gewöhnlich kam dann unvermittelt der dritte Teil, wo sie rot im Gesicht wurde, ihre Augen glänzten, und ihr Leib so voll vornehmer Sachen war, daß er kaum noch zusammenhielt. Dann war die Höhe ihres Daseins erreicht. Sie blickte träg strahlend um sich und sprach mit weggestrecktem Zeigefinger noch einmal die Namen der Kostbarkeiten aus, die sie verspeist hatte, und wenn sie dabei Polmone à la Torlogna sagte, streute sie es hin, wie ein anderer beiläufig erwähnt, daß er mit dem Fürsten gleichen Namens gesprochen habe. Es war der Ersatz für ein Leben, zu dem es ihr an Intelligenz und Willenskraft gebrach.

Zuweilen ließ er sie zu sich kommen und steigerte ihre Schwäche zum Exzeß. In solchen Augenblicken erschien sie ihm wie ein Urwesen, das, ganz noch ohne Artikulation durch Verstand und Gefühl, die Herrlichkeit der Welt durch den Verdauungskanal in sich aufnimmt. Ihr Stolz schwoll mit dem Bauche. Ihre Schönheit war nur noch darüber gestülpt wie eine halb abgehängte Maske. Leuchtete schließlich nur noch wie Fetzen eines Regenbogens, die sich über den Dunst von Trunkenheit und Speisen wölbten. Schob sich zusammen und war dann mit einemmal eine Juno, eine Kaiserliche Schönheit, ähnelte der Herzogin, welche Scheffels Eckehard über die Schwelle des Klosters trug, der Ritterin mit dem Falken am Handschuh, der schon bei Lebzeiten sagenumwobenen Kaiserin Elisabeth mit dem schweren Kranz von Haaren, einem ganzen populären Olymp von vornehmen Frauen, welche der Sphäre des gemeinen Begehrens entrückt, knapp jenseits ihrer Reichweite in der fragwürdigen Rolle von weiblichen Idealen stehen geblieben sind, und nun durch Leona zu dieser Sphäre wieder in Beziehung gesetzt wurden. Wenn Leona aber schließlich ganz voll war und man das Äußerste befürchten mußte, so stieg ihr Ehrgeiz plötzlich mit einer gewaltsamen Anstrengung auf den letzten Höhepunkt, und sie sang. Sang mitten in seinen Räumen; zwischen seinen Büchern; Lieder einer bürgerlichen Dame.

Solche Abende mit Leona, in Abständen wiederholt, waren wie ein herausgerissenes Blatt, in dessen Betrachtung man versinkt. Ein aus dem Zusammenhang gerissenes Blatt, reich an grotesken Andeutungen und Beziehungen, aber mumifiziert, wie es alles aus dem Zusammenhang Gerissene wird, wenn es andauert. Voll jener Tyrannis des Stehenbleibenden, die nicht etwa bloß in Überdruß endet, sondern den unheimlichen Reiz lebender Bilder gewinnt, als hätte das Leben plötzlich ein Schlafmittel erhalten, und nun steht es da, steif, voll Verbindung in sich, aber doch ungeheuer sinnlos im ganzen, das unendlich Bewegliche zum Begrenzten eingeschrumpft, unheimlich wie ein Einfall, der sich eingenistet hat und ohne gewaltsame Anstrengung nicht mehr abzuschütteln ist.


Die beiden Geliebten (Bild aus einem Roman)


Anders war einer der wenigen heute lebenden Philosophen, die noch zwei Geliebte besaßen.
Die eine dieser beiden Frauen hieß Leontine, von ihm Leona genannt; sie war Liedersängerin, Variété, groß, schlank und voll und aufreizend leblos. Sie war ihm aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen, durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts und durch die sittlichen Lieder, welche sie im Variété sang. Sie erinnerte ihn an die Frauen auf alten Photograpien aus der Zeit seiner Mutter oder in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter; er bemerkte, wenn er sich in ihr Gesicht hineindachte, darin eine ganze Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten, und doch dieses Gesicht ausmachten. Er witterte die Bedeutung solcher unzeitgemäßen Gesichter: es gibt zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen. Aber je eine wird vom Zeitgeschmack emporgehoben, glücklich gemacht, Schönheit. Alle anderen Gesichter suchen sich dann ihr anzugleichen, und selbst ganz häßlichen gelingt das zuweilen mit Hilfe von Hut, Frisur und Kleidern, nur jenen unglücklichen nicht, in denen sich stark ein anderes Schönheitsideal ausgeprägt hat, ein abgesetztes, jetzt unterworfenes und in die Sklaverei der Geringschätzung verschlepptes. Solche Gesichter zur Urzeit sind so hilflos und zum Mißbrauch geschaffen! Bevor Anders dahinter kam, hatte er es abscheulich gefunden, wie groß und bis in die Knochen verlassen Leona auf der kleinen Bühne stand und mit der Stimme einer Hausfrau ihre bürgerlichen Lieder sang, deren kleine, äußerst sittsame Gewagtheiten in dieser Umgebung umso gespenstischer wirkten, als sie die tragischen und neckischen Gefühle der Liebe mit mühsam buchstabierten Gebärden unterstützte. Endlich nützte er es aus. Es hatte ihn einiges Nachdenken gekostet, wie man diese Erscheinung mißbrauchen solle, um den dunklen Antrieben zu genügen, die sie auslöste. Aber einmal fiel ihm ein, daß Leonas Schönheit fürchterlich groß war wie eine Löwin und dann sehe man, daß es eigentlich ein vom Kürschner ausgestopftes Löwenfell sei: er stopfte ihre Schönheit aus und sah sie an.

Das geschah so: Leonas Vater war ein kleiner braver Mann und hatte sie geschlagen, wenn sie mit Verehrern ging. Das tat sie zwar oft, aber warum, war nicht zu begreifen. Denn daß sie unsinnlich gewesen sei, könnte man zwar nicht behaupten, aber wenn es erlaubt ist, möchte man sagen, sie war sinnlich unglaublich faul oder arbeitsscheu. Anders behauptete, in ihrem ausgedehnten Körper brauche jeder Reiz so lange, bis er das Gehirn erreiche, daß oft erst mitten am folgenden Tag ihre Augen zu zergehen begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt der Zimmerdecke gerichtet gewesen waren, als ob sie dort eine Fliege beobachteten. Es konnte ebensogut vorkommen, daß sie mitten in voller Stille zum erstenmal über einen Scherz zu lachen begann, den sie vor einigen Tagen gehört, aber jetzt erst verstanden hatte. Sie war daher in normalem Ruhestande auch durchaus anständig, und nur weil sie nicht arbeiten mochte, wollte sie nicht heiraten und nannte sich eine Künstlerin. Sie hatte bloß eine Leidenschaft, und diese band sie sklavisch an Anders, seit er sie herausbekommen hatte: sie war in einem ungewöhnlichen Maß gefräßig.

Es war die endlich befreite Sehnsucht, die sie als armes, kleines Mädchen, das sich nicht zu helfen vermag, nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; es bedeutete für sie die ganze Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen hat. Ihre Dankbarkeit für Anders, der ihr zu essen gab, was sie sich nur erträumen mochte, war grenzenlos, und Anders tat nichts anderes, als daß er ihr zu essen gab, soviel sie wollte, ja noch mehr. Er reizte durch große Spaziergänge ihre Eßlust; nach der Rückkehr wurde sie ins Variété gebracht, der Bühnendiener bekam eine Ergreiferprämie, damit sie nicht vor der Zeit esse, und Anders setzte sich in eine Loge. Sie sang nie so süß und leidenschaftlich wie an solchem Hungertage; in die Töne ihrer Sehnsucht nach dem verbotenen Genuß mischte sich deutsche Schalkhaftigkeit, weil sie wußte, ihre Prüfung sei nun bald zu Ende. Zu Hause durfte Leona dann das Mieder ablegen und wurde gefüttert. Dies begann damit, daß sie eine Viertelstunde lang von allen Speisen gleichzeitig aß ohne zu reden, bis sie rot im Gesicht wurde und ihre Augen glänzten. War ihre erste, schmerzende Leidenschaft, daß noch etwas Ungekostetes vorhanden sein könnte, gestillt, so kam eine Zeit, wo sie gleichzeitig sprach und aß, und Anders benützte sie, um die nötigen Mengen Getränke in das Mädchen hineinfließen zu lassen. So kam unvermittelt der dritte Teil, wo sie nicht mehr konnte und nur noch wollte. Durch schwarzen Kaffee oder mit Sekt vermischtes Portbier wurde künstlich für eine kleine Weile die Aufnahmsfähigkeit wieder hergestellt, und Anders, der selbst immer mäßig blieb, reizte sie jetzt mit Überraschungen, die er ihr bis dahin verborgen hatte. War sie ganz voll mit fremden Sachen wie eine Schachtel, die kaum noch zusammenhält, so sprach sie mit weggestrecktem Zeigefinger die Namen der Kostbarkeiten aus, die sie verspeist hatte; wenn sie Polmone à la Georgette sagte, streute sie es hin, wie ein anderer beiläufig erwähnt, daß er mit dem Fürsten X. gesprochen habe. Dann begann sie zu singen, und da sie Zeit ihres Lebens zu faul gewesen war, um andere Lieder zu lernen, als die sentimentalen, welche sie zum Geschäft brauchte, fingen Treue, Verlassenheit, Liebe, Leid, Forellenblinken und Waldesrauschen an, ihr aus dem vom Magen gedrückten Herzen zu strömen. Wenn sie endlich verstummte, weil alles schon gesungen war, lächelte sie ihn betrunken an wie eine Gattin, die ihre Zufriedenheit ausdrücken möchte. Da ihr Ideal erreicht war, befiel sie eine leichte Enttäuschung. Er aber ließ sie in der vollen Hilflosigkeit dieses Erfüllungszustandes sitzen und lächelte ihr nur gleichfalls zu, halb erstickt in der Atmosphäre ihres Lebens. Er packte sie am Morgen in einen Wagen und ließ sie acht Tage lang, während deren er sie in einem guten Restaurant eingekauft hatte, nicht vor seine Augen.

Während dieser Zeit besuchte ihn allerdings Valeria, seine schwermütige zweite Geliebte. Valeria war eine Frau, die man beinahe »hochanständig« nennen müßte; sie war zum Beispiel eine vorzügliche Mutter und die Gattin eines Obergerichtsrates. Sie hatte nur einen Fehler, daß sie in einem ungewöhnlichen Maße schon durch den Anblick von Männern erregbar war. Sie war durchaus nicht lüstern; sie war sinnlich wie andere Menschen leicht schwitzen, es war ihr wie ein Leiden angeboren und in einem Mädcheninstitut durch die Zärtlichkeiten und Gespräche der Freundinnen verstärkt worden, sie konnte nicht dagegen aufkommen. Er hatte sie Bonadea genannt, die gute Göttin, nach einer Göttin der Keuschheit, die in Rom ihren Tempel hatte, der später Sammelpunkt aller Ausschweifungen wurde. Schön und stattlich, mit einem gütigen Gesicht und sanfter, ein wenig zimperlicher Vornehmheit des Betragens, hatte sie eine ausgesprochene Vorliebe für das Gute, Wahre, Schöne und eine stille ideale Lebensführung im Kreise von Gatte und Kindern; es hinderte sie bloß ihre schreckliche Natur daran, welche sie zu Lügen und Entehrungen zwang, indem sie ihr allsogleich das Wasser bis in die Augen trieb, so sie einen Mann sah, zu dem sie – wie sie es auszudrücken pflegte – inklinierte. Man kann sich denken, was Anders, der in solchen Fragen die Grausamkeit zumindest der Jugend besaß, aus ihr machte, sobald er sie in die Hand bekam; er ließ sie wie die Teufelchen in der Flasche ohne Rast die Höhe zwischen Tugend und Verdammnis auf- und absteigen. Er verführte sie sogar zu Gesprächen über die Tugenden und die Seele, nur um mitten darin sie unter seinen Willen und böse Lust zu beugen, und sie machte ihm viel Vorwürfe. Wurde sie erregt, war sie ja melancholisch und gut; aber in dem Entsetzen nach jeder Schwäche, das sie ihre ganze Hilflosigkeit fühlen ließ, war sie voll Anklagen, daß sie mißbraucht werde, und gab die Schuld bald ihrem Mann, der sie am Gewissen haben sollte, bald Anders, dem sie die vornehme Gesinnung absprach, weil er sie nicht schone. Sie liebte nichts so sehr wie Dichtung oder Kunst, und ihrem Gatten, dem Obergerichtsrat, waren diese ganz gleichgültig, sie wäre ihm längst davongegangen, wenn nicht ein innerer Zwang, der ihr unbegreiflich erschien, sie daran gehindert hätte; die Nachwirkung immer wiederholter ehelicher Willfährigkeit hatte im Lauf der Jahre in ihr eine abnorme Willensabhängigkeit von dem durch die Umstände begünstigten Gatten erzeugt, den sie dafür verachtete. Aber sie dachte auch nicht im geringsten daran, sich von Anders Geschmack, der in den ihr so wichtigen Fragen der Dichtung und des Lebens ein tiefes und lebhaftes Urteil hatte, leiten zu lassen; im Gegenteil, auch von ihm war sie entsetzt, dessen Ideen sie unfein fand, aber sie redete sich ein, daß er besser sein müsse, als er sich gebe, weil er doch jung war und aus so gutem Hause kam. Und außerdem war Anders ein schöner Mensch, nicht allzugroß, schlank, außerordentlich kräftig, stets glatt rasiert; mit einem Blick, der den Frauen kalt und heiß versprach, ohne daß sein Besitzer im geringsten daran dachte.

Als Anders sich eines Tages fragte, was er mit diesen beiden Frauen tue, erschrak er ein wenig. Denn im Verhältnis zu beiden überwog das Abstoßende beiweitem die Anziehung, sowohl bei ihm wie bei ihnen. Manchmal, wenn sie vor ihm standen, mitten in seinem Zimmer, zwischen seinen Büchern, Geschöpfe, die er in sein Leben gerufen hatte, begann ihm fast vor ihnen unheimlich zu werden wie vor dem entsetzlichen Symptom einer Ieibhaft gewordenen fixen Idee. Sie waren ihm im Grunde scheußlich: war nicht anzunehmen, daß sie, selbst wenn sie es nicht wußten, es ihm mit Gleichem vergalten? Anders gab ihnen nicht Unrecht. Wäre er ein leichtsinniger junger Mann gewesen, so hätte man in dem, was er tat, wahrscheinlich nur eine gewisse moralische Frühreife zu erblicken gehabt, da man gewöhnt ist, den Mann der guten Gesellschaft erst nach seiner Verheiratung zu einer zweiten Frau in dauernde Beziehungen treten zu sehen; aber er war ein ernster und fester junger Mann und seine Leidenschaften erregten ihn ganz und gar nicht. Und wenn jemand sich ein Stück faulstinkenden Käses schmecken ließe, im vollen Bewußtsein dessen, was er tut, so wäre er entschieden ein perverser Mensch; bloß wenn er diese Perversität begeht ohne nachzudenken, weil sie auch alle anderen begehen und eben weil sie ihm schmeckt und gefällt, bleibt er innerhalb der Grenzen eines gesunden und naiven Genusses!


Textvergleich | Leona (Aus der Vorarbeit zu einem Roman)
Ein herausgerissenes Blatt
Sie6. Leona oder eine perspektivische Verschiebung

Wenn man sein Haus bestellt hat, soll man auch ein Weib freien. Ulrichs Freundin in jenen Tagen hieß Leontine und war Liedersängerin in einem Variétékleinen Varieté; sie war groß, schlank und voll, aufreizend leblos, und er nannte sie Leona.

Sie war dem jungen Mannihm aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen, durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts und durch die sittlichengefühlvollen Lieder, welchedie sie an Stelle von unzüchtigen sang; denn alle. Alle diese altmodischen kleinen Gesänge hatten Liebe, Leid, Treue, Verlassenheit, Waldesrauschen und Forellenblinken zum Inhalt, und wenn dazwischen kleine sittliche Gewagtheiten unterliefen, so wirkten sie in solcher Umgebung merkwürdig schemenhaft.. Leona stand groß und bis in die Knochen verlassen auf der kleinen Bühne und sang dassie mit der Stimme einer Hausfrau geduldig ins Publikum, was und wenn dazwischen doch kleine sittliche Gewagtheiten unterliefen, so wirkten sie um so gespenstischer wirkte, als siedieses Mädchen die tragischen undwie die neckischen Gefühle des Herzens mit den gleichen mühsam buchstabierten Gebärden unterstützte. Sie erinnerte ihnUlrich fühlte sich sofort an alte Photographien oder an schöne Frauen in verschollenen Jahrgängen deutscher Familienblätter, ja sie kam ihm ebenso künstlich und verschollen vor, wie diese erinnert, und während er sich in ihrdas Gesicht dieser Frau hineindachte, bemerkte er darin eine ganze Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen; aber je eines wird vom Zeitgeschmack emporgehoben und zu Glück und Schönheit gemacht, während alle anderen Gesichter sich dann diesem anzugleichen suchen,; und selbst häßlichen gelingt das ungefähr, mit Hilfe von Frisur und Mode, und nur jenen zu seltsamen Erfolgen geborenen Gesichtern gelingt es niemals, in denen sich das königliche und vertriebene Schönheitsideal einer früheren Zeit ausprägt.ohne Zugeständnisse ausspricht. Solche Gesichter wandern wie Leichen früherer Gelüste in der großen Wesenlosigkeit des Liebesbetriebs, und den Männern, die in die weite Langweile von Leontinens Gesang gafften und nicht wußten, was ihnen geschah, bewegten ganz andre Gefühle die Nasenflügel als vor den kleinen frechen Chanteusen mit den Tangofrisuren. Da beschloß erUlrich, sie Leona zu nennen, und ihr Besitz erschien ihm mit einemmal begehrenswert wie der eines vom Kürschner ausgestopften großen Löwenfells.

Nachdem aber ihre Bekanntschaft begonnen hatte, entwickelte Leona noch eine überraschendeunzeitgemäße Eigenschaft:, sie war nicht nur unzeitgemäß schön, sondern sie war auch unzeitgemäßin ungeheurem Maße gefräßig, dennund das ist ein Laster, dessen große Ausbildungen heute nicht minderAusbildung längst aus der Mode gekommen sind. Weiß Gott, woher sie es hatte; es war wohlist. Es war seinem Entstehen nach die endlich befreite Sehnsucht, die sie als armes kleines Mädchen, das sich noch nicht zu helfen vermag,Kind nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; nun besaß es die Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen und die Herrschaft an sich gerissen hat. Ihr Vater warschien ein ehrbarer kleiner braver MannBürger gewesen zu sein, der sie jedesmal schlug, so oftwenn sie mit Verehrern ging; und das geschah zwar oft, sie aber warum, war nicht anders zu begreifentat es aus keinem anderen Grund, als weil sie schon damals für ihr Leben gern in dem Vorgarten einer kleinen Konditorei saß und vornehm auf die Vorübergehenden blickend, in ihrem Eis löffelte. Denn daß sie unsinnlich gewesen sei, könntehätte man zwar nicht behaupten können, aber sofern es erlaubt ist, wäre zu sagen, daß sie war wie in allem, so auch sinnlich unglaublichdarin geradezu faul oderund arbeitsscheu war. In ihrem ausgedehnten Körper brauchte jeder Reiz solangewunderbar lange, bis er das Gehirn erreichte, und es geschah, daß manchmal mitten am Tag ihre Augen ohne Grund zu zergehen begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt der Zimmerdecke gerichtet waren, als ob sie dort eine Fliege beobachteten. Auch begannEbenso konnte sie manchmal mitten in voller Stille zu lachen, über einen Scherz zu lachen beginnen, der ihr da erst aufging, während sie ihn einige Tage zuvor ruhig angehört hatte, ohne ihn zu verstehen. Sie war deshalb in normalem Ruhestande auch durchaus anständig und die Unanständigkeiten, welche ihr Beruf von ihr verlangte, löste sie (darin übrigens gleich vielen Menschen) wie eine Schulaufgabe, bei der das brave Kind im Können entsprechend und im Fleiß sehr aufmerksam erhieltWenn sie keinen besonderen Grund zum Gegenteil hatte, war sie darum auch durchaus anständig. Auf welche Weise sie überhaupt zu ihrem Beruf gekommen war, war niemals aus ihr herauszubringen. Anscheinend wußte sie es selbst nicht mehr genau. Es zeigte sich bloß, daß sie die Tätigkeit einer Liedersängerin für einen notwendigen Teil des Lebens hielt und alles Große, was sie von Kunst und Künstlern je gehört hatte, damit verband, so daß es ihr durchaus richtig, erzieherisch und vornehm vorkam, allabendlich auf eine kleine, von Zigarrendunst umwölkte Bühne hinauszutreten und Lieder vorzutragen, deren ergreifende Geltung eine feststehende Sache war. Natürlich scheute sie dabei, wie es sein muß, um das Anständige zu beleben, auch keineswegs vor einer gelegentlich eingestreuten Unanständigkeit zurück, aber sie war fest überzeugt, daß die erste Sängerin der kaiserlichen Oper genau das gleiche tue wie sie.

Auf welche Weise sie überhaupt zum Variété gekommen war, konnte er niemals aus ihr herausbringen. Anscheinend wußte sie es selbst nicht mehr genau. Sie erzählte, daß sie schon in der Volksschule – die sie gemeinsam mit Kindern aus vornehmen Bürgerhäusern besuchte – von ihrem Lehrer ausgezeichnet worden sei, weil sie die Töne immer richtig auswendig wußte, und schimpfte auf die »schlampigen Menscher« im Variété, welche an nichts als ans – denken (sie sprach dieses Wort groß langsam und dunkel aus) und keine Ehre haben. Es war anzunehmen, daß sie den Beruf einer Liedersängerin, wie sie ihn ausübte, für einen notwendigen Teil des Lebens hielt und alles Beiläufige, aber Große, was sie von Kunst und Künstlern je gehört oder gelesen hatte, damit verband, so daß es ihr durchaus richtig, erzieherisch und vornehm vorkommen mochteFreilich, wenn sie allabendlich auf eine kleine von Zigarrendunst umwölkte Bühne hinaustrat und Lieder vortrug, deren ergreifende Geltung sie für eine feststehende Sache hielt. Das Merkwürdige und Unaufgeklärte scheint es ja nur zu sein, daß es diese sentimentalen Liedersängerinnen mit dezentem Familienprogramm selbst in den unanständigeren kleinen Variétés gibt, woraus für Leona, die ihre Tätigkeit überaus natürlich fand, eine gewisse Überlegenheit über den Freund erwuchs, der sie nicht verstand.

Allerdings, falls man es durchaus Prostitution nenntnennen will, wenn eine Frau ihren Leib vermietetein Mensch nicht, wie es üblich ist, seine ganze Person für Geld hergibt, sondern nur seinen Körper, so betrieb Leona gelegentlich Prostitution. Aber das ist wahrhaftig eine Angelegenheit, die von oben betrachtet anders aussieht als von unten gesehen, und wenn man durch neun Jahre, wie sie seit ihrem sechzehnten Jahr, die Kleinheit der Taggelder kennt, die in solchenden untersten Singhöllen gezahlt werden, und die Preise der Toiletten und der Wäsche im Kopf hat, die Höhe der Abzüge und Abstriche, so erscheint es nicht nur unvermeidlich, daß Leona daneben auf einen vorteilhaften Handel mit ihren Galanteriewaren bedacht war, sondern es imponiert als eine Einrichtung, welcher die Festigkeit von Berufsehren, den Geiz und die Willkür der Besitzer, die Perzente von Speis und Trank aufgemunterter Gäste und von der Zimmerrechnung des benachbarten Hotels, täglich damit zu tun hat, Zank darüber hat und kaufmännisch abrechnet, so wird das, was den Laien als Ausschweifung erfreut, zu einem Beruf, der voll Logik, Sachlichkeit und Standesgesetzen durchaus nicht ganz gebricht. Denn bekanntlich hängt die soziale Bewertung solcher Mietsverhältnisse sehr von ihrer Dauer ab, und Leona hielt nach Möglichkeit darauf, nur achtbare Verhältnisse auf Engagementsdauer einzugehn. Es kam natürlich zuweilen auch anders vor, aber sie liebte es nicht, mit einer Abendbekanntschaft das Souper im Lokal einzunehmen und anschließend daran das kleine nebenan gelegene Hotel aufzusuchen, obgleich sie davon Prozente bekam und durch ihren Appetit ein großes Talent auf diesem Nebengebiet ihrer Tätigkeit gewesen wäre; sie verachtete Kolleginnen, welche das taten und nahm an solchen Vergnügungen solange teil, bis sie einen Kavalier gefunden hatte, der sie dessen enthobist. Gerade Prostitution ist ja eine Angelegenheit, bei der es einen großen Unterschied macht, ob man sie von oben sieht oder von unten betrachtet.

Denn was sie liebte, war, in vornehmen RestaurantsAber wenn Leona auch eine vollkommen sachliche Auffassung der sexuellen Frage besaß, so hatte sie doch auch ihre Romantik. Nur hatte sich bei ihr alles Ueberschwängliche, Eitle, Verschwenderische, hatten sich die Gefühle des Stolzes, des Neides, der Wollust, des Ehrgeizes, der Hingabe, kurz die Triebkräfte der Persönlichkeit und des gesellschaftlichen Aufstiegs durch ein Naturspiel nicht mit dem sogenannten Herzen verbunden, sondern mit dem tractus abdominalis, den Eßvorgängen, mit denen sie übrigens in früheren Zeiten regelmäßig in Verbindung gestanden sind, was man noch heute an Primitiven oder an breit prassenden Bauern beobachten kann, die Vornehmheit und allerhand anderes, was den Menschen auszeichnet, durch ein Festmahl auszudrücken vermögen, bei dem man sich feierlich und mit allen Begleiterscheinungen überißt. An den Tischen ihres Tingeltangels tat Leona ihre Pflicht; aber wovon sie träumte, war ein Kavalier, der sie durch ein Verhältnis auf Engagementsdauer dessen enthob und ihr gestattete, in vornehmer Haltung vor einer vornehmen Speisekarte in einem vornehmen Restaurant zu sitzen. Sie begannhätte dann damit, daß sie eine Viertelstunde langam liebsten von allen erreichbarenvorhandenen Speisen fastauf einmal gegessen, und es bereitete ihr eine schmerzhaft widerspruchsvolle Genugtuung, gleichzeitig aß, ohne zu reden, und erst wenn die vorläufige, schmerzende Leidenschaft, daß noch etwas Ungekostetes vorhanden sein könnte, gestillt war, lächelte sie, und es begann die Zeit, wo sie gleichzeitig sprach und aß. Das Mädchen benützte sie, um anregende Mengen von Getränken in sich hineinfließenzeigen zu dürfen, daß sie wisse, wie man auswählen müsse und ein auserlesenes Menü zusammenstellt. Erst bei den kleinen Nachgerichten konnte sie ihre Phantasie gehen lassen, und gewöhnlich wurde in umgekehrter Reihenfolge ein ausgebreitetes zweites Abendbrot daraus. Leona stellte durch schwarzen Kaffee oder mit Sekt vermischtes Porterbier für eine Weile die Aufnahmsfähigkeit künstlichund anregende Mengen von Getränken ihre Aufnahmefähigkeit wieder her und reizte sich, indem durch Überraschungen hervorgesucht wurden, die sich bis dahin in der Speisekarte verborgen hatten. Gewöhnlich kam dann unvermittelt der dritte Teil, wo sie rot im Gesicht wurde, ihre Augen glänzten, und ihr , bis ihre Leidenschaft gestillt war. Dann war ihr Leib so voll vornehmer Sachen war, daß er kaum noch zusammenhielt. Dann war die Höhe ihres Daseins erreicht. Sie Sie blickte träg strahlend um sich und sprach mit weggestrecktem Zeigefinger noch einmal die Namen der , und obgleich sie niemals sehr gesprächig war, schloß sie in diesem Zustand gerne rückschauende Betrachtungen an die Kostbarkeiten ausan, die sie verspeist hatte, und wenn. Wenn sie dabei Polmone à la Torlogna oder Aepfel à la Melville sagte, streute sie es hin, wie ein anderer gesucht beiläufig erwähnt, daß er mit dem Fürsten oder dem Lord gleichen Namens gesprochen habe. Es war der Ersatz für ein Leben, zu dem es ihr an Intelligenz und Willenskraft gebrach.

Zuweilen ließ er sie zu sich kommen und steigerte ihre Schwäche zum Exzeß. In solchen Augenblicken erschien sie ihm wie ein Urwesen, das, ganz noch ohne Artikulation durch Verstand und Gefühl, die Herrlichkeit der Welt durch den Verdauungskanal in sich aufnimmt. Ihr Stolz schwoll mit dem Bauche. Ihre Schönheit war nur noch darüber gestülpt wie eine halb abgehängte Maske. Leuchtete schließlich nur noch wie Fetzen eines Regenbogens, die sich über den Dunst von Trunkenheit und Speisen wölbten. Schob sich zusammen und war dann mit einemmal eine Juno, eine Kaiserliche Schönheit, ähnelte der Herzogin, welche Scheffels EckehardWeil das öffentliche Auftreten mit Leona nicht gerade nach Ulrichs Geschmack war, verlegte er ihre Fütterung gewöhnlich in sein Haus, wo sie den Hirschgeweihen und Stilmöbeln zuspeisen mochte. Sie aber sah sich dadurch um die gesellschaftliche Genugtuung gebracht, und wenn der Mann ohne Eigenschaften durch die unerhörtesten Gerichte, die ein Garkoch liefern kann, sie zu einsamer Unmäßigkeit reizte, empfand sie sich genau so mißbraucht wie eine Frau, die bemerkt, daß sie nicht um ihrer Seele willen geliebt wird. Sie war schön und eine Sängerin, sie brauchte sich nicht zu verstecken, und jeden Abend hingen an ihr die Begierden einiger Dutzend Männer, die ihr recht gegeben haben würden. Dieser Mensch aber, obgleich er mit ihr allein sein wollte, brachte es nicht einmal fertig, ihr zu sagen: Jesus Maria, Leona, dein A... macht mich selig! und sich den Schnurrbart vor Appetit zu lecken, wenn er sie bloß ansah, wie sie es von ihren Kavalieren gewohnt war. Leona verachtete ihn ein bißchen, obgleich sie natürlich treu an ihm festhielt, und Ulrich wußte das. Er wußte übrigens wohl, was sich in Leonas Gesellschaft gehörte, aber die Zeit, wo er so etwas noch über die Lippen gebracht hätte und seine Lippen noch einen Schnurrbart trugen, lag zu weit zurück. Und wenn man etwas nicht mehr zuwege bringt, das man früher gekonnt hat, es mag noch so dumm gewesen sein, so ist das doch genau so, wie wenn der Schlagfluß in die Hand und in das Bein gefahren ist. Die Augäpfel schlotterten ihm, wenn er seine Freundin ansah, der Speise und Trank zu Kopf gestiegen waren. Man konnte ihre Schönheit vorsichtig von ihr abheben. Es war die Schönheit der Herzogin, die Scheffels Ekkehard über die Schwelle des Klosters trug,getragen hat, die Schönheit der Ritterin mit dem Falken am Handschuh, die Schönheit der schon bei Lebzeiten sagenumwobenen Kaiserin Elisabeth mit dem schweren Kranz von Haaren, einem ganzen populären Olymp von vornehmen Frauen, welche der Sphäre des gemeinen Begehrens entrückt, knapp jenseits ihrer Reichweite in der fragwürdigen Rolle von weiblichen Idealen stehen geblieben sind, und nun durch Leona zu dieser Sphäre wieder in Beziehung gesetzt wurden. Wenn Leona aber schließlich ganz voll war und man das Äußerste befürchten mußte, so stieg ihr Ehrgeiz plötzlich mit einer gewaltsamen Anstrengung auf den letzten Höhepunkt, und sie sang. Sang mitten in seinen Räumen; zwischen seinen Büchern; Lieder einer bürgerlichen Dame.

SolcheHaar, ein Entzücken für Leute, die alle schon tot waren. Und um es genau zu sagen, sie erinnerte auch an die göttliche Juno, aber nicht an die ewige und unvergängliche, sondern an das, was eine vergangene oder vergehende Zeit junonisch nannte. So war der Traum des Seins nur lose über die Materie gestülpt. Leona aber wußte, daß man für eine vornehme Einladung auch dann etwas schuldig ist, wenn sich der Gastgeber nichts wünscht, und daß man sich nicht bloß anglotzen lassen dürfe; so stand sie denn, sobald sie dessen wieder fähig war, auf und begann gelassen, aber mit lautem Vortrag zu singen. Ihrem Freund kamen solche Abende mit Leona, in Abständen wiederholt, warenvor wie ein herausgerissenes Blatt, in dessen Betrachtung man versinkt. Ein aus dem Zusammenhang gerissenes Blatt, reich an grotesken Andeutungen und Beziehungenbelebt von allerhand Einfällen und Gedanken, aber mumifiziert, wie es alles aus dem Zusammenhang Gerissene wird, wenn es andauert. Voll und voll von jener Tyrannis des nun ewig so Stehenbleibenden, die nicht etwa bloß in Überdruß endet, sondern den unheimlichen Reiz lebender Bilder gewinntausmacht, als hätte das Leben plötzlich ein Schlafmittel erhalten, und nun steht es da, steif, voll Verbindung in sich, aber scharf begrenzt und doch ungeheuer sinnlos im ganzen, das unendlich Bewegliche zum Begrenzten eingeschrumpft, unheimlich wie ein Einfall, der sich eingenistet hat und ohne gewaltsame Anstrengung nicht mehr abzuschütteln ist.Ganzen.


Kakanien.
Ein Fragment


… Es gibt eine Zeit, wo man sich unweigerlich einen Ort vorstellen muß, wo man fürs Leben gern sein möchte oder wenigstens einen Ort, auf den alle Kräfte der Gegenwart und Zukunft hinweisen, auch wenn man das Gefühl hat, daß man für seine Person nicht gerade gern dort wäre. Das ist nun schon seit langem eine Art überamerikanische Stadt, wo alles mit der Stoppuhr in der Hand eilt oder stillsteht. Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere; man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den andern, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig, in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus, miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben zu erledigen, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, die Vergnügungen sind in anderen Stadtteilen zusammengezogen und anderswo stehen wieder die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet. Spannung und Abspannung, Tätigkeit und Liebe werden zeitlich genau getrennt und nach gründlicher Laboratoriumserfahrung ausgewogen. Stößt man bei irgendeiner dieser Tätigkeiten auf Schwierigkeiten, so läßt man die Sache einfach stehen; denn man findet eine andere Sache oder gelegentlich einen besseren Weg oder ein anderer findet den Weg, den man verfehlt hat; das schadet gar nichts, während durch nichts so viel von der gemeinsamen Kraft verschleudert wird, wie durch die Anmaßung, daß man berufen sei, ein bestimmtes persönliches Ziel nicht locker zu lassen. In einem von Kräften durchflossenen Gemeinwesen führt jeder Weg an ein gutes Ziel, wenn man nicht zu lange zaudert und überlegt. Die Ziele sind kurz gesteckt; aber auch das Leben ist kurz, man gewinnt ihm so ein Maximum des Erreichens ab, und mehr braucht der Mensch nicht zu seinem Glück; denn was man erreicht, formt die Seele, während das, was man ohne Erfüllung will, sie nur verbiegt; für das Glück kommt es sehr wenig auf das an, was man will, sondern nur darauf, daß man es erreicht. Außerdem lehrt die Zoologie, daß aus einer Summe von reduzierten Individuen sehr wohl ein geniales Ganzes bestehen kann.

Solche Vorstellungen gehören zu den Reiseträumen, in denen sich das Gefühl der rastlosen Bewegung spiegelt, die uns mit sich führt. Sie sind oberflächlich, unruhig und kurz. Weiß Gott, was wirklich werden wird. Man sollte meinen, daß wir in jeder Minute den Anfang in der Hand haben und einen Plan für uns alle machen müßten. Wenn uns die Sache mit den Geschwindigkeiten nicht gefällt, so machen wir doch eine andere! Zum Beispiel eine ganz langsame, mit einem schleierig wallenden, meerschneckenhaft geheimnisvollen Glück und dem tiefen Kuhblick, von dem schon die Griechen geschwärmt haben. Aber so ist es ganz und gar nicht. Die Sache hat uns in der Hand. Man fährt Tag und Nacht in ihr und tut auch noch alles andere darin; man rasiert sich, man ißt, man liebt, man liest Bücher, man übt ungehindert seinen Beruf aus, als ob die vier Wände still stünden und das Unheimliche ist bloß, daß die Wände fahren, ohne daß man es merkt, und ihre Schienen vorauswerfen, wie lange, tastend gekrümmte Fäden, ohne daß man weiß wohin. Und überdies will man womöglich selbst noch zu den Kräften gehören, die den Zug der Zeit bestimmen. Das ist eine sehr unklare Rolle, und es kommt vor, wenn man nach längerer Reise hinaussieht, daß sich die Landschaft geändert hat; was da vorbeifliegt, fliegt vorbei, weil es nicht anders sein kann, aber bei aller Ergebenheit gewinnt ein unangenehmes Gefühl immer mehr Gewalt, als ob man über das Ziel hinausgefahren oder auf eine falsche Strecke geraten wäre. Und eines Tages ist das stürmische Bedürfnis da: aussteigen! abspringen! Ein Heimweh nach Angehaltenwerden, Nichtsichentwickeln, Steckenbleiben, Zurückkehren zu einem Punkt, der vor der falschen Abzweigung liegt! Und in der guten alten Zeit, als es Österreich noch gab, konnte man in solchem Falle den Zug der Zeit verlassen, sich in einen gewöhnlichen Zug einer gewöhnlichen Eisenbahn setzen und in die Heimat zurückfahren.

Dort, in Kakanien, diesem seither untergegangenen, unverstandenen, in so vielem ohne Anerkennung vorbildlichen Staat, gab es auch Tempo, aber nicht zuviel Tempo. So oft man in der Fremde an dieses Land dachte, schwebte vor den Augen die Erinnerung an die weißen, breiten, wohlhabenden Straßen aus der Zeit der Fußmärsche und Extraposten, die es nach allen Richtungen wie Flüsse der Ordnung, wie Bänder aus hellem Soldatenzwillich durchzogen und die Länder mit dem papierweißen Arm der Verwaltung umschlangen. Und was für Länder! Gletscher und Meer, Karst und böhmische Kornfelder gab es dort, Nächte an der Adria, zirpend von Grillenunruhe, und slowakische Dörfer, wo der Rauch aus den Kaminen wie aus aufgestülpten Nasenlöchern stieg und das Dorf zwischen zwei kleinen Hügeln kauerte, als hätte die Erde ein wenig die Lippen geöffnet, um ihr Kind dazwischen zu wärmen. Natürlich rollten auf diesen Straßen auch Automobile; aber nicht zuviel Automobile! Man bereitete die Eroberung der Luft vor, auch hier; aber nicht zu intensiv. Man ließ hie und da ein Schiff nach Südamerika oder Ostasien fahren; aber nicht zu oft. Man hatte keinen Weltwirtschafts- und Weltmachtsehrgeiz; man saß im Mittelpunkt Europas, wo die alten Weltachsen sich schneiden; die Worte Kolonie und Übersee hörte man an wie etwas noch gänzlich Unerprobtes und Fernes. Man entfaltete Luxus; aber beileibe nicht so überfeinert wie die Franzosen. Man trieb Sport; aber nicht so närrisch wie die Angelsachsen. Man gab Unsummen für das Heer aus; aber doch nur gerade soviel, daß man sicher die zweitschwächste der Großmächte blieb. Auch die Hauptstadt war um einiges kleiner als alle anderen größten Städte der Welt, aber doch um ein erkleckliches größer als alle Hauptstädte zweiten Ranges. Und verwaltet wurde dieses Land in einer aufgeklärten, wenig fühlbaren, alle Spitzen vorsichtig beschneidenden Weise von der besten Bureaukratie Europas, welcher man nur einen Fehler nachsagen konnte: sie empfand Genie und geniale Unternehmungssucht an Privatpersonen, welche nicht durch hohe Geburt oder einen Staatsauftrag dazu privilegiert waren, als vorlautes Benehmen und Anmaßung. Aber wer ließe sich gerne von Unbefugten dreinreden! Und in Kakanien wurde überdies immer nur ein Genie für einen Lümmel gehalten, aber niemals wie anderswo schon der Lümmel für Genie.

Überhaupt, dieses versunkene Kakanien! Es war kaiserlich-königlich, wie es kaiserlich und königlich war; es bedurfte trotzdem einer Geheimwissenschaft, um unterscheiden zu können, welchen Einrichtungen und Menschen die Buchstaben k. k. und welchen die Buchstaben k. u. k. gebührten, aber eines von beiden Zeichen trug jede Sache und Person. Es nannte sich schriftlich Österreichisch-Ungarische Monarchie und ließ sich mündlich Österreich rufen, mit einem Namen also, den es mit feierlichem Staatsschwur abgelegt hatte, aber in allen Gefühlsangelegenheiten beibehielt, zum Zeichen, daß Gefühle eben so wichtig sind, wie Staatsrecht und Vorschriften nicht den wirklichen Lebensernst bedeuten. In diesem Land war die Verfassung liberal, aber es wurde klerikal regiert. Es wurde klerikal regiert, aber man lebte freisinnig. Vor dem Gesetz waren alle Bürger gleich, aber nicht alle waren eben Bürger. Man hatte ein Parlament, welches so gewaltigen Gebrauch von seiner Freiheit machte, daß man es gewöhnlich geschlossen hielt. Man hatte einen Notstandsparagraph, mit dessen Hilfe man ohne das Parlament auskam, aber jedesmal, wenn alles sich schon über den Absolutismus freute, ordnete die Krone an, daß nun wieder parlamentarisch regiert werden müsse. Es gab eben Geheimnisse in diesem Staat, und zu diesen gehörten auch jene nationalen Kämpfe, welche mit Recht die Neugierde Europas auf sich zogen und heute ganz falsch dargestellt werden. Sie waren so heftig, daß ihretwegen die Staatsmaschine mehrmals im Jahr stockte und stillstand, aber in den Zwischenzeiten und Staatspausen kam man ausgezeichnet miteinander aus und tat, als ob nichts gewesen wäre. Und es war auch nichts Wirkliches gewesen. Es hatte sich bloß die Abneigung jedes Menschen gegen die Bestrebungen jedes anderen Menschen, in der wir heute alle einig sind, in diesem Staat schon früh und man kann sagen, zu einem sublimierten Zeremoniell ausgebildet, das noch große Folgen hätte haben können, wenn seine Entwicklung nicht durch eine Katastrophe vor der Zeit unterbrochen worden wäre.

Denn nicht nur die Abneigung gegen den Mitbürger war dort bis zum Gemeinschaftsgefühl gesteigert, sondern es nahm auch das Mißtrauen gegen die eigene Person und deren Schicksal den Charakter tiefer Selbstgewißheit an. Man handelte in diesem Land – und mitunter bis zu den höchsten Graden der Leidenschaft und ihren Folgen – immer anders als man dachte oder dachte anders als man handelte. Unkundige Beobachter haben das für Liebenswürdigkeit oder gar für Schwäche des ihrer Meinung nach österreichischen Charakters gehalten. Aber das war falsch, und es ist immer falsch, die Erscheinungen in einem Land einfach mit dem Charakter seiner Bewohner zu erklären. Denn ein Landesbewohner hat mindestens neun Charaktere, einen Berufs-, einen National-, einen Staats-, einen Klassen-, einen geographischen, einen Geschlechts-, einen bewußten, einen unbewußten und vielleicht auch noch einen privaten Charakter; er vereinigt sie in sich, aber sie lösen ihn auf, und er ist eigentlich nichts als eine kleine, von diesen vielen Rinnsalen ausgewaschene Mulde, in die sie hineinsickern und aus der sie wieder austreten, um mit anderen Bächlein eine andere Mulde zu füllen. Deshalb hat jeder Erdbewohner auch noch einen zehnten Charakter, und dieser ist nichts als die passive Phantasie unausgefüllter Räume; er gestattet dem Menschen alles, nur nicht das eine: das ernst zu nehmen, was seine mindestens neun anderen Charaktere tun und was mit ihnen geschieht; also mit anderen Worten, gerade das nicht, was ihn ausfüllen sollte. Dieser, wie man zugeben muß, schwer zu beschreibende Raum ist in Italien anders gefärbt und geformt als in England, weil das, was sich von ihm abhebt, andere Farbe und Form hat, und ist doch da und dort der gleiche, eben ein leerer, unsichtbarer Raum, in dem die Wirklichkeit darin steht wie eine von der Phantasie verlassene kleine Steinbaukastenstadt.

Soweit das nun überhaupt aller Augen sichtbar werden kann, war es in Kakanien geschehen, und darin war Kakanien, ohne daß die Welt es schon wüßte, der vorgeschrittenste Staat; es war der Staat, der sich selbst irgendwie nur noch mitmachte, man war negativ frei darin, ständig im Gefühl der unzureichenden Gründe der eigenen Existenz und von der großen Phantasie des Nichtgeschehenen oder doch nicht unwiderruflich Geschehenen wie von dem Hauch der Ozeane umspült, denen die Menschheit entstieg.

Es ist passiert, sagte man dort, wenn andere Leute anderswo glaubten, es sei wunders was geschehen; das war ein eigenartiges, nirgendwo sonst im Deutschen oder einer anderen Sprache vorkommendes Wort, in dessen Hauch Tatsachen und Schicksalsschläge so leicht wurden wie Flaumfedern und Gedanken. Ja, es war, trotz vielem, was dagegen spricht, vielleicht doch ein Land für Genies; und wahrscheinlich ist es daran auch zugrunde gegangen.


Der Mädchenmörder


Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlichkeit.

Moosbrugger war ein Zimmermann, ein großer, breitschultriger Mensch ohne überschüssiges Fett, mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und gutmütig starken Pranken. Gutmütige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus seinem Gesicht, und hätte man sie nicht gesehen, so hätte man sie doch gerochen, an dem derben, biederen, trockenen Werktagsgeruch, der zu dem Vierunddreißigjährigen gehörte und vom Umgang mit Holz und einer Arbeit kam, die ebensoviel Bedachtsamkeit wie Anstrengung fordert.

Man blieb wie eingewurzelt stehen, wenn man diesem von Gott mit allen Zeichen der Güte gesegneten Gesicht zum ersten Mal begegnete, denn Moosbrugger war gewöhnlich von zwei bewaffneten Justizsoldaten begleitet und hatte die eng aneinander gebundenen Hände vor dem Leib, an einem starken stählernen Kettchen, dessen Knebel einer seiner Begleiter hielt.

Wenn er bemerkte, daß man ihn ansah, zog über sein breites, gutmütiges Gesicht mit dem ungepflegten Haar und dem Schnurrbart samt der dazugehörigen Fliege ein Lächeln; er hatte einen kurzen schwarzen Rock mit hellgrauen Beinkleidern an, seine Haltung war breitbeinig und militärisch, aber dieses Lächeln war es, was die Berichterstatter des Gerichtssaals am meisten beschäftigt hatte. Es mochte ein verlegenes Lächeln sein oder ein verschlagenes, ein ironisches, heimtückisches, schmerzliches, irres, blutrünstiges unheimliches –: sie tasteten ersichtlich nach widersprechenden Ausdrücken und schienen in diesem Lächeln verzweifelt etwas zu suchen, das sie offenbar in der ganzen redlichen Erscheinung sonst nirgends fanden.

Denn Moosbrugger hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet. Die Berichterstatter hatten genau eine vom Kehlkopf bis zum Genick reichende Halswunde, ebenso wie zwei Stichwunden in der Brust, welche das Herz durchbohrten, die zwei in der linken Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste beschrieben, die man fast abheben konnte; sie hatten ihren Abscheu davor ausgedrückt, aber sie hörten nicht auf, bevor sie fünfunddreißig Stiche im Bauch gezählt und die fast vom Nabel bis zum Kreuzbein reichende Schnittwunde erklärt hatten, die sich in einer Unzahl kleinerer den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuren trug. Sie fanden von solchen Schrecknissen den Weg zu Moosbruggers gutmütigem Gesicht nicht zurück, obgleich sie selbst gutmütige Menschen waren und trotzdem das Geschehene sachlich, fachkundig und sichtlich in atemloser Spannung beschrieben. Selbst von der nächstliegenden Erklärung, daß man einen Geisteskranken vor sich habe – denn Moosbrugger war wegen ähnlicher Verbrechen schon einigemale in Irrenhäusern gewesen –, machten sie wenig Gebrauch, obgleich ein guter Berichterstatter sich heute in solchen Fragen trefflich auskennt; es sah so aus, als sträubten sie sich vorläufig noch, auf den Bösewicht zu verzichten und das Geschehnis aus der eigenen Welt in die der Kranken zu entlassen, worin sie mit den Psychiatern übereinstimmten, die ihn schon ebensooft für gesund wie für unzurechnungsfähig erklärt hatten. Und es ereignete sich des weiteren auch das Merkwürdige, daß die krankhaften Ausschreitungen Moosbruggers, als sie noch kaum bekannt geworden waren, schon von tausenden Menschen, welche die Sensationsgier der Zeitungen tadelten, als »endlich einmal etwas Interessantes« empfunden wurden; von eiligen Beamten wie von vierzehnjährigen Söhnen und durch Haussorgen umwölkten Gattinnen. Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als vom eigenen Lehrberuf. Ja, es mochte sich ereignen, daß in diesen Tagen beim Zubettgehen ein korrekter Herr Sektionschef oder ein Bankprokurist zu seiner schläfrigen Gattin sagte: »Was würdest du jetzt anfangen, wenn ich ein Moosbrugger wäre…«

Ulrich war, als sein Blick auf dieses Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen traf, rasch umgekehrt, hatte einen Wachsoldaten des nahegelegenen Landesgerichts einige Zigaretten geschenkt und nach dem Konvoi gefragt, der erst vor kurzem das Tor verlassen haben mußte; so erfuhr er – –: doch so muß derartiges sich wohl früher abgespielt haben, da man es oft in dieser Weise berichtet findet, und Ulrich glaubte beinahe selbst daran, aber die zeitgenössische Wahrheit war, daß er alles bloß in der Zeitung gelesen hatte. Es dauerte noch lange, ehe er Moosbrugger persönlich kennenlernte, und ihn vorher leibhaftig zu sehen, gelang ihm nur einmal während der Verhandlung. Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Belanglosere im Wirklichen.

Was Ulrich auf diesem Wege von der Geschichte Moosbruggers erfuhr, war ungefähr das folgende:

Moosbrugger war als Junge ein armer Teufel gewesen, ein Hüterbub in einer Gemeinde, die so klein war, daß sie nicht einmal eine Dorfstraße hatte, und er war so arm, daß er niemals mit einem Mädel sprach. Er konnte Mädels immer nur sehen; auch später in der Lehre und dann gar auf den Wanderungen. Nun braucht man sich ja bloß vorzustellen, was das heißt. Etwas, wonach man so natürlich begehrt wie nach Brot oder Wasser, darf man immer nur sehen. Man begehrt es nach einiger Zeit unnatürlich. Es geht vorüber, die Röcke schwanken um seine Waden. Es steigt über einen Zaun und wird bis zum Knie sichtbar. Man hört es lachen, dreht sich rasch um und sieht in ein Gesicht, das so reglos rund wie ein Erdloch ist, in das eben eine Maus schlüpfte.

Man könnte also verstehen, daß Moosbrugger schon nach dem ersten Mädchenmord sich damit verantwortete, daß er stets von Geistern verfolgt werde, die ihn bei Tag und Nacht riefen. Sie warfen ihn aus dem Bett, wenn er schlief, und störten ihn bei der Arbeit; dann hörte er sie tags und nachts miteinander sprechen und streiten. Das war keine Geisteskrankheit, und Moosbrugger mochte es nicht leiden, wenn man derart davon sprach; er putzte es freilich selbst manchmal mit Erinnerungen an geistliche Reden auf oder legte es nach den Ratschlägen des Simulierens an, die man in den Gefängnissen erhält, aber das Material dazu war immer bereit; bloß etwas verblaßt, wenn man nicht gerade darauf achtete.

So war es auch auf den Wanderschaften gewesen. Im Winter ist für einen Zimmermann schwer Arbeit zu finden, und Moosbrugger lag oft wochenlang auf der Straße. Nun ist man tageweit gewandert, gelangt in den Ort und findet kein Unterkommen. Muß bis spät in die Nacht weitermarschieren. Für eine Mahlzeit hat man kein Geld, so trinkt man Schnaps, bis hinter den Augen zwei Kerzen leuchten und der Körper allein geht. In der »Station« will man nicht um ein Nachtlager bitten, trotz der warmen Suppe, teils wegen des Ungeziefers und teils wegen der kränkenden Schererei; so bettelt man lieber ein paar Kreuzer zusammen und kriecht einem Bauern ins Heu. Ohne ihn zu bitten, natürlich, denn was soll man erst lang fragen und sich doch nur beleidigen lassen. Am Morgen gibt das freilich oft Streit und Anzeigen wegen Gewalttätigkeit, Vagabondage und Bettelei, und schließlich ergibt es einen immer dicker werdenden Band solcher Vorstrafen, den jeder neue Richter wichtigtuerisch aufmacht, als ob Moosbrugger darin erklärt wäre.

Und wer denkt daran, was es heißt, sich tage- und wochenlang nicht richtig waschen zu können. Die Haut wird so steif, daß sie nur grobe Bewegungen erlaubt, selbst wenn man zärtliche machen wollte, und unter einer solchen Kruste erstarrt die lebendige Seele. Der Verstand mag weniger davon berührt werden, das Notwendige wird man ganz vernünftig tun; er mag eben wie ein kleines Licht in einem riesigen wandelnden Leuchtturm brennen, der voll zerstampfter Regenwürmer oder Heuschrecken ist, aber alles Persönliche ist darin zerquetscht, und es wandelt nur die gärende organische Substanz. Dann begegneten dem wandernden Moosbrugger, wenn er durch die Dörfer kam oder auch auf der einsamen Straße, ganze Prozessionen von Frauen. Jetzt eine, und eine halbe Stunde später zwar erst wieder eine Frau, aber wenn sie selbst in so großen Zwischenräumen kamen und gar nichts miteinander zu tun hatten, im ganzen waren es doch Prozessionen. Sie gingen von einem Dorf zum anderen oder hatten nur soeben vors Haus gesehen, sie trugen dicke Tücher oder Jacken, die in einer steifen Schlangenlinie um die Hüften standen, sie traten in warme Stuben ein oder trieben ihre Kinder vor sich her oder waren auf der Straße so allein, daß man sie mit einem Stein hätte werfen können wie eine Krähe. Moosbrugger behauptete, daß er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur Gefühle der Abneigung gegen diese Frauenpersonen beseelt hatten, und das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn man will doch auch eine Katze verstehen, die vor einem Bauer sitzt, in dem ein dicker blonder Kanarienvogel auf und nieder hüpft; oder eine Maus schlägt, ausläßt, wieder schlägt, nur um sie noch einmal fliehen zu sehen; und was ist ein Hund, der einem rollenden Rad nachläuft, nur noch im Spiel beißend, er, der Freund des Menschen?: da ist im Verhalten zum Lebendigen, Bewegten, stumm vor sich hin Rollenden oder Huschenden eine geheime Abneigung gegen das sich seiner selbst freuende Mitgeschöpf berührt. Und was sollte man schließlich machen, wenn sie schrie? Man könnte nur zur Besinnung kommen, oder wenn man das eben nicht kann, ihr Gesicht zu Boden drücken und ihr Erde in den Mund stopfen.

Moosbrugger war nur ein Zimmermannsgeselle, ein ganz einsamer Mensch, und obgleich er auf allen Plätzen, wo er arbeitete, von den Kameraden gut gelitten war, hatte er keinen Freund. Der stärkste Trieb wendete von Zeit zu Zeit sein Wesen grausam nach außen; aber vielleicht hatte ihm wirklich, wie er sagte, nur die Erziehung und die Gelegenheit gefehlt, um etwas anderes daraus zu machen, einen Massenwürgengel oder Theaterbrandstifter, einen großen Anarchisten; denn die Anarchisten, die sich in Geheimbünden zusammentun, nannte er mit Verachtung die falschen. Er war ersichtlich krank; aber wenn auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund für sein Verhalten abgab, die ihn von den anderen Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stärkeres und höheres Gefühl von seinem Ich vor. Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um Geltung dafür zu erzwingen. Er hatte schon als Bursche einem Brotherrn die Finger gebrochen, als dieser ihn züchtigen wollte. Einem anderen verschwand er mit dem Geld; aus notwendiger Gerechtigkeit, wie er sagte. Er hielt es auf keinem Platz lange aus; solange er in seiner wortkarg mit freundlicher Ruhe und riesigen Schultern arbeitenden Art, wie es anfangs immer geschah, die Leute in Scheu hielt, blieb er; sobald sie vertraulich und respektslos mit ihm umzugehen begannen, als würden sie ihn nun erkannt haben, packte er sich fort, denn ein unheimliches Gefühl ergriff ihn dann, so als wäre er nicht fest in seiner Haut. Einmal hatte er es zu spät getan; da verschworen sich vier Maurer auf einem Bau, ihn ihre Überlegenheit fühlen zu lassen und vom obersten Stockwerk das Gerüst hinunterzustürzen; er hörte sie schon hinter seinem Rücken kichern und herankommen, da warf er sich mit seiner unermeßlichen ganzen Kraft auf sie, stürzte den einen zwei Treppen hinab und zerschnitt zwei anderen alle Sehnen des Armes. Daß er dafür bestraft wurde, hatte sein Gemüt erschüttert, wie er sagte. Er wanderte aus. In die Türkei; und wieder zurück, denn die Welt hielt überall gegen ihn zusammen; kein Zauberwort kam gegen diese Verschwörung auf und keine Güte.

Solche Worte hatte er in den Irrenhäusern und Gefängnissen eifrig gelernt; französische und lateinische Scherben, die er an den unpassendsten Stellen in seine Rede steckte, seit er herausbekommen hatte, daß es der Besitz dieser Sprachen war, was den Herrschenden das Recht gab, über sein Schicksal zu »befinden«. Aus dem gleichen Grund bemühte er sich auch in Verhandlungen, ein gewähltes Hochdeutsch zu sprechen, sagte etwa, »das muß als Grundlage meiner Brutalität dienen« oder »ich hatte sie mir noch grausamer vorgestellt, als ich derlei Weiber sonst einschätze«; wenn er aber sah, daß auch das den Eindruck verfehlte, schwang er sich nicht selten zu einer großen schauspielerischen Pose auf und erklärte sich höhnisch als »theoretischen Anarchisten«, der sich von den Sozialdemokraten jederzeit retten lassen könnte, wenn er von diesen ärgsten jüdischen Ausbeutern des arbeitenden unwissenden Volkes etwas geschenkt nehmen wollte: Da hatte er auch seine »Wissenschaft«, ein Gebiet, auf das ihm die gelehrte Anmaßung seiner Richter nicht folgen konnte.

Gewöhnlich trug ihm das die Gerichtssaalzensur der »bemerkenswerten Intelligenz«, ehrenvolle Beachtung während der Verhandlung und strengere Strafen ein, aber im Grunde empfand seine geschmeichelte Eitelkeit diese Verhandlungen als die Ehrenzeiten des Lebens. Deshalb haßte er auch niemand so inbrünstig wie die Psychiater, die glaubten, sein ganzes schwieriges Wesen mit ein paar Fremdworten abtun zu können, als wäre es für sie eine alltägliche Sache. Wie immer in solchen Fällen, schwankten unter dem Druck der sich ihnen überordnenden juristischen Vorstellungswelt die medizinischen Gutachten über seinen Geisteszustand, und Moosbrugger ließ sich keine dieser Gelegenheiten entgehen, um in öffentlicher Verhandlung seine Überlegenheit über die Psychiater zu beweisen und sie als aufgeblasene Tröpfe und Schwindler zu entlarven, die ganz unwissend seien und ihn, wenn er simuliere, ins Irrenhaus aufnehmen müßten, statt ihn ins Zuchthaus zu schicken, wohin er gehöre. Denn er leugnete seine Taten nicht, er wollte sie als Unglücksfälle einer großen Lebensauffassung verstanden wissen. Die kichernden Weiber waren vor allem gegen ihn verschworen; sie hatten alle ihre Schürzenbuben, und das gerade Wort eines ernsten Mannes achteten sie für nichts, wenn nicht gar für eine Beleidigung. Er ging ihnen aus dem Weg, solange er konnte, um sich nicht reizen zu lassen; aber nicht allezeit war das möglich. Es kommen Tage, wo man als Mann ganz dumm im Kopf wird und nichts mehr anpacken kann, weil die Hände vor Unruhe schwitzen. Und muß man dann nachgeben, so kann man sicher sein, daß schon beim ersten Schritt, fern über den Weg wie eine Vorpatrouille, welche die anderen geschickt haben, solch ein wandelndes Gift kreuzt, eine Betrügerin, die den Mann heimlich auslacht, während sie ihn schwächt und ihm ihr Theater vormacht, wenn sie nicht noch viel Schlimmeres ihm in ihrer Gewissenlosigkeit antut!

Und so war das Ende jener Nacht gekommen, einer teilnahmslos durchzechten Nacht mit viel Lärm zur Beschwichtigung der inneren Unruhe. Es kann, auch ohne daß man betrunken ist, die Welt unsicher sein. Die Straßenwände wanken wie Kulissen, hinter denen etwas auf das Stichwort wartet, um herauszutreten. Am Rand der Stadt wird es ruhiger, wo man ins freie, vom Mond erhellte Feld kommt. Dort mußte Moosbrugger umkehren, um in einem Bogen nach Hause zu finden, und da, bei der eisernen Brücke, sprach ihn das Mädchen an. Es war so ein Mädchen, wie sie sich unter den Auen an Männer vermieten, ein stellenloses, davongelaufenes Dienstmädchen, eine kleine Person, von der man nur zwei lockende Mausaugen unter dem Kopftuch sah. Moosbrugger wies sie ab und beschleunigte seinen Gang; aber sie bettelte, daß er sie mit nach Hause nehmen möge. Moosbrugger ging; geradeaus, um die Ecke, schließlich hilflos hin und her; er machte große Schritte, und sie lief neben ihm; er blieb stehen, und sie stand wie ein Schatten. Er zog sie hinter sich drein, das war es. Da machte er noch einen Versuch, sie zu verscheuchen; er drehte sich um und spuckte ihr zweimal ins Gesicht. Aber es half nicht; sie war unverwundbar.

Das geschah in dem stundenweiten Park, den sie an seiner schmalsten Stelle durchqueren mußten. Da wurde es zunächst Moosbrugger gewiß, daß ein Beschützer des Mädchens in der Nähe sein müsse; denn woher hätte sie sonst den Mut nehmen können, ihm trotz seines Unwillens zu folgen? Er griff nach dem Steckmesser in die Hosentasche, denn man wollte ihn zum besten haben; vielleicht wieder über ihn herfallen; immer steckt ja hinter den Weibern der andere Mann, der einen verhöhnt. Überhaupt, kam sie ihm nicht wie ein verkleideter Mann vor? Er sah Schatten sich bewegen und hörte das Holz knacken, während die Schleicherin neben ihm wie eine ganz weit ausschwingende Uhr immer wieder nach einer Weile ihre Bitte wiederholte; aber es war nichts zu finden, worauf sich seine Riesenkraft hätte stützen können, und er begann sich vor diesem unheimlichen Nichtgeschehen zu fürchten.

Als sie in die erste, noch sehr düstere Straße kamen, stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und er zitterte. Er sah nicht zur Seite und wandte sich in ein Kaffeehaus, das noch offen stand. Er stürzte einen schwarzen Kaffee und drei Kognaks hinunter und durfte ruhig sitzen, vielleicht eine Viertelstunde lang; als er aber zahlte, war wieder der Gedanke da, was er beginnen werde, wenn sie nun draußen gewartet habe? Es gibt solche Gedanken, die wie Bindfaden sind und sich in endlosen Schlingen um Arme und Beine legen. Und als er kaum ein paar Schritte in die dunkle Straße getan hatte, fühlte er das Mädchen an seiner Seite. Sie war jetzt gar nicht mehr demütig, sondern frech und sicher; sie bat auch nicht mehr, sondern schwieg nur. Da erkannte er, daß er niemals von ihr loskommen werde, weil er es selbst war, der sie hinter sich herzog. Ein weinerlicher Ekel füllte seinen Hals aus. Er ging, und das, halb hinter ihm, war wiederum er. Genau so, wie er auch immer Prozessionen begegnet war. Er hatte sich einmal einen großen Holzsplitter selbst aus dem Bein geschnitten, weil er zu ungeduldig war, um auf den Arzt zu warten; ganz ähnlich fühlte er jetzt wie sein Messer, lang und hart lag es in seiner Tasche.

Aber Moosbrugger verfiel mit einer geradezu überirdischen Anstrengung seiner Moral auf noch einen Ausweg. Hinter der Planke, längs der jetzt ein Weg führte, lag ein Sportplatz; da war man ganz ungesehen, und er bog ein. In dem engen Kassenhäuschen legte er sich nieder und drängte den Kopf in die Ecke, wo es am dunkelsten war; das weiche verfluchte zweite Ich legte sich neben ihn. Er tat deshalb so, als ob er gleich einschliefe, um später davonschleichen zu können. Aber als er leise, mit den Füßen voran, hinauskroch, war es wieder da und schlang die Arme um seinen Hals. Da fühlte er etwas Hartes in ihrer oder seiner Tasche; er zerrte es hervor. Er wußte nicht recht, war es eine Schere oder ein Messer; er stach damit zu. Sie hatte behauptet, es sei nur eine Schere, aber es war sein Messer. Sie fiel mit dem Kopf in das Häuschen; er schleppte sie ein Stück heraus, auf die weiche Erde, und stach so lange auf sie ein, bis er sie ganz von sich losgetrennt hatte. Dann stand er vielleicht noch eine Viertelstunde bei ihr und betrachtete sie, während die Nacht wieder ruhiger und wundersam glatt wurde. Nun konnte sie keinen Mann mehr beleidigen und sich an ihn hängen. Schließlich trug er die Leiche über die Straße und legte sie vor ein Gebüsch, damit sie leichter gefunden und bestattet werden könne, wie er behauptete, denn nun konnte sie ja nichts dafür.

In der Verhandlung bereitete Moosbrugger seinem Verteidiger die unvorhersehbarsten Schwierigkeiten. Er saß breit wie ein Zuschauer auf seiner Bank, rief dem Staatsanwalt Bravo zu, wenn dieser etwas für seine Gemeingefährlichkeit vorbrachte, das ihm seiner würdig erschien, und teilte lobende Zensuren an Zeugen aus, die erklärten, niemals etwas an ihm bemerkt zu haben, was auf Unzurechnungsfähigkeit schließen ließe. »Sie sind ein drolliger Kauz«, schmeichelte ihm von Zeit zu Zeit der die Verhandlung leitende Richter und zog gewissenhaft die Schlingen zusammen, die sich der Angeklagte gelegt hatte. Dann stand Moosbrugger einen Augenblick lang erstaunt wie ein in der Arena gehetzter Stier, ließ die Augen wandern und merkte an den Gesichtern der Umsitzenden, was er nicht verstehen konnte, daß er sich abermals eine Lage tiefer in die Schuld hineingearbeitet hatte.

Was Ulrich besonders anzog, war es, daß seiner Verteidigung offenbar ein schattenhaft kenntlicher Plan zugrunde lag. Er war weder mit der Absicht ausgegangen, zu töten, noch durfte er seiner Würde halber krank sein; von Lust konnte überhaupt nicht gesprochen werden, sondern nur von Ekel und Verachtung: also mußte die Tat ein Totschlag sein, zu dem ihn das verdächtige Benehmen des Weibes, »dieser Karikatur des Weibes«, wie er sich ausdrückte, verleitet hatte. Wenn man ihn recht verstand, verlangte er sogar, daß man seinen Mord für ein politisches Verbrechen ansehe, und machte manchmal den Eindruck, daß er gar nicht für sich, sondern für diese Rechtskonstruktion kämpfte. Die Taktik, die der Richter dagegen anwandte, war die übliche, in allem nur die plump listigen Anstrengungen eines Mörders zu sehen, der sich seiner Verantwortung entziehen will. »Warum haben Sie sich die blutigen Hände abgewischt? – Warum haben Sie das Messer weggeworfen? – Warum haben Sie nach der Tat frische Kleider und Wäsche angezogen? – Weil es Sonntag war? Nicht, weil sie blutig waren? – Weshalb sind Sie zu einer Unterhaltung gegangen? Die Tat hat Sie also nicht gehindert, das zu tun? Haben Sie überhaupt Reue empfunden?« Ulrich verstand gut die tiefe Entsagung, mit der Moosbrugger in solchen Augenblicken seine unzureichende Erziehung anklagte, die ihn verhinderte, dieses aus Unverständnis geflochtene Netz aufzuknoten, was aber in der Sprache des Richters mit strafendem Nachdruck hieß: »Sie wissen immer anderen die Schuld zu geben!« Dieser Richter faßte alles in eins zusammen, ausgehend von den Polizeiberichten und der Landstreicherei, und gab es als Schuld Moosbrugger; für den aber bestand es aus lauter einzelnen Vorfällen, die nichts miteinander zu tun hatten und jeder eine andere Ursache besaßen, die außerhalb Moosbruggers und irgendwo im Ganzen der Welt lag. In den Augen des Richters gingen seine Taten von ihm aus, in den seinen waren sie auf ihn zugekommen wie Vögel, die herbeifliegen. Für den Richter war Moosbrugger ein besonderer Fall; für sich war er eine Welt, und es ist sehr schwer, etwas Überzeugendes über eine Welt zu sagen. Es waren zwei Taktiken, die miteinander kämpften, zwei Einheiten und Folgerichtigkeiten; aber Moosbrugger hatte den ungünstigeren Stand, denn seine seltsamen Schattengründe hätte auch ein Klügerer nicht ausdrücken können. Sie kamen unmittelbar aus dem verwirrt Einsamen seines Lebens, und während alle anderen Leben hundertfach bestehen, – in der gleichen Weise gesehen von denen, die sie führen, wie von allen anderen, die sie bestätigen –, war sein wahres Leben nur für ihn vorhanden. Es war wie ein Hauch, der sich immerfort deformiert und die Gestalt wechselt. Freilich hätte er seine Richter fragen können, ob ihr Leben denn im Wesen anders sei? Aber so etwas dachte er gar nicht. Vor der Justiz lag alles, was nacheinander so natürlich gewesen war, sinnlos nebeneinander in ihm, und er bemühte sich mit den größten Anstrengungen, einen Sinn hervorzubringen, der der Würde der vornehmen Gegner in nichts nachstehen sollte. Der Richter wirkte beinahe gütig in seinem Bemühen, ihn dabei zu unterstützen und ihm Begriffe zur Verfügung zu stellen, selbst wenn es solche waren, die Moosbrugger den fürchterlichsten Folgen auslieferten.

Es war der Kampf eines Schattens mit der Wand, und zum Schluß flackerte Moosbruggers Schatten nur noch gräßlich. Bei dieser letzten Verhandlung war Ulrich dabei. Als der Vorsitzende das Gutachten vorlas, das ihn als verantwortlich erklärte, erhob sich Moosbrugger und tat dem Gerichtshof kund: »Ich bin damit zufrieden und habe meinem Zweck erreicht.« Spöttischer Unglaube in den Augen rings umher antwortete ihm, und er fügte zornig hinzu: »Dadurch, daß ich die Anklage erzwungen habe, bin ich mit dem Beweisverfahren zufrieden!« Der Vorsitzende, der jetzt ganz Strenge und Strafe geworden war, verwies ihn mit der Bemerkung, daß es dem Gerichtshof nicht auf seine Zufriedenheit ankomme. Dann las er ihm das Todesurteil vor, genau so, als ob der Unsinn, den Moosbrugger zum Vergnügen aller Anwesenden während der ganzen Verhandlung gesprochen hatte, nun auch erst einmal beantwortet werden müßte. Da sagte Moosbrugger nichts, damit es nicht wie ein Schreck aussehe. Dann wurde die Verhandlung geschlossen, und alles war vorbei. Da aber wankte doch sein Geist; er wich zurück, ohnmächtig gegen den Hochmut der Verständnislosen; er drehte sich um, den schon die Justizsoldaten hinausführten, kämpfte um Worte, reckte die Hände empor und rief mit einer Stimme, welche die Stöße seiner Wörter abschüttelte: »Ich bin damit zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muß, daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!«

Das war eine Inkonsequenz; aber Ulrich saß atemlos. Das war deutlich Irrsinn, und ebenso deutlich bloß ein verzerrter Zusammenhang unserer eigenen Elemente des Seins. Zerstückt und durchdunkelt war es; aber Ulrich fiel irgendwie ein: wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehen. Er ernüchterte sich erst, als der »elende Hanswurst von Verteidiger«, wie ihn Moosbruggers Undank einmal im Lauf der Verhandlung genannt hatte, wegen irgendwelchen Einzelheiten die Nichtigkeitsbeschwerde anmeldete, während ihrer beider riesiger Klient abgeführt wurde.


Textvergleich | Der Mädchenmörder
Der Mädchenmörder
18. Moosbrugger


Zu dieser Zeit beschäftigte der Fall Moosbrugger die Öffentlichkeit.

Moosbrugger war ein Zimmermann, ein großer, breitschultriger Mensch ohne überschflüssiges Fett, mit einem Kopfhaar wie braunes Lammsfell und gutmütig starken Pranken. Gutmütige Kraft und der Wille zum Rechten sprachen auch aus seinem Gesicht, und -hätte man sie nicht gesehen, so hätte man sie doch gerochen, an dem derben, biederen, trockenen Werktagsgeruch, der zu dem Vierunddreißigjährigen gehörte und vom Umgang mit Holz und einer Arbeit kam, die ebensoviel Bedachtsamkeit wie Anstrengung fordert.

Man blieb wie eingewurzelt stehen, wenn man diesem von Gott mit allen Zeichen der Güte gesegneten Gesicht zum ersten Malerstenmal begegnete, denn Moosbrugger war gewöhnlich von zwei bewaffneten Justizsoldaten begleitet und hatte die eng aneinander gebundenenaneinandergebundenen Hände vor dem Leib, an einem starken stählernen Kettchen, dessen Knebel einer seiner Begleiter hielt.

Wenn er bemerkte, daß man ihn ansah, zog über sein breites, gutmütiges Gesicht mit dem ungepflegten Haar und dem Schnurrbart samt der dazugehörigendazugehöriger Fliege ein Lächeln; er hatte einen kurzen schwarzen Rock mit hellgrauen Beinkleidern an, seine Haltung war breitbeinig und militärisch, aber dieses Lächeln war es, was die Berichterstatter des Gerichtssaals am meisten beschäftigt hatte. Es mochte ein verlegenes Lächeln sein oder ein verschlagenes, ein ironisches, heimtückisches, schmerzliches, irres, blutrünstiges, unheimliches –: sie tasteten ersichtlich nach widersprechenden Ausdrücken und schienen in diesem Lächeln verzweifelt etwas zu suchen, das sie offenbar in der ganzen redlichen Erscheinung sonst nirgends fanden.

Denn Moosbrugger hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregender Weise getötet. Die Berichterstatter hatten genau eine vom Kehlkopf bis zum Genick reichende Halswunde, ebenso wdie zwei Stichwunden in der Brust, welche das Herz durchbohrten, die zwei in der linken Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste beschrieben, die man fast abheben konnte; sie hatten ihren Abscheu davor ausgedrückt, aber sie hörten nicht auf, bevor sie fünfunddreißig Stiche im Bauch gezählt und die fast vom Nabel bis zum Kreuzbein reichende Schnittwunde erklärt hatten, die sich in einer Unzahl kleinerer den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuren trug. Sie fanden von solchen Schrecknissen den Weg zu Moosbruggers gutmütigem Gesicht nicht zurück, obgleich sie selbst gutmütige Menschen waren und trotzdem das Geschehene sachlich, fachkundig und sichtlich in atemloser Spannung beschrieben. - Selbst von der nächstliegenden Erklärung, daß man einen Geisteskranken vor sich habe – denn Moosbrugger war wegen ähnlicher Verbrechen schon einigemale in Irrenhäusern gewesen – machten sie wenig Gebrauch, obgleich ein guter Berichterstatter sich heute in solchen Fragen trefflich auskennt; es sah so aus, als sträubten sie sich vorläufig noch, auf den Bösewicht zu verzichten und das Geschehnis aus der eigenen Welt in die der Kranken zu entlassen, worin sie mit den Psychiatern übereinstimmten, die ihn schon ebensooftebenso oft für gesund wie für unzurechnungsfähig erklärt hatten. Und es ereignete sich des weiteren auch das Merkwürdige, daß die krankhaften Ausschreitungen Moosbruggers, als sie noch kaum bekannt geworden waren, schon von tausenden Menschen, welche die Sensationsgier der Zeitungen tadelten, als »endlich einmal etwas Interessantes« empfunden wurden; von eiligen Beamten wie von vierzehnjährigen Söhnen und durch Haussorgen umwölkten Gattinnen. Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als vom eigenen Lehrbensberuf. Ja, es mochte sich ereignen, daß in diesen Tagen beim Zubettgehen ein korrekter Herr Sektionschef oder ein Bankprokurist zu seiner schläfrigen Gattin sagte: »Was würdest du jetzt anfangen, wenn ich ein Moosbrugger wäre…«-

Ulrich war, als sein Blick auf dieses Gesicht mit den Zeichen der Gotteskindschaft über Handschellen traf, rasch umgekehrt, hatte einenm Wachsoldaten des nahegelegenen Landesgerichts einige Zigaretten geschenkt und nach dem Konvoi gefragt, der erst vor kurzem das Tor verlassen haben mußte; so erfuhr er – –: doch so muß derartiges sich wohl früher abgespielt haben, da man es oft in dieser Weise berichtet findet, und Ulrich glaubte beinahe selbst daran, aber die zeitgenössische Wahrheit war, daß er alles bloß in der Zeitung gelesen hatte. Es dauerte noch lange, ehe er Moosbrugger persönlich kennenlernte, und ihn vorher leibhaftig zu sehen, gelang ihm nur einmal während der Verhandlung. Die Wahrscheinlichkeit, etwas Ungewöhnliches durch die Zeitung zu erfahren, ist weit größer als die, es zu erleben; mit anderen Worten, im Abstrakten ereignet sich heute das Wesentlichere, und das Belanglosere im Wirklichen.

Was Ulrich auf diesem Wege von der Geschichte Moosbruggers erfuhr, war ungefähr das fFolgende:-

Moosbrugger war als Junge ein armer Teufel gewesen, ein Hüterbub in einer Gemeinde, die so klein war, daß sie nicht einmal eine Dorfstraße hatte, und er war so arm, daß er niemals mit einem Mädel sprach. Er konnte Mädels immer nur sehen; auch später in der Lehre und dann gar auf den Wanderungen. Nun braucht man sich ja bloß vorzustellen, was das heißt. Etwas, wonach man so natürlich begehrt wie nach Brot oder Wasser, darf man immer nur sehen. Man begehrt es nach einiger Zeit unnatürlich. Es geht vorüber, die Röcke schwanken um seine Waden. Es steigt über einen Zaun und wird bis zum Knie sichtbar. Man blickt ihm in die Augen, und sie werden undurchsichtig. Man hört es lachen, dreht sich rasch um und sieht in ein Gesicht, das so reglos rund wie ein Erdloch ist, in das eben eine Maus schlüpfte.

Man könnte also verstehen, daß Moosbrugger schon nach dem ersten Mädchenmord sich damit verantwortete, daß er stets von Geistern verfolgt werde, die ihn bei Tag und Nacht riefen. Sie warfen ihn aus dem Bett, wenn er schlief, und störten ihn bei der Arbeit; dann hörte er sie tags und nachts miteinander sprechen und streiten. Das war keine Geisteskrankheit, und Moosbrugger mochte es nicht leiden, wenn man derart davon sprach; er putzte es freilich selbst manchmal mit Erinnerungen an geistliche Reden auf oder legte es nach den Ratschlägen des Simulierens an, die man in den Gefängnissen erhält, aber das Material dazu war immer bereit; bloß etwas verblaßt, wenn man nicht gerade darauf achtete.-

So war es auch auf den Wanderschaften gewesen. Im Winter ist für einen Zimmermann schwer Arbeit zu finden, und Moosbrugger lag oft wochenlang auf der Straße. Nun ist man tageweit gewandert, gelangt in den Ort und findet kein Unterkommen. Muß bis spät in die Nacht weitermarschieren. Für eine Mahlzeit hat man kein Geld, so trinkt man Schnaps, bis hinter den Augen zwei Kerzen leuchten und der Körper allein geht. In der »Station« will man nicht um ein Nachtlager bitten, trotz der warmen Suppe, teils wegen des Ungeziefers und teils wegen der kränkenden Schererei; so bettelt man lieber ein paar Kreuzer zusammen und kriecht einem Bauern ins Heu. Ohne ihn zu bitten, natürlich, denn was soll man erst lang fragen und sich doch nur beleidigen lassen. Am Morgen gibt das freilich oft Streit und Anzeigen wegen Gewalttätigkeit, Vagabondage und Bettelei, und schließlich ergibt es einen immer dicker werdenden Baund solcher Vorstrafen, den jeder neue Richter wichtigtuerisch aufmacht, als ob Moosbrugger darin erklärt wäre.-

Und wer denkt daran, was es heißt, sich tage- und wochenlang nicht richtig waschen zu können. Die Haut wird so steif, daß sie nur grobe Bewegungen erlaubt, selbst wenn man zärtliche machen wollte, und unter einer solchen Kruste erstarrt die lebendige Seele. Der Verstand mag weniger davon berührt werden, das Notwendige wird man ganz vernünftig tun; er mag eben wie ein kleines Licht in einem riesigen wandelnden Leuchtturm brennen, der voll zerstampfter Regenwürmer oder Heuschrecken ist, aber alles Persönliche ist darin zerquetscht, und es wandelt nur die gärende organische Substanz. Dann begegneten dem wandernden Moosbrugger, wenn er durch die Dörfer kam oder auch auf der einsamen Straße, ganze Prozessionen von Frauen. Jetzt eine, und eine halbe Stunde später zwar erst wieder eine Frau, aber wenn sie selbst in so großen Zwischenräumen kamen und gar nichts miteinander zu tun hatten, im ganzen waren es doch Prozessionen. Sie gingen von einem Dorf zum anderen oder hatten nur soeben vors Haus gesehen, sie trugen dicke Tücher oder Jacken, die in einer steifen Schlangenlinie um die Hüften standen, sie traten in warme Stuben ein oder trieben ihre Kinder vor sich her oder waren auf der Straße so allein, daß man sie mit einem Stein hätte werfen können wie eine Krähe. Moosbrugger behauptete, daß er kein Lustmörder sein könne, weil ihn immer nur Gefühle der Abneigung gegen diese Frauenspersonen beseelt haätten, und das erscheint nicht unwahrscheinlich, denn man will doch auch eine Katze verstehen, die vor einem Bauer sitzt, in dem ein dicker blonder Kanarienvogel auf und nieder hüpft; oder eine Maus schlägt, ausläßt, wieder schlägt, nur um sie noch einmal fliehen zu sehen; und was ist ein Hund, der einem rollenden Rad nachläuft, nur noch im Spiel beißend, er, der Freund des Menschen?: da ist im Verhalten zum Lebendigen, Bewegten, stumm vor sich hin Rollenden oder Huschenden eine geheime Abneigung gegen das sich seiner selbst freuende Mitgeschöpf berührt. Und was sollte man schließlich machen, wenn sie schrie? Man könnte nur zur Besinnung kommen, oder, wenn man das eben nicht kann, ihr Gesicht zu Boden drücken und ihr Erde ihr in den Mund stopfen.-

Moosbrugger war nur ein Zimmermannsgeselle, ein ganz einsamer Mensch, und obgleich er auf allen Plätzen, wo er arbeitete, von den Kameraden gut gelitten war, hatte er keinen Freund. Der stärkste Trieb wendete von Zeit zu Zeit sein Wesen grausam nach außen; aber vielleicht hatte ihm wirklich, wie er sagte, nur die Erziehung und die Gelegenheit gefehlt, um etwas anderes daraus zu machen, einen Massenwürgengel oder Theaterbrandstifter, einen großen Anarchisten; denn die Anarchisten, die sich in Geheimbünden zusammentun, nannte er mit Verachtung die falschen. Er war ersichtlich krank; aber wenn auch offenbar seine krankhafte Natur den Grund für sein Verhalten abgab, die ihn von den anderen Menschen absonderte, ihm kam das wie ein stärkeres und höheres Gefühl von seinem Ich vor. Sein ganzes Leben war ein zum Lachen und Entsetzen unbeholfener Kampf, um Geltung dafür zu erzwingen. Er hatte schon als Bursche einem Brotherrn die Finger gebrochen, als dieser ihn züchtigen wollte. Einem anderen verschwand er mit dem Geld; aus notwendiger Gerechtigkeit, wie er sagte. Er hielt es auf keinem Platz lange aus; solange er in seiner wortkarg mit freundlicher Ruhe und riesigen Schultern arbeitenden Art, wie es anfangs immer geschah, die Leute in Scheu hielt, blieb er; sobald sie vertraulich und respektslos mit ihm umzugehen begannen, als würden sie ihn nun erkannt haben, packte er sich fort, denn ein unheimliches Gefühl ergriff ihn dann, so als wäre er nicht fest in seiner Haut. Einmal hatte er es zu spät getan; da verschworen sich vier Maurer auf einem Bau, ihn ihre Überlegenheit fühlen zu lassen und vom obersten Stockwerk das Gerüst hinunterzustürzen; er hörte sie schon hinter seinem Rücken kichern und herankommen, da warf er sich mit seiner unermeßlichen ganzen Kraft auf sie, stürzte den einen zwei Treppen hinab und zerschnitt zwei anderen alle Sehnen des Armes. Daß er dafür bestraft wurde, hatte sein Gemüt erschüttert, wie er sagte. Er wanderte aus. In die Türkei; und wieder zurück, denn die Welt hielt überall gegen ihn zusammen; kein Zauberwort kannm gegen diese Verschwörung auf und keine Güte.

Solche Worte hatte er in den Irrenhäusern und Gefängnissen eifrig gelernt; französische und lateinische Scherben, die er an den unpassendsten Stellen in seine Reden steckte, seit er herausbekommen hatte, daß es der Besitz dieser Sprachen war, was den Herrschenden das Recht gab, über sein Schicksal zu »befinden«. Aus dem gleichen Grund bemühte er sich auch in Verhandlungen, ein gewähltes Hochdeutsch zu sprechen, sagte etwa, »das muß als Grundlage meiner Brutalität dienen« oder »ich hatte sie mir noch grausamer vorgestellt, als ich derlei Weiber sonst einschätze«; wenn er aber sah, daß auch das den Eindruck verfehlte, schwang er sich nicht selten zu einer großen schauspielerischen Pose auf und erklärte sich höhnisch als »theoretischen Anarchisten«, der sich von den Sozialdemokraten jederzeit retten lassen könnte, wenn er von diesen ärgsten jüdischen Ausbeutern des arbeitenden, unwissenden Volkes etwas geschenkt nehmen wollte: Da hatte er auch seineer eine »Wissenschaft«, ein Gebiet, auf das ihm die gelehrte Anmaßung seiner Richter nicht folgen konnte.

Gewöhnlich trug ihm das die Gerichtssaalzensur der »bemerkenswerten Intelligenz«, ehrenvolle Beachtung während der Verhandlung und strengere Strafen ein, aber im Grunde empfand seine geschmeichelte Eitelkeit diese Verhandlungen als die Ehrenzeiten seines Lebens. Deshalb haßte er auch niemand so inbrünstig wie die Psychiater, die glaubten, sein ganzes schwieriges Wesen mit ein paar Fremdworten abtun zu können, als wäre es für sie eine alltägliche Sache. Wie immer in solchen Fällen, schwankten unter dem Druck der sich ihnen überordnenden juristischen Vorstellungswelt die medizinischen Gutachten über seinen Geisteszustand, und Moosbrugger ließ sich keine dieser Gelegenheiten entgehen, um in öffentlicher Verhandlung seine Überlegenheit über die Psychiater zu beweisen und sie als aufgeblasene Tröpfe und Schwindler zu entlarven, die ganz unwissend seien und ihn, wenn er simuliere, ins Irrenhaus aufnehmen müßten, statt ihn ins Zuchthaus zu schicken, wohin er gehöre. Denn er leugnete seine Taten nicht, er wollte sie als Unglücksfälle einer großen Lebensauffassung verstanden wissen. Die kichernden Weiber waren vor allem gegen ihn verschworen; sie hatten alle ihre Schürzenbuben, und das gerade Wort eines ernsten Mannes achteten sie für nichts, wenn nicht gar für eine Beleidigung. Er ging ihnen aus dem Weg, solange er konnte, um sich nicht reizen zu lassen; aber nicht allezeit war das möglich. Es kommen Tage, wo man als Mann ganz dumm im Kopf wird und nichts mehr anpacken kann, weil die Hände vor Unruhe schwitzen. Und muß man dann nachgeben, so kann man sicher sein, daß schon beim ersten Schritt, fern über den Weg wie eine Vorpatrouille, welche die anderen geschickt haben, solch ein wandelndes Gift kreuzt, eine Betrügerin, die den Mann heimlich auslacht, während sie ihn schwächt und ihm ihr Theater vormacht, wenn sie nicht noch viel Schlimmeres ihm in ihrer Gewissenlosigkeit antut!

Und so war das Ende jener Nacht gekommen, einer teilnahmslos durchzechten Nacht mit viel Lärm zur Beschwichtigung der inneren Unruhe. Es kann, auch ohne daß man betrunken ist, die Welt unsicher sein. Die Straßenwände wanken wie Kulissen, hinter denen etwas auf das Stichwort wartet, um herauszutreten. Am Rand der Stadt wird es ruhiger, wo man ins freie, vom Mond erhellte Feld kommt. Dort mußte Moosbrugger umkehren, um in einem Bogen nach Hause zu finden, und da, bei der eisernen Brücke, sprach ihn das Mädchen an. Es war so ein Mädchen, wie sie sich unterunten in den Auen an Männer vermieten, ein stellenloses, davongelaufenes Dienstmädchen, eine kleine Person, von der man nur zwei lockende Mausaugen unter dem Kopftuch sah. Moosbrugger wies sie ab und beschleunigte seinen Gang; aber sie bettelte, daß er sie mit nach Hause nehmen möge. Moosbrugger ging; geradeaus, um die Ecke, schließlich hilflos hin und her; er machte große Schritte, und sie lief neben ihm; er blieb stehen, und sie stand wie ein Schatten. Er zog sie hinter sich drein, das war es. Da machte er noch einen Versuch, sie zu verscheuchen; er drehte sich um und spuckte ihr zweimal ins Gesicht. Aber es half nicht; sie war unverwundbar.

Das geschah in dem stundenweiten Park, den sie an seiner schmalsten Stelle durchqueren mußten. Da wurde es zunächst Moosbrugger gewiß, daß ein Beschützer des Mädchens in der Nähe sein müsse; denn woher hätte sie sonst den Mut nehmen können, ihm trotz seines Unwillens zu folgen? Er griff nach dem Steckmesser in die Hosentasche, denn man wollte ihn zum besten haben; vielleicht wieder über ihn herfallen; immer steckt ja hinter den Weibern der andere Mann, der einen verhöhnt. Überhaupt, kam sie ihm nicht wie ein verkleideter Mann vor? Er sah Schatten sich bewegen und hörte das Holz knacken, während die Schleicherin neben ihm wie eine ganz weit ausschwingende Uhr immer wieder nach einer Weile ihre Bitte wiederholte; aber es war nichts zu finden, worauf sich seine Riesenkraft hätte stütrzen können, und er begann sich vor diesem unheimlichen Nichtgeschehen zu fürchten.

Als sie in die erste, noch sehr düstere Straße kamen, stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und er zitterte. Er sah nicht zur Seite und wandte sich in ein Kaffeehaus, das noch offen standoffenstand. Er stürzte einen schwarzen Kaffee und drei Kognaks hinunter und durfte ruhig sitzen, vielleicht eine Viertelstunde lang; als er aber zahlte, war wieder der Gedanke da, was er beginnen werde, wenn sie nun draußen gewartet habe? Es gibt solche Gedanken, die wie Bindfaden sind und sich in endlosen Schlingen um Arme und Beine legen. Und als er kaum ein paar Schritte in die dunkle Straße getan hatte, fühlte er das Mädchen an seiner Seite. Sie war jetzt gar nicht mehr demütig, sondern frech und sicher; sie bat auch nicht mehr, sondern schwieg nur. Da erkannte er, daß er niemals von ihr loskommen werde, weil er es selbst war, der sie hinter sich herzog. Ein weinerlicher Ekel füllte seinen Hals aus. Er ging, und das, halb hinter ihm, war wiederum er. Genau so, wie er auch immer Prozessionen begegnet war. Er hatte sich einmal einen großen Holzsplitter selbst aus dem Bein geschnitten, weil er zu ungeduldig war, um auf den Arzt zu warten; ganz ähnlich fühlte er jetzt wieder sein Messer, lang und hart lag es in seiner Tasche.

Aber Moosbrugger verfiel mit einer geradezu überirdischen Anstrengung seiner Moral auf noch einen Ausweg. Hinter der Planke, längs der jetzt einder Weg führte, lag ein Sportplatz; da war man ganz ungesehen, und er bog ein. In dem engen Kassenhäuschen legte er sich nieder und drängte den Kopf in die Ecke, wo es am dunkelsten war; das weiche verfluchte zweite Ich legte sich neben ihn. Er tat deshalb so, als ob er gleich einschliefe, um später davonschleichen zu können. Aber als er leise, mit den Füßen voran, hinauskroch, war es wieder da und schlang die Arme um seinen Hals. Da fühlte er etwas Hartes in ihrer oder seiner Tasche; er zerrte es hervor. Er wußte nicht recht, war es eine Schere oder ein Messer; er stach damit zu. Sie hatte behauptet, es sei nur eine Schere, aber es war sein Messer. Sie fiel mit dem Kopf in das Häuschen; er schleppte sie ein Stück heraus, auf die weiche Erde, und stach so lange auf sie ein, bis er sie ganz von sich losgetrennt hatte. Dann stand er vielleicht noch eine Viertelstunde bei ihr und betrachtete sie, während die Nacht wieder ruhiger und wundersam glatt wurde. Nun konnte sie keinen Mann mehr beleidigen und sich an ihn hängen. Schließlich trug er die Leiche über die Straße und legte sie vor ein Gebüsch, damit sie leichter gefunden und bestattet werden könne, wie er behauptete, denn nun konnte sie ja nichts mehr dafür.

In der Verhandlung bereitete Moosbrugger seinem Verteidiger die unvorhersehbarsten Schwierigkeiten. Er saß breit wie ein Zuschauer auf seiner Bank, rief dem Staatsanwalt Bravo zu, wenn dieser etwas für seine Gemeingefährlichkeit vorbrachte, das ihm seiner würdig erschien, und teilte lobende Zensuren an Zeugen aus, die erklärten, niemals etwas an ihm bemerkt zu haben, was auf Unzurechnungsfähigkeit schließen ließe. »Sie sind ein drolliger Kauz«,« schmeichelte ihm von Zeit zu Zeit der die Verhandlung leitende Richter und zog gewissenhaft die Schlingen zusammen, die sich der Angeklagte gelegt hatte. Dann stand Moosbrugger einen Augenblick lang erstaunt wie ein in der Arena gehetzter Stier, ließ die Augen wandern und merkte an den Gesichtern der Umsitzenden, was er nicht verstehen konnte, daß er sich abermals eine Lage tiefer in dseine Schuld hineingearbeitet hatte.-

WasEs zog Ulrich besonders anzog, war esan, daß seiner Verteidigung offenbar ein schattenhaft kenntlicher Plan zugrunde lag. Er war weder mit der Absicht ausgegangen, zu töten, noch durfte er seiner Würde halber krank sein; von Lust konnte überhaupt nicht gesprochen werden, sondern nur von Ekel und Verachtung: also mußte die Tat ein Totschlag sein, zu dem ihn das verdächtige Benehmen des Weibes, »dieser Karikatur deines Weibes«, wie er sich ausdrückte, verleitet hatte. Wenn man ihn recht verstand, verlangte er sogar, daß man seinen Mord für ein politisches Verbrechen ansehe, und machte manchmal den Eindruck, daß er gar nicht für sich, sondern für diese Rechtskonstruktion kämpfte. Die Taktik, die der Richter dagegen anwandte, war die übliche, in allem nur die plump listigen Anstrengungen eines Mörders zu sehen, der sich seiner Verantwortung entziehen will. »Warum haben Sie sich die blutigen Hände abgewischt? – Warum haben Sie das Messer weggeworfen? – Warum haben Sie nach der Tat frische Kleider und Wäsche angezogen? – Weil es Sonntag war? Nicht, weil sie blutig waren? – Weshalb sind Sie zu einer Unterhaltung gegangen? Die Tat hat Sie also nicht gehindert, das zu tun? Haben Sie überhaupt Reue empfunden?« Ulrich verstand gut die tiefe Entsagung, mit der Moosbrugger in solchen Augenblicken seine unzureichende Erziehung anklagte, die ihn verhinderte, dieses aus Unverständnis geflochtene Netz aufzuknoten, was aber in der Sprache des Richters mit strafendem Nachdruck hieß: »Sie wissen immer anderen die Schuld zu geben!« Dieser Richter faßte alles in eins zusammen, ausgehend von den Polizeiberichten und der Landstreicherei, und gab es als Schuld Moosbrugger; für den aber bestand es aus lauter einzelnen Vorfällen, die nichts miteinander zu tun hatten und jeder eine andere Ursache besaßen, die außerhalb Moosbruggers und irgendwo im Ganzen der Welt lag. In den Augen des Richters gingen seine Taten von ihm aus, in den seinen waren sie auf ihn zugekommen wie Vögel, die herbeifliegen. Für den Richter war Moosbrugger ein besonderer Fall; für sich war er eine Welt, und es ist sehr schwer, etwas Überzeugendes über eine Welt zu sagen. Es waren zwei Taktiken, die miteinander kämpften, zwei Einheiten und Folgerichtigkeiten; aber Moosbrugger hatte den ungünstigeren Stand, denn seine seltsamen Schattengründe hätte auch ein Klügerer nicht ausdrücken können. Sie kamen unmittelbar aus dem verwirrt Einsamen seines Lebens, und während alle anderen Leben hundertfach bestehen, – in der gleichen Weise gesehen von denen, die sie führen, wie von allen anderen, die sie bestätigen –, war sein wahres Leben nur für ihn vorhanden. Es war wie ein Hauch, der sich immerfort deformiert und die Gestalt wechselt. Freilich hätte er seine Richter fragen können, ob ihr Leben denn im Wesen anders sei? Aber so etwas dachte er gar nicht. Vor der Justiz lag alles, was nacheinander so natürlich gewesen war, sinnlos nebeneinander in ihm, und er bemühte sich mit den größten Anstrengungen, einen Sinn hinervorinzubringen, der der Würde derseiner vornehmen Gegner in nichts nachstehen sollte. Der Richter wirkte beinahe gütig in seinem Bemühen, ihn dabei zu unterstützen und ihm Begriffe zur Verfügung zu stellen, selbst wenn es solche waren, die Moosbrugger den fürchterlichsten Folgen auslieferten.-

Es war wie der Kampf eines Schattens mit der Wand, und zum Schluß flackerte Moosbruggers Schatten nur noch gräßlich. Bei dieser letzten Verhandlung war Ulrich dabei. Als der Vorsitzende das Gutachten vorlas, das ihn als verantwortlich erklärte, erhob sich Moosbrugger und tat dem Gerichtshof kund: »Ich bin damit zufrieden und habe meinemn Zweck erreicht.« Spöttischer Unglaube in den Augen rings umher antwortete ihm, und er fügte zornig hinzu: »Dadurch, daß ich die Anklage erzwungen habe, bin ich mit dem Beweisverfahren zufrieden!« Der Vorsitzende, der jetzt ganz Strenge und Strafe geworden war, verwies ihnes ihm mit der Bemerkung, daß es dem Gerichtshof nicht auf seine Zufriedenheit ankomme. Dann las er ihm das Todesurteil vor, genau so, als ob der Unsinn, den Moosbrugger zum Vergnügen aller Anwesenden während der ganzen Verhandlung gesprochen hatte, nun auch erst einmal ernst beantwortet werden müßte. Da sagte Moosbrugger nichts, damit es nicht wie ein Schreck aussehe. Dann wurde die Verhandlung geschlossen, und alles war vorbei. Da aber wankte doch sein Geist; er wich zurück, ohnmächtig gegen den Hochmut der Verständnislosen; er drehte sich um, den schon die Justizsoldaten hinausführten, kämpfte um Worte, reckte die Hände empor und rief mit einer Stimme, welche die Stöße seiner Wörächter abschüttelte: »Ich bin damit zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muß, daß Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!«

Das war eine Inkonsequenz; aber Ulrich saß atemlos. Das war deutlich Irrsinn, und ebenso deutlich bloß ein verzerrter Zusammenhang unserer eigenenunsrer eignen Elemente des Seins. Zerstückt und durchdunkelt war es; aber Ulrich fiel irgendwie ein: wenn die Menschheit als Ganzes träumen könnte, müßte Moosbrugger entstehen. Er ernüchterte sich erst, als der »elende Hanswurst von Verteidiger«, wie ihn Moosbruggers Undank einmal im Lauf der Verhandlung genannt hatte, wegen irgendwelchenr Einzelheiten die Nichtigkeitsbeschwerde anmeldete, während ihrer beider riesiger Klient abgeführt wurde.


Bruchstück


Diotima war die Freundin Sr. Erlaucht des Grafen Leinsdorf.

Von den Körperteilen, nach welchen Freundschaften benannt werden, lag der gräflich Leinsdorfsche an einem solchen Ort zwischen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuchlich wäre. Se. Erlaucht dachte anders als Sektionschef Tuzzi über den Wert geistiger Schönheit. Durch sein Wohlwollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt.

Man möge sich erinnern, daß Se. Erlaucht, der reichsunmittelbare Graf »nichts als Patriot« war. Dann möge man bedenken, daß der Staat zwar aus der Krone und dem Volk besteht, dazwischen die Verwaltung, daß es eines aber noch außerdem gibt: den Gedanken, die Moral, die Idee! – So religiös Se. Erlaucht für seine Person war, so wenig verschloß er sich – als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb – der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Er war jederzeit bereit, diese in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern, aber wenn er nicht davon sprechen mußte, war er überzeugt, daß man aus irgendwelchen Gründen sich damit abzufinden habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andererseits ohne solche Hilfen kein moderner Großgrundbesitz rationell zu denken ist. Auch der Kardinal-Erzbischof hätte dabei nicht anders handeln können als er, und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, und es zeigte sich, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe irgendein Geschäft besser zu machen war als auf der Seite des einheimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste entscheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verantwortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt; ja es gibt sogar etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht. Wenn dann gesagt wurde, daß hohe Herrn nicht selten für ihre Person das täten, was sie in der Öffentlichkeit bekämpften, so war das nach Graf Leinsdorfs heiligster Überzeugung hetzerische Demagogie, das heißt, Gerede von wühlerischen und wieglerischen Elementen, die von den Zusammenhängen innerhalb einer ausgebreiteten Verantwortlichkeit keine Ahnung hatten.

Sieht man es nicht mit seinen Augen an, so wäre also zu sagen: Graf Leinsdorf besaß die festen, überkommenen Grundsätze der christlichen staatserhaltenden Moral, aber sie ließen sich auf die Verwicklungen des heutigen Lebens nicht anwenden, weil sie in ihrer Einfachheit über diese gar nichts aussagten. Seine Erlaucht gab sie außerhalb des Geschäftslebens deshalb noch lange nicht preis; im Gegenteil, er lobte, wo er konnte, ihre Einfachheit, die den Zugang in jedes Herz findet, was allein schon sowohl ihre Natürlichkeit wie ihre Übernatürlichkeit bewies, und verlangte von jedermann die Hoffnung, daß das Leben zu ihnen wieder zurückfinden werde; in der Zwischenzeit, wenn man nicht weltfremd bleiben wollte, mußte man sich freilich behelfen. Man sieht daraus, daß Se. Erlaucht mit Recht über demagogische Angriffe entrüstet sein dufte, denn seine Ansichten entsprachen so ziemlich dem wirklichen Zustand der Welt und den Ansichten aller andren arbeitsamen Menschen.

Es handelt sich um das Leben, nicht um Se. Erlaucht; das Leben hat sich allen Grundsätzen, welche sich durch schöne Einfachheit und überdies durch menschliche wie göttliche Überlieferung auszeichnen, in einer geradezu zaubertückischen, kunststückhaften Weise entzogen, indem es unter ihrem Stempel auswich und so lange über alle Ränder floß, bis es draußen ein ganz andres, unendlich viel größeres und schwieriger zu fassendes Leben hervorgebracht hatte; Se. Erlaucht tat also ganz recht, wenn er für dieses emanzipierte Leben auch die Ideen verantwortlich machte, die zugleich mit ihm an Stelle des Glaubens getreten sind, und aus diesem, etwas indirekten Grunde war er nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaftlicher ziviler Idealist. Die vertiefte bürgerliche Bildung mit ihren großen Gedanken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und des Schönen, bis zu ihren Tageskämpfen und täglichen Widersprüchen, erschien ihm wie eine Brücke aus lebendem Pflanzengewirr über den Abgrund gespannt, der zwischen den Forderungen des Glaubens und des Lebens klafft. Man konnte durchaus nicht so fest und sicher darauf fußen wie auf den Dogmen der Kirche, aber es war nicht weniger notwendig und verantwortungsvoll.

Diesen Überzeugungen Sr. Erlaucht entsprach in seiner Zusammensetzung der Salon Diotimas. Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort Menschen traf, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgendeinem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte. Es gab zum Beispiel Kenzisten und Kanisisten, es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß, abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die neben ihren arrivierten Fachgenossen dort verkehren durften. Im allgemeinen war dieser Verkehr so eingerichtet, daß alles durcheinander kam und sich harmonisch mischte; nur die jungen Geister hielt Diotima noch durch gesonderte Einladungen gewöhnlich abseits und seltene oder besondre Gäste verstand sie unauffällig zu bevorzugen und einzurahmen. Denn was das Haus Diotimas vor allen ähnlichen auszeichnete, war, wenn man so sagen dürfte, gerade das Laienelement; jenes Element der praktisch angewandten Ideen nämlich, das sich einst um den Kern der Gotteswissenschaften als ein Volk von gläubig Schaffenden verteilte, eigentlich als eine Gemeinschaft von lauter Laienbrüdern und -schwestern, kurz gesagt, das Element der Tat; und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Nationalökonomie und Physik verdrängt waren und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society heranwuchs und mit Hilfe des deutschen Nachschlagewerks »Wer ist's?« überwacht werden mußte, bestanden die Laienbrüder und -schwestern dementsprechend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerialräten und den Damen wie Herren der hohen und der ihr attachierten Gesellschaft. Besonders die Frauen ließ Diotima sich angelegen sein, und wie hätte sie auch anders können, wenn hochgestellte Frauen bei ihr verkehren sollten, sie trat, wo sie konnte, vor ihnen zurück, und wurde von ihnen dafür verhätschelt. Übrigens lud sie mit Absicht nur ›Damen‹ ein und fast niemals ›weibliche Intellektuelle‹. »Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet«, pflegte sie zu sagen, »als das wir auf die ›ungebrochene Frau‹ verzichten dürften«, und einmal erklärte sie es im vertrauten Kreis damit, daß nur die ungebrochene Frau noch jene Schicksalsmacht besitze, welche den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen vermöge, was dieser ihrer Ansicht nach zu seiner Erlösung offenbar sehr nötig hatte. Diese Auffassung von der umschlingenden Frau und der Kraft des Seins wurde ihr auch von dem männlichen jungen Adel, der bei ihr verkehrte, weil es als Gepflogenheit galt und Sektionschef Tuzzi nicht unbeliebt war, hoch angerechnet; denn das unzersplitterte Sein ist nun einmal etwas für den Adel, und im besonderen war das Haus Tuzzi, wo man sich paarweise in Gespräche vertiefen durfte ohne aufzufallen, für liebende Zusammenkünfte und lange Aussprachen, ohne daß Diotimas das ahnte, noch viel beliebter als eine Kirche.

Se. Erlaucht Graf Leinsdorf umfaßte diese zwei in sich so vielfältigen Elemente, die sich bei Diotima mischten, wenn er nicht gerade die wahre Vornehmheit sagte, mit der Bezeichnung ›Besitz und Bildung‹, noch lieber verwandte er aber daran jene Vorstellung ›Amt‹, die in seinem Denken einen bevorzugten Platz einnahm. Er vertrat die Auffassung, daß jede Leistung – nicht nur die eines Beamten, sondern ebensogut die es Fabrikarbeiters oder eines Konzertsängers – ein Amt darstelle. »Jeder Mensch«, pflegte er zu sagen, »besitzt ein Amt im Staate, der Arbeiter, der Fürst, der Handwerker sind Beamte!«; es war dies ein Ausfluß seines stets und unter allen Umständen sachlichen Denkens, einer Unbedingtheit, die keine Protektion kannte, und demnach erfüllten in seinen Augen auch die Herrn und Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte oder der Plättchenfrage plauderten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfinanz ansahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt. Dieser Begriff Amt ersetzte ihm die seit dem Mittelalter abhanden gekommene religiöse Einheit des menschlichen Tuns.

Nicht ganz so einfach empfand Diotima ihre Aufgabe. Auch sie glaubte an ihren Salon, und letzten Endes entspringt alle solche gewaltsame Geselligkeit wie die bei ihr, wenn sie nicht ganz naiv und roh ist, dem Bedürfnis, eine menschliche Einheit vorzutäuschen, welche die so sehr verschiedenen menschlichen Betätigungen umfassen soll, und welche es nicht gibt. Diese Einheit nannte Diotima Kultur und gewöhnlich mit einem besonderen Zusatz die alte österreichische Kultur. Seit ihr Ehrgeiz durch Erweiterung zu Geist geworden war, hatte sie dieses Wort immer häufiger gebrauchen gelernt. Sie verstand darunter: Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher war. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreiches zusammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamter. Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft. Sie verstand auch die Tatsache darunter, daß sie hier die Vertraute eines Mannes wie Erlaucht Leinsdorf geworden war, ja vor allem verstand sie wohl ursprünglich darunter die Anerkennung, welche eine Frau von ihrem Verständnis für alte Kultur in der alten Gesellschaft einer alten und geschichtsreichen Stadt gefunden hatte. Viele dieser Tatsachen, welche sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, waren einst freilich nur lästige Lernaufgaben für sie gewesen, und sie wußte auch nicht mehr sehr viel von ihnen; aber mitten zwischen ihnen sich leben zu wissen, war zu einem bezaubernden Reiz geworden, ebenso heroisch wie das hochsommerliche Summen der Bienen, die ja auch nicht stechen, wenn man sie nicht einzeln anfaßt.

Aber eines Tags faßte sie sie an, denn es blieb ihr gar nichts anderes übrig, und da ging es ihr nun nicht anders als dem Grafen Leinsdorf mit seinen Bankverbindungen, man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. Von Automobilen und Röntgenstrahlen mochte man noch sprechen, das löste Gefühle aus, aber mit einer neuen Maschinerie oder chemischen Erfindung war nichts mehr anzufangen – oder immer nur das gleiche, ein allgemeines Bewundern der menschlichen Erfindungsgabe, – und trotzdem besaßen ihre Erfinder besondren und sie voneinander unterscheidenden Ruhm, ja genau gesehen, zeigte sich, daß selbst das edel einfache Hellas, wenn man mit wirklichen Kennern sprach, sich in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von gar nicht mehr zu vereinenden Teilbildern auflöste. Diotima erfuhr also dieses bekannte Leiden des modernen Menschen, und in trüben Stunden, wenn ihr die Idee eines Kultursalons entschwand, hatte sie dafür ein gleichfalls zeitbekanntes Wort in Gebrauch genommen: sie nannte diesen hinderlichen Zustand Zivilisation.

Zivilisation hieß nun alles Unbekannte, Bedrückende, das ihrem geistigen Wohl- und Einheitsgefühl entgegenstand. Zivilisation waren also technische Konstruktionen, die unverständlichen Kräfte elektrischer Bahnen, der drahtlosen Telegraphie oder von Flugzeugen, waren mathematische Formeln mit ihrer anmaßenden Zeichensprache, chemische Gleichungen und Namen, Nationalökonomie und experimentelle Forschung. Aber auch der Umstand, daß sie als bürgerliche Beamtensfrau sich in der adeligen Gesellschaft trotz ihrer geistigen Überlegenheit immer nur mit großer Vorsicht werde bewegen können, bewies ein Verhältnis von Geistesadel und gesellschaftlichem, wie es kein Kultur-, sondern nur ein Zivilisationszeitalter kennzeichnet. Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen


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Bruchstück
Diotima war24. Besitz und Bildung; Diotimas Freundschaft mit Graf Leinsdorf und das Amt, berühmte Gäste in Einheit mit der Seele zu bringen



Zu einem feststehenden Begriff wurde es aber erst durch die FreundinFreundschaft Diotimas mit Sr. Erlaucht desm Grafen Leinsdorf.

Von den Körperteilen, nach welchendenen Freundschaften benannt werden, lag der gräflich Leinsdorfsche an einem solchen Ort zwischen Kopf und Herz, daß man Diotima nicht anders als seine Busenfreundin nennen dürfte, wenn dieses Wort noch gebräuchlich wäre. Se. Erlaucht dachte anders als Sektionschef Tuzzi über den Wert geistigerverehrte Diotimas Geist und Schönheit, ohne sich unerlaubte Absichten zu gestatten. Durch sein Wohlwollen gewann Diotimas Salon nicht nur eine unerschütterliche Stellung, sondern erfüllte, wie er sich auszudrücken pflegte, ein Amt.

Man möge sich erinnern, daßFür seine Person war Se. Erlaucht, der reichsunmittelbare Graf »nichts als Patriot« war. Dann möge man bedenken, daß«. Aber der Staat zwarbesteht nicht nur aus der Krone und dem Volk besteht, dazwischen die Verwaltung, daßsondern es eines aber noch gibt in ihm außerdem gibtnoch eins: den Gedanken, die Moral, die Idee! – So religiös Se. Erlaucht für seine Person war, so wenig verschloß er sich, als ein von Verantwortung durchdrungener Geist, der überdies auf seinen Gütern Fabriken betrieb, der Erkenntnis, daß sich heute der Geist in vielem der Bevormundung durch die Kirche entzogen habe. Er war jederzeit bereit, diese in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern, aber wenn er nicht davon sprechen mußte, war er überzeugt, daß man aus irgendwelchen Gründen sich damit abzufinden habe. Denn er konnte sich nicht vorstellen, wie zum Beispiel eine Fabrik, eine Börsenbewegung in Getreide oder eine Zuckerkampagne nach religiösen Grundsätzen zu leiten wären, während andererseits ohne solche Hilfen keinBörse und Industrie ein moderner Großgrundbesitz rationell nicht zu denken ist. Auch der Kardinal-Erzbischof hätte dabei nicht anders handeln können als er,; und wenn Se. Erlaucht den Vortrag seines Wirtschaftsdirektors empfing, und esder ihm zeigte sich, daß in Verbindung mit einer ausländischen Spekulantengruppe irgendeinein Geschäft besser zu machen warsei als aufan der Seite des einheimischen Grundadels, so mußte Se. Erlaucht sich in den meisten Fällen für das erste entscheiden, denn die sachlichen Zusammenhänge haben ihre eigene Vernunft, der man sich nicht einfach nach Gefühl entgegenstellen kann, wenn man als Leiter einer großen Wirtschaft die Verantwortung nicht für sich allein, sondern auch für ungezählte andere Existenzen trägt; ja es. Es gibt sogar etwas wie ein fachliches Gewissen, das unter Umständen dem religiösen widerspricht. Wenn dann gesagt wurde, und Graf Leinsdorf war überzeugt, daß hohe Herrnselbst der Kardinal Erzbischof dabei nicht selten anders handeln könnte als er. Freilich war Graf Leinsdorf auch jederzeit bereit, dies in öffentlicher Herrenhaussitzung zu bedauern und die Hoffnung auszusprechen, daß das Leben zu der Einfachheit, Natürlichkeit, Übernatürlichkeit, Gesundheit und Notwendigkeit der christlichen Grundsätze wieder zurückfinden werde. Das war, sobald er zu solchen Ausführungen den Mund öffnete, wie wenn man einen Kontaktstöpsel herausgezogen hätte, und er floß in einem anderen Stromkreis. Übrigens geht es den meisten Menschen so, wenn sie sich öffentlich äußern; und wenn jemand Sr. Erlaucht vorgeworfen hätte, daß er für ihreseine Person das tätuen, was sieer in der Öffentlichkeit bekämpften, so war das nachwürde Graf Leinsdorfs heiligsterLeinsdorf es mit heiliger Überzeugung hetzerische Demagogie,als das heißt,demagogische Gerede von wühlerischen und wieglerischen Elementen gebrandmarkt haben, die von den Zusammenhängen innerhalb einerder ausgebreiteten Verantwortlichkeit des Lebens keine Ahnung hatten.

Sieht man es nicht mit seinen Augen an, so wäre also zu sagen: Graf Leinsdorf besaß die festen, überkommenen Grundsätze der christlichen staatserhaltenden Moral, aber sie ließen sich aufbesäßen. Trotzdem erkannte er selbst, daß eine Verbindung zwischen den ewigen Wahrheiten und den Geschäften, die Verwicklungen des heutigen Lebens nicht anwenden, weil sie in ihrer Einfachheit über diese gar nichts aussagten. Seine Erlaucht gab sie außerhalb des Geschäftslebens deshalb noch lange nicht preis; im Gegenteil, er lobte, wo er konnte, ihre Einfachheit,so viel verwickelter sind alsdie den Zugang in jedes Herz findet, was allein schon sowohl ihre Natürlichkeit wie ihre Übernatürlichkeit bewies, und verlangte von jedermann die Hoffnung, daß das Leben zu ihnen wieder zurückfinden werde; in der Zwischenzeit, wenn man nicht weltfremd bleiben wollte, mußte man sich freilich behelfen. Man sieht daraus, daß Se. Erlaucht mit Recht über demagogische Angriffe entrüstet sein dufte, denn seine Ansichten entsprachen so ziemlich dem wirklichen Zustand der Welt und den Ansichten aller andren arbeitsamen Menschen.

Es handelt sich um das Leben, nicht um Se. Erlaucht; das Leben hat sich allen Grundsätzen, welche sich durch
schöne Einfachheit und überdies durch menschliche wie göttlicheder Überlieferung auszeichnen, in einer geradezu zaubertückischen, kunststückhaften Weise entzogen, indem es unter ihrem Stempel auswich und so lange über alle Ränder floß, bis es draußen ein ganz andres, unendlich viel größeres und schwieriger zu fassendes Leben hervorgebracht hatte; Se. Erlaucht tat also ganz recht, wenn er für dieses emanzipierte Leben auch die Ideen verantwortlich machte, die zugleich mit ihm an Stelle des Glaubens getreten sind, und aus diesem, etwas indirekten Grunde war er nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaftlicher ziviler Idealist. Die vertiefte bürgerliche, eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit darstelle, und er hatte auch erkannt, daß sie nirgends anders zu suchen sei als in der vertieften bürgerlichen Bildung; mit ihren großen Gedanken und Idealen auf den Gebieten des Rechts, der Pflicht, des Sittlichen und des Schönen, reichte sie bis zu ihrden Tageskämpfen und täglichen Widersprüchen, und erschien ihm wie eine Brücke aus lebendem Pflanzengewirr über den Abgrund gespannt, der zwischen den Forderungen des Glaubens und des Lebens klafft.. Man konnte durchauszwar nicht so fest und sicher daraufauf ihr fußen wie auf den Dogmen der Kirche, aber es war nicht weniger notwendig und verantwortungsvoll, und aus diesem Grunde war Graf Leinsdorf nicht nur ein religiöser, sondern auch ein leidenschaftlicher ziviler Idealist.

Diesen Überzeugungen Sr. Erlaucht entsprach in seiner Zusammensetzung der Salon Diotimas.
Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man dort an großen Tagen auf Menschen trafstieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte, weil sie in irgendeinem Fach zu bekannt waren, um mit ihnen über die letzten Neuigkeiten zu sprechen, während man den Namen des Wissensbezirks, in dem ihr Weltruhm lag, in vielen Fällen noch nie gehört hatte. Es gab zum Beispiel Kenzistenda Kenzinisten und Kanisisten, es konnte vorkommen, daß ein Grammatiker des Bo auf einen Partigenforscher, ein Tokontologe auf einen Quantentheoretiker stieß, abzusehen von den Vertretern neuer Richtungen in Kunst und Dichtung, die jedes Jahr die Bezeichnung wechselten und neben ihren arrivierten Fachgenossen in beschränktem Maße dort verkehren durften. Im allgemeinen war dieser Verkehr so eingerichtet, daß alles durcheinander kam und sich harmonisch mischte; nur die jungen Geister hielt Diotima nochgewöhnlich durch gesonderte Einladungen gewöhnlich abseits und seltene oder besondre Gäste verstand sie unauffällig zu bevorzugen und einzurahmen. Denn wasWas das Haus Diotimas vor allen ähnlichen auszeichnete, war übrigens, wenn man so sagen düarfte, gerade das Laienelement; jenes Element der praktisch angewandten Ideen nämlich, das sich – um mit Diotima zu sprechen – einst um den Kern der Gotteswissenschaften als ein Volk von gläubig Schaffenden verteilte, eigentlich als eine Gemeinschaft von lauter Laienbrüdern und -schwestern, kurz gesagt, das Element der Tat;und heute, wo die Gotteswissenschaften durch Nationalökonomie und Physik verdrängt warenworden sind und Diotimas Verzeichnis einzuladender Verweser des Geistes auf Erden mit der Zeit an den Catalogue of Scientific Papers der British Royal Society heranwuchs und mit Hilfe des deutschen Nachschlagewerks »Wer ist's?« überwacht werden mußte, bestanden die Laienbrüder und -schwestern dementsprechend aus Bankdirektoren, Technikern, Politikern, Ministerialräten und den Damen wie Herren der hohen und der ihr attachiertenangeschlossenen Gesellschaft. Besonders die Frauen ließ Diotima sich angelegen sein, und wie hätteaber sie auch anders können, wenn hochgestellte Frauen bei ihr verkehren sollten, sie trat, wo sie konnte,bevorzugte dabei die »Damen« vor ihnen zurück, und wurde von ihnen dafür verhätschelt. Übrigens lud sie mit Absicht nur ›Damen‹ ein und fast niemals ›weibliche Intellektuelle‹.den »Intellektuellen«. »Das Leben ist heute viel zu sehr von Wissen belastet«,pflegte sie zu sagen, »als dasß wir auf die ›ungebrochene Frau‹ verzichten dürften«, und einmal erklärte sie es im vertrauten Kreis damit.« Sie war überzeugt, daß nur die ungebrochene Frau noch jene Schicksalsmacht besitze, welchedie den Intellekt mit Seinskräften zu umschlingen vermöge, was dieser ihrer Ansicht nach zu seiner Erlösung offenbar sehr nötig hatte. Diese Auffassung von der umschlingenden Frau und der Kraft des Seins wurde ihr übrigens auch von dem männlichen jungen Adel, der bei ihr verkehrte, weil es als Gepflogenheit galt und Sektionschef Tuzzi nicht unbeliebt war, hoch angerechnet; denn das unzersplitterte Sein ist nun einmal etwas für den Adel, und im besonderen war das Haus Tuzzi, wo man sich paarweise in Gespräche vertiefen durfte, ohne aufzufallen, für liebende Zusammenkünfte und lange Aussprachen, ohne daß Diotimas das ahnte, noch viel beliebter als eine Kirche.

Se. Erlaucht Graf Leinsdorf umfaßte diese zwei in sich so vielfältigen Elemente, die sich bei Diotima mischten, wenn er sie nicht gerade die »wahre Vornehmheit« snagnnte, mit der Bezeichnung »Besitz und Bildung‹,«; noch lieber verwandte er aber daranfür sie jene Vorstellung »Amt‹,«, die in seinem Denken einen bevorzugten Platz einnahm. Er vertrat die Auffassung, daß jede Leistung – nicht nur die eines Beamten, sondern ebensogut die eines Fabrikarbeiters oder eines Konzertsängers – ein Amt darstelle. »Jeder Mensch«,« pflegte er zu sagen, »besitzt ein Amt im Staate,; der Arbeiter, der Fürst, der Handwerker sind Beamte!«; es war dies ein Ausfluß seines stets und unter allen Umständen sachlichen Denkens, einer Unbedingtheit, diedas keine Protektion kannte, und demnach erfüllten in seinen Augen erfüllten auch die Herrn und Damen der obersten Gesellschaft, indem sie mit den Erforschern der Boghazkoitexte oder der Plättchenfrage plauderten und sich die anwesenden Gattinnen der Hochfinanz ansahen, ein wichtiges, wenn auch nicht genau zu umschreibendes Amt. Dieser Begriff Amt ersetzte ihm das, was Diotima als die seit dem Mittelalter abhanden gekommene religiöse Einheit des menschlichen Tuns bezeichnete.

Nicht ganz so einfach empfand Diotima ihre Aufgabe. Auch sie glaubte an ihren Salon, und letzten Endes entspringtUnd im Grunde entspringt auch wirklich alle solche gewaltsame Geselligkeit wie die bei ihr, wenn sie nicht ganz naiv und roh ist, dem Bedürfnis, eine menschliche Einheit vorzutäuschen, welche die so sehr verschiedenen menschlichen Betätigungen umfassen soll, und welche es nicht gibt.niemals vorhanden ist. Diese EinheitTäuschung nannte Diotima Kultur und gewöhnlich mit einem besonderen Zusatz die alte österreichische Kultur. Seit ihr Ehrgeiz durch Erweiterung zu Geist geworden war, hatte sie dieses Wort immer häufiger gebrauchen gelernt. Sie verstand darunter: Die schönen Bilder von Velasquez und Rubens, die in den Hofmuseen hingen. Die Tatsache, daß Beethoven sozusagen ein Österreicher wargewesen ist. Mozart, Haydn, den Stefansdom, das Burgtheater. Das von Traditionen schwere höfische Zeremoniell. Den ersten Bezirk, wo sich die elegantesten Kleider- und Wäschegeschäfte eines Fünfzigmillionenreiches zusammengedrängt hatten. Die diskrete Art hoher Beamter. Die Wiener Küche. Den Adel, der sich nächst dem englischen für den vornehmsten hielt, und seine alten Paläste. Den, manchmal von echter, meist von falscher Schöngeistigkeit durchsetzten Ton der Gesellschaft. Sie verstand auch die Tatsache darunter, daß sie hier die Vertraute eines Mannes wie Erlaucht Leinsdorf geworden war, ja vor allem verstand sie wohl ursprünglich darunter die Anerkennung, welche eine Frau von ihrem Verständnis für alte Kultur in der alten Gesellschaft einer alten und geschichtsreichen Stadt gefunden hatte. Viele dieser Tatsachen, welche sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, waren einst freilich nur lästige Lernaufgaben für sie gewesen, und sie wußte auch nicht mehr sehr viel von ihnen; aber mitten zwischen ihnen sich leben zu wissen, war zu einem bezaubernden Reiz geworden, ebenso heroisch wie das hochsommerliche Summen der Bienen, die ja auch nicht stechen, wenn man sie nicht einzeln anfaßtihr in diesem Lande ein so großer Herr wie Graf Leinsdorf seine Aufmerksamkeit schenkte und seine eigenen kulturellen Bestrebungen in ihr Haus verlegte. Sie wußte nicht, daß Se. Erlaucht das auch deshalb tat, weil es ihm unpassend erschien, sein eigenes Palais einer Neuerung zu öffnen, über die man leicht die Aufsicht verliert. Graf Leinsdorf war oft heimlich entsetzt über die Freiheit und Nachsicht, mit der seine schöne Freundin von menschlichen Leidenschaften und den Verwirrungen sprach, die sie anrichten, oder von revolutionären Ideen. Aber Diotima bemerkte es nicht. Sie hielt eine Trennung ein, zwischen sozusagen amtlicher Unkeuschheit und privater Keuschheit, wie eine Ärztin oder eine soziale Fürsorgerin; sie war empfindlich wie an einer verletzten Stelle, wenn ein Wort ihr persönlich zu nahe kam, aber unpersönlich sprach sie über alles und konnte dabei nur fühlen, daß Graf Leinsdorf sich von dieser Mischung sehr angezogen zeige.

Aber eines Tags faßte sie sie an, dennAllein, das Leben baut nichts auf, wozu es bliebnicht die Steine anderswo ausbricht. Zu Diotimas schmerzlicher Überraschung war ein sehr kleiner, träumerisch süßer Mandelkern von Phantasie, den ihr Dasein einst einschloß, als es sonst noch gar nichts anderes übrig,enthielt, der auch noch dagewesen war, als sie sich den wie ein lederner Reisekoffer mit zwei dunklen Augen aussehenden Vizekonsul Tuzzi zu heiraten entschloß, in den Jahren des Erfolgs verschwunden. Freilich war vieles von dem, was sie unter alter österreichischer Kultur verstand, wie Haydn oder die Habsburger, einst nur eine lästige Lernaufgabe gewesen, während mitten dazwischen sich leben zu wissen ihr jetzt als ein bezaubernder Reiz erschien, der ebenso heroisch ist wie das hochsommerliche Summen der Bienen; aber mit der Zeit wurde das nicht nur eintönig, sondern auch anstrengend und dasogar hoffnungslos. Es ging es ihr nunDiotima mit ihren berühmten Gästen nicht anders alswie dem Grafen Leinsdorf mit seinen Bankverbindungen,; man mochte noch so sehr wünschen, sie in Einheit mit der Seele zu bringen, es gelang nicht. Von Automobilen und Röntgenstrahlen mochtekann man nochja sprechen, das löstelöst noch Gefühle aus, aber mit einer neuen Maschinerie oder chemischen Erfindung war nichts mehr anzufangen – oder immer nur das gleiche, ein allgemeines Bewundern der menschlichenwas sollte man mit allen unzähligen anderen Erfindungen und Entdeckungen, die heute jeder Tag hervorbringt, anderes anfangen, als ganz im allgemeinen die menschliche Erfindungsgabe, – und trotzdem besaßen ihre Erfinder besondren und sie voneinander unterscheidenden Ruhm, ja genau gesehen zu bewundern, was auf die Dauer recht schleppend wirkt! Se. Erlaucht kam gelegentlich und sprach mit einem Politiker oder ließ sich einen neuen Gast vorstellen, er hatte es leicht, von vertiefter Bildung zu schwärmen; wenn man aber so eingehend mit ihr zu tun hatte wie Diotima, zeigte es sich, daß selbst das edel einfache Hellas, wenn man mit wirklichennicht die Tiefe, sondern ihre Breite das Unüberwindliche war. Sogar die dem Menschen unmittelbar nahegehenden Fragen wie die edle Einfachheit Griechenlands oder der Sinn der Propheten lösten sich, wenn man mit Kennern sprach, sich in eine unüberblickbare Vielfältigkeit von gar nicht mehr zu vereinenden Teilbildern auflöste. Diotima erfuhr also diesesZweifeln und Möglichkeiten auf. Diotima machte die Erfahrung, daß sich auch die berühmten Gäste an ihren Abenden immer paarweise unterhielten, weil ein Mensch schon damals höchstens noch mit einem zweiten Menschen sachlich und vernünftig sprechen konnte, und sie konnte es eigentlich mit keinem. Damit hatte Diotima aber an sich das bekannte Leiden des modernen Menschen, und in trüben Stunden, wenn ihr die Idee eines Kultursalons entschwand, hatte sie dafür ein gleichfalls zeitbekanntes Wort in Gebrauch genommen: sie nannte diesen hinderlichen Zustandzeitgenössischen Menschen entdeckt, das man Zivilisation.

Zivilisation hieß nun alles Unbekannte, Bedrückende, das ihrem geistigen Wohl- und Einheitsgefühl entgegenstand. Zivilisation waren also technische Konstruktionen, die unverständlichen Kräfte elektrischer Bahnen, der nennt. Es ist ein hinderlicher Zustand, voll von Seife, drahtlosen Telegraphie oder von Flugzeugen, waren mathematische Formeln mit ihrerWellen, der anmaßenden Zeichensprache, chemische Gleichungen mathematischer und Namenchemischer Formeln, Nationalökonomie und experimentelle, experimenteller Forschung. Aber auch der Umstand, daß sie als bürgerliche Beamtensfrau sich in der adeligen Gesellschaft und der Unfähigkeit zu einem einfachen, aber gehobenen Beisammensein der Menschen. Und auch das Verhältnis des ihr selbst innewohnenden Geistesadels zum gesellschaftlichen Adel, das Diotima große Vorsicht auferlegte und trotz ihrer geistigen Überlegenheitaller Erfolge manche Enttäuschung eintrug, erschien ihr mit der Zeit immer nur mit großer Vorsicht werde bewegen können, bewies ein Verhältnis von Geistesadel und gesellschaftlichemmehr so beschaffen zu sein, wie es kein Kultur-, sondern nur ein Zivilisationszeitalter kennzeichnet.
Zivilisation war demnach alles, was ihr Geist nicht beherrschen konnte. Aber vor allen DingenUnd darum war es seit langem und vor allem auch ihr Mann.


Kleine Szene



Ulrich hatte mit Bonadea ein Zeichen verabredet, dass er allein zu Hause sei. Er war immer allein, aber er gab das Zeichen nicht. Er musste schon lange genug gewärtig sein, dass Bonadea ungerufen mit Hut und Schleier eintrete. Denn Bonadea war über die Massen eifersüchtig. Und wenn sie einen Mann aufsuchte – und sei es auch nur, um ihm zu sagen, dass sie ihn verachte –, kam sie immer voll innerer Schwäche an, denn die Eindrücke des Wegs und die Blicke der Männer, denen sie begegnete, schaukelten in ihr wie leichte Seekrankheit. Wenn der Mann dies aber erriet und geradewegs auf sie zusteuerte, obgleich er sich so lange Zeit lieblos nicht um sie gekümmert hatte, so war sie verletzt, zankte mit ihm, schob mit tadelnden Bemerkungen hinaus, was sie selbst kaum noch erwarten konnte, und hatte etwas von einer durch die Flügel geschossenen Ente, die ins Meer der Liebe gefallen ist und sich durch Schwimmen retten will.

Und mit einemmal sass also Bonadea wirklich hier, weinte und fühlte sich missbraucht.

In solchen Augenblicken, wo sie sich über ihren Liebhaber ärgerte, bat sie ihrem Gatten leidenschaftlich ihre Fehltritte ab. Nach einer guten alten Regel der untreuen Frauen, die sie anwenden, damit sie sich nicht durch ein unbedachtes Wort verraten können, hatte sie ihm von dem interessanten Gelehrten erzählt, den sie manchmal in der Familie einer Freundin treffe, aber nicht einlade, weil er gesellschaftlich zu verwöhnt sei, um aus eignem in ihr Haus zu kommen, und sie sich nicht genug aus ihm mache, um ihn trotzdem aufzufordern. Die halbe Wahrheit, die darin lag, erleichterte ihr das Lügen, und die andere Hälfte nahm sie ihren Liebhabern übel. Was solle ihr Mann denken, fragte sie, wenn sie nun mit einemmal den Verkehr mit der vorgeschobenen Freundin wieder einschränke?! Wie solle sie ihm solche Schwankungen der Sympathie verständlich machen?! Sie schätze die Wahrheit hoch, weil sie alle Ideale hochschätze, und Ulrich entehre sie, indem er sie zwinge, weiter davon abzuweichen, als nötig!

Sie machte ihm einen leidenschaftlichen Auftritt, und als er vorbei war, stürzten Vorwürfe, Beteuerungen, Küsse in das dadurch entstandene Vakuum. Als auch die vorbei waren, war nichts geschehen; zurückquellendes Tagesgerede füllte die Leere aus, und die Zeit setzte Bläschen an wie ein Glas schalen Wassers.

»Wie viel schöner sie ist, wenn sie wild wird«, überlegte Ulrich, »und wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen.« Ihr Anblick hatte ihn ergriffen und zu Zärtlichkeiten verführt; jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging. Das unglaublich Schnelle solcher Veränderungen, die einen gesunden Menschen in einen schäumenden Narren verwandeln, wurde überaus deutlich daran. Es kam ihm aber vor, dass diese Liebesverwandlung des Bewusstseins nur ein besonderer Fall von etwas weit allgemeinerem sei; denn auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äusserungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewusstseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird.

»Vor kurzem habe ich doch noch gearbeitet!«, dachte er, »und vorher war ich auf der Strasse und habe Papier gekauft. Ich grüsste einen Herrn, den ich aus der physikalischen Gesellschaft kenne. Ich habe mit ihm vor kurzer Zeit eine ernste Aussprache gehabt. Und jetzt, wenn Bonadea sich etwas beeilen wollte, könnte ich in den Büchern dort, die ich durch den Türspalt sehe, etwas nachschlagen. Zwischendurch aber sind wir durch eine Wolke des Irrsinns geflogen, und nicht weniger unheimlich ist es, wie sich jetzt die soliden Erlebnisse über dieser verschwindenden Lücke wieder schliessen und sich in ihrer Zähigkeit zeigen.«

Aber Bonadea beeilte sich nicht, und Ulrich musste an etwas anderes denken. Sein Jugendfreund Walter, dieser etwas wunderlich gewordene Gatte der kleinen Clarisse, hatte einmal von ihm behauptet: »Ulrich tut mit der grössten Energie immer nur das, was er nicht für notwendig hält!« Es fiel ihm gerade in diesem Augenblick ein; »das könnte man heute von uns allen sagen«, dachte er. Er erinnerte sich recht gut: Ein Holzbalkon lief um das Sommerhaus. Ulrich war Gast von Clarissens Eltern; es war wenige Tage vor der Hochzeit, und Walter war auf ihn eifersüchtig. Walter konnte wundervoll eifersüchtig sein. Ulrich stand aussen im Sonnenschein, als Clarisse und Walter das hinter dem Balkon liegende Zimmer betraten. Er belauschte sie, ohne sich zu verstecken. Übrigens erinnerte er sich heute nur noch an jenen einen Satz. Und dann an das Bild; die Schattentiefe des Zimmers hing wie ein faltiger, wenig geöffneter Beutel an der grellen Besonntheit der Aussenmauer. In den Falten dieses Beutels erschienen Walter und Clarisse; Walters Gesicht war schmerzlich in die Länge gezogen und sah aus, als ob es lange, gelbe Zähne hätte. Man könnte auch sagen, ein Paar langer, gelber Zähne lag in einem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Kästchen, und diese zwei Menschen standen geisternd dabei. Die Eifersucht war natürlich Unsinn; Ulrich hatte keine Lust auf Frauen seiner Freunde. Aber Walter hatte immer eine ganz besondere Fähigkeit besessen, heftig zu erleben. Er kam nie zu dem, was er wollte, weil er so viel empfand. Er schien einen sehr melodischen Schallverstärker für das kleine Glück und Unglück in sich zu tragen. Er gab stets kleine Gefühlsmünze in Gold und Silber aus, während Ulrich mehr im grossen operierte, mit Gedankenschecks sozusagen, auf denen gewaltige Ziffern standen; aber schliesslich war das nur Papier.

Er nahm sich vor, wenn Bonadea endlich mit dem Ankleiden fertig sein werde, ihnen Nachricht zu schicken; in Bonadeas Gegenwart war so etwas nicht ratsam, wegen des langweiligen Kreuzverhörs, das unweigerlich folgte.

Und da Gedanken schnell sind und Bonadea noch lange nicht fertig war, fiel ihm eben noch etwas ein. Diesmal war es eine kleine Theorie; sie war einfach, einleuchtend und vertrieb ihm die Zeit. »Ein junger Mensch, wenn er geistig bewegt ist«, sagte Ulrich zu sich, und meinte damit wahrscheinlich noch seinen Jugendfreund Walter, »sendet unaufhörlich Ideen in allen Richtungen aus. Aber nur das, was auf die Resonanz der Umgebung trifft, strahlt wieder auf ihn zurück und verdichtet sich, während alle anderen Ausschickungen sich im Raum verstreuen und verlorengehn!« Ulrich nahm ohne weiteres an, dass ein Mensch, der Geist hat, jede Art davon besitzt, so dass Geist ursprünglicher wäre als Eigenschaften; er selbst war ein Mensch mit vielen Gegensätzen und stellte sich vor, dass alle Eigenschaften, die in der Menschheit je zum Ausdruck gekommen sind, ziemlich nah beieinander in dem Geist jedes Menschen ruhen, wenn er überhaupt Geist hat. Das mag nicht ganz richtig sein, aber was wir vom Entstehen des Guten wie des Bösen wissen, stimmt noch am ehesten dazu, dass jeder zwar seine innere Grössennummer hat, aber in dieser Grösse die verschiedensten Kleider ausfüllen kann, wenn sie ihm das Schicksal bereit hält. Und so kam Ulrich auch das, was er soeben gedacht hatte, nicht ganz bedeutungslos vor. Denn wenn sich im Lauf der Zeit die gewöhnlichen und unpersönlichen Einfälle ganz von selbst verstärken und die ungewöhnlichen verlieren, so dass fast jeder mit der Sicherheit, die ein mechanischer Zusammenhang hat, immer mittelmässiger wird, so erklärt das ja, warum trotz der tausendfältigen Möglichkeiten, die wir vor uns hätten, der gewöhnliche Mensch nun einmal der gewöhnliche ist! Und es erklärt auch, dass es selbst unter den bevorzugten Menschen, die sich durchsetzen und zu Anerkennung kommen, eine gewisse Mischung gibt, die ungefähr 51 Prozent Tiefe und 49 Prozent Seichtheit hat und den meisten Erfolg findet, und das erschien Ulrich schon seit langem so verwickelt sinnlos und unerträglich traurig, dass er gerne weiter darüber nachgedacht haben würde.

Er wurde davon gestört, dass Bonadea noch immer kein Zeichen ihres Fertigseins gab; vorsichtig durch die Türe spähend, gewahrte er, dass sie sich im Ankleiden unterbrochen hatte. Sie fand Zerstreutheit, wenn es sich um die letzten Tropfen der Köstlichkeit des Beisammenseins handelte, unfein; gekränkt von seinem Schweigen, wartete sie ab, was er tun werde. Sie hatte ein Buch genommen, und glücklicherweise enthielt es schöne Abbildungen aus der Geschichte der Kunst.

Ulrich fühlte sich, als er wieder seine Betrachtungen aufnahm, durch dieses Warten gereizt und geriet in eine unbestimmte Ungeduld.

Bonadea nestelte an einer Schnur. Sie war inzwischen in sein Zimmer hereingekommen. Das Gespräch, das er jetzt begann, missfiel ihr, sie fand es undelikat; den Namen des Mädchenmörders, von dem man so viel in den Zeitungen gelesen hatte, hatte sie längst wieder vergessen, und er näherte sich nur widerstrebend ihrer Erinnerung, als Ulrich von ihm zu sprechen anhob.

»Lass doch!« schlug Bonadea vor und hob die weissen Schultern. Denn als Ulrich dem Gespräch diese Wendung gab, war es gerade in dem boshaft gewählten Augenblick geschehen, wo die halb hochgezogenen Kleider seiner gekränkten und nach Versöhnung durstenden Freundin, nachdem sie ins Zimmer gekommen war, von neuem am Teppich den kleinen, reizend mythologischen Schaumkrater bildeten, aus dem Aphrodite hervorsteigt. Ulrich malte ihr kräftig das Schicksal aus, das dem Mörder bevorstand. »Zwei Männer werden ihm die Schlinge um den Hals legen ohne dass sie im geringsten böse Gefühle gegen ihn hegen, sondern bloss weil sie dafür bezhalt sind. Vielleicht hundert Menschen werden zusehen, teils weil es ihr Dienst verlangt, teils weil ein jeder gern einmal im Leben eine Hinrichtung gesehen haben will. Ein feierlicher Herr in Zylinder, Frack und schwarzen Handschuhen zieht die Schlinge an, und im gleichen Augenblick hängen sich seine zwei Gehilfen an die zwei Beine, damit das Genick bricht. Dann legt der Herr mit dem schwarzen Handschuh die Hand auf das Herz des Mörders und prüft mit der sorgenden Miene eines Arztes, ob es noch lebt; denn wenn es noch lebt, wird das Ganze etwas ungeduldiger und weniger feierlich noch einmal wiederholt. Bist du nun eigentlich für den Schuldigen oder gegen ihn?« fragte Ulrich.

Bonadea hatte langsam und schmerzlich wie ein zur Unzeit Geweckter »die Stimmung« verloren, – so pflegte sie ihre Anfälle von Ehebruch zu nennen. Jetzt musste sie sich setzen, nachdem ihre Hände eine Weile lang unentschlossen die sinkenden Kleider und das geöffnete Mieder gehalten hatten. Wie jede Frau in ähnlicher Lage hatte sie das feste Vertrauen in eine öffentliche Ordnung, die so gerecht sei, dass man, ohne an sie denken zu müssen, seinen privaten Angelegenheiten nachgehen könne; nun, wo sie an das Gegenteil gemahnt wurde, stand aber rasch die mitleidige Parteinahme für das Opfer in ihr fest.

»Du bist also«, behauptete Ulrich, »jedesmal für das Opfer und gegen die Tat.«

Bonadea äusserte das naheliegende Gefühl, dass ein solches Gespräch in einer solchen Lage ungehörig sei.

»Aber wenn sich dein Urteil so konsequent gegen die Tat richtet«, antwortete Ulrich, statt sich sofort zu entschuldigen, »wie willst du dann deine Ehebrüche rechtfertigen, Bonadea?!«

Besonders die Mehrzahl war undelikat! Bonadea schwieg, setzte sich mit verächtlicher Miene in einen der weichen Armstühle und sah gekränkt zu der Schnittlinie von Wand und Zimmerdecke empor.


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Kleine Szene
29. Erklärung und Unterbrechungen eines normalen Bewußtseinszustandes



Ulrich hatte mit Bonadea ein Zeichen verabredet, dassß er allein zu Hause sei. Er war immer allein, aber er gab das Zeichen nicht. Er mussßte schon lange genug gewärtig sein, dassß Bonadea ungerufen mit Hut und Schleier eintrete. Denn Bonadea war über die Massßen eifersüchtig. Und wenn sie einen Mann aufsuchte – und sei es auch nur, um ihm zu sagen, dassß sie ihn verachte –,, – kam sie immer voll innerer Schwäche an, denn die Eindrücke des Wegs und die Blicke der Männer, denen sie begegnete, schaukelten in ihr wie leichte Seekrankheit. Wenn der Mann dies aber erriet und geradewegsgeraden Wegs auf sie zusteuerte, obgleich er sich so lange Zeit lieblos nicht um sie gekümmert hatte, so war sie verletzt, zankte mit ihm, schob mit tadelnden Bemerkungen hinaus, was sie selbst kaum noch erwarten konnte, und hatte etwas von einer durch die Flügel geschossenen Ente, die ins Meer der Liebe gefallen ist und sich durch Schwimmen retten will.

Und mit einemmal sassß also Bonadea wirklich hier, weinte und fühlte sich missßbraucht.

In solchen Augenblicken, wo sie sich über ihren Liebhaber ärgerte, bat sie ihrem Gatten leidenschaftlich ihre Fehltritte ab. Nach einer guten alten Regel der untreuen Frauen, die sie anwenden, damit sie sich nicht durch ein unbedachtes Wort verraten können, hatte sie ihm von dem interessanten Gelehrten erzählt, den sie manchmal in der Familie einer Freundin treffe, aber nicht einlade, weil er gesellschaftlich zu verwöhnt sei, um aus eigenem in ihr Haus zu kommen, und sie sich nicht genug aus ihm mache, um ihn trotzdem aufzufordern. Die halbe Wahrheit, die darin lag, erleichterte ihr das Lügen, und die andere Hälfte nahm sie ihren Liebhabern übel. Was solle ihr Mann denken, fragte sie, wenn sie nun mit einemmal den Verkehr mit der vorgeschobenen Freundin wieder einschränke?! Wie solle sie ihm solche Schwankungen der Sympathie verständlich machen?! Sie schätze die Wahrheit hoch, weil sie alle Ideale hochschätze, und Ulrich entehre sie, indem er sie zwinge, weiter davon abzuweichen, als nötig!

Sie machte ihm einen leidenschaftlichen Auftritt, und als er vorbei war, stürzten Vorwürfe, Beteuerungen, Küsse in das dadurch entstandene Vakuum. Als auch die vorbei waren, war nichts geschehen; zurückquellendes Tagesgerede füllte die Leere aus, und die Zeit setzte Bläschen an wie ein Glas schalen Wassers.

»Wie viel schöner ist sie ist, wenn sie wild wird«,überlegte Ulrich, »und wie mechanisch hat sich dann wieder alles vollzogen.« Ihr Anblick hatte ihn ergriffen und zu Zärtlichkeiten verführt; jetzt, nachdem es geschehen war, fühlte er wieder, wie wenig es ihn anging. Das unglaublich Schnelle solcher Veränderungen, die einen gesunden Menschen in einen schäumenden Narren verwandeln, wurde überaus deutlich daran. Es kam ihm aber vor, dssß diese Liebesverwandlung des Bewussßtseins nur ein besonderer Fall von etwas weit aAllgemeinerem sei; denn auch ein Theaterabend, ein Konzert, ein Gottesdienst, alle Äussßerungen des Inneren sind heute solche rasch wieder aufgelöste Inseln eines zweiten Bewussßtseinszustands, der in den gewöhnlichen zeitweilig eingeschoben wird.

»Vor kurzem habe ich doch noch gearbeitet!«,,« dachte er, »und vorher war ich auf der Strassße und habe Papier gekauft. Ich grüssßte einen Herrn, den ich aus der pPhysikalischen Gesellschaft kenne. Ich habe mit ihm vor kurzer Zeit eine ernste Aussprache gehabt. Und jetzt, wenn Bonadea sich etwas beeilen wollte, könnte ich in den Büchern dort, die ich durch den Türspalt sehe, etwas nachschlagen. Zwischendurch aber sind wir aber durch eine Wolke des Irrsinns geflogen, und nicht weniger unheimlich ist es, wie sich jetzt die soliden Erlebnisse über dieser verschwindenden Lücke wieder schliessßen und sich in ihrer Zähigkeit zeigen.«-

Aber Bonadea beeilte sich nicht, und Ulrich mussßte an etwas anderes denken. Sein Jugendfreund Walter, dieser etwas wunderlich gewordene Gatte der kleinen Clarisse, hatte einmal von ihm behauptet: »Ulrich tut mit der grössßten Energie immer nur das, was er nicht für notwendig hält!« Es fiel ihm gerade in diesem Augenblick ein; »das könnte man heute von uns allen sagen«,« dachte er. Er erinnerte sich recht gut: Ein Holzbalkon lief um das Sommerhaus. Ulrich war Gast von Clarissens Eltern; es war wenige Tage vor der Hochzeit, und Walter war auf ihn eifersüchtig. Walter konnte wundervoll eifersüchtig sein. Ulrich stand aussßen im Sonnenschein, als Clarisse und Walter das hinter dem Balkon liegende Zimmer betraten. Er belauschte sie, ohne sich zu verstecken. Übrigens erinnerte er sich heute nur noch an jenen einen Satz. Und dann an das Bild; die Schattentiefe des Zimmers hing wie ein faltiger, wenig geöffneter Beutel an der grellen Besonntheit der Aussßenmauer. In den Falten dieses Beutels erschienen Walter und Clarisse; Walters Gesicht war schmerzlich in die Länge gezogen und sah aus, als ob es lange, gelbe Zähne hätte. Man könnte auch sagen, ein Paar langer, gelber Zähne lag in einem mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Kästchen, und diese zwei Menschen standen geisternd dabei. Die Eifersucht war natürlich Unsinn; Ulrich hatte keine Lust auf Frauen seiner Freunde. Aber Walter hatte immer eine ganz besondere Fähigkeit besessen, heftig zu erleben. Er kam nie zu dem, was er wollte, weil er so viel empfand. Er schien einen sehr melodischen Schallverstärker für das kleine Glück und Unglück in sich zu tragen. Er gab stets kleine Gefühlsmünze in Gold und Silber aus, während Ulrich mehr im grossen operierte, mit Gedankenschecks sozusagen, auf denen gewaltige Ziffern standen; aber schliesslich war das nur Papier.großen operierte, mit Gedankenschecks sozusagen, auf denen gewaltige Ziffern standen; aber schließlich war das nur Papier. Wenn Ulrich sich Walter recht bezeichnend vorstellen wollte, lag er an einem Waldrand. Er hatte dann kurze Hosen an und merkwürdigerweise schwarze Strümpfe. Er hatte nicht die Beine eines Mannes, weder die kräftig muskulösen noch die dürr sehnigen, sondern die eines Mädchens; eines nicht sehr schönen Mädchens, mit sanften unschönen Beinen. Die Hände unter den Kopf gelegt, schaute er hinaus in die Landschaft, und der Himmel wußte, daß man ihn dann störte. Ulrich erinnerte sich nicht, Walter bei einer bestimmten Gelegenheit, die sich einprägte, so gesehen zu haben; dieses Bild prägte sich vielmehr heraus, wie ein zusammenschließendes Siegel, nach anderthalb Jahrzehnten. Und von der Erinnerung, daß Walter damals auf ihn eifersüchtig gewesen sei, ging eine sehr angenehme Erregung aus. Alles das hatte sich eben zu einer Zeit ereignet, wo man noch Freude an sich hatte. Und Ulrich dachte: »Ich war jetzt schon einigemale bei ihnen, ohne daß Walter meine Besuche erwidert hat. Aber ich könnte trotzdem heute abend wieder hinausfahren; was braucht mich das zu kümmern!«

Er nahm sich vor, wenn Bonadea endlich mit dem Ankleiden fertig sein werde, ihnen Nachricht zu schicken; in Bonadeas Gegenwart war so etwas nicht ratsam, wegen des langweiligen Kreuzverhörs, das unweigerlich folgte.

Und da Gedanken schnell sind und Bonadea noch lange nicht fertig war, fiel ihm eben noch etwas ein. Diesmal war es eine kleine Theorie; sie war einfach, einleuchtend und vertrieb ihm die Zeit. »Ein junger Mensch, wenn er geistig bewegt ist«, sagte Ulrich zu sich, und meinte damit wahrscheinlich noch seinen Jugendfreund Walter, »sendet unaufhörlich Ideen in allen Richtungen aus. Aber nur das, was auf die Resonanz der Umgebung trifft, strahlt wieder auf ihn zurück und verdichtet sich, während alle anderen Ausschickungen sich im Raum verstreuen und verlorengehn!« Ulrich nahm ohne weiteres an, dassß ein Mensch, der Geist hat, jede Art davon besitzt, so dassß Geist ursprünglicher wäre als Eigenschaften; er selbst war ein Mensch mit vielen Gegensätzen und stellte sich vor, dassß alle Eigenschaften, die in der Menschheit je zum Ausdruck gekommen sind, ziemlich nah beieinander in dem Geist jedes Menschen ruhen, wenn er überhaupt Geist hat. Das mag nicht ganz richtig sein, aber was wir vom Entstehen des Guten wie des Bösen wissen, stimmt noch am ehesten dazu, dassß jeder zwar seine innere Grössßennummer hat, aber in dieser Grössße die verschiedensten Kleider ausfüllen kann, wenn sie ihm das Schicksal bereit hält. Und so kam Ulrich auch das, was er soeben gedacht hatte, nicht ganz bedeutungslos vor. Denn wenn sich im Lauf der Zeit die gewöhnlichen und unpersönlichen Einfälle ganz von selbst verstärken und die ungewöhnlichen verlieren, so dassß fast jeder mit der Sicherheit, die ein mechanischer Zusammenhang hat, immer mittelmässßiger wird, so erklärt das ja, warum trotz der tausendfältigen Möglichkeiten, die wir vor uns hätten, der gewöhnliche Mensch nun einmal der gewöhnliche ist! Und es erklärt auch, dassß es selbst unter den bevorzugten Menschen, die sich durchsetzen und zu Anerkennung kommen, eine gewisse Mischung gibt, die ungefähr 51 Prozent% Tiefe und 49 Prozent% Seichtheit hat und den meisten Erfolg findet, und das erschien Ulrich schon seit langem so verwickelt sinnlos und unerträglich traurig, dassß er gerne weiter darüber nachgedacht haben würde.

Er wurde davon gestört, dassß Bonadea noch immer kein Zeichen ihres Fertigseins gab; vorsichtig durch die Türe spähend, gewahrte er, dassß sie sich im Ankleiden unterbrochen hatte. Sie fand Zerstreutheit, wenn es sich um die letzten Tropfen der Köstlichkeit des Beisammenseins handelte, unfein; gekränkt von seinem Schweigen, wartete sie ab, was er tun werde. Sie hatte ein Buch genommen, und glücklicherweise enthielt es schöne Abbildungen aus der Geschichte der Kunst.

Ulrich fühlte sich, als er wieder seine Betrachtungen aufnahm, durch dieses Warten gereizt und geriet in eine unbestimmte Ungeduld.

[…]

Bonadea nestelte an einer Schnur. Sie war inzwischen in sein Zimmer hereingekommen. Das Gespräch, das er jetzt begann, missfiel mißfiel ihr, sie fand es undelikat; den Namen des Mädchenmörders, von dem man so viel in den Zeitungen gelesen hatte, hatte sie längst wieder vergessen, und er näherte sich nur widerstrebend ihrer Erinnerung, als Ulrich von ihm zu sprechen anhob.

»LassAber wenn Moosbrugger« sagte er nach einer Weile »diesen beunruhigenden Eindruck von Unschuld hervorrufen kann, so kann das doch erst recht diese arme, verwahrloste, frierende Person mit den Mausaugen unter dem Kopftuch, diese Hedwig, die um Aufenthalt in seinem Zimmer gebettelt hat und deshalb von ihm getötet worden ist?«

»Laß
doch!« schlug Bonadea vor und hob die weissßen Schultern. Denn als Ulrich dem Gespräch diese Wendung gab, war es gerade in dem boshaft gewählten Augenblick geschehen, wo die halb hochgezogenen Kleider seiner gekränkten und nach Versöhnung durstenden Freundin, nachdem sie ins Zimmer gekommen war, von neuem am Teppich den kleinen, reizend mythologischen Schaumkrater bildeten, aus dem Aphrodite hervorsteigt. Bonadea war darum bereit, Moosbrugger zu verabscheuen und über sein Opfer mit einem flüchtigen Schauder hinwegzukommen. Aber Ulrich ließ es nicht zu und malte ihr kräftig das Schicksal aus, das dem MörderMoosbrugger bevorstand. »Zwei Männer werden ihm die Schlinge um den Hals legen, ohne dassß sie im geringsten böse Gefühle gegen ihn hegen, sondern blossß weil sie dafür bezhahlt sind. Vielleicht hundert Menschen werden zusehen, teils weil es ihr Dienst verlangt, teils weil ein jeder gern einmal im Leben eine Hinrichtung gesehen haben will. Ein feierlicher Herr in Zylinder, Frack und schwarzen Handschuhen zieht die Schlinge an, und im gleichen Augenblick hängen sich seine zwei Gehilfen an die zwei Beine Moosbruggers, damit das Genick bricht. Dann legt der Herr mit dem schwarzen Handschuh die Hand auf dasMoosbruggers Herz des Mörders und prüft mit der sorgenden Miene eines Arztes, ob es noch lebt; denn wenn es noch lebt, wird das Ganze etwas ungeduldiger und weniger feierlich noch einmal wiederholt. Bist du nun eigentlich für den SchuldigenMoosbrugger oder gegen ihn?« fragte Ulrich.

Bonadea hatte langsam und schmerzlich wie ein zur Unzeit Geweckter »die Stimmung« verloren, – so pflegte sie ihre Anfälle von Ehebruch zu nennen. Jetzt mussßte sie sich setzen, nachdem ihre Hände eine Weile lang unentschlossen die sinkenden Kleider und das geöffnete Mieder gehalten hatten. Wie jede Frau in ähnlicher Lage hatte sie das feste Vertrauen in eine öffentliche Ordnung, die so gerecht sei, dassß man, ohne an sie denken zu müssen, seinen privaten Angelegenheiten nachgehen könne; nun, wo sie an das Gegenteil gemahnt wurde, stand aber rasch die mitleidige Parteinahme für Moosbrugger, das Opfer, in ihr fest, mit Ausschaltung jedes Gedankens an Moosbrugger, den Schuldigen.

»Du bist also«,« behauptete Ulrich, »jedesmal für das Opfer und gegen die Tat.«

Bonadea äussßerte das naheliegende Gefühl, dassß ein solches Gespräch in einer solchen Lage ungehörig sei.

»Aber wenn sich dein Urteil so konsequent gegen die Tat richtet«, antwortete Ulrich, statt sich sofort zu entschuldigen, »wie willst du dann deine Ehebrüche rechtfertigen, Bonadea?!«

Besonders die Mehrzahl war undelikat! Bonadea schwieg, setzte sich mit verächtlicher Miene in einen der weichen Armstühle und sah gekränkt zu der Schnittlinie von Wand und Zimmerdecke empor.


Es wird Musik gemacht



Als Ulrichs Brief eintraf, spielten Walter und Clarisse wieder so heftig Klavier, daß die dünnbeinigen Kunstfabriksmöbel tanzten und die Dante Gabriel Rosetti-Stiche an den Wänden zitterten. Dem alten Dienstmann, der Haus und Wohnung offen gefunden hatte, ohne angehalten zu werden, schlug Blitz und Donner ins Gesicht, als er bis in den Wohnraum vordrang, und der heilige Lärm, in den er hineingeraten war, preßte ihn ehrfürchtig an die Wand. Clarisse war es, welche die weiterdrängende musikalische Erregung schließlich in zwei gewaltigen Schlägen entlud und ihn befreite. Während sie den Brief las, wand sich der unterbrochene Erguß noch aus Walters Händen; eine Melodie lief zuckend wie ein Storch und breitete dann die Flügel. Clarisse beobachtete das mißtrauisch, während sie Ulrichs Schreiben entzifferte.

Als sie ihm das Kommen des Freundes ankündigte, sagte Walter: »Schade!«

Sie setzte sich wieder neben ihn auf den kleinen drehbaren Klavierstuhl, und ein Lächeln, das Walter aus irgend einem Grund als grausam empfand, spaltete ihre Lippen, die sinnlich aussahen. Es war der Augenblick, wo die Spieler ihr Blut anhalten, um es im gleichen Rhythmus loslassen zu können, und die Augenachsen ihnen wie vier gleichgerichtete lange Stiele aus dem Kopf stehen, während sie mit der Sitzfläche gespannt das Stühlchen festhalten, das auf dem langen Hals seiner Holzschraube immer wackeln will.

Im nächsten Augenblick waren Clarisse und Walter wie zwei nebeneinander dahinschießende Lokomotiven losgelassen. Das Stück, das sie spielten, flog wie blitzende Schienenstränge auf ihre Augen zu, verschwand in der donnernden Maschine und lag als klingende, gehörte, in wunderbarer Weise gegenwärtig bleibende Landschaft hinter ihnen. Während dieser rasenden Fahrt wurde das Gefühl dieser beiden Menschen zu einem einzigen zusammengepreßt; Gehör, Blut, Muskeln wurden willenlos von dem gleichen Erlebnis hingerissen; schimmernde, sich neigende, sich biegende Tonwände zwangen ihre Körper in das gleiche Geleise, bogen sie gemeinsam, weiteten und verengten die Brust im gleichen Atemzug. Auf den Bruchteil einer Sekunde genau, flogen Heiterkeit, Trauer, Zorn und Angst, Lieben und Hassen, Begehren und Überdruß durch Walter und Clarisse hindurch. Es war ein Einswerden, ähnlich dem in einem großen Schreck, wo hunderte Menschen, die eben noch in allem verschieden gewesen sind, die gleichen rudernden Fluchtbewegungen ausführen, die gleichen sinnlosen Schreie ausstoßen, in der gleichen Weise Mund und Augen aufreißen, von einer zwecklosen Gewalt gemeinsam vor- und zurückgerissen werden, links und rechts gerissen werden, brüllen, zucken, wirren und zittern. Aber es hatte nicht die gleiche stumpfe, übermächtige Gewalt, wie sie das Leben hat, wo solches Geschehen sich nicht so leicht ereignet, dafür aber alles Persönliche widerstandslos auslöscht. Der Zorn, die Liebe, das Glück, die Heiterkeit und Trauer, die Clarisse und Walter im Flug durchlebten, waren keine vollen Gefühle, sondern nicht viel mehr als das zum Rasen erregte körperliche Gehäuse davon. Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine; der Befehl der Musik vereinigte sie in höchster Leidenschaft und ließ ihnen zugleich etwas Abwesendes wie im Zwangsschlaf der Hypnose.

Jeder dieser beiden Menschen spürte es in seiner Weise. Walter war glücklich und erregt. Er hielt, wie es die meisten musikalischen Menschen tun, diese wogenden Wallungen und gefühlsartigen Bewegungen des Inneren, das heißt den wolkig aufgerührten körperlichen Untergrund der Seele für die einfache, alle Menschen verbindende Sprache des Ewigen. Es entzückte ihn, Clarisse mit dem starken Arm des Urgefühls an sich zu pressen. Er war an diesem Tag früher aus seinem Bureau nach Hause gekommen als sonst. Er hatte mit der Katalogisierung von Kunstwerken zu tun gehabt, die noch die Form großer, ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein geheimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. »Vielleicht ist heute der Tag?« dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus sich selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen.

Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das unbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und gefühlig zu betonen.

Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zueinander brachte, waren Clarissens Gedanken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit zwillingshaften Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hinstürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art, oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner, aber dann konnte man die Gedanken wie Dämonen hinter der Bühne stehen fühlen, und das zeitliche Nacheinander der Erlebnisse, das anderen Menschen eine richtige Stütze abgibt, wurde in Clarisse zu einem Schleier, der seine Falten bald dicht übereinander warf, bald in einem kaum noch sichtbaren Hauch auflöste…


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Es wird Musik gemacht
38. Clarisse und ihre Dämonen



Als Ulrichs Brief eintraf, spielten Walter und Clarisse wieder so heftig Klavier, daß die dünnbeinigen Kunstfabriksmöbel tanzten und die Dante Gabriel Rossetti-Stiche an den Wänden zitterten. Dem alten Dienstmann, der Haus und Wohnung offen gefunden hatte, ohne angehalten zu werden, schlug Blitz und Donner ins Gesicht, als er bis in den Wohnraum vordrang, und der heilige Lärm, in den er hineingeraten war, preßte ihn ehrfürchtig an die Wand. Clarisse war es, welche die weiterdrängende musikalische Erregung schließlich in zwei gewaltigen Schlägen entlud und ihn befreite. Während sie den Brief las, wand sich der unterbrochene Erguß noch aus Walters Händen; eine Melodie lief zuckend wie ein Storch und breitete dann die Flügel. Clarisse beobachtete das mißtrauisch, während sie Ulrichs Schreiben entzifferte.

Als sie ihm das Kommen des Freundes ankündigte, sagte Walter: »Schade!«

Sie setzte sich wieder neben ihn auf den kleinen drehbaren Klavierstuhl, und ein Lächeln, das Walter aus irgend einemirgendeinem Grund als grausam empfand, spaltete ihre Lippen, die sinnlich aussahen. Es war der Augenblick, wo die Spieler ihr Blut anhalten, um es im gleichenin gleichem Rhythmus loslassen zu können, und die Augenachsen ihnen wie vier gleichgerichtete lange Stiele aus dem Kopf stehen, während sie mit der Sitzfläche gespannt das Stühlchen festhalten, das auf dem langen Hals seiner Holzschraube immer wackeln will.

Im nächsten Augenblick waren Clarisse und Walter wie zwei nebeneinander dahinschießende Lokomotiven losgelassen. Das Stück, das sie spielten, flog wie blitzende Schienenstränge auf ihre Augen zu, verschwand in der donnernden Maschine und lag als klingende, gehörte, in wunderbarer Weise gegenwärtig bleibende Landschaft hinter ihnen. Während dieser rasenden Fahrt wurde das Gefühl dieser beiden Menschen zu einem einzigen zusammengepreßt; Gehör, Blut, Muskeln wurden willenlos von dem gleichen Erlebnis hingerissen; schimmernde, sich neigende, sich biegende Tonwände zwangen ihre Körper in das gleiche Geleise, bogen sie gemeinsam, weiteten und verengten die Brust im gleichen Atemzug. Auf den Bruchteil einer Sekunde genau, flogen Heiterkeit, Trauer, Zorn und Angst, Lieben und Hassen, Begehren und Überdruß durch Walter und Clarisse hindurch. Es war ein Einswerden, ähnlich dem in einem großen Schreck, wo hunderte Menschen, die eben noch in allem verschieden gewesen sind, die gleichen rudernden Fluchtbewegungen ausführen, die gleichen sinnlosen Schreie ausstoßen, in der gleichen Weise Mund und Augen aufreißen, von einer zwecklosen Gewalt gemeinsam vor- und zurückgerissen werden, links und rechts gerissen werden, brüllen, zucken, wirren und zittern. Aber es hatte nicht die gleiche, stumpfe, übermächtige Gewalt, wie sie das Leben hat, wo solches Geschehen sich nicht so leicht ereignet, dafür aber alles Persönliche widerstandslos auslöscht. Der Zorn, die Liebe, das Glück, die Heiterkeit und Trauer, die Clarisse und Walter im Flug durchlebten, waren keine vollen Gefühle, sondern nicht viel mehr als das zum Rasen erregte körperliche Gehäuse davon. Sie saßen steif und entrückt auf ihren Sesselchen, waren auf nichts und in nichts und über nichts oder jeder auf, in und über etwas anderes zornig, verliebt und traurig, dachten Verschiedenes und meinten jeder das Seine; der Befehl der Musik vereinigte sie in höchster Leidenschaft und ließ ihnen zugleich etwas Abwesendes wie im Zwangsschlaf der Hypnose.-

Jeder dieser beiden Menschen spürte es in seiner Weise. Walter war glücklich und erregt. Er hielt, wie esdas die meisten musikalischen Menschen tun, diese wogenden Wallungen und gefühlsartigen Bewegungen des Inneren, das heißt den wolkig aufgerührten körperlichen Untergrund der Seele für die einfache, alle Menschen verbindende Sprache des Ewigen. Es entzückte ihn, Clarisse mit dem starken Arm des Urgefühls an sich zu pressen. Er war an diesem Tag früher aus seinem BureauBüro nach Hause gekommen als sonst. Er hatte mit der Katalogisierung von Kunstwerken zu tun gehabt, die noch die Form großer, ungebrochener Zeiten trugen und eine geheimnisvolle Willenskraft ausströmten. Clarisse war ihm freundlich begegnet, sie war nun in der ungeheuren Welt der Musik fest an ihn gebunden. Es trug alles an diesem Tag ein geheimes Gelingen in sich, einen lautlosen Marsch, wie wenn Götter auf dem Wege sind. »Vielleicht ist heute der Tag?« dachte Walter. Er wollte Clarisse ja nicht durch Zwang zu sich zurückbringen, sondern zu innerst aus sichr selbst sollte die Erkenntnis aufsteigen und sie sanft zu ihm herüberneigen.

Das Klavier hämmerte schimmernde Notenköpfe in eine Wand aus Luft. Obgleich dieser Vorgang in seinem Ursprung ganz und gar wirklich war, verschwanden die Mauern des Zimmers, und es erhob sich an ihrer Stelle das goldene Gewände der Musik, dieser geheimnisvolle Raum, in dem Ich und Welt, Wahrnehmung und Gefühl, Innen und Außen auf das uUnbestimmteste ineinanderstürzen, während er selbst ganz und gar aus Empfindung, Bestimmtheit, Genauigkeit, ja aus einer Hierarchie des Glanzes geordneter Einzelheiten besteht. An diesen sinnlichen Einzelheiten waren die Fäden des Gefühls befestigt, die sich aus dem wogenden Dunst der Seelen spannen; und dieser Dunst spiegelte sich in der Präzision der Wände und kam sich selbst deutlich vor. Wie puppige Kokons hingen die Seelen der beiden Menschen in den Fäden und Strahlen. Je dicker eingewickelt und breiter ausgestrahlt sie wurden, desto wohliger fühlte sich Walter, und seine Träume nahmen so sehr die Gestalt eines kleinen Kindes an, daß er hie und da begann, die Töne falsch und zu gefühlig zu betonen.

Aber ehe das kam und bewirkte, daß ein durch den goldenen Nebel schlagender Funke gewöhnlichen Gefühls die beiden wieder in irdische Beziehung zueinanderzu einander brachte, waren Clarissens Gedanken von den seinen schon der Art nach so verschieden, wie es zwei Menschen nur zuwege bringen können, die mit zwillingshaften Gebärden der Verzweiflung und Seligkeit nebeneinander hinstürmen. In flatternden Nebeln sprangen Bilder auf, verschmolzen, überzogen einander, verschwanden, das war Clarissens Denken; sie hatte darin eine eigene Art,; oft waren mehrere Gedanken gleichzeitig ineinander da, oft gar keiner, aber dann konnte man die Gedanken wie Dämonen hinter der Bühne stehen fühlen, und das zeitliche Nacheinander der Erlebnisse, das anderen Menschen eine richtige Stütze abgibt, wurde in Clarisse zu einem Schleier, der seine Falten bald dicht übereinander warf, bald in einemn kaum noch sichtbaren Hauch auflöste.




Die Entdeckung der Familie



– Es regnet leider! – Kaum klingt, erste Morgenentdeckung nach dem Zurückziehen der Vorhänge, dieses Wort vom Fenster zurück, so verändert sich das ganze Zimmer. Die Möbel lassen die Ohren hängen. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, das ganze Zimmer sinkt, aber es faßt dann wieder Grund: etliche Meter unter dem Zustand Schönwetter steht es wieder fest. Du bist nun bei der Kinderzeit. Es regnet, war Abgesperrtsein von den Gespielen des Gartens und der Straße: vom Ausgang mit Lord, dem Hund; von vielen Abenteuern. Aber kaum hatte sich der Vorhang der tiefen Hoffnungslosigkeit zugezogen, öffnete sich ein zweiter, und da stand nun: Spiel mit der kleinen Eisenbahn, die auf Schienen mit wirklichen Weichen und Signalen lief. Hast Du auch eine besessen? Aber dein Großvater hat nicht an der ersten Eisenbahn Europas mitgebaut und war ihr Direktor, bis er sich zur Ruhe setzte. Und der Bruder deines Vaters befestigte nicht ein Artillerieregiment im Banat; darum wird niemals die kleine Kanone, die mit wirklichem Pulver schießen kann und ganz genau einer großen Kanone nachgebildet ist, mitten in Deiner Erinnerung stehen wie auf einem Hügel, dessen Westseite in der Sonne glänzt: sie ist mein Spielzeug mit einemmal wieder, heute wie vor so viel Jahren, aber ich will keineswegs behaupten, daß mir das lieb ist, es ist eher nicht ganz geheuer. Endlich war noch das Spiel mit Würfeln und einer Rennbahn da, die samt ihren Hindernissen auf einen Plan gezeichnet war, während die Pferde und Reiter aus bemaltem Zinnguß bestanden; das war wirklich das gewöhnliche Wettrennspiel der Kinder, aber es hatte eine Besonderheit. Ich setzte nämlich immer auf den Fuchs und auf Sechs. Erstens weil rot meine Lieblingsfarbe war und ich am sechsten November geboren bin; zweitens, weil mein Vater in meiner Kindheit zwar immer ein braunes Pferd ritt, aber mit Leidenschaft von einem Schweißfuchs erzählte, den er in seiner Jugend besessen hatte, und das ist ein Fuchs, der die dunklen Töne eines Fasanengefieders bekommt, wenn er heißgeritten wird. Ich setzte also immer auf den Fuchs und auf Sechs, aber meine eigentliche Liebe gehörte dem Rappen, den ich immer auf das Fünferfeld stellte, weil fünf meine Unglückszahl war. Und dies war eben die Besonderheit des Pferdespiels. An solchen Erinnerungen wird es wohl liegen, daß noch heute, in dem Augenblick, wo ich hörte, daß es regne, die Wände des Zimmers eine Veränderung erlitten, obgleich es an meinem Leben längst nicht das geringste mehr ändert, ob es regnet oder nicht.

Bestimmt hängt mit dem Wesen von Regentagen auch die folgende Geschichte zusammen; denn warum würde sie mir sonst einfallen? Ein Vetter meiner Mutter versprach mir einmal eines seiner Reitpferde: nicht der Kürassier, sondern der Dragoner tat es, der mit dem Helm zwei Meter maß, und ich weiß noch heute ganz genau die Stelle, wo das geschah: an einer bestimmten Straßenecke, um die wir nach links bogen, ich neben ihm wie ein Prellstein neben einem wendenden Heuwagen. Da hatte ich ohne jede Einleitung gesagt: Onkel Hermann, schenk mir eins von Deinen Pferden! Und er hatte ebenso rasch, ohne jede Überlegung geantwortet: Gern, du mußt nur warten, bis es umgestanden ist! Er hatte sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber ich hörte nur die Bereitwilligkeit des Tonfalls und verstand die Einschränkung nicht; viele meiner Onkel waren Reiter oder Jäger und hatten Ausdrücke, deren Bedeutung ich nicht genau kannte, so dachte ich, daß auch Umstehen etwas mit dem Pferde sei, das bald kommen und abgewartet werden müsse, ehe man es mir übergeben könne. Nun wäre es gewiß noch wichtiger, zu wissen, wie ich die Enttäuschung aufnahm, aber daran erinnere ich mich nicht mehr, während ich noch gut weiß, wie ich das unerwartete Geschenk aufnahm, das mir wahrhaftig in den Schoß fiel; denn ich glaube, ich hatte mir nicht einmal die Mühe genommen, das Pferd leidenschaftlich zu wünschen, sondern hatte mir nur eben gedacht, ich wollte es einmal versuchen. Aber wie ich das Wort dafür suche, fühle ich, daß ich es niemals finden werde, denn ein solches Glück hat sich kein zweites Mal in meinem Leben ereignet. Man kann nur sagen, es war, wie wenn beide Vorhänge, von denen ich vorhin sprach, zugleich fortgezogen würden, der, welcher in die Wirklichkeit, und der, welcher in uns hineinführt; es entstand eine unbeschreibliche Verwirrung von Schlaf und Wachen, eine Vereinigung von Ich und Pferd, die sich bis in die Eingeweide einfraß. Aber das sind nur schwache Worte für eine aufgehobene Grenze, die gewiß nicht weniger bedeutsam ist wie die zwischen Wahnsinn und Geradsinn.

Heute rücken höchstens die Zipfel an diesen Vorhängen, aber wie ich nun ans Fenster trete, gewahre ich eine Frau in resedafarbenem Kleid, die auf der menschenverlassenen Straße trachtet, möglichst rasch irgendwohin zu kommen. Mit unweigerlicher Gewißheit taucht das Wort »Tante…« in mir auf, und obgleich sein zweiter Teil, der Name, nicht an die Oberfläche kommt, liegt er doch unter dieser wie die Wärme unter einer Decke. Ich hatte eben mehrere solcher Tanten, als ich ein kleiner Junge war, aus der Vetternschaft meiner Mutter, nicht deren Schwestern, sondern weitere Verwandte, aber durch Freundschaft verbunden. Ich meine: unverheiratete Tanten; etwas also, das es heute kaum noch gibt; Mädchen von einigen dreißig oder vierzig Jahren, an deren Körpern etwas nicht stimmte. Ihrer aller Stimmen hatten selbst im Vollklang einen kleinen Riß; ihre Hüften und Brüste, welche durch den Einfluß der Jahre und nicht durch den von Geburten sich verbreitert hatten, verrieten das, man kann nicht sagen, wodurch, aber auf den ersten Blick. Man nahm eine kleine Beimengung vom Ungemach der sich gemächlich zur Ruhe setzenden Natur wahr; oder vielleicht machte diesen Eindruck nur jener der Kleider aus, in denen die Schneiderin alle kleinen Einfälle für die vorgeschriebene weibliche Gefallsucht angebracht hatte, während die Trägerin diese ganze Fasanerie mit blinder Hoffnungslosigkeit auf sich lud. Eine solche Tante eilte unter meinen Augen vorbei; kräftigen Schrittes im Regen und froh durch das Unwetter allen Zwangs zum Schöntun enthoben zu sein, gab sie ihren Beinen den unbekümmerten Schwung männlicher Anstrengung. Sie war gewiß heiter trotz des Regens, und ich bin sicher, wenn sie zu ihren Anverwandten in die Stube tritt, wird sie und werden alle lachen. Stimmengeschwirr wird ihr entgegenschlagen, man wird sie auf die Schulter oder auf den Rücken klopfen und sagen: Alle Achtung! Bei diesem Wetter! Tante … ist ein eiserner Kerl!

Denn darin besteht ja wohl das Hauptwesen der Familie. Daß auch der Mensch, der keinen Platz in der Welt hat, der keine Kinder bekam und keine Gedanken, der weder berühmt ist noch reich, dessen Name nur bei der Todesanzeige der Allgemeinheit vor Augen kommt, daß dieser Mensch doch in der Familie seinen bestimmten Platz hat. Man ist jemand in der Familie. Du ahnst nicht, wie gut Karoline den Chaplin kopieren kann und wie jähzornig Rudi ist. Und wie witzig, wie witzig ist die ganze Familie! Was in der weiten Welt draußen nirgends ein Witz wäre, löst hier schallendes Gelächter aus, und man kann nicht sagen, woran es liegt; es ist eben lustig, und schließlich ist das die Hauptsache beim Witz. Dazu gehört, daß alle Menschen, die nicht zur Familie zählen, weit lächerlicher sind als sie es wissen. Gott hat sie zur Karikatur geschaffen, und wenn Du ein einsamer Mensch bist, ohne Anhang, kannst Du ziemlich sicher sein, daß Du aus lauter Lächerlichkeit bestehst, die sich auf die Augen der verschiedenen Bekannten verteilt, die Dich betrachten. Freilich kann man auch diese Vorzüge umkehren, wie alles, und sagen: Die Familie ist kleiner als eine Kleinstadt. Je inniger sie ist, desto herzloser ist sie für alles, was außerhalb ihrer geschieht, und sie ist immer grausamer als ein Mensch ist, der einsam dem Leid der Welt gegenübersteht. Indem sie den Ruhm in ihrem kleinen Kreis bannt und als Familienruhm leicht macht, zieht sie den Ehrgeiz aufs Faulbett. Und weil alles, was in der Familie geschieht, tiefer traurig oder schallender heiter wirkt als ihm eigentlich zukäme, weil Kein-Witz dort Witz wird und allgemein unwichtiges Leid zu persönlichem Unglück, ist sie die Stammburg aller Geistlosigkeit, welche unser öffentliches Leben durchsetzt. Noch viel mehr könnte man sagen und hat es auch zuweilen gesagt, aber nicht an Tagen wie diesem.

Onkel Nepomuk, genannt Mucki, bringt die Kritik zum Schweigen. Er war ursprünglich Chemiker und wichtige Erfindungen waren ihm eingefallen, welche die Menschheit ein tüchtiges Stück hätten vorwärts bringen können. Aber er hatte das aufgegeben und kaufte sich ein Steinmetzgeschäft, wo er nichts als Grabsteine machte; das kam davon, daß er Schopenhauer las, es war eine Laune. Und zum andern Teil kam es wahrscheinlich auch davon, daß er sich bis zu seinem Tod vor der Zuckerkrankheit fürchtete, und in seinem Schlafzimmer stand eine ganze Glasburg von Destillierkolben und Reagenzgläsern, mit denen er sich allwöchentlich untersuchte. Aber dann starb er an etwas ganz anderem; denn so war er, launenhaft und übrigens auch jähzornig, aber nett, trug immer Anzüge aus braunem englischen Cheviot mit weißen Westen und hielt das in der Manneslinie sich vererbende schöne Rasierzeug viel ordentlicher, als ich es heute tue. Und er liebte harmlose Witze, denen aber Frauen nicht zuhören durften, und rief meinen Vater in sein Zimmer, um ihm Spielkarten zu zeigen, regelrechte Skat- oder Tarockkarten waren, solange man sie nicht gegen das Licht hielt ...!

»Ja, der Mucki!« – sagte dann die alte Tante Mary, und sie sagte es mit einer solchen Nachsicht und Bewunderung für den kleinen, vierzigjährigen Mucki, daß ich ihre Stimme bis heute nicht vergessen habe. Diese Stimme von Tante Mary war wie mit Mehl bestaubt; gerade wie wenn man den nackten Arm in ganz feines Mehl taucht, so rauh und so sanft. Es kam davon, daß sie viel schwarzen Kaffee trank und dazu die langen, dünnen, schweren Virginiazigarren rauchte, welche ihre Zähne schon ganz schwarz und klein gemacht hatten. Sah man ihr ins Gesicht, so mochte man auch glauben, daß der Klang ihrer Stimme von den unzähligen kleinen, feinen Rissen komme, mit denen ihr Gesicht kreuz und quer durchzogen war wie eine Radierung. Seit wann sie ihren Taufnamen englisch führte, weiß ich nicht; aber sie war schon die jüngere Freundin meiner Großmutter gewesen und die Klavierlehrerin meiner Mutter. Da hatte sie nicht gerade viel Ehre aufgesteckt, wohl aber viel Liebe gewonnen, denn sie fand es ganz natürlich, daß man lieber mit den Buben auf die Bäume klettert als die Aufgaben zu üben, wenn man nicht für die Musik geboren ist, wie sie sagte. Und solang ich sie kannte, hatte sie sich niemals verändert oder von einer anderen Seite gezeigt, als man es gewohnt war. Sie trug nur ein Kleid, wenn es auch, wie das wahrscheinlich ist, mehrmals vorhanden war; es war ein enges Futteral aus rilliger schwarzer Seide, das bis zum Boden reichte, keinerlei körperliche Ausschweifungen kannte und mit unzähligen kleinen schwarzen Knöpfen zu schließen war wie die Sutane eines Priesters. Oben kam ein niederer Stehkragen knapp daraus hervor, mit umgebrochenen Ecken, zwischen denen die fleischlose Haut des Halses bei jedem Zug an der Zigarre tätige Rinnen bildete, die engen Ärmel wurden von steifen weißen Stulpen abgeschlossen, und das Dach bestand aus einer rötlich blonden, schön gewellten Perücke, die in der Mitte gescheitelt war. Mit den Jahren wurde an diesem Scheitel ein wenig die Leinwand sichtbar, aber rührender waren noch die beiden Stellen, wo man die greisen Schläfen neben dem üppigen Haar sah, denn in allem übrigen alterte Tante Mary nie.

Ich hätte beinahe vergessen, zu sagen, daß ihre Perücke eigentlich eine Männerperücke war, und nun könnte man natürlich glauben, daß sie die maskuline Frauenart vorwegnahm, die jetzt, viele Jahrzehnte später, in Mode kommt; aber dem war doch nicht so. Man könnte auch glauben, daß sie exzentrisch war; sie nährte sich nur mit starkem Tee, schwarzem Kaffe und zwei Tassen Fleischbrühe täglich, und die Leute blieben auf der Straße nur deshalb nicht hinter ihrer Erscheinung stehen, weil man sie in der kleinen Stadt ohnedies kannte. Jedoch sie taten es auch deshalb nicht, weil man wußte, daß sie nicht im geringsten verrückt, lächerlich oder geistig hilflos war, sondern von einer wohlgebildeten inneren Menschlichkeit, die sich dem Ungewohnten zu Trotz selbst in der Erscheinung ausdrückte. Sie war bloß extravagant, wenn man dieses Wort diesmal mit außerhalb schweifend zu übersetzen erlaubt, sie hätte eine einst bekannte Malerin sein können, die den Zusammenhang mit ihrer Zeit ein wenig verloren hatte, oder eine berühmte Pianistin, die noch mit Liszt befreundet war; aber sie war nie mehr als Klavierlehrerin gewesen, und ich glaube, alles an ihr, der Männerzopf wie die Sutane, kam nur davon her, daß sie als Mädchen für Liszt geschwärmt hatte, aber es konnte auch Byron oder Shelley gewesen sein, und wenn man das recht bedenkt, ist es eine viel merkwürdigere Treueleistung, als wenn man die Uniform der eigenen Ruhmestage in Pension weiter trägt. Tante Mary war nichts weniger als maskulin, und wenn ihr Aussehen sich dem eines Mannes annäherte, so habe ich sie im Verdacht, daß dies eine innige Kleidwerdung ihres romantischen Geistes war.

Denn von allem anderen abzusehen, kenne ich ja ihr großes Weibeserlebnis, so wie sie es nannte, das mir als Familienmitglied anvertraut worden ist. Sie war zu seiner Zeit wohl am Ende der zwanzig gewesen – womit man damals kein junges Mädchen mehr war; aber eine anspruchsvolle Seele wählt lange – und er war Künstler, wenn auch aus schnödem Mißgeschick nur Photograph einer Provinzstadt. Sie heiratete ihn gegen den Willen ihrer Angehörigen. Er machte Schulden wie ein Genie. Er war leidenschaftlich und mußte trinken. Sie entbehrte für ihn. Sie holte ihn aus dem Wirtshaus zu den Göttern zurück. Sie weinte heimlich und zu seinen Knien. Nun besteht aber die ganze Liebe zu nichts als der Fähigkeit oder glücklichen Zufallsmöglichkeit, was man selbst fühlt auf einen andern zu übertragen; zum Beispiel, hat eine Frau in der Nacht schweres Unglück geträumt, steht auf und umklammert unter Tränen den Geliebten: besitzt sie die Fähigkeit, diese tragische Stimmung schnell auf ihn zu übertragen, so entsteht eine Nacht, so groß wie Byron; sonst aber nur eine recht lästige Schlafstörung. Der Photograph machte der Übertragung von Gefühlen Schwierigkeiten, zu denen sein geniales Aussehen den Anlaß gab. Er verließ Mary nach dreiviertel Jahren mit ihrer bäurischen Magd, die er geschwängert hatte. Er starb bald darauf. Sie nahm sein uneheliches Kind an eigen statt und zog es auf. Sie schnitt eine Locke von dem gewaltigen Haupt und bewahrte sie auf. Sie sprach nie von dieser Zeit. Man kann vom Leben, wenn es gewaltig ist, nicht auch noch fordern, daß es gut sein soll.

Das war nun sicher romantischer Unsinn; aber später, als der Photograph in seiner irdischen Unvollkommenheit schon längst keinen Zauber mehr auf sie ausübte, war gewissermaßen die weiche Substanz dieser Liebe verwest und die ewige Form der Liebe und Begeisterung blieb übrig; es wirkte in weiterer Ferne dieses Erlebnis kaum anders als ein wirklich gewaltiges. So aber war Tante Mary überhaupt. Ihr geistiger Inhalt war nicht groß, aber seine seelische Form war so schön. Ihre Gebärde war herrlich, und solche Gebärden sind nur unangenehm, solange sie falsche Inhalte haben; wenn sie ganz leer sind, werden sie wieder wie Flammenspiel und Glaube.


Textvergleich | Die Entdeckung der Familie
Die Entdeckung der Familie



– Es regnet leider! – Kaum klingt, erste Morgenentdeckung nach dem Zurückziehen der Vorhänge, dieses Wort vom Fenster zurück, so verändert sich das ganze Zimmer. Die Möbel lassen die Ohren hängen. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, das ganze Zimmer sinkt, aber es faßt dann wieder Grund: etliche Meter unter dem Zustand Schönwetter steht es wieder fest. Du bist nun bei der Kinderzeit. Es regnet, war Abgesperrtsein von den Gespielen des Gartens und der Straße: vom Ausgang mit Lord, dem Hund; von vielen Abenteuern. Aber kaum hatte sich der Vorhang der tiefen Hoffnungslosigkeit zugezogen, öffnete sich ein zweiter, und da stand nun: Spiel mit der kleinen Eisenbahn, die auf Schienen mit wirklichen Weichen und Signalen lief. Hast Du auch eine besessen? Aber dein Großvater hat nicht an der ersten Eisenbahn Europas mitgebaut und war ihr Direktor, bis er sich zur Ruhe setzte. Und der Bruder deines Vaters befestigte nicht ein Artillerieregiment im Banat; darum wird niemals die kleine Kanone, die mit wirklichem Pulver schießen kann und ganz genau einer großen Kanone nachgebildet ist, mitten in Deiner Erinnerung stehen wie auf einem Hügel, dessen Westseite in der Sonne glänzt: sie ist mein Spielzeug mit einemmal wieder, heute wie vor so viel Jahren, aber ich will keineswegs behaupten, daß mir das lieb ist, es ist eher nicht ganz geheuer. Endlich war noch das Spiel mit Würfeln und einer Rennbahn da, die samt ihren Hindernissen auf einen Plan gezeichnet war, während die Pferde und Reiter aus bemaltem Zinnguß bestanden; das war wirklich das gewöhnliche Wettrennspiel der Kinder, aber es hatte eine Besonderheit. Ich setzte nämlich immer auf den Fuchs und auf Sechs. Erstens weil rot meine Lieblingsfarbe war und ich am sechsten November geboren bin; zweitens, weil mein Vater in meiner Kindheit zwar immer ein braunes Pferd ritt, aber mit Leidenschaft von einem Schweißfuchs erzählte, den er in seiner Jugend besessen hatte, und das ist ein Fuchs, der die dunklen Töne eines Fasanengefieders bekommt, wenn er heißgeritten wird. Ich setzte also immer auf den Fuchs und auf Sechs, aber meine eigentliche Liebe gehörte dem Rappen, den ich immer auf das Fünferfeld stellte, weil fünf meine Unglückszahl war. Und dies war eben die Besonderheit des Pferdespiels. An solchen Erinnerungen wird es wohl liegen, daß noch heute, in dem Augenblick, wo ich hörte, daß es regne, die Wände des Zimmers eine Veränderung erlitten, obgleich es an meinem Leben längst nicht das geringste mehr ändert, ob es regnet oder nicht.

Bestimmt hängt mit dem Wesen von Regentagen auch die folgende Geschichte zusammen; denn warum würde sie mir sonst einfallen? Ein Vetter meiner Mutter versprach mir einmal eines seiner Reitpferde: nicht der Kürassier, sondern der Dragoner tat es, der mit dem Helm zwei Meter maß, und ich weiß noch heute ganz genau die Stelle, wo das geschah: an einer bestimmten Straßenecke, um die wir nach links bogen, ich neben ihm wie ein Prellstein neben einem wendenden Heuwagen. Da hatte ich ohne jede Einleitung gesagt: Onkel Hermann, schenk mir eins von Deinen Pferden! Und er hatte ebenso rasch, ohne jede Überlegung geantwortet: Gern, du mußt nur warten, bis es umgestanden ist! Er hatte sich einen Scherz mit mir erlaubt, aber ich hörte nur die Bereitwilligkeit des Tonfalls und verstand die Einschränkung nicht; viele meiner Onkel waren Reiter oder Jäger und hatten Ausdrücke, deren Bedeutung ich nicht genau kannte, so dachte ich, daß auch Umstehen etwas mit dem Pferde sei, das bald kommen und abgewartet werden müsse, ehe man es mir übergeben könne. Nun wäre es gewiß noch wichtiger, zu wissen, wie ich die Enttäuschung aufnahm, aber daran erinnere ich mich nicht mehr, während ich noch gut weiß, wie ich das unerwartete Geschenk aufnahm, das mir wahrhaftig in den Schoß fiel; denn ich glaube, ich hatte mir nicht einmal die Mühe genommen, das Pferd leidenschaftlich zu wünschen, sondern hatte mir nur eben gedacht, ich wollte es einmal versuchen. Aber wie ich das Wort dafür suche, fühle ich, daß ich es niemals finden werde, denn ein solches Glück hat sich kein zweites Mal in meinem Leben ereignet. Man kann nur sagen, es war, wie wenn beide Vorhänge, von denen ich vorhin sprach, zugleich fortgezogen würden, der, welcher in die Wirklichkeit, und der, welcher in uns hineinführt; es entstand eine unbeschreibliche Verwirrung von Schlaf und Wachen, eine Vereinigung von Ich und Pferd, die sich bis in die Eingeweide einfraß. Aber das sind nur schwache Worte für eine aufgehobene Grenze, die gewiß nicht weniger bedeutsam ist wie die zwischen Wahnsinn und Geradsinn.

Heute rücken höchstens die Zipfel an diesen Vorhängen, aber wie ich nun ans Fenster trete, gewahre ich eine Frau in resedafarbenem Kleid, die auf der menschenverlassenen Straße trachtet, möglichst rasch irgendwohin zu kommen. Mit unweigerlicher Gewißheit taucht das Wort »Tante…« in mir auf, und obgleich sein zweiter Teil, der Name, nicht an die Oberfläche kommt, liegt er doch unter dieser wie die Wärme unter einer Decke. Ich hatte eben mehrere solcher Tanten, als ich ein kleiner Junge war, aus der Vetternschaft meiner Mutter, nicht deren Schwestern, sondern weitere Verwandte, aber durch Freundschaft verbunden. Ich meine: unverheiratete Tanten; etwas also, das es heute kaum noch gibt; Mädchen von einigen dreißig oder vierzig Jahren, an deren Körpern etwas nicht stimmte. Ihrer aller Stimmen hatten selbst im Vollklang einen kleinen Riß; ihre Hüften und Brüste, welche durch den Einfluß der Jahre und nicht durch den von Geburten sich verbreitert hatten, verrieten das, man kann nicht sagen, wodurch, aber auf den ersten Blick. Man nahm eine kleine Beimengung vom Ungemach der sich gemächlich zur Ruhe setzenden Natur wahr; oder vielleicht machte diesen Eindruck nur jener der Kleider aus, in denen die Schneiderin alle kleinen Einfälle für die vorgeschriebene weibliche Gefallsucht angebracht hatte, während die Trägerin diese ganze Fasanerie mit blinder Hoffnungslosigkeit auf sich lud. Eine solche Tante eilte unter meinen Augen vorbei; kräftigen Schrittes im Regen und froh durch das Unwetter allen Zwangs zum Schöntun enthoben zu sein, gab sie ihren Beinen den unbekümmerten Schwung männlicher Anstrengung. Sie war gewiß heiter trotz des Regens, und ich bin sicher, wenn sie zu ihren Anverwandten in die Stube tritt, wird sie und werden alle lachen. Stimmengeschwirr wird ihr entgegenschlagen, man wird sie auf die Schulter oder auf den Rücken klopfen und sagen: Alle Achtung! Bei diesem Wetter! Tante … ist ein eiserner Kerl!

Denn darin besteht ja wohl das Hauptwesen der Familie. Daß auch der Mensch, der keinen Platz in der Welt hat, der keine Kinder bekam und keine Gedanken, der weder berühmt ist noch reich, dessen Name nur bei der Todesanzeige der Allgemeinheit vor Augen kommt, daß dieser Mensch doch in der Familie seinen bestimmten Platz hat. Man ist jemand in der Familie. Du ahnst nicht, wie gut Karoline den Chaplin kopieren kann und wie jähzornig Rudi ist. Und wie witzig, wie witzig ist die ganze Familie! Was in der weiten Welt draußen nirgends ein Witz wäre, löst hier schallendes Gelächter aus, und man kann nicht sagen, woran es liegt; es ist eben lustig, und schließlich ist das die Hauptsache beim Witz. Dazu gehört, daß alle Menschen, die nicht zur Familie zählen, weit lächerlicher sind als sie es wissen. Gott hat sie zur Karikatur geschaffen, und wenn Du ein einsamer Mensch bist, ohne Anhang, kannst Du ziemlich sicher sein, daß Du aus lauter Lächerlichkeit bestehst, die sich auf die Augen der verschiedenen Bekannten verteilt, die Dich betrachten. Freilich kann man auch diese Vorzüge umkehren, wie alles, und sagen: Die Familie ist kleiner als eine Kleinstadt. Je inniger sie ist, desto herzloser ist sie für alles, was außerhalb ihrer geschieht, und sie ist immer grausamer als ein Mensch ist, der einsam dem Leid der Welt gegenübersteht. Indem sie den Ruhm in ihrem kleinen Kreis bannt und als Familienruhm leicht macht, zieht sie den Ehrgeiz aufs Faulbett. Und weil alles, was in der Familie geschieht, tiefer traurig oder schallender heiter wirkt als ihm eigentlich zukäme, weil Kein-Witz dort Witz wird und allgemein unwichtiges Leid zu persönlichem Unglück, ist sie die Stammburg aller Geistlosigkeit, welche unser öffentliches Leben durchsetzt. Noch viel mehr könnte man sagen und hat es auch zuweilen gesagt, aber nicht an Tagen wie diesem.

Onkel Nepomuk, genannt Mucki, bringt die Kritik zum Schweigen. Er war ursprünglich Chemiker und wichtige Erfindungen waren ihm eingefallen, welche die Menschheit ein tüchtiges Stück hätten vorwärts bringen können. Aber er hatte das aufgegeben und kaufte sich ein Steinmetzgeschäft, wo er nichts als Grabsteine machte; das kam davon, daß er Schopenhauer las, es war eine Laune. Und zum andern Teil kam es wahrscheinlich auch davon, daß er sich bis zu seinem Tod vor der Zuckerkrankheit fürchtete, und in seinem Schlafzimmer stand eine ganze Glasburg von Destillierkolben und Reagenzgläsern, mit denen er sich allwöchentlich untersuchte. Aber dann starb er an etwas ganz anderem; denn so war er, launenhaft und übrigens auch jähzornig, aber nett, trug immer Anzüge aus braunem englischen Cheviot mit weißen Westen und hielt das in der Manneslinie sich vererbende schöne Rasierzeug viel ordentlicher, als ich es heute tue. Und er liebte harmlose Witze, denen aber Frauen nicht zuhören durften, und rief meinen Vater in sein Zimmer, um ihm Spielkarten zu zeigen, regelrechte Skat- oder Tarockkarten waren, solange man sie nicht gegen das Licht hielt ...!


99. Von der Halbklugheit und ihrer fruchtbaren anderen Hälfte; von der Ähnlichkeit zweier Zeitalter, von dem liebenswerten Wesen Tante Janes und dem Unfug, den man neue Zeit nennt

Es war jedoch auch unmöglich, von den Vorgängen in den Sitzungen des Konzils eine geordnete Auffassung zu gewinnen. Im allgemeinen war man damals unter vorgeschrittenen Leuten für aktiven Geist; man hatte die Pflicht der Hirnmenschen erkannt, die Führung der Bauchmenschen an sich zu reißen. Außerdem gab es etwas, was man Expressionismus nannte; man konnte nicht genau angeben, was das sei, aber es war, wie das Wort sagte, eine Hinauspressung; vielleicht von konstruktiven Visionen, jedoch waren diese, mit der künstlerischen Überlieferung verglichen, auch destruktiv, darum kann man sie auch einfach struktiv nennen, es verpflichtet zu nichts, und eine struktive Weltauffassung, das klingt ganz respektabel. Es ist jedoch nicht alles. Man war damals tag- und weltzugewandt von innen nach außen, aber auch schon von außen nach innen; das Intellektuelle und der Individualismus galten bereits für überlebt und egozentrisch, die Liebe war wieder einmal unten durch, und man stand im Begriff, die gesunde Massenwirkung der Kitschkunst neu zu entdecken, wenn sie in die Seelen gereinigter Tatmenschen fällt. »Man ist« wechselt, wie es scheint, ebenso schnell wie »Man trägt« und hat mit ihm gemeinsam, daß niemand, wahrscheinlich nicht einmal die an der Mode beteiligten Geschäftsleute, das eigentliche Geheimnis dieses »Man« kennt. Wer sich dagegen auflehnte, würde jedoch unfehlbar den etwas lächerlichen Eindruck eines Mannes machen, der zwischen die Pole einer Faradisationsmaschine geraten ist und gewaltig zuckt und rüttelt, ohne daß man seinen Gegner wahrnehmen kann. Denn der Gegner ist nicht durch die Leute gegeben, welche die vorhandene Geschäftslage mit schnellem Witz ausnützen, sondern ihn bildet die flüssig-luftartige Unfestheit des allgemeinen Zustandes selbst, sein Zusammenströmen aus unzähligen Gebieten, seine unbegrenzte Verbindungs- und Wandlungsfähigkeit, wozu auf seiten der Empfänger noch der Mangel oder das Versagen von geltenden, haltenden und ordnenden Grundsätzen kommt.

In diesem Wechsel der Erscheinungen Halt finden zu wollen, ist so schwer wie einen Nagel in einen Brunnenstrahl zu schlagen; dennoch gibt es etwas darin, das sich gleich zu bleiben scheint. Denn was geschieht zum Beispiel, wenn die bewegliche Art Mensch einen Tennisspieler genial nennt? Sie läßt etwas aus. Wenn sie ein Rennpferd genial nennt? Sie läßt noch etwas mehr aus. Sie läßt etwas aus, ob sie einen Fußballspieler wissenschaftlich, einen Fechter geistvoll nennt, oder ob sie von der tragischen Niederlage eines Boxers spricht; sie läßt überhaupt immer etwas aus. Sie übertreibt; aber es ist die Ungenauigkeit, welche die Übertreibung verursacht, so wie in einer kleinen Stadt die Ungenauigkeit der Vorstellungen die Ursache davon ist, daß man den Sohn des Kaufhausbesitzers für einen Weltmann hält. Irgendetwas wird schon daran stimmen; und warum sollten nicht auch die Überraschungen eines Champions an die eines Genies und seine Überlegungen an die eines erfahrenen Forschers erinnern? Irgendetwas anderes und noch dazu weit mehr stimmt natürlich nicht; aber dieser Rest wird im Gebrauch gar nicht oder nur unwillig empfunden. Er gilt für unsicher; er wird übergangen und ausgelassen, und es ist wahrscheinlich weniger ihr Begriff von Genie, den diese Zeit hat, wenn sie ein Rennpferd oder einen Tennisspieler genial nennt, als ihr Mißtrauen gegen die ganze höhere Sphäre.

Hier wäre nun der Ort, um von Tante Jane zu reden, an die sich Ulrich dadurch erinnerte, daß er in alten Familienalben blätterte, die ihm Diotima geliehen hatte, und die Gesichter darin mit den Gesichtern verglich, die er in ihrem Hause sah. Denn als Knabe hatte Ulrich oft lange Zeit bei einer Großtante zugebracht, und deren Freundin war Tante Jane vor undenklichen Zeiten geworden. Sie war ursprünglich auch keine Tante; sie war als Klavierlehrerin der Kinder ins Haus gekommen und da hatte sie nicht gerade viel Ehre aufgesteckt, wohl aber viel Liebe gewonnen, denn ihr Grundsatz war, daß es wenig Sinn habe, Klavieraufgaben zu üben, wenn man doch nicht für die Musik geboren sei, wie sie sagte. Ihre Freude war größer, wenn die Kinder auf Bäume kletterten, und auf diese Weise wurde sie ebensowohl Tante zweier Generationen wie durch die rückwirkende Kraft der Jahre die Jugendfreundin ihrer enttäuschten Brotgeberin.


»Ja, der Mucki!« – sagte dann die alte Tante Mary, und sie sagte eskonnte Tante Jane zum Beispiel voll zeitunlöslichen Gefühls, mit einer solchen Nachsicht und Bewunderung für den kleinen, vierzigjährigen Mucki Onkel Nepomuk sagen, der damals schon vierzig Jahre alt war, daß ich ihre Stimme bis heute nicht vergessen habenoch für den, der sie einmal gehört hatte, lebte. Diese Stimme von Tante MaryJane war wie mit Mehl bestaubt; gerade gewesen; geradezu wie wenn man den nackten Arm in ganz feines Mehl taucht, so rauh und so sanft. Esgetaucht hätte. Eine belegte, eine mild panierte Stimme; es kam davon, daß sie sehr viel schwarzen Kaffee trank und dazu die langen, dünnen, schwerenlange, dünne, schwere Virginiazigarren rauchte, welchedie zusammen mit dem Alter ihre Zähne schon ganz schwarz und klein gemacht hatten. Sah man ihr ins Gesicht, so mochtekonnte man übrigens auch glauben, daß der Klang ihrer Stimme von den unzähligen kleinen, feinen Rissen komme, mit denen ihr Gesicht kreuz und quer durchzogen war wie eine Radierung. Seit wann sie ihren Taufnamen englisch führte, weiß ich nicht; aber sie war schon die jüngere Freundin meiner Großmutter gewesen und die Klavierlehrerin meiner Mutter. Da hatte sie nicht gerade viel Ehre aufgesteckt, wohl aber viel Liebe gewonnen, denn sie fand es ganz natürlich, daß man lieber mit den Buben auf die Bäume klettert als die Aufgaben zu üben, wenn man nicht für die Musik geboren ist, wie sie sagte. Und solang ich sie kannte, hatte sie sich niemals verändert oder von einer anderen Seite gezeigt, als man es gewohnt war. Sie trug nur ein Kleidmit den unzählbaren kleinen, feinen Strichen zusammenhängen müsse, von denen ihre Haut wie eine Radierung überzogen war. Ihr Gesicht war lang und sanft, und es hatte sich für die späteren Generationen niemals geändert, so wenig wie irgend etwas anderes an Tante Jane. Sie trug nur ein einziges Kleid durchs Leben, wenn es auch, wie das immerhin wahrscheinlich ist, mehrmalszu sein scheint, mehrfach vorhanden war; es war ein enges Futteral aus rilliger schwarzer Seide, das bis zum Boden reichte, keinerlei körperlichen Ausschweifungen kanntehuldigte und mit unzähligenvielen kleinen schwarzen Knöpfen zu schließen warging wie die Sutane eines Priesters. Oben kam knapp ein niederer steifer Stehkragen knapp daraus hervor, mit umgebrochenen Ecken, zwischen denen die fleischloseGurgel in der fleischlosen Haut des Halses bei jedem Zug an der Zigarre tätige Rinnen bildete,; die engen Ärmel wurden von steifen, weißen Stulpen abgeschlossen, und das Dach bestand aus einer rötlich blonden, schön gewellten Perückerötlichblonden, ein wenig gekräuselten Männerperücke, die in der Mitte gescheitelt war. Mit den Jahren wurde anin diesem Scheitel ein wenig die Leinwand sichtbar, aber rührender waren noch die beiden Stellen, wo man die greisen Schläfen neben dem üppigenfarbigen Haar sah, denn in allem übrigen alterteals einziges Zeichen davon, daß Tante Mary nieJane während ihres Lebens nicht immer gleich alt geblieben war.

Ich hätte beinahe vergessen, zu sagen, daß ihre Perücke eigentlich eine Männerperücke war, und nun könnte man natürlich Man könnte glauben, daß sie die maskulinemännliche Frauenart vorwegnahm, die jetzt,um viele Jahrzehnte später,vorweggenommen hatte, die seither in Mode kommt;gekommen ist; aber dem war doch nicht so., denn in ihrer männlichen Brust ruhte ein sehr weibliches Herz. Man köonnte auch glauben, daß sie exzentrisch war; sie nährte sich nur mit starkem Tee, schwarzem Kaffe und zwei Tassen Fleischbrühe täglich, und die Leute blieben auf der Straße nur deshalb nicht hinter ihrer Erscheinung stehen, weil man sie in der kleinen Stadt ohnedies kannte. Jedoch sie taten es auch deshalb nicht, weil man wußte, daß sie nicht im geringsten verrückt, lächerlich oder geistig hilflos war, sondern von einer wohlgebildeten inneren Menschlichkeit, die sich dem Ungewohnten zu Trotz selbst in der Erscheinung ausdrückte. Sie war bloß extravagant, wenn man dieses Wort diesmal mit außerhalb schweifend zu übersetzen erlaubt, sie hätte eine einst bekannte Malerin sein können, dieeinmal eine sehr berühmte Pianistin gewesen sei, die später den Zusammenhang mit ihrer Zeit ein wenig verloren hatte, oder eine berühmte Pianistin, die noch mit Liszt befreundet wardenn so sah sie aus; aber auch das war nicht so, sie war nie mehr als eine Klavierlehrerin gewesen, und ich glaube, alles an ihr, der Männerzkopf wie die Sutane, kamen nur davon her, daß sieTante Jane als Mädchen für Franz Liszt geschwärmt hatte, aber es konnte auch Byron oder Shelley gewesen seindem sie während kurzer Zeit einigemal in Gesellschaft begegnet war, und wenn man das recht bedenkt, ist es eine viel merkwürdigere Treueleistungauf irgendeine Weise hatte da ihr Name seine englische Form angenommen. Denn dieser Begegnung hielt sie die Treue, wie ein verliebter Ritter die Farben seiner Dame bis ins Greisenalter trägt, ohne je mehr begehrt zu haben; und an Tante Jane war das rührender, als wenn mansie die Uniform dihrer eigenen Ruhmestage in Pension weiter trägt. Tante Mary war nichts weniger als maskulin, und wenn ihr Aussehen sich dem eines Mannes annäherte, so habe ich sie im Verdacht, daß dies eine innige Kleidwerdung ihres romantischen Geistes war.

Denn von allem anderen abzusehen, kenne ich ja ihr großes Weibeserlebnis, so wie sie es nannte, das mir als Familienmitglied anvertraut worden ist. Sie war zu seiner Zeit wohl am Ende der zwanzig gewesen – womit man damals
getragen hätte. Auch das Geheimnis ihres Lebens, das man in der Familie den Herangewachsenen nur nach ernster Ermahnung zur Achtung wie bei einer Jünglingsweihe weitergab, hatte etwas von dieser Art. Jane war kein junges Mädchen mehr war; aber gewesen (denn eine anspruchsvolle Seele wählt lange – und er war Künstler, wenn auch aus schnödem Mißgeschick nur Photograph einer Provinzstadt. Sie heiratete ihn ), als sie den Mann fand, den sie liebte und gegen den Willen ihrer Angehörigen. Er machte heiratete, und dieser Mann war natürlich ein Künstler gewesen, wenn auch durch schnödes Mißgeschick provinzstädtischer Verhältnisse nur Photograph. Aber er machte schon nach kurzer Ehe Schulden wie ein Genie. Er war und trank leidenschaftlich und mußte trinken. Sie. Tante Jane entbehrte für ihn., Ssie holte ihn aus dem Wirtshaus zu den Göttern zurück., Ssie weinte heimlich und zu seinen Knien. Nun besteht aber die ganze Liebe zu nichts als der Fähigkeit oder glücklichen Zufallsmöglichkeit, was man selbst fühlt auf einen andern zu übertragen; zum Beispiel, hat eine Frau in der Nacht schweres Unglück geträumt, steht auf und umklammert unter Tränen den Geliebten: besitzt sie die Fähigkeit, diese tragische Stimmung schnell vor ihm, zu seinen Knien. Er sah wie ein Genie aus, mit mächtigem Mund und stolzem Haar, und wenn Tante Jane die Fähigkeit besessen hätte, die Leidenschaft ihrer Verzweiflung auf ihn zu übertragen, so entsteht eine Nacht, sowäre er mit dem Unglück seiner Laster groß wie Lord Byron; sonst aber nur eine recht lästige Schlafstörung. Der gewesen. Aber der Photograph machte der Übertragung von Gefühlen Schwierigkeiten, zu denen sein geniales Aussehen den Anlaß gab. Erer verließ MaryJane nach dreiviertel Jahreneinem Jahr mit ihrer bäurischen Magd, die er geschwängert hatte. Er, und starb bald darauf. Sie nahm sein uneheliches Kind an eigen statt und zog es auf. Sie ziemlich verkommen. Jane schnitt eine Locke von demseinem gewaltigen Haupt und bewahrte sie auf. Sie; sie nahm das uneheliche Kind, das er hinterließ, an eigen Statt und zog es unter Opfern groß; sie sprach nieselten von dieser vergangenen Zeit. Man, denn man kann vom Leben, wenn es gewaltig ist, nicht auch noch fordern, daß es gut sein soll.

Das war nun sicher romantischer Unsinn; aberIn Tante Janes Leben war also nicht gar wenig romantische Unnatur. Aber später, als der Photograph in seiner irdischen Unvollkommenheit schon längst keinen Zauber mehr auf sie ausübte, war gewissermaßen auch die weicheunvollkommene Substanz dihreser Liebe zu ihm verwest, und die ewige Form der Liebe und Begeisterung blieb übrig; es wirkte in weiterer Ferne dieses Erlebnis kaum anders,als es ein wirklich gewaltiges getan hätte. So aber war Tante MaryJane überhaupt. Ihr geistiger Inhalt war vermutlich nicht groß, aber seine seelische Form war so schön. Ihre Gebärde war herrloisch, und solche Gebärden sind nur unangenehm, solange sie falsche Inhalte haben; wenn sie ganz leer sind, werden sie wieder wie Flammenspiel und Glaube. Tante Jane lebte nur von Tee, schwarzem Kaffee und zwei Tassen Fleischbrühe täglich, aber auf den Straßen der kleinen Stadt blieben die Leute nicht stehen und sahen ihr nach, wenn sie in ihrer schwarzen Sutane vorbeikam, weil man wußte, daß sie ein ordentlicher Mensch war; ja mehr als das, man hatte eine gewisse Ehrfurcht vor ihr, weil sie ein ordentlicher Mensch war und sich trotzdem die Fähigkeit bewahrt hatte, so auszusehen, wie es ihr offenbar ums Herz war, wenn man gleich nichts Näheres davon wußte.

Das wäre also wohl die Geschichte von Tante Jane, die längst in hohem Alter gestorben ist, und die Großtante ist tot, und Onkel Nepomuk ist tot, und warum haben sie eigentlich alle gelebt? fragte sich Ulrich. Aber er würde zu dieser Zeit etwas darum gegeben haben, wenn er noch einmal mit Tante Jane hätte sprechen dürfen. Er blätterte in den dicken, alten Alben mit Lichtbildern seiner Familie, die irgendwie zu Diotima gekommen waren, und je näher er den Anfängen dieser neuen Bildkunst zu blätterte, desto stolzer, kam ihm vor, hatten sich die Menschen ihr dargeboten. Sie setzten, wie man sah, den Fuß auf Felsblöcke aus Karton, die von Efeu aus Papier umsponnen waren; wenn sie Offiziere waren, stellten sie die Beine auseinander und den Säbel dazwischen; wenn sie Mädchen waren, legten sie die Hände in den Schoß und öffneten weit die Augen; wenn sie freie Männer waren, stiegen ihre Hosen in kühner Romantik, ohne Bügelfalte, gleichsam wie gekräuselter Rauch von der Erde auf, und ihre Röcke hatten einen runden Schwung, etwas Stürmisches, das die steife Würde des bürgerlichen Gehrocks verdrängt hatte. Das mag so zwischen achtzehnhundertsechzig und -siebzig gewesen sein, nachdem die Anfänge des Verfahrens überwunden waren. Die Revolution der Vierzigerjahre lag als wüste Zeit längst zurück, und es gab neue Lebensinhalte, man weiß heute nicht mehr recht, welche; auch die Tränen, Umarmungen und Geständnisse, in denen das neue Bürgertum zu Beginn seiner Zeit seine Seele gesucht hatte, gab es nicht mehr; aber wie eine Welle auf Sand ausläuft, war dieser Edelmut nun bei den Kleidern angelangt und einer gewissen privaten Schwunghaftigkeit, wofür es wohl ein besseres Wort geben mag, von dem aber vorläufig nur die Photographien da sind. Das war die Zeit, wo die Photographen Samtjoppen und Knebelbärte trugen und wie die Maler aussahen, und die Maler große Kartons entwarfen, auf denen sie kompagnieweise mit bedeutsamen Figuren exerzierten; und den Privatmenschen schien es zu dieser Zeit gerade an der Zeit zu sein, daß auch für sie ein Verewigungsverfahren erfunden wurde. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß sich nicht leicht Menschen einer anderen Zeit so genialisch und großartig gefühlt haben wie gerade die Menschen dieser Zeit, unter denen es so wenig ungewöhnliche Menschen gab – oder es gelang ihnen so selten, zwischen den anderen hochzukommen – wie noch nie.

Und oft frug sich Ulrich dabei, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dieser Zeit, wo sich ein Photograph für genial halten konnte, weil er trank, einen offenen Halskragen trug und den seelischen Adel, den er besaß, mit Hilfe des modernsten Verfahrens auch an allen Zeitgenossen nachwies, die sich vor sein Objektiv stellten, und einer gewissen anderen Zeit, wo man nur noch Rennpferde, wegen ihrer alles übersteigenden Fähigkeit, sich zu strecken und zusammenzuziehen, aufrichtig für genial hält. Sie sehen verschieden aus; die Gegenwart sieht stolz auf die Vergangenheit herab, und wenn die Vergangenheit zufällig später gekommen wäre, so würde sie stolz auf die Gegenwart herabsehen, aber in der Hauptsache kommen beide auf etwas sehr Ähnliches hinaus, denn es spielen da wie dort Ungenauigkeit und Auslassung der entscheidenden Unterschiede die größte Rolle. Es wird ein Teil des Großen für das Ganze genommen, eine entfernte Analogie für die Erfüllung der Wahrheit, und der leergewordene Balg eines großen Worts wird nach der Mode des Tags ausgestopft. Das geht großartig, wenn es auch nicht lange hält. Die Menschen, die in Diotimas Salon sprachen, hatten in nichts ganz unrecht, weil ihre Begriffe so unscharf waren wie Gestalten in einer Waschküche. »Diese Begriffe, in denen das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen!« dachte Ulrich. »Diese unzähligen moralischen und künstlerischen Begriffe des Lebens, die ihrem Wesen nach so zart sind wie harte Gebirge in undeutlicher Ferne!« Auf ihren Zungen vermehrten sie sich durch Drehung, und man konnte von keiner ihrer Ideen eine Weile sprechen, ohne unversehens schon in die nächste zu geraten.

Diese Art Menschen hat sich zu allen Zeiten die neue Zeit genannt. Es ist das ein Wort wie ein Sack, in dem man die Winde des Aeolus fangen möchte; dieses Wort ist die beständige Entschuldigung dafür, die Dinge nicht in Ordnung zu bringen, das heißt, nicht in ihre eigene, eine sachliche Ordnung, sondern in den eingebildeten Zusammenhang eines Undings. Und doch liegt ein Bekenntnis darin. Die Überzeugung, daß sie die Aufgabe hätten, Ordnung in die Welt zu tragen, lebte in der sonderbarsten Weise in diesen Menschen. Wenn man das, was sie zu diesem Zweck unternahmen, Halbklugheit nennen wollte, so wäre bemerkenswert, daß gerade die andere, ungenannte, oder, um sie zu nennen, die dumme, niemals genaue und richtige Hälfte dieses Halbklugseins eine unerschöpfliche Erneuerungskraft und Fruchtbarkeit besaß. Es war Leben in ihr, Wandelbarkeit, Ruhelosigkeit, Standpunktwechsel. Aber sie spürten wohl selbst, wie das war. Es rüttelte an ihnen, es blies durch ihren Kopf, sie gehörten einem nervösen Zeitalter an, und es stimmte etwas nicht, jeder hielt sich für klug, aber alle zusammen fühlten sich unfruchtbar. Hatten sie noch dazu Talent – und ihre Ungenauigkeit schloß das ja keineswegs aus – so war es in ihrem Kopf, als ob man das Wetter und die Wolken, die Eisenbahnen, Telegraphendrähte, Bäume und Tiere und das ganze bewegte Bild unserer lieben Welt durch ein schmales, verkrustetes Fenster sähe; und keiner merkte es so leicht an seinem eigenen, aber jeder am Fenster des andren.

Ulrich hatte sich einmal den Scherz gemacht, von ihnen genaue Angaben über das zu verlangen, was sie meinten; sie sahen ihn darauf mißbilligend an, nannten sein Begehren mechanische Lebensauffassung und Skepsis und stellten die Behauptung auf, daß das Komplizierteste nur auf das einfachste gelöst werden dürfe, so daß die neue Zeit, sobald sie sich erst aus der Gegenwart herauserlöst habe, ganz einfach ausschauen werde. Ulrich machte, im Gegensatz zu Arnheim, gar keinen Eindruck auf sie, und Tante Jane würde ihm das Gesicht gestreichelt und gesagt haben: »Ich verstehe sie sehr gut; du störst sie mit deinem Ernst.«