MoE 2 | Erstes Buch | Zweiter Teil | Kapitel 120-123

Als Walter die innere Stadt betrat, lag etwas in der Luft. Die Leute gingen nicht anders als sonst, und die Wagen und Bahnen fuhren wie immer; vielleicht war da oder dort eine ungewöhnliche Bewegung zu sehen, aber sie löste sich wieder auf, ehe man sie recht wahrnehmen konnte: trotzdem schien alles mit einem kleinen Merkzeichen versehen zu sein, dessen Spitze in eine bestimmte Richtung wies, und kaum war Walter einige Schritte gegangen, so fühlte er dieses Zeichen auch an sich. Er folgte der Richtung und hatte das Empfinden, daß der Beamte des Kunstdepartements, der er war, aber auch der kämpfende Maler und Musiker, ja sogar der gequälte Gatte Clarissens einer Person Platz machten, die sich in keinem dieser bestimmten Zustände befand; auch die Straßen gerieten mit ihrer Tätigkeit und ihren putzübersäten, großtuenden Häusern in einen ähnlichen »Vorzustand«, wie er das bei sich nannte, denn es machte ungefähr den Eindruck einer kristallenen Form auf ihn, deren Flächen in einer Flüssigkeit nachzugeben beginnen und in einen älteren Zustand zurückfallen. So altgesinnt er war, wenn es künftige Neuerungen abzulehnen galt, so gern war er bereit, für sich selbst das Gegenwärtige zu verurteilen, und die Auflösung der Ordnung, die er spürte, regte ihn günstig an. Die Menschen, denen er in großen Mengen begegnete, erinnerten ihn an seinen Traum; der Eindruck einer beweglichen Eile ging von ihnen aus, und eine Zusammengehörigkeit, die ihm weit ursprünglicher vorkam, als es die gewöhnliche, durch Verstand, Moral und kluge Sicherungen besorgte ist, machte eine freie, lockere Gemeinschaft aus ihnen. Er dachte an einen großen Blumenstrauß, von dem man die Bindfäden genommen hat, so daß er sich öffnet, ohne doch auseinander zu fallen; und er dachte an einen Körper, von dem man die Kleidung entfernt hat, so daß die lächelnde Nacktheit hervorkommt, die keine Worte hat, noch braucht. Als er aber, rascher ausschreitend, bald auf einen großen Trupp bereitgehaltener Polizei stieß, machte auch das keine Störung aus, und der Anblick entzückte ihn wie ein Feldlager, das den Alarm erwartet und mit seinen vielen roten Halskragen, abgesessenen Reitern und der Bewegung einzelner Mannschaften, die ihr Einrücken oder Abgehen meldeten, seine Sinne kriegerisch aufregte.
Hinter dieser Absperrungslinie fiel Walter, obgleich sie sich noch nicht geschlossen hatte, sofort das dunklere Straßenbild auf; man sah fast keine Frauen auf den Wegen, und auch die bunten Uniformen müßiggängerischer Offiziere, die sonst diese Gassen belebten, schien die herrschende Ungewißheit eingeschluckt zu haben. Gleich ihm selbst strebten aber viele Leute stadteinwärts, und der Eindruck, den ihre Bewegung machte, war nun ein anderer; er erinnerte an Spreu und Abschnitzel, die ein starker Windstoß hinter sich her zieht. Er sah auch bald die ersten Gruppen, die sich aus ihnen bildeten und, wie es schien, nicht nur von Neugierde, sondern ebensosehr von der Unentschlossenheit zusammengehalten wurden, ob man dem ungewöhnlichen Reiz weiter folgen oder umkehren solle. Auf seine Fragen erhielt Walter verschiedene Antworten. Die einen, an die er sich wandte, erwiderten, daß eine große Kundgebung der Staatstreue im Gange sei, die anderen glaubten gehört zu haben, daß sich die Kundgebung gegen gewisse allzu betriebsame Patrioten richte, und ebenso geteilt waren die Meinungen in der Frage, ob die alle beherrschende Erregung eine Erregung des deutschen Volkes über die Nachgiebigkeit der Regierung sei, welche die slawischen Wünsche begünstige, was die meisten glaubten, oder ob die Erregung regierungsfreundlich sei und zu einem Aufmarsch aller gutgesinnten Kakanier gegen die unaufhörlichen Unruhen auffordere. Es waren Mitläufer wie er, und Walter erfuhr nichts, was er nicht schon in seinem Büro erzählen gehört hätte, aber ein Hang zu schwätzen, über den er nicht Herr wurde, hieß ihn immer weiter fragen. Und ob ihm die Leute, denen er sich anschloß, mitteilten, daß sie selbst nicht wüßten, was los sei, oder ob sie lachten und über ihre eigene Neugierde spotteten, so hörte er doch, je weiter er kam, desto einmütiger den ernsten Nachsatz, daß irgend etwas endlich einmal geschehen müsse, wenn sich auch niemand freiwillig bereit fand, ihm zu erklären, was. Und je weiter er auf diese Weise kam, desto öfter bemerkte er auf den Gesichtern, in die er blickte, etwas unvernünftig Überströmendes und über die Vernunft Wegströmendes, es schien wahrhaftig schon gleichgültig zu sein, was dort geschah, wohin es alle zog, und zu genügen, daß es etwas Ungewöhnliches sei, um sie außer sich zu bringen; und obwohl dieses »Außer sich geraten« nur in jenem abgeschwächten Wortsinn zu verstehen war, der eine sehr gewöhnliche leichte Erregung bedeutet, spürte man doch darin eine ferne Verwandtschaft mit vergessenen Zuständen der Verzückung und Verklärung, gleichsam eine wachsende unbewußte Bereitschaft, aus Kleidern und Haut zu fahren.
Und Walter ordnete sich, Vermutungen austauschend und Dinge redend, die wenig zu ihm paßten, den anderen ein, die sich aus abbröckelnden Gruppen Wartender und halbschlüssig Weitergehenden zu einem Zug formten, der sich gegen den vermuteten Schauplatz bewegte und ohne bestimmte Absicht zusehends an Dichte und innerer Kraft gewann. Aber noch hatten alle diese Empfindungen etwas von Kaninchen, die um den Bau huschen und in jedem Augenblick bereit sind, darin zu verschwinden, als sich von der Spitze des ungeordneten Zugs, die man nicht sehen konnte, bis zu seinem Ende eine bestimmtere Erregung fortpflanzte. Ein Trupp Studenten oder anderer junger Leute, der bereits irgendwas getan hatte und »aus der Schlacht« kam, war dort zu der Menge gestoßen; man hörte etwas, das man nicht verstand, verstümmelte Botschaften und Wellen stummer Erregung liefen von vorne nach hinten, und die Leute empfanden, je nach ihrer Natur und nach dem, was sie auffaßten, Empörung oder Angst, Rauflust oder einen sittlichen Befehl und drängten nun in einem Zustand vorwärts, worin sie von solchen recht gewöhnlichen Vorstellungen geleitet wurden, die in jedem anders aussahen, aber trotz ihrer das Bewußtsein beherrschenden Stellung so wenig bedeuteten, daß sie sich zu einer allen gemeinsamen lebendigen Kraft vereinten, die mehr auf die Muskeln einwirkte als auf den Kopf. Auch Walter, der sich jetzt mitten im Zug befand, wurde davon angesteckt und geriet alsbald in eine aufgeregte und leere Verfassung, die mit dem Beginn eines Rausches Ähnlichkeit hatte. Man weiß nicht recht, wie diese Veränderung entsteht, die aus eigenwilligen Menschen in gewissen Augenblicken eine einwillige Masse macht, die der größten Überschwenglichkeit im Guten wie im Bösen fähig und der Überlegung unfähig ist, auch wenn die Menschen, aus denen sie besteht, zumeist ihr Leben lang nichts so gepflegt haben wie Maß und Besonnenheit. Wahrscheinlich springt die auf Entspannung drängende Erregung einer Menge, die keinen Ausweg für ihre Gefühle hat, auf jede Bahn über, die sich unversehens öffnet, und voraussichtlich werden es unter allen die Erregbarsten, Empfindlichsten und Widerstandsunfähigsten sein, das heißt aber auch die Extremen, zu plötzlicher Gewalttat oder rührseligem Edelmut Fähigen, die das Beispiel geben und den Weg öffnen; sie bedeuten in der Masse die Punkte des geringsten Widerstandes, aber der Schrei, der mehr durch sie hinausstößt, als daß er von ihnen ausgestoßen würde, der Stein, der ihnen in die Hand kommt, das Gefühl, in das sie ausbrechen, legen den Weg frei, auf dem die anderen, die ihre Erregung aneinander bis zur Unerträglichkeit gesteigert haben, besinnungslos nachdrängen, und sie geben den Handlungen ihrer Umgebung die Form der Massenhandlung, die von allen halb als Zwang und halb als Befreiung empfunden wird.
An diesen Erregungen, die man ebensogut schon an den Zuschauern jedes Wettkampfes oder den Zuhörern einer Rede beobachten kann, ist übrigens die Psychologie ihrer Entladung lange nicht so bedeutsam wie die Frage, aus welchen Ursachen die Bereitschaft zu ihnen entsteht, denn wäre der Sinn des Lebens in Ordnung, würde es auch seine Sinnlosigkeit sein und müßte nicht die Begleiterscheinungen des Schwachsinns haben. Das wußte nun Walter so gut wie nicht leicht ein anderer und hatte nicht wenig Verbesserungsvorschläge in sich, die dabei alle hervorkamen, so daß er sich mit einem schalen, üblen Gefühl fortwährend gegen die Mitgerissenheit wehrte, die ihn trotzdem begeisterte. In einem Augenblick sich lichtenden Bewußtseins dachte er dabei an Clarisse. »Gut, daß sie nicht hier ist,« dachte er »sie würde diesem Druck nicht standhalten!« Aber ein stechender Schmerz schloß ihn im selben Augenblick von der Fortsetzung dieses Gedankens aus; er hatte sich an den überaus deutlichen Eindruck des Wahnsinns erinnert, den sie auf ihn gemacht hatte. Er dachte »vielleicht bin ich selbst wahnsinnig, weil ich es so lange nicht bemerkt habe!« Er dachte »ich werde es bald sein, wenn ich immer mit ihr lebe!« Er dachte »ich glaube es nicht!« Er dachte »aber es ist ganz sicher!« Er dachte: »Ihr geliebtes Gesicht ist zwischen meinen Händen zu einer Fratze erstarrt!« Aber richtig konnte er alles das nicht mehr denken, denn Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit blendeten sein Bewußtsein. Er fühlte bloß, daß es trotz dieses Schmerzes unvergleichlich schöner sei, Clarisse zu lieben, als hier mitzulaufen, und drückte sich, der Angst ausweichend, tiefer in die Reihe hinein, worin er marschierte.
Auf einem anderen Wege als er hatte indessen Ulrich das Palais des Grafen Leinsdorf erreicht. Als er ins Tor bog, stand in der Einfahrt ein Doppelposten, und im Hof lagerte ein starkes Polizeipikett. Se. Erlaucht begrüßte ihn gefaßt und zeigte sich bereits davon unterrichtet, daß er zum Ziel des Volksunwillens geworden sei. »Ich muß etwas zurücknehmen« sagte er. »Ich habe zu Ihnen einmal gesagt, daß man ziemlich sicher sein kann, wenn viele Leute für etwas sind, daß auch etwas Brauchbares daraus wird. Das hat natürlich Ausnahmen!«

Der Majordomus kam kurz nach Ulrich herauf und überbrachte die inzwischen unten eingelaufene Meldung, daß sich der Zug der Menge dem Palais nähere, woran seine umsichtige Besorgnis die Frage knüpfte, ob Tor und Fensterläden geschlossen werden sollten. Se. Erlaucht schüttelte das Haupt. »Was fallt Ihnen denn ein!« entschied er leutselig. »Darüber täten sich die nur freuen, weil es so aussehen möchte, als ob wir Angst hätten. Und außerdem sind ja alle die Wachter da, die uns die Polizei geschickt hat!« Zu Ulrich aber wandte er sich und sagte im Ton moralischer Kränkung: »Sollen sie uns nur die Fenster einschlagen! Ich hab es ja gesagt, daß bei den gescheiten Männern nichts herauskommen wird!« Ein tiefer Groll schien in ihm zu arbeiten, den er unter würdiger Ruhe verbarg.
Ulrich war ans Fenster getreten, als der Zug aufzog. An den Straßenrändern schritten Schutzleute mit und stoben Unbeteiligte wie eine Wolke aus dem Weg, die der geschlossene Marschtritt aufwirbelte. Weiterhin stand da und dort schon eingekeiltes Fuhrwerk fest, um das der gebieterische Strom in unabsehbaren schwarzen Wellen floß, auf denen man den aufgelösten Gischt der hellen Gesichter tanzen fühlte. Als die Spitze der Marschierenden des Palais ansichtig wurde, schien es, daß irgend ein Befehl die Schritte mäßige, eine Stauwelle lief nach hinten, die anrückenden Reihen keilten sich ineinander, und es entstand ein Bild, das einen Augenblick lang an einen Muskel erinnerte, der sich vor dem Schlag verdickt. Im nächsten Augenblick sauste dieser Schlag durch die Luft und sah wunderlich genug aus, denn er bestand aus einem Schrei der Entrüstung, von dem man früher die aufgerissenen Münder sah, als man den Laut hörte. Schlag um Schlag klappten die Gesichter in dem Augenblick auf, wo sie auf den Plan traten, und da das Geschrei der weiter Entfernten von dem der inzwischen nahe Gekommenen übertönt wurde, konnte man bei fern gerichtetem Blick dieses stumme Schauspiel sich immer wiederholen sehn.
»Der Rachen des Volks!« sagte Graf Leinsdorf, der für einen Augenblick hinter Ulrich getreten war, mit großem Ernst, als ob das ein so feststehendes Wort wäre wie das tägliche Brot. »Aber was schreien sie eigentlich? Ich kann es bei dem Lärm nicht verstehn
Ulrich meinte, daß sie hauptsächlich »Pfui!« schrien.
»Ja, aber es ist noch etwas dabei?«
Ulrich sagte ihm nicht, daß unter den dunkel tanzenden Lauten des Pfui nicht selten der langgezogene helle Ruf »Nieder mit Leinsdorf!« zu hören war; er glaubte sogar einigemale unter abwechselndem »Heil« auf Deutschland auch ein »Hoch Arnheim!« vernommen zu haben, war da aber selbst seiner Sache nicht sicher, weil das kräftige Fensterglas den Schall undeutlich machte.
Ulrich war sogleich, nachdem Gerda davongelaufen war, hieher gegangen, denn er fühlte das Bedürfnis, wenigstens Graf Leinsdorf mitzuteilen, was ihm zu Ohren gekommen war und Arnheim über Erwarten bloßstellte; aber er hatte davon bisher noch nichts über die Lippen gebracht. Er sah in die dunkle Bewegung unter dem Fenster, und eine Erinnerung an seine Offizierszeit erfüllte ihn mit Verachtung, denn er sagte zu sich: »Mit einer Kompagnie Soldaten würde man diesen Platz leerfegen!« Er sah es beinahe vor sich, als wären die drohenden Mäuler ein einziger geifernder Mund, in dessen Furchtbarkeit sich plötzlich der Schreck schlich; die Ränder wurden schlaff und verzagt, die Lippen sanken zögernd über die Zähne; und mit einemmal verwandelte seine Phantasie die drohende schwarze Menge in stiebendes Hühnervolk, zwischen das der Hund gefahren ist! Das geschah in ihm, als ob sich alles Böse noch einmal hart zusammengekrampft hätte, aber die alte Genugtuung, das Zurückweichen des sittlich bewegten vor dem empfindungslos gewalttätigen Menschen zu beobachten, war wie immer eine zweischneidige Empfindung.
»Was haben Sie denn?« fragte Graf Leinsdorf, der hinter Ulrich hin und her ging und durch eine sonderbare Bewegung wirklich den Eindruck empfing, es habe sich dieser an einer scharfen Schneide wehgetan, wozu weit und breit keine Möglichkeit vorhanden war; und als er keine Antwort erhielt, blieb er stehen, schüttelte den Kopf und sagte: »Wir dürfen schließlich nicht vergessen, daß der hochherzige Entschluß, durch den Seine Majestät dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Angelegenheiten geschenkt hat, noch nicht so lange her ist; da läßt es sich begreifen, daß noch nicht überall eine politische Reife eingetreten ist, wie sie des von höchster Seite großmütig entgegengebrachten Vertrauens in jeder Hinsicht würdig wäre! Ich glaube, daß ich das gleich in der ersten Sitzung gesagt habe!«
Bei dieser Anrede verzichtete Ulrich auf den Wunsch, Se. Erlaucht oder Diotima von den Ränken Arnheims zu verständigen; trotz aller Gegnerschaft fühlte er sich ihm näher verwandt als den anderen, und die Erinnerung, daß er selbst sich über Gerda hergemacht habe wie ein großer Hund über einen heulenden kleinen –: er wurde jetzt gewahr, daß sie ihn seither unaufhörlich gequält hatte, aber sie ließ darin nach, sobald er an die Niedertracht dachte, die sich Arnheim gegen Diotima herausnahm. Der Geschichte mit dem schreienden Körper, der zwei ungeduldig wartenden Seelen ein Theater vorgemacht hatte, konnte man, wenn man wollte, sogar eine komische Seite abgewinnen; und die Leute hier unten, auf die Ulrich noch immer gebannt hinabsah, ohne sich um Graf Leinsdorf zu kümmern, führten ja auch nur eine Komödie auf! Das war es, was ihn daran fesselte. Sie wollten ganz gewiß niemand angreifen und zerreißen, obgleich sie so aussahen. Sie zeigten sich überaus ernstlich erzürnt, aber das war nicht der Ernst, der feuernden Gewehren entgegentreibt; es war nicht einmal der Ernst der Feuerwehr! »Nein, was sie treiben,« dachte er »ist eher eine kultische Handlung, ein geweihtes Spiel mit beleidigten tiefsten Empfindungen, irgend ein zivilisiert-unzivilisierter Rest von Gemeinschaftshandlungen, die der einzelne nicht bis ins letzte genau zu nehmen braucht!« Er beneidete sie. »Wie angenehm sind sie sogar jetzt noch, wo sie sich möglichst unangenehm zu machen suchen!« dachte er. Der Schutz vor Einsamkeit, den eine Menge gewährt, strahlte von unten herauf, und daß er selbst ohne ihn hier oben stehen mußte – was er einen Augenblick lang so lebhaft empfand, als sähe er sein Bild hinter Glas, wie es in die Hauswand gefügt war, von der Straße aus – kam ihm als der Ausdruck seines Schicksals vor. Dieses Schicksal, fühlte er, wäre ein besseres gewesen, wenn er jetzt in Zorn geraten oder an Graf Leinsdorfs Stelle die bereitgehaltene Wache alarmieren würde, um sich ein andermal mit den gleichen Leuten freundlich eins zuwissen; denn wer mit seinen Zeitgenossen Karten spielt, handelt, streitet und Vergnügungen teilt, der darf gelegentlich auch auf sie schießen lassen, ohne daß dies aus der Art schlagen würde. Es gibt eine gewisse Verträglichkeit mit dem Leben, die jeden Menschen das seine tun läßt, ohne sich um ihn zu kümmern, und unter der gleichen Bedingung jedem das ihre antut: daran dachte Ulrich. Und das ist vielleicht eine etwas sonderbare Regel, aber nicht weniger sicher als ein Naturtrieb, denn von ihr geht offenbar die vertrauliche Witterung der menschlichen Wohlgeratenheit aus, und wer diese Fähigkeit des Kompromisses nicht hat, einsam, rücksichtslos und ernst ist, der beunruhigt die anderen in jener ungefährlichen, aber ekelerregenden Weise, wie es eine Raupe tut. Er fühlte sich in diesem Augenblick ganz von der tiefen Abneigung gegen die Unnatürlichkeit eines einsamen Menschen und seine Gedankenexperimente bedrückt, die der bewegte Anblick einer von natürlichen und gemeinsamen Empfindungen aufgewühlten Menge erregen kann.
Die Demonstration hatte inzwischen an Heftigkeit zugenommen. Graf Leinsdorf ging im Hintergrund des Zimmers aufgeregt hin und her und warf von Zeit zu Zeit einen Blick durch das zweite Fenster. Er schien sehr zu leiden, obgleich er es nicht zeigen wollte; seine hervorstehenden Augen staken wie zwei harte Steinkugeln in den weichen Furchen seines Gesichts, und die hinter dem Rücken verschränkten Arme dehnte er manchmal wie in schweren Anfechtungen. Plötzlich erkannte Ulrich, daß man ihn selbst, der dauernd am Fenster stand, für den Grafen halte. Aller Blicke zielten von unten in sein Gesicht, und Stöcke wurden mit Nachdruck gegen ihn geschwungen. Wenige Schritte weiter, wo der Weg abbog und den Eindruck machte, in der Kulisse zu verschwinden, schminkten sich die meisten schon ab; es wäre unsinnig gewesen, ohne Zuschauer weiter zu drohen, und auf eine Weise, die ihnen ganz natürlich vorkam, verschwand im selben Augenblick die Erregung aus ihrem Gesicht, ja es gab nicht wenige, die lachten und sich fröhlich zeigten wie auf einem Ausflug. Und auch Ulrich, der das beobachtete, lachte, aber die, welche nachkamen, meinten, das sei der lachende Graf, und ihr Zorn steigerte sich furchtbar, und Ulrich lachte nun erst gar über das ganze Gesicht.
Aber plötzlich brach er mit Ekel ab. Und während sein Auge noch abwechselnd in die drohenden Münder und nach den heiteren Gesichtern sah und die Seele sich weigerte, diese Eindrücke weiterfort aufzunehmen, ging mit ihm eine seltsame Veränderung vor. »Ich kann dieses Leben nicht mehr mitmachen, und ich kann mich nicht mehr dagegen auflehnen!« fühlte er; aber zugleich fühlte er hinter sich das Zimmer, mit den großen Bildern an der Wand, dem langen Empireschreibtisch, den steifen Senkrechten der Klingelzüge und Fensterbehänge. Und das hatte nun selbst etwas von einer kleinen Bühne, an deren Ausschnitt er vorne stand, draußen zog das Geschehen auf der größeren Bühne vorbei, und diese beiden Bühnen hatten eine eigentümliche Art, sich ohne Rücksicht darauf, daß er zwischen ihnen stand, zu vereinen. Dann zog sich der Eindruck des Zimmers, das er hinter seinem Rücken wußte, zusammen und stülpte sich hinaus, wobei er durch ihn hindurch- oder wie etwas sehr Weiches rings um ihn vorbeiströmte. »Eine sonderbare räumliche Inversion!« dachte Ulrich. Die Menschen zogen hinter ihm vorbei, er war durch sie hindurch an ein Nichts gelangt; vielleicht zogen sie aber auch vor und hinter ihm dahin, und er wurde von ihnen umspült wie ein Stein von den veränderlich-gleichen Wellen des Baches: es war ein Vorgang, der sich nur halb begreifen ließ, und was Ulrich besonders daran auffiel, war das Glasige, Leere und Ruhselige des Zustands, worin er sich befand. »Kann man denn aus seinem Raum hinaus, in einen verborgenen zweiten?« dachte er, denn es war ihm geradeso zumute, als hätte ihn der Zufall durch eine geheime Verbindungstür geführt.
Er schüttelte diese Träume mit einer so heftigen Bewegung des ganzen Körpers ab, daß Graf Leinsdorf erstaunt stehenblieb. »Was haben Sie denn heute?!« fragte Se. Erlaucht. »Sie lassen sich das zu nahe gehn! Ich bleibe dabei: Wir müssen die Deutschen über die Nichtdeutschen gewinnen, ob es schmerzt oder nicht!« – Bei dieser Ansprache konnte Ulrich wenigstens wieder lächeln und sah das mit vielen Falten und Hügeln geprägte Gesicht des Grafen dankbar vor sich. Es gibt einen besonderen Augenblick, wenn man mit dem Flugzeug landet; der Boden tritt rund und üppig aus der kartenhaften Flachheit hervor, zu der er durch Stunden vermindert war, und die alte Bedeutung, welche die irdischen Dinge wieder erlangen, scheint aus dem Boden zu wachsen: daran sah sich Ulrich erinnert. Aber unbegreiflicherweise schoß ihm im selben Augenblick der Beschluß durch den Kopf, ein Verbrechen zu begehn, oder vielleicht war es auch nur ein gestaltloser Einfall, denn er verband gar keine Vorstellung damit. Möglich, daß es mit Moosbrugger zusammenhing, denn er würde gerne diesem Narren geholfen haben, den das Schicksal so zufällig mit ihm zusammengeführt hatte, wie zwei Menschen auf die gleiche Bank in einem Park zu sitzen kommen. Aber eigentlich fand er in diesem »Verbrechen« nur das Bedürfnis, sich auszuschließen oder das Leben, das man verträglich zwischen den anderen führt, zu verlassen. Was man staats- oder menschenfeindliche Gesinnung nennt, dieses tausendfältig begründete und verdiente Gefühl, es entstand nicht, es wurde von nichts bewiesen, es war einfach da, und Ulrich erinnerte sich, daß es ihn durch sein ganzes Leben begleitet hatte, aber selten in solcher Stärke. Man darf wohl sagen, daß bisher bei allen Umwälzungen auf der Erde immer der geistige Mensch zu Schaden gekommen ist; sie beginnen mit dem Versprechen, eine neue Kultur herbeizuführen, räumen mit dem, was die Seele bis dahin erreicht hat, auf wie mit feindlichem Besitz und werden von der nächsten Umwälzung überholt, ehe sie die alte Höhe überschreiten konnten. So ist das, was man die Kulturperioden nennt, nichts als eine lange Reihe von Umkehrzeichen gescheiterter Unternehmungen, und der Gedanke, sich außer diese Reihe zu stellen, war für Ulrich nichts Neues! Neu daran waren nur die sich verstärkenden Merkmale eines Beschlusses, ja geradezu einer Tat, die schon im Entstehen zu sein schien. Er bemühte sich nicht im geringsten, dieser Vorstellung einen Inhalt zu geben; das Gefühl, nun werde nicht wieder etwas Allgemeines und Theoretisches folgen, wie er dessen schon müde war, sondern er müsse etwas Persönliches und Tätiges unternehmen, woran er mit Blut, Armen und Beinen teilhabe, füllte ihn für einige Augenblicke ganz aus. Er wußte, daß er in dem Augenblick dieses sonderbaren »Verbrechens«, das sein Bewußtsein noch nicht erfaßt hatte, der Welt nicht mehr die Stirn bieten können würde, aber Gott weiß, warum das eine leidenschaftlich zärtliche Empfindung war; sie verband sich mit der wunderlichen Raumerinnerung der Vermischung des Geschehens vor und hinter den Fenstern, deren schwächeres Echo er in jedem Augenblick wieder wachrufen konnte, zu einem dunkel erregenden Verhältnis zur Welt, das Ulrich, wenn er Zeit gehabt hätte, darüber länger nachzudenken, vielleicht auf die sagenhafte Wollust der Helden geführt haben würde, die von den Göttinnen, um die sie warben, verschlungen wurden.
Aber er wurde statt dessen von Graf Leinsdorf unterbrochen, der während dem seinen eigenen Kampf ausgekämpft hatte. »Ich muß hier ausharren, um dieser Empörung die Stirne zu bieten,« begann Se. Erlaucht »darum kann ich nicht fort! Aber Sie, mein Lieber, müßten eigentlich jetzt so schnell wie möglich zu Ihrer Kusine gehen, ehe sie noch über die Vorgänge erschrickt und vielleicht einem unserer Journalisten eine Äußerung gibt, die augenblicklich nicht am Platz ist! Sagen Sie ihr vielleicht –« er dachte noch einmal nach, bevor er einen Beschluß faßte – »Ja, ich denke, Sie sagen ihr am besten: Jedes starke Heilmittel hat starke Wirkungen! Und sagen Sie ihr: Wer das Leben bessern will, darf sich in kritischen Lagen nicht scheuen, zu brennen oder zu schneiden!« Er dachte noch einmal nach; er sah dabei beunruhigend entschlossen aus, und sein Kinnbart stieg und senkte sich lotrecht, wenn er beinahe schon etwas sagte, es sich aber doch noch einmal überlegte. Aber schließlich brach etwas von seiner natürlichen Güte durch, und er fuhr fort: »Sie müssen ihr aber auch auseinandersetzen, daß sie sich gar nicht ängstigen soll! Man braucht sich vor den wilden Männern nämlich nie zu fürchten. Je mehr wirklich in ihnen steckt, desto eher bequemen sie sich den wirklichen Verhältnissen an, wenn man ihnen Gelegenheit dazu gibt. Ich weiß nicht, ob Ihnen das auch schon aufgefallen ist, aber es hat noch nie eine Opposition gegeben, die nicht aufgehört hätte, Opposition zu machen, wenn sie ans Ruder gekommen ist; das ist nämlich nicht bloß so, wie man glauben könnte, daß es sich von selbst versteht, sondern das ist etwas sehr Wichtiges, denn daraus entsteht, wenn ich mich so ausdrücken darf, das Tatsächliche, Verläßliche und Kontinuierliche in der Politik!«

Als Ulrich bei Diotima eintraf, meldete ihm Rachel beim Öffnen, daß die gnädige Frau nicht zu Hause, aber Dr. Arnheim hier sei und auf sie warte. Ulrich erklärte, daß er eintreten wolle, ohne zu bemerken, daß bei seinem Anblick seiner reuigen kleinen Freundin das Blut ins Gesicht geschlagen war.
Auf der Straße flutete noch Unruhe hin und her, und Arnheim, der am Fenster gestanden hatte, kam ihm von dort entgegen, um ihn zu begrüßen. Der unerwartete Zufall dieses zögernd gesuchten Zusammentreffens belebte sein Gesicht, aber er wollte vorsichtig sein und fand nicht den gewünschten Anfang. Auch Ulrich konnte sich nicht entschließen, gleich mit den galizischen Öllagern zu beginnen, und so schwiegen die beiden Männer bald nach den ersten Begrüßungsworten und traten schließlich gemeinsam ans Fenster, wo sie stumm auf die Erregung in der Tiefe hinabsahen.
Nach einer Weile sagte Arnheim: »Ich kann Sie nicht verstehen; ist es nicht tausendmal wichtiger, sich mit dem Leben abzugeben, als zu schreiben?!«
»Ich schreibe ja nichts« erwiderte Ulrich knapp.
»Daran tun Sie recht!« – Arnheim paßte sich der Antwort an – »Das Schreiben ist, so wie die Perle, eine Krankheit. Sehen Sie –:« Er wies mit zweien seiner gepflegten Finger auf die Straße, eine Bewegung, die trotz ihrer Schnelligkeit ein wenig vom päpstlichen Segen an sich hatte. »Da kommen die Leute einzeln und in Rudeln, und von Zeit zu Zeit wird von innen ein Mund aufgerissen und schreit! Ein andermal würde der Mann schreiben; da haben Sie recht!«
»Aber Sie sind doch selbst ein berühmter Schriftsteller?!«
»Oh, das will nichts bedeuten!« – Aber nach dieser Antwort, die in liebenswürdiger Weise alles offen ließ, wandte sich Arnheim Ulrich zu, indem er sich ihm ausführlich in ganzer Breite zudrehte und, Brust an Brust vor ihm stehend, die Worte weit auseinanderlegend, sagte: »Darf ich Sie etwas fragen?«
Es war natürlich unmöglich, darauf nein zu sagen; aber da Ulrich unwillkürlich ein wenig abgerückt war, wirkte diese rhetorische Höflichkeit wie eine Seilschlinge, die ihn wieder heranholte. »Ich hoffe,« begann Arnheim »daß Sie unseren letzten kleinen Zusammenstoß nicht übel vermerkt, sondern der Teilnahme zugute gehalten haben, die ich Ihren Anschauungen entgegenbringe, auch wenn sie, was ja nicht selten geschieht, den meinen zu widersprechen scheinen. Dann darf ich Sie also fragen, ob Sie wirklich daran festhalten, daß – ich möchte es gerne zusammenfassend sagen: – daß man mit einem eingeschränkten Realgewissen leben soll? Drücke ich mich richtig aus?«
Das Lächeln, womit Ulrich antwortete, sagte: ich weiß es nicht und warte ab, was du noch sagen wirst.
»Sie haben von einem gleichsam in Schwebe zu lassenden Leben gesprochen, nach der Art von Gleichnissen, die unentschieden zwischen zwei Welten zu Hause sind? Sie haben außerdem zu Ihrer Frau Kusine verschiedenes gesagt, was außerordentlich fesselnd ist. Es wäre sehr kränkend für mich, wenn Sie mich etwa für einen preußischen Geschäfts-Militaristen hielten, der für derlei kein Verständnis hat. Aber Sie sagen zum Beispiel, es sei nur der gleichgültige Teil unser selbst, woraus unsere Wirklichkeit und Geschichte entstehe; ich verstehe das etwa so, daß man die Formen und Typen des Geschehens erneuern müßte und daß es bis dahin Ihrer Meinung nach einigermaßen gleichgültig sei, was gerade Hinz und Kunz widerfahre?«
»Ich meine,« schaltete Ulrich vorsichtig und widerstrebend ein »es erinnert an einen Stoff, der in tausenden Ballen technisch sehr vollendet erzeugt wird, aber nach alten Mustern, um deren Entwicklung sich niemand kümmert.«
»Mit anderen Worten,« fiel Arnheim ein »ich verstehe Ihre Behauptung so, daß der gegenwärtige, zweifellos unbefriedigende Weltzustand davon komme, daß die Führer glauben, Weltgeschichte machen zu müssen, statt alle Kraft des Menschen darauf zu richten, die Sphäre der Macht mit Ideen zu durchdringen. Man könnte es vielleicht noch richtiger mit einem Fabrikanten vergleichen, der darauf los produziert und sich nur nach dem Markt richtet, statt diesen zu regulieren! Sie sehen also, daß mich Ihre Gedanken sehr nahe berühren. Aber Sie müssen gerade deshalb verstehen, daß diese Gedanken auf mich, als einen Mann, der unaufhörlich Entscheidungen treffen muß, von denen ausgedehnte Betriebe in Bewegung erhalten werden, mitunter auch geradezu ungeheuerlich wirken! Zum Beispiel, wenn Sie eben den Verzicht auf die Realbedeutung unseres Tuns fordern; auf den ›vorläufig definitiven‹ Charakter unserer Handlungen, wie unser Freund Leinsdorf so entzückend sagt, dessenungeachtet man wirklich nicht ganz darauf verzichten kann!«
»Ich verlange gar nichts« sagte Ulrich.
»Oh, Sie verlangen wohl mehr! Sie verlangen das Bewußtsein des Versuchs!« Arnheim sagte es mit Lebhaftigkeit und Wärme. »Die verantwortlichen Führer sollen daran glauben, daß sie nicht Geschichte zu machen, sondern Versuchsprotokolle auszufüllen haben, die weiteren Versuchen zur Grundlage dienen können! Ich bin entzückt von diesem Einfall; aber wie sieht es zum Beispiel mit Kriegen und Revolutionen aus? Kann man die Toten wieder aufwecken, wenn der Versuch durchgeführt ist und vom Arbeitsplan abgesetzt wird?!«
Ulrich unterlag nun doch dem Reiz des Sprechens, der nicht viel anders zur Fortsetzung anstachelt wie der des Rauchens, und entgegnete, daß man wahrscheinlich alles, um es fördern zu können, in vollem Ernst anpacken müsse, auch wenn man wisse, daß fünfzig Jahre nach seiner Durchführung noch jeder Versuch der Mühe nicht wert war. Aber dieser ›perforierte Ernst‹ sei auch sonst nichts Ungewöhnliches; man setze oft genug sein Leben im Spiel und für nichts ein. Psychologisch würde ein Leben auf Versuch also nichts Unmögliches bedeuten; was fehle, sei bloß der Wille, eine in gewissem Sinne unbegrenzte Verantwortung zu übernehmen. »Darin liegt der entscheidende Unterschied« schloß er. »Früher hat man gleichsam deduktiv empfunden, von bestimmten Voraussetzungen ausgehend, und diese Zeit ist vorbei; heute lebt man ohne leitende Idee, aber auch ohne das Verfahren einer bewußten Induktion, man versucht darauf los wie ein Affe!«
»Ausgezeichnet!« gab Arnheim freiwillig zu. »Aber nun verzeihen Sie mir noch eine letzte Frage: Sie empfinden, wie mir Ihre Kusine wiederholt gesagt hat, lebhafte Teilnahme für einen krankhaft-gefährlichen Menschen. Ich verstehe das, nebenbei bemerkt, sehr gut. Auch gibt es noch kein rechtes Verfahren mit solchen Leuten, und das Verhalten der menschlichen Gesellschaft ist ihnen gegenüber schändlich fahrlässig. Aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen und nur die Wahl lassen, daß dieser Mensch entweder unschuldig getötet wird oder Unschuldige tötet: Würden Sie ihn in der Nacht vor seiner Hinrichtung entschlüpfen lassen, wenn Sie die Macht dazu hätten?«
»Nein!« sagte Ulrich.
»Nein? Wirklich nein?!« fragte Arnheim, plötzlich sehr lebhaft.
»Ich weiß es nicht. Ich glaube nein. Ich könnte mich natürlich darauf ausreden, daß ich in einer falsch eingerichteten Welt gar nicht so handeln darf, wie es mir recht vorkommt; aber ich will Ihnen einfach zugeben, daß ich nicht weiß, was ich zu tun hätte.«
»Dieser Mann ist zweifellos unschädlich zu machen« sagte Arnheim nachdenklich. »Er ist aber in den Zeiten seiner Anfälle ein Sitz des Dämonischen, das in allen starken Jahrhunderten dem Göttlichen verwandt empfunden worden ist. Früher hätte man den Mann, wenn seine Anfälle kamen, in die Wüste geschickt; er würde dann vielleicht auch gemordet haben, aber in einer großen Vision, wie Abraham den Isaak schlachten wollte! Das ist es! Wir wissen heute nichts mehr damit anzufangen, und wir meinen nichts mehr ehrlich!«
Vielleicht hatte sich Arnheim zu diesen letzten Worten hinreißen lassen und wußte selbst nicht genau, was er damit sagen wollte; daß Ulrich nicht so viel »Seele und Torheit« aufbrachte, um die Frage, ob er Moosbrugger retten würde, ohne Hemmung zu bejahen, hatte seinen eigenen Ehrgeiz aufgestachelt. Aber Ulrich, obwohl er diese Wendung des Gesprächs fast als ein Zeichen empfand, das ihn unerwartet an seinen »Beschluß« im Leinsdorfschen Palais erinnerte, ärgerte sich über die verschwenderische Ausschmückung, die Arnheim dem Gedanken an Moosbrugger gab, und beides ließ ihn gespannt trocken fragen: »Würden Sie ihn befreien?«
»Nein« erwiderte Arnheim lächelnd; »aber ich wollte Ihnen einen anderen Vorschlag machen.« Und ohne ihm Zeit zum Widerstand zu lassen, fuhr er fort: »Ich will Ihnen schon lange diesen Vorschlag machen, damit Sie Ihr Mißtrauen gegen mich aufgeben, das mich, offen gestanden, kränkt; ich möchte Sie sogar für mich gewinnen! Haben Sie eine Vorstellung davon, wie ein großes Wirtschaftsunternehmen innen aussieht? Es hat zwei Spitzen: die Geschäftsleitung und den Verwaltungsrat; über diesen beiden gewöhnlich noch eine dritte, das Exekutivkomitee, wie Sie es hierzulande nennen, das aus Teilen von beiden besteht und täglich oder beinahe täglich zusammentritt. Der Verwaltungsrat ist selbstverständlich mit Vertrauensleuten der Aktienmajorität besetzt –« Er gönnte Ulrich jetzt erst eine Pause, und sie war so, als prüfe er ihn, ob ihm nicht schon bisher etwas aufgefallen sei. »Ich sagte, die Aktienmajorität entsende ihre Vertrauensleute in Verwaltungsrat und Exekutivkomitee« half er nach: »Stellen Sie sich unter dieser Majorität etwas Bestimmtes vor?«
Ulrich tat es nicht; er besaß nur eine unbestimmte Sammelvorstellung vom Geldwesen, die Beamte, Schalter, Kupons und urkundenähnliche Papiere enthielt.
Arnheim half abermals nach. »Haben Sie schon jemals einen Verwaltungsrat gewählt? Sie haben es nie getan!« – setzte er gleich selbst hinzu – »Und es würde auch keinen Sinn haben, daran zu denken, denn Sie werden nie die Aktienmajorität eines Unternehmens besitzen!« Er sagte das so bestimmt, daß sich Ulrich fast durch den Mangel einer so wichtigen Eigenschaft hätte beschämt fühlen können; und es war auch ein echt Arnheimscher Einfall, mit einem einzigen Schritt und ohne Mühe von den Dämonen zu den Verwaltungsräten überzugehn. Er fuhr lächelnd fort: »Ich habe Ihnen eine Person bisher nicht genannt, und es ist in gewissem Sinn die wichtigste! Ich habe, ›die Aktienmajorität‹ gesagt, das klingt wie eine harmlose Vielheit: dennoch ist das fast immer eine einzelne Person, ein ungenannter und der großen Öffentlichkeit unbekannter Hauptanteilbesitzer, der von jenen verdeckt wird, die er an seiner Statt vorschickt!«
Nun dämmerte es Ulrich natürlich, daß dies Dinge seien, von denen man jeden Tag in der Zeitung lesen könne; aber Arnheim verstand es immerhin, ihnen Spannung zu geben. Neugierig fragte er ihn, wer die Aktienmajorität der Lloyd-Bank besitze.
»Das weiß man nicht« erwiderte Arnheim ruhig. »Richtiger gesagt, Eingeweihte wissen es natürlich, aber es ist nicht üblich, davon zu sprechen. Lassen Sie mich lieber auf den Kern dieser Dinge kommen: Überall, wo zwei solche Kräfte da sind, ein Auftraggeber auf der einen, eine Verwaltung auf der anderen Seite, entsteht von selbst die Erscheinung, daß jedes mögliche Mehrungsmittel ausgenutzt wird, ob es nun moralisch und schön ist oder nicht. Ich sage wirklich ›von selbst‹, denn diese Erscheinung ist in hohem Grade unabhängig vom Persönlichen. Der Auftraggeber kommt nicht unmittelbar in Berührung mit der Ausführung, und die Organe der Verwaltung sind dadurch gedeckt, daß sie nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Beamte handeln. Dieses Verhältnis finden Sie heute allenthalben und durchaus nicht nur im Geldwesen. Sie können versichert sein, daß unser Freund Tuzzi in größter Gewissensruhe das Zeichen zu einem Krieg geben würde, selbst wenn er persönlich nicht einen alten Hund totschießen könnte, und Ihren Freund Moosbrugger werden Tausende zum Tode befördern, weil sie es bis auf drei nicht mit leiblicher Hand zu tun brauchen! Durch diese zur Virtuosität ausgebildete ›Indirektheit‹ wird heute das gute Gewissen jedes Einzelnen wie der ganzen Gesellschaft gesichert; der Knopf, auf den man drückt, ist immer weiß und schön, und was am anderen Ende der Leitung geschieht, geht andere Leute an, die für ihre Person wieder nicht drücken. Finden Sie es abscheulich? So lassen wir Tausende sterben oder vegetieren, bewegen Berge von Leid, richten damit aber auch etwas aus! Ich möchte beinahe behaupten, daß sich darin, in der Form der sozialen Arbeitsteilung, nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel, wenn auch in einer grandiosen und gefährlichen Weise.«
Ulrich hatte zu Arnheims Frage, ob er das verabscheue, die Achseln gezuckt. Die Teilung des moralischen Bewußtseins, von der Arnheim sprach, diese fürchterlichste Erscheinung des heutigen Lebens, hat es immer gegeben, aber sie ist zu ihrem grauenvollen guten Gewissen erst als eine Folge der allgemeinen Arbeitsteilung gelangt, und als solche besitzt sie auch etwas von deren großartiger Unvermeidlichkeit. Es widerstrebte Ulrich, sich schlechtweg über sie zu entrüsten, und erregte zum Trotz das komische und angenehme Gefühl in ihm, das eine Hundertkilometergeschwindigkeit bereitet, wenn ein bestaubter Moralist am Wege steht und schimpft. Als Arnheim schwieg, sagte er darum zuerst: »Jede Form der Arbeitsteilung läßt sich entwickeln. Die Frage, die Sie mir stellen dürfen, ist also nicht, ob ich ›abscheulich finde‹, sondern ob ich glaube, daß man zu würdigeren Zuständen gelangen könne, ohne umkehren zu müssen!«
»Ihre Generalinventur!« schaltete Arnheim ein. »Wir haben die Teilung der Tätigkeiten ausgezeichnet organisiert, dabei aber die Instanzen für die Zusammenfassung vernachlässigt; wir zerstören die Moral und die Seele fortwährend nach den neuesten Patenten und glauben sie mit den alten Hausmitteln der religiösen und philosophischen Überlieferung zusammenhalten zu können! Ich spotte nicht gerne in dieser Weise« verbesserte er sich »und halte Witz ganz allgemein für etwas sehr Zweideutiges; aber ich habe den Vorschlag, den Sie in unserer Gegenwart Graf Leinsdorf gemacht haben, daß man das Gewissen neu organisieren solle, auch niemals bloß für einen Scherz gehalten!«
»Es war einer« erwiderte Ulrich schroff. »Ich glaube nicht an die Möglichkeit. Eher bilde ich mir noch ein, daß der Teufel die europäische Welt aufgebaut hat und Gott seinen Konkurrenten zeigen lassen will, was er kann!«
»Eine hübsche Idee!« sagte Arnheim. »Aber warum haben Sie sich dann über mich geärgert, als ich Ihnen nicht glauben wollte?«
Ulrich antwortete nicht.
»Was Sie soeben sagten, steht auch in Widerspruch zu der sehr unternehmenden Äußerung über das Verfahren, wie wir uns einem richtigen Leben nähern könnten, die Sie eine Weile früher getan haben« fuhr Arnheim still und hartnäckig fort. »Überhaupt fällt mir auf, ganz abgesehen davon, ob ich Ihnen im einzelnen zustimmen kann oder nicht, wie sehr sich in Ihnen tätige Neigungen und Gleichgültigkeit mischen.«
Als Ulrich auch darauf eine Antwort nicht nötig fand, sagte Arnheim so höflich, wie es einer Ungezogenheit gegenüber das richtige ist: »Ich habe nur Ihre Aufmerksamkeit darauf lenken wollen, wie sehr man sich heute bei wirtschaftlichen Entscheidungen, von denen ohnehin beinahe alles abhängt, auch noch die moralische Verantwortung selbst zurechtlegen muß und wie fesselnd sie dadurch werden.« Es lag ein leichter werbender Nachdruck selbst in dieser zurechtweisenden Bescheidenheit.
»Verzeihen Sie« entgegnete Ulrich; »ich habe über Ihre Worte nachgedacht.« Und als täte er es noch, fügte er hinzu: »Ich würde gerne wissen, ob Sie es auch für eine zeitgemäße Indirektheit und Bewußtseinsteilung halten, wenn man der Seele einer Frau mystische Gefühle einflößt, während man es für das Vernünftigste hält, ihrem Gatten ihren Körper zu überlassen?«
Arnheim verfärbte sich ein wenig bei diesen Worten, aber er verlor nicht die Beherrschung der Lage. Er erwiderte ruhig: »Ich weiß nicht mit Sicherheit, was Sie meinen. Aber wenn Sie von einer Frau sprechen würden, die Sie lieben, könnten Sie das nicht sagen, denn die Gestalt der Wirklichkeit ist immer reicher als die Linienführung der Grundsätze.« – Er war vom Fenster weggegangen und lud Ulrich zum Sitzen ein. »Sie geben sich nicht leicht gefangen!« – fuhr er in einem Ton fort, der sowohl von Anerkennung wie von Bedauern etwas hatte – »Aber ich weiß, daß ich für Sie mehr ein feindliches Prinzip als einen persönlichen Gegner bedeute. Und die, welche für ihre Person die erbittertsten Gegner des Kapitalismus sind, sind im Geschäft nicht selten seine besten Diener; ich darf mich sogar ein wenig selbst dazu rechnen, sonst würde ich mir nicht erlauben, Ihnen das zu sagen. Unbedingte und leidenschaftliche Menschen sind, wenn sie einmal die Notwendigkeit eines Zugeständnisses eingesehen haben, gewöhnlich seine begabtesten Verfechter. Ich will darum meinen Vorsatz unter allen Umständen zu Ende führen und schlage Ihnen vor: Treten Sie in die Unternehmungen meiner Firma ein.«
Er machte absichtlich nicht viel Aufhebens von diesem Vorschlag, im Gegenteil, er schien die billige Wirkung der Überraschung, deren er freilich sicher war, durch unbetontes und schnelles Sprechen mildern zu wollen; Ulrichs erstaunten Blick in keiner Weise erwidernd, zählte er nun gleichsam die Einzelheiten auf, die dann zu erledigen wären, wenn das einträte, wozu er im Augenblick keineswegs persönlich Stellung nehmen wolle. »Sie würden natürlich anfangs nicht die Ausbildung haben,« sagte er sanft »um eine leitende Stellung übernehmen zu können, und wahrscheinlich hätten Sie dazu auch noch gar nicht Lust; ich würde Ihnen darum eine Stellung an meiner Seite anbieten, nennen wir sie Generalsekretär, eine Stellung, die ich eigens für Sie schaffen möchte. Ich hoffe, daß ich Sie damit nicht beleidige, denn ich denke mir diesen Posten durchaus nicht mit einem bestechenden Gehalt ausgestattet; wohl aber sollten Sie in Ihrer Tätigkeit die Möglichkeit finden, sich mit der Zeit jedes Einkommen zu verschaffen, das Ihnen wünschenswert erscheint, und ich bin überzeugt, daß Sie mich nach Ablauf eines Jahres ganz anders verstehen werden als jetzt.«
Als Arnheim diese Rede schloß, fühlte er doch, daß er erregt war. Eigentlich wunderte er sich in diesem Augenblick darüber, daß er Ulrich nun wirklich ein solches Angebot gemacht habe, durch dessen Zurückweisung er nur bloßgestellt werden konnte, ohne daß mit der Annahme ein erfreulicher Zweck verbunden war. Denn die Vorstellung, dieser vor ihm befindliche Mensch könnte zu etwas imstande sein, was er selbst nicht zuwegebringe, war im Verlauf des Gesprächs geschwunden, und das Bedürfnis, diesen Mann zu verführen und in seine Macht zu bringen, war unsinnig geworden, seitdem es sich Luft gemacht hatte. Daß er sich vor etwas gefürchtet hatte, was er dieses Mannes »Witz« nannte, erschien ihm unnatürlich. Er, Arnheim, war ein großer Herr, und für einen solchen hat das Leben einfach zu sein! Er verträgt sich mit allem anderen Großen, soweit ihm das erlaubt ist, lehnt sich nicht abenteuerlicherweise gegen alles auf und zieht nicht alles in Zweifel, das wäre gegen seine Natur; auf der anderen Seite aber gibt es natürlich die schönen und zweifelhaften Dinge, und man zieht so viel von ihnen heran, als es möglich ist. Noch nie glaubte Arnheim so stark wie in diesem Augenblick die Sicherheit der westlichen Kultur empfunden zu haben, die ein wundervolles Geflecht von Kräften und Hemmungen ist! Wenn Ulrich das nicht einsah, so war er nichts als ein Abenteurer, und daß er sich durch ihn beinahe zu dem Gedanken hatte verleiten lassen –: hier versagten aber Arnheim die Worte trotz ihrer stummen Verborgenheit; er brachte es nicht fertig, sich die Vorstellung deutlich ausgliedern zu lassen, daß er daran gedacht habe, Ulrich an Sohnes Statt an sich zu ziehen. Es wäre gar nicht viel dabei gewesen, ein Gedanke schließlich wie unzählige andere, die man nicht zu verantworten braucht, und wahrscheinlich von irgendeiner Lebenstrauer eingegeben, wie sie am Grunde jedes tätigen Lebens zurückbleibt, weil man nie das findet, womit man zufrieden ist; und vielleicht hatte er den Gedanken überhaupt nicht in dieser anfechtbaren Form gehabt, sondern nur etwas empfunden, dem man diese Form hätte geben können: trotzdem wollte er sich nicht daran erinnern und hatte bloß schreiend deutlich die Vorstellung im Kopf, wenn man Ulrichs Jahre von den seinen abziehe, bleibe kein so großer Unterschied übrig, und dahinter allerdings die schattenhaftere zweite, daß ihm Ulrich als Warnung vor Diotima dienen sollte! Er erinnerte sich, schon öfters sein Verhältnis zu Ulrich so empfunden zu haben wie einen Nebenkrater, an dem man die Unheimlichkeit der Vorgänge erkennt, die sich im Hauptkrater vorbereiten, und es beunruhigte ihn einigermaßen, daß es hier nun zum Ausbruch gekommen war, denn die Worte waren ausgeflossen und bahnten sich ihren Weg ins Leben. »Was soll geschehn,« fuhr es Arnheim durch den Kopf »wenn dieser Mensch annimmt?!« In solcher Weise näherten sich die gespannten Augenblicke ihrem Ende, in denen ein Arnheim auf die Entscheidung eines jüngeren Mannes warten mußte, dem er nur durch seine Einbildung Bedeutung geliehen hatte. Er saß sehr steif da, mit feindlich geöffneten Lippen, und dachte: »Es wird sich schon irgendwie regeln lassen, falls es sich nicht noch vermeiden läßt.«
Während Gefühl und Überlegung diesen Weg zurücklegten, stand jedoch die Lage nicht still, sondern es folgten Frage und Antwort geläufig aufeinander.
»Und welchen Eigenschaften« fragte Ulrich trocken »verdanke ich diesen Vorschlag, der kaufmännisch wohl kaum zu rechtfertigen ist?«
»Sie irren in dieser Frage immer wieder« entgegnete Arnheim. »Dort, wo ich stehe, sucht man die kaufmännische Rechtfertigung nicht in Heller und Pfennig; was ich an Ihnen verlieren könnte, spielt keine Rolle gegenüber dem, was ich zu gewinnen hoffe!«
»Sie machen mich aufs äußerste neugierig« meinte Ulrich; »daß ich ein Gewinn sein solle, wird mir sehr selten gesagt. Ein kleiner hätte ich vielleicht für meine Wissenschaft werden können, aber selbst da habe ich, wie Sie wissen, enttäuscht.«
»Darüber, daß Sie ungewöhnlich viel Verstand besitzen,« antwortete Arnheim (immer noch in dem Ton stiller Unerschütterlichkeit, an dem er äußerlich festhielt) »sind Sie mit sich selbst im reinen; das brauche ich Ihnen nicht zu sagen. Aber es wäre sogar möglich, daß wir schärfere und verläßlichere Intelligenzen in unseren Betrieben hätten. Es ist dagegen Ihr Charakter, es sind Ihre menschlichen Eigenschaften, was ich aus bestimmten Gründen dauernd an meiner Seite haben möchte.«
»Meine Eigenschaften?« Ulrich mußte lächeln. »Wissen Sie, daß mich meine Freunde einen Mann nennen, der keine Eigenschaften hat?«
Arnheim ließ sich eine kleine Gebärde der Ungeduld entschlüpfen, die ungefähr besagte: »Erzählen Sie mir nichts von sich, was ich längst besser weiß!« In diesem Zucken, das über sein Gesicht bis in die Schulter lief, setzte sich seine Unzufriedenheit durch, während die Worte noch nach Plan und Vorsatz weiterliefen. Ulrich fing diesen Ausdruck auf, und so leicht war er durch Arnheim zu reizen, daß er dem Gespräch nun doch die bisher vermiedene Wendung zu voller Offenheit gab. Sie waren indes wieder aufgestanden, er trat einige Schritte von seinem Gegenüber weg, um die Wirkung besser beobachten zu können, und sagte: »Sie haben mir so viele bedeutsame Fragen gestellt, daß auch ich etwas wissen möchte, ehe ich mich entscheide.« Und auf eine einladende Bewegung Arnheims fuhr er klar und sachlich fort: »Man hat mir erzählt, daß Ihre Teilnahme an allem, was mit der hier im Gange befindlichen ›Aktion‹ zusammenhängt – und sowohl Frau Tuzzi wie meine Wenigkeit wären da nur ein Zusatz! – der Erwerbung von großen Teilen der galizischen Ölfelder dienen soll?«
Arnheim war, soviel man in dem schon schlecht gewordenen Licht sehen konnte, bleich geworden und ging langsam auf Ulrich zu. Dieser hatte den Eindruck, sich gegen eine Unhöflichkeit vorsehen zu müssen, und bedauerte, durch seine unvorsichtige Geradheit dem an deren die Möglichkeit gegeben zu haben, eine Fortsetzung des Gesprächs in dem Augenblick abzulehnen, wo sie ihm unangenehm werden mußte: Er sagte darum so liebenswürdig wie möglich: »Ich wünsche Sie natürlich nicht zu beleidigen, aber unsere Aussprache würde nie ihre volle Bedeutung gewinnen, wenn wir sie nicht rücksichtslos führten!«
Diese paar Worte und die Zeit für das kurze Stück Wegs genügten, um Arnheim seine Fassung wiederfinden zu lassen; er trat mit einer lächelnden Bewegung an Ulrich heran, legte ihm die Hand, ja eigentlich den Arm auf die Schulter und sagte vorwurfsvoll: »Wie können Sie einem solchen Börsengerücht aufsitzen!«
»Ich habe es nicht als Gerücht, sondern von jemand erfahren, der gut unterrichtet ist.«
»Ja, ich habe auch schon davon gehört, daß man das erzählt: wie konnten Sie es nur glauben! Natürlich bin ich nicht bloß zu meinem Vergnügen hier; ich kann es mir leider niemals erlauben, daß die Geschäfte ganz ruhen. Und ich will auch nicht leugnen, mit einigen Personen über diese Öllager gesprochen zu haben, wiewohl ich Sie bitten muß, über dieses Zugeständnis Schweigen zu bewahren. Aber alles das ist doch nicht das Wesentliche!«
»Meine Kusine« fuhr Ulrich fort »ahnt von Ihrem Petroleum nicht das geringste. Sie hat von ihrem Gatten den Auftrag empfangen, Sie ein wenig über den Zweck Ihres Aufenthaltes auszuhorchen, weil man Sie hier für eine Vertrauensperson des Zaren hält; aber ich bin überzeugt, daß sie diese diplomatische Mission nicht gut ausführt, denn sie ist sicher, einzig und allein selbst der Zweck Ihrer Anwesenheit zu sein!«
»Seien Sie doch nicht so undelikat!« Arnheims Arm gab Ulrichs Schulter eine freundschaftliche leichte Bewegung. »Nebenbedeutungen laufen vielleicht immer und überall mit; aber Sie haben soeben, trotz der vermeintlichen Satire, mit der ungezogenen Aufrichtigkeit eines Schuljungen darüber gesprochen!«
Dieser Arm auf seiner Schulter machte Ulrich unsicher. Es war eine lächerliche und unangenehme Empfindung, sich umarmt zu fühlen, ja man konnte sie geradezu jämmerlich nennen; aber Ulrich hatte lange Zeit keinen Freund besessen, und vielleicht war es darum auch ein wenig verwirrend. Er würde diesen Arm gern abgestreift haben, und unwillkürlich bemühte er sich darum; aber Arnheim nahm die kleinen Zeichen von Unwillkommenheit wahr und mußte sich anstrengen, um das nicht merken zu lassen, und aus Höflichkeit, weil er Arnheims schwierige Lage mitfühlte, hielt Ulrich still und ertrug die Berührung, die nun immer sonderbarer auf ihn zu wirken begann, wie ein schweres Gewicht, das in einen locker aufgeschütteten Damm einsinkt und ihn entzweireißt. Diesen Wall von Einsamkeit hatte Ulrich, ohne daß er es wollte, um sich aufgerichtet, und nun drang durch eine Bresche das Leben ein, der Puls eines anderen Menschen, und es war ein dummes Gefühl, lächerlich, aber doch ein wenig aufregend.
Er dachte an Gerda. Erinnerte sich, wie schon sein Jugendfreund Walter das Verlangen in ihm erregt hatte, einmal wieder und so zügellos ganz mit einem Menschen übereinstimmen zu können, als ob es in der weiten Welt keine anderen Unterschiede gäbe als die der Zu- und Abneigung. Jetzt, wo es zu spät war, stieg das Verlangen danach wieder in ihm auf, in silbernen Wellen, schien es, wie die Weite eines Stroms hinab die Wellen von Wasser, Luft und Licht zu einem einzigen Silber werden, und so betörend, daß er sich hüten mußte, dem nachzugeben und in seiner zweideutigen Lage ein Mißverständnis hervorzurufen. Aber als sich seine Muskeln steiften, erinnerte er sich, daß Bonadea zu ihm gesagt hatte: »Ulrich, du bist nicht schlecht, du machst dir bloß Schwierigkeiten, gut zu sein!« – Bonadea, die an jenem Tag so erstaunlich klug gewesen war und auch noch das gesagt hatte: »Im Traum denkst du doch auch nicht, da erlebst du!« Und er hatte gesagt: »Ich war ein Kind, so weich wie Luft in einer Mondnacht...«, und erinnerte sich jetzt, daß ihm dabei eigentlich ein anderes Bild vorgeschwebt hatte: die Spitze eines brennenden Magnesiumlichts; denn so wie diese sprühend zu Licht zerrissen wird, glaubte er sein Herz zu kennen, aber das war lange her, und er hatte sich nicht recht getraut, diesen Vergleich auszusprechen, und war dem anderen erlegen; überdies nicht im Gespräch mit Bonadea, sondern mit Diotima, wie ihm soeben einfiel. »Die Unterschiede des Lebens liegen an den Wurzeln sehr nahe beisammen« fühlte er und sah sich den Mann an, der ihm aus nicht sehr durchsichtigen Gründen angetragen hatte, sein Freund zu werden.
Arnheim hatte seinen Arm zurückgezogen. Sie standen jetzt wieder in der Fensternische, wo sie das Gespräch begonnen hatten; unten auf der Straße brannten bereits friedlich die Lampen, aber man spürte die auswirkende Bewegung der Vorgänge, die stattgefunden hatten. Zeitweilig kamen noch zusammengeballte Rudel von Menschen vorbei, sprachen hitzig, und dann und wann sprang auch noch ein Mund auf und stieß eine Drohung aus oder irgendein fackelndes »Huhuh!«, dem Lachen folgte. Man empfing den Eindruck eines Zustands von Halbbewußtsein. Und im Licht dieser unruhigen Straße, zwischen den lotrecht herabfallenden Vorhängen, die das gedunkelte Bild des Zimmers umrahmten, sah er die Figur Arnheims und fühlte er seine eigene dastehen, zur Hälfte hell, zur Hälfte schwarz und von dieser Doppelbeleuchtung leidenschaftlich zugeschärft. Ulrich erinnerte sich der Heilrufe auf Arnheim, die er gehört zu haben glaubte, und mochte jener mit diesen Vorgängen zusammenhängen oder nicht, in der cäsarischen Ruhe, die er, nachdenklich auf die Straße blickend, zur Schau trug, wirkte er wie die beherrschende Figur in diesem Augenblicksgemälde und schien seine eigene Gegenwart darin auch bei jedem Blick zu fühlen. Man begriff neben ihm, was Selbstbewußtsein heißt: Das Bewußtsein vermag nicht, das Wimmelnde, Leuchtende der Welt in Ordnung zu bringen, denn je schärfer es ist, desto grenzenloser wird, wenigstens vorläufig, die Welt; das Selbstbewußtsein aber tritt hinein wie ein Regisseur und macht eine künstliche Einheit des Glücks daraus. Ulrich beneidete diesen Mann um sein Glück. Es schien ihm in diesem Augenblick nichts leichter zu sein, als an ihm ein Verbrechen zu begehn, denn mit seinem Bedürfnis nach Bildhaftigkeit lockte dieser Mann auch diese alten Texte auf die Szene! »Nimm einen Dolch und erfülle sein Schicksal!«: Ulrich hatte diese Worte ganz mit schlechtem schauspielerischen Tonfall im Ohr, aber unwillkürlich richtete er es so ein, daß er mit dem halben Körper hinter Arnheim zu stehen kam. Er sah die dunkle, breite Fläche des Halses und der Schultern vor sich. Namentlich der Hals reizte ihn. Seine Hand suchte in den Taschen der rechten Körperseite nach dem Federmesser. Er hob sich auf die Fußspitzen und senkte seinen Blick an Arnheim vorbei noch einmal in die Straße. Im Halbdunkel draußen wurden die Menschen wie Sand von einer Welle angeschleppt, die ihre Körper bewegte. Irgend etwas mußte ja wohl aus dieser Kundgebung folgen, und so schickte die Zukunft eine Welle voraus, und es fand eine Art überpersönlicher schöpferischer Durchdringung der Menschen statt, aber es war wie immer eine höchst ungenaue und fahrlässige: so ähnlich empfand Ulrich, was er sah, und wurde eine kurze Weile davon festgehalten, aber er war es bis zu Ekelgefühlen müde, daran Kritik zu üben. Er ließ sich vorsichtig wieder auf die Sohlen sinken, schämte sich der Gedankenspielerei, die ihn diesen Weg vorher in entgegengesetzter Richtung hatte zurücklegen lassen, ohne das aber sonderlich wichtig zu nehmen, und fühlte eine große Verlockung, Arnheim auf die Schulter zu tippen und ihm zu sagen: »Ich danke Ihnen, ich habe es satt, ich will etwas Neues versuchen, und ich nehme Ihren Vorschlag an!«
Da Ulrich aber auch das nicht wirklich tat, kamen die beiden Männer über die Antwort auf Arnheims Anfrage hinweg. Arnheim nahm das Gespräch an einer früheren Stelle wieder auf: »Besuchen Sie manchmal den Film? Sie sollten es tun!« sagte er. »Vielleicht hat er in seiner gegenwärtigen Form noch keine ganz große Zukunft, aber lassen Sie sich erst größere kommerzielle Interessen – etwa elektrochemische oder solche der Farbenindustrie – damit verknüpfen, so werden Sie in einigen Jahrzehnten eine Entwicklung sehn, die durch nichts aufzuhalten ist. Dann setzt der Vorgang ein, wo jedes Mehrungs- und Steigerungs mittel herhalten muß, und was immer unsere Dichter oder Ästhetiker sich einbilden werden, entstehen wird eine Kunst der A. E. G. oder der Deutschen Farbwerke. Es ist entsetzlich, mein Lieber! Schreiben Sie? Nein, ich habe Sie das bereits vorhin gefragt. Aber warum schreiben Sie nicht? Sie haben recht. Der künftige Dichter und Philosoph wird über das Laufbrett der Journalistik kommen! Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, daß unsere Journalisten immer besser und unsere Dichter immer schlechter werden? Ohne Frage ist das eine gesetzmäßige Entwicklung; es ist etwas im Gange, und ich bin auch gar nicht im Zweifel, was das ist: das Zeitalter der großen Individualitäten geht zu Ende!« Er beugte sich vor. »Ich kann nicht ausnehmen, welches Gesicht Sie dazu machen; ich habe schlechtes Büchsenlicht!« Er lachte ein wenig. »Sie haben eine Generalinventur des Geistes gefordert: Glauben Sie daran? Glauben Sie denn, daß das Leben vom Geist regulierbar ist?! Sie haben natürlich nein gesagt: Aber ich glaube Ihnen nicht, denn Sie sind ein Mensch, der den Teufel umarmen würde, weil er der Mann ohnegleichen ist!«
»Woraus ist das?« fragte Ulrich.
»Aus der unterdrückten Vorrede zu den Räubern.«
»Natürlich aus der unterdrückten,« dachte Ulrich »wie denn aus einer gewöhnlichen!«
»Geister, die das abscheuliche Laster reizet, um der Größe willen, die ihm anhängt« zitierte Arnheim aus seinem umfassenden Gedächtnis weiter. Er fühlte, daß er wieder Herr der Lage sei und Ulrich, aus welchen Gründen immer, nachgegeben habe; es war nicht mehr feindliche Härte neben ihm, man brauchte auch nicht mehr von dem Antrag zu sprechen, das war in einer glücklichen Weise vorbeigegangen; aber so wie ein Ringkämpfer das Ermatten des Gegners errät und da sein ganzes Gewicht einsetzt, fühlte er das Bedürfnis, die volle Schwere jenes Antrags nachwirken zu lassen, und fuhr fort: »Ich glaube, daß Sie mich jetzt besser verstehen werden als anfangs. Ich gestehe Ihnen also offen, daß ich mich zuweilen allein fühle. Wenn die Leute ›neu‹ sind, denken sie zu wirtschaftlich; wenn die Wirtschaftsfamilien aber die zweite oder dritte Generation bilden, verlieren sie die Phantasie. Sie bringen dann nur noch einwandfreie Verwalter hervor, Schlösser, Jagden, Offiziere und adelige Schwiegersöhne. Ich kenne diese Leute in der ganzen Welt; es sind kluge und feine Menschen darunter, aber sie sind nicht fähig, auch nur einen Gedanken hervorzubringen, der mit diesem letzten Unruhig-, Unabhängig- und vielleicht Unglücklichsein zusammenhängt, das ich durch das Schillerzitat gekennzeichnet habe.«
»Ich kann leider das Gespräch nicht fortsetzen« erwiderte Ulrich. »Frau Tuzzi dürfte den Wiedereintritt der Ruhe in einem befreundeten Haus abwarten, aber ich muß fort. Sie trauen mir also zu, daß ich, ohne von Wirtschaft etwas zu verstehen, diese Unruhe besitze, die ihr so förderlich ist, indem sie ihr das allzu Wirtschaftliche nimmt?« Er hatte Licht gemacht, um sich zu verabschieden, und wartete auf Antwort. Arnheim legte ihm in majestätischer Freundlichkeit den Arm auf die Schulter, eine Gebärde, die sich nun schon bewährt zu haben schien, und erwiderte: »Verzeihen Sie mir, wenn ich vielleicht etwas viel gesagt habe, es war eine Stimmung der Einsamkeit! Die Wirtschaft kommt zur Macht, und was fangen wir mit der Macht an, fragt man sich manchmal! Nehmen Sie es mir nicht übel!«
»Aber im Gegenteil!« versicherte Ulrich. »Ich habe mir vorgenommen, Ihren Vorschlag ernst zu überlegen!« – Er sagte das schnell, und man konnte diese Hast als Erregung deuten. Darum blieb Arnheim, der noch auf Diotima wartete, etwas verdutzt zurück und fürchtete, daß es gar nicht so einfach sein werde, Ulrich auf eine ehrenvolle Weise von diesem Vorschlag wieder abzubringen.

122.
Heimweg

Ulrich ging zu Fuß nach Hause. Es war eine schöne, aber dunkle Nacht. Die Häuser bildeten hoch und geschlossen den sonderbaren, oben offenen Raum Straße, über dem in der Luft irgend etwas, Finsternis, Wind oder Wolken, vor sich ging. Der Weg war so menschenleer, als ob die frühere Unruhe nun einen tiefen Schlummer hinterlassen hätte. Wenn Ulrich einem Fußgänger begegnete, so kam der Schall der Schritte durch lange Zeit allein auf ihn zu wie eine gewichtige Anmeldung. Man konnte das Gefühl von Geschehen haben in dieser Nacht wie in einem Theater. Man fühlte, daß man eine Erscheinung in dieser Welt war; etwas, das größer wirkt, als es ist; das hallt und, wenn es an beleuchteten Flächen vorbeikommt, seinen Schatten zur Begleitung hat wie einen mächtig zuckenden Narren, der sich aufrichtet und im nächsten Augenblick wieder demütig an die Fersen kriecht. »Wie glücklich kann man sein!« dachte er.
Er durchschritt einen Torbogen in einem etwa zehn Schritte lang neben der Straße laufenden steinernen Gang, der von ihr durch dicke Gewölbepfeiler getrennt war; Dunkelheit sprang aus Ecken, Überfall und Totschlag fackelten in dem halberleuchteten Durchlaß: heftiges, altertümlich und blutig feierliches Glück faßte die Seele an. Vielleicht war dies zu viel; Ulrich stellte sich plötzlich vor, mit wieviel Selbstgenuß und innerer »Regie« Arnheim jetzt an seiner Stelle hier gehen würde. Er hatte keine Freude mehr an seinem Schatten und Hall, und die geisternde Musik in den Mauern war erloschen. Er wußte, daß er Arnheims Antrag nicht annehmen werde; aber er kam sich jetzt nur noch wie ein durch die Galerie des Lebens irrendes Gespenst vor, das voll Bestürzung den Rahmen nicht finden kann, in den es hineinschlüpfen soll, und war ordentlich froh, als sein Weg bald in eine weniger drückende und großartige Gegend gelangte.
Breite Straßen und Plätze öffneten sich dunkel, und gewöhnliche Häuser, mit Lichtstockwerken friedlich bestirnt, hatten weiter nichts Zauberhaftes an sich. Ins Freie tretend, nahm er von diesem Frieden Witterung, und ohne daß er recht wußte warum, erinnerte er sich an einige Kinderbildnisse, die er vor einiger Zeit wiedergesehen hatte: sie zeigten ihn in Gesellschaft seiner früh verstorbenen Mutter, und mit Fremdheit hatte er auf ihnen einen kleinen Knaben erblickt, den eine altmodisch gekleidete, schöne Frau glücklich anlächelte. Die äußerst eindringliche Vorstellung eines braven, liebevollen, klugen kleinen Jungen, die man sich von ihm gemacht hatte; Hoffnungen, die ganz und gar noch nicht seine eigenen waren; ungewisse Erwartungen einer ehrenvollen erwünschten Zukunft, die wie die offenen Flügel eines goldenen Netzes nach ihm langten –: obgleich alles das seinerzeit unsichtbar gewesen war, hatte es sich nach Jahrzehnten doch sehr deutlich den alten Platten ablesen lassen, und mitten aus dieser sichtbaren Unsichtbarkeit, die so leicht hätte Wirklichkeit werden können, blickte ihm sein weiches, leeres Kindergesicht mit dem etwas verstörten Ausdruck des Stillhaltens entgegen. Er hatte keine Spur von Neigung für diesen Knaben gefühlt, und wenn er auch auf seine schöne Mutter einigen Stolz setzte, hatte das Ganze doch vor allem den Eindruck auf ihn gemacht, einem großen Schreck entronnen zu sein.
Wer diesen Eindruck erlebt hat, daß ihm seine Person, in einen gewesenen Augenblick der Selbstzufriedenheit gehüllt, aus alten Bildern entgegenblickte, als wäre ein Bindemittel ausgetrocknet oder abgefallen, wird das Gefühl verstehen, mit dem er sich die Frage vorlegte, wie dieses Bindemittel denn eigentlich beschaffen sei, daß es bei anderen nicht versage. Er befand sich nun in einer der Baumanlagen, die als ein unterbrochener Ring der Linie folgen, wo früher die Wälle waren, und hätte sie mit wenigen Schritten durchqueren können, aber der große Streif Himmels, der sich der Länge nach über den Bäumen dehnte, verlockte ihn, abzubiegen und seiner Richtung zu folgen, wobei er sich dem überaus privat wirkenden Lichterkranz, der die winterlichen Anlagen, die er durchschritt, himmlisch zurückgezogen umschwebte, immerfort zu nähern schien, ohne ihm näher zu kommen. »Es ist eine Art perspektivischer Verkürzung des Verstandes,« sagte er sich »was diesen allabendlichen Frieden zustandebringt, der in seiner Erstreckung von einem zum andern Tag das dauernde Gefühl eines mit sich selbst einverstandenen Lebens ergibt. Denn der Menge nach ist es ja beiweitem nicht die Hauptvoraussetzung des Glücks, Widersprüche zu lösen, sondern sie verschwinden zu machen, wie sich in einer langen Allee die Lücken schließen, und so, wie sich allenthalben die sichtbaren Verhältnisse für das Auge verschieben, daß ein von ihm beherrschtes Bild entsteht, worin das Dringende und Nahe groß erscheint, weiter weg aber selbst das Ungeheuerliche klein, Lücken sich schließen und endlich das Ganze eine ordentliche glatte Rundung erfährt, tun es eben auch die unsichtbaren Verhältnisse und werden von Verstand und Gefühl derart verschoben, daß unbewußt etwas entsteht, worin man sich Herr im Hause fühlt. Diese Leistung ist es also,« sagte sich Ulrich »die ich nicht in wünschenswerter Weise vollbringe.«
Er blieb einen Augenblick vor einer breiten Pfütze stehen, die seinen Weg sperrte. Vielleicht war es diese Lacke zu seinen Füßen, und vielleicht waren es auch die besenkahlen Bäume zu seinen Seiten, was in diesem Augenblick plötzlich Straße und Dorf hervorzauberte und die zwischen Erfüllung und Vergeblichkeit liegende Eintönigkeit der Seele in ihm weckte, die dem Land eigentümlich ist und ihn seit jener ersten »Reise-Flucht« in seiner Jugend mehr als einmal zu einer Wiederholung gelockt hatte. »Es wird alles so einfach!« fühlte er. »Die Gefühle schläfern; die Gedanken lösen sich voneinander wie Wolken nach bösem Wetter, und mit einemmal bricht ein leerer schöner Himmel aus der Seele! Nun mag angesichts dieses Himmels eine Kuh mitten am Weg strahlen: es ist eine Eindringlichkeit des Geschehens, als ob sonst nichts auf der Welt wäre! Eine Wolke mag, hindurchwandernd, das gleiche über der ganzen Gegend tun: das Gras wird dunkel, und eine Weile später blitzt das Gras ringsum vor Nässe, sonst ist nichts geschehn, aber das ist eine Fahrt wie von einer Küste eines Meeres zur andern! Ein alter Mann verliert seinen letzten Zahn: und dieses kleine Ereignis bedeutet einen Einschnitt im Leben aller seiner Nachbarn, woran sie ihre Erinnerungen knüpfen können! Und so singen die Vögel alle Abende um das Dorf und immer in der gleichen Weise, wenn hinter der sinkenden Sonne die Stille kommt, aber es ist jedesmal ein neues Ereignis, als wäre die Welt noch keine sieben Tage alt! Am Land kommen die Götter noch zu den Menschen,« dachte er »man ist jemand und erlebt etwas, aber in der Stadt, wo es tausendmal so viel Erlebnisse gibt, ist man nicht mehr imstande, sie in Beziehung zu sich zu bringen: und so beginnt ja wohl das berüchtigte Abstraktwerden des Lebens.«
Aber indem er das dachte, wußte er auch, daß es die Macht des Menschen tausendfach ausdehnt, und wenn es selbst im Einzelnen ihn zehnfach verdünnt, ihn im ganzen noch hundertfach vergrößert, und ein Rücktausch kam für ihn nicht ernsthaft in Frage. Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: »Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!« Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten »Faden der Erzählung«, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann »als«, »ehe« und »nachdem«! Es mag ihm Schlechtes widerfahren sein, oder er mag sich in Schmerzen gewunden haben: sobald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen. Das ist es, was sich der Roman künstlich zunutze gemacht hat: der Wanderer mag bei strömendem Regen die Landstraße reiten oder bei zwanzig Grad Kälte mit den Füßen im Schnee knirschen, dem Leser wird behaglich zumute, und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste »perspektivische Verkürzung des Verstandes« nicht schon zum Leben selbst gehörte. Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig »weil« und »damit« hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen »Lauf« habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet.
Als er sich mit dieser Erkenntnis wieder in Bewegung setzte, erinnerte er sich allerdings, daß Goethe in einer Kunstbetrachtung geschrieben hat: »Der Mensch ist kein lehrendes, er ist ein lebendes, handelndes und wirkendes Wesen!« Er zuckte respektvoll die Achseln. »Höchstens so, wie ein Schauspieler das Bewußtsein für Kulisse und Schminke verliert und zu handeln meint, darf der Mensch heute den unsicheren Hintergrund von Lehre vergessen, von dem alle seine Tätigkeiten abhängen!« dachte er. Aber dieser Gedanke an Goethe war wohl ein wenig mit dem an Arnheim vermischt gewesen, der jenen beständig als Eidhelfer mißbrauchte, denn Ulrich fühlte sich im gleichen Augenblick unangenehm an die ungewöhnliche Unsicherheit erinnert, die der Arm dieses Mannes in ihm erweckt hatte, als er auf seiner Schulter lag. Er war inzwischen unter den Bäumen hervor an den Rand des Straßenzuges gekommen und suchte nach einem Weg, der ihn in die Richtung seiner Wohnung leiten sollte. Nach den Namen der Gassen spähend, wäre er aber beinahe in einen Schatten hineingerannt, der sich löste, und er mußte hastig seinen Schritt hemmen, um die Prostituierte nicht umzustoßen, die ihm in den Weg getreten war. Da stand sie nun und lächelte, statt ihren Ärger darüber zu zeigen, daß er sie fast wie ein Büffel überrannt hatte, und Ulrich fühlte plötzlich, daß dieses geschäftsmäßige Lächeln in der Nacht eine kleine Wärme verbreitete. Sie sagte einige Worte; sie sprach ihn mit den abgegriffenen Worten an, die locken wollen und wie der schmutzige Rest von allen Männern sind. »Komm mit mir, Kleiner!« sagte sie oder etwas Ähnliches. Ihre Schultern fielen wie die eines Kindes ab, unter dem Hut quoll ein wenig blondes Haar hervor, und im Laternenschein war von ihrem Gesicht etwas Blasses, unregelmäßig Liebliches zu sehen; unter der Nachtbemalung mochte die Haut eines noch jungen Mädchens mit vielen Sommersprossen verborgen sein. Sie sah zu ihm empor und war viel kleiner als Ulrich, trotzdem sagte sie noch einmal »Kleiner« zu ihm und fand in ihrer Teilnahmlosigkeit nichts Unpassendes an dieser Lautverbindung, die sie hunderte Male an einem Abend von sich gab.
Ulrich fühlte sich davon gerührt. Er schob sie nicht zur Seite, sondern blieb stehen und ließ sich ihren Antrag wiederholen, als hätte er schlecht gehört. Da hatte er unerwartet eine Freundin gefunden, die sich ihm für eine kleine Vergütung ganz zur Verfügung stellte; sie wird sich bemühen, liebenswürdig zu sein und alles zu vermeiden, was ihm mißfallen könnte; sie wird, wenn er ihr ein Zeichen des Einverständnisses gibt, ihren Arm in seinen legen, mit einem zarten Zutrauen und einem leichten Zögern, wie es nur entsteht, wenn Vertraute nach unverschuldeter Trennung sich zum ersten Male wiedersehn; und wenn er ihr ein Mehrfaches ihres gewöhnlichen Preises verspricht und gleich auf den Tisch legt, damit sie nicht ans Geld zu denken braucht, sondern sich in dem sorglos gefälligen Zustand findet, den ein gutes Geschäft hinterläßt, so wird sich zeigen, daß auch die reine Gleichgültigkeit an dem Vorzug aller reinen Empfindungen teilhat, frei von persönlicher Anmaßung zu sein und ohne die eitle Verwirrung der Gefühlsansprüche zu dienen: halb ernst, halb scherzhaft ging ihm das durch den Kopf, und er brachte es nicht über sich, die kleine Person ganz zu enttäuschen, die darauf wartete, daß er in das Geschäft einschlage. Er bemerkte, daß es ihn nach ihrer Zuneigung verlange; aber ungeschickt genug, statt einfach ein paar Worte in ihrer Berufssprache mit ihr zu wechseln, griff er in die Tasche, drückte eine Geldnote, die ungefähr dem Werte eines Besuchs entsprach, dem Mädchen in die Hand und ging weiter. Einen Augenblick lang hatte er dabei die Hand, die sich merkwürdigerweise überrascht wehrte, fest in der seinen gehalten und ein einziges, freundliches Wort gesagt. Dann ließ er die Erbötige in der Überzeugung zurück, daß sie nun zu ihren Kolleginnen gehen werde, die nebenan im Dunkel wisperten, und das Geld zeigen und schließlich durch irgendeinen Spott dem Luft machen werde, worüber sie sich keine rechte Meinung bilden konnte.
Diese Begegnung blieb noch eine Weile lebendig, als wäre sie ein zartes Idyll von einer Minute Dauer gewesen. Er täuschte sich nicht über die rohe Armut seiner flüchtigen Freundin. Aber wenn er sich vorstellte, wie sie den Blick ein wenig verrenken und einen jener kleinen, ungeschickt gemachten Seufzer ausstoßen würde, die sie im rechten Augenblick anzubringen gelernt hat, so strömte diese tief gemeine, völlig unbegabte Schauspielerei für einen ausgemachten Betrag doch auch etwas Rührendes aus, er wußte nicht warum; vielleicht deshalb, weil es die menschliche Komödie auf der Schmiere gespielt war. Und schon während Ulrich mit dem Mädchen sprach, hatte ihn eine sehr naheliegende Gedankenverbindung an Moosbrugger erinnert. Moosbrugger, der krankhafte Komödiant, der Prostituiertenjäger und -vertilger, der durch jene Unglücksnacht genau so gegangen war wie er heute. Als die kulissenhafte Unsicherheit der Straßenwände einen Augenblick stillhielt, war er auf das unbekannte Wesen gestoßen, das ihn in der Mordnacht bei der Brücke erwartete. Welch wunderbares Erkennen mußte das gewesen sein, vom Kopf bis zu den Sohlen: Ulrich glaubte einen Augenblick es sich vorstellen zu können! Er fühlte, daß ihn etwas hochhob, wie das eine Welle tut. Er verlor das Gleichgewicht, aber er brauchte es nicht, dahingetragen in der Bewegung. Sein Herz zog sich zusammen, aber das Vorstellen verwirrte sich dabei in einer unbegrenzten Erweiterung und hörte alsbald in einer Art fast entmachtender Wollust auf. Er suchte sich zu ernüchtern. Er hatte offenbar so lange an einem Leben ohne innere Einheit festgehalten, daß er nun sogar einen Geisteskranken um seine Zwangsvorstellungen und den Glauben an seine Rolle beneidete! Aber Moosbrugger lockte ja nicht nur ihn, sondern alle anderen Menschen auch? Er hörte in sich Arnheims Stimme fragen: »Würden Sie ihn befreien?« Und sich antworten: »Nein. Wahrscheinlich nein.« – »Tausendmal nein!« fügte er hinzu und fühlte trotzdem wie eine Blendung das Bild eines Handelns, worin das Zugreifen, wie es aus höchster Erregung folgt, und das Ergriffenwerden in einem unbeschreiblichen gemeinsamen Zustande eins wurden, der Lust von Zwang, Sinn von Notwendigkeit, höchste Tätigkeit von seligem Empfangen nicht unterscheiden ließ. Flüchtig erinnerte er sich an die Auffassung, daß solche Unglücksgeschöpfe die Verkörperung unterdrückter Triebe seien, an denen alle teilhaben, die Fleischwerdung ihrer Gedankenmorde und Phantasieschändungen: So mochten dann die, die daran glaubten, in ihrer Art mit ihm fertig werden und ihn zur Wiederherstellung ihrer Moral justifizieren, nachdem sie sich an ihm gesättigt hatten! Sein Zwiespalt war ein anderer und gerade der, daß er nichts unterdrückte und dabei sehen mußte, daß ihn aus dem Bild eines Mörders nichts Fremderes anblickte als aus anderen Bildern der Welt, die alle so waren wie seine eigenen alten Bilder: halb gewordener Sinn, halb wieder hervorquellender Unsinn! Ein entsprungenes Gleichnis der Ordnung: das war Moosbrugger für ihn! Und plötzlich sagte Ulrich: »Alles das –!« und machte eine Bewegung, als würde er etwas mit dem Handrücken zur Seite schleudern. Er hatte es nicht zu sich gesagt, er hatte es laut gesagt, schloß jäh die Lippen und führte den Satz nur stumm zu Ende: »Alles das muß entschieden werden!« Er wollte nicht mehr im einzelnen wissen, was »alles das« sei; »alles das« war, was ihn beschäftigt und gequält und manchmal auch beseligt hatte, seit er seinen »Urlaub« genommen, und in Fesseln gelegt wie einen Träumenden, in dem alles möglich ist bis auf das eine, aufzustehn und sich zu bewegen; alles das führte auf Unmöglichkeiten, vom ersten Tag bis zu den letzten Minuten dieses Nachhausewegs! Und Ulrich fühlte, daß er nun endlich entweder für ein erreichbares Ziel wie jeder andere leben oder mit diesen »Unmöglichkeiten« Ernst machen müsse, und da er nun in die Umgebung seiner Wohnung gelangt war, durcheilte er die letzte Gasse mit dem sonderbaren Gefühl, daß ihm etwas nahe bevorstehe. Es war ein beflügelndes, zu einer Tat strömendes, aber inhaltleeres und dadurch wieder eigenartig freies Gefühl.
Vielleicht wäre es ebenso vorbeigegangen wie viele andere; aber als er in die Straße einbog, worin er wohnte, bemerkte er nach wenigen Schritten, daß die Fenster seines Hauses erleuchtet waren, und kurze Zeit später, als er vor dem Gittertor seines Gartens stand, war das unbezweifelbare Gewißheit. Sein alter Diener hatte gebeten, die heutige Nacht außer Haus bei Verwandten in einer anderen Gegend zubringen zu dürfen, er selbst war seit dem Erlebnis mit Gerda, das sich noch in Tageshelle abgespielt hatte, nicht zu Hause gewesen, die Gärtnersleute, die er im Unterstock beherbergte, betraten niemals seine Räume: aber überall brannte Licht, es schienen fremde Leute bei ihm zu sein, Einbrecher, die er überraschte. Ulrich war so verwirrt und hatte so wenig die Absicht, sich diesem ungewöhnlichen Gefühl zu entziehn, daß er ohne Zögern auf sein Haus zuschritt. Er erwartete nichts Bestimmtes. Er sah Schatten an den Fenstern, die auf einen einzelnen Menschen schließen ließen, der sich hinter diesen bewegte; es mochten aber auch mehrere sein, und es fragte sich, ob man auf ihn schießen werde, wenn er sein Haus betrete, oder ob er sich selbst schußfertig machen solle. In einem anderen Zustande würde Ulrich wahrscheinlich einen Schutzmann geholt oder wenigstens die Lage erkundet haben, ehe er sich zu etwas entschloß, aber er wollte allein mit diesem Erlebnis sein und holte nicht einmal die Pistole hervor, die er seit jener Nacht, wo er von Strolchen niedergeschlagen worden, manchmal bei sich trug. Er wollte –: das wußte er nicht, es sollte sich zeigen!
Aber als er die Haustür aufstieß, zeigte sich, daß der mit so unklaren Gefühlen erwartete Einbrecher bloß Clarisse war.
Vielleicht hatte bei Ulrichs Verhalten von Anfang an die Überzeugung mitgespielt, es werde sich alles harmlos aufklären, jene Ungeneigtheit, an das Schlimmste zu glauben, mit der man immer in Gefahren geht; aber als ihm in der Halle unerwartet sein alter Diener entgegentrat, hätte er ihn beinahe niedergeschlagen. Weil er es glücklicherweise im letzten Augenblick unterließ, erfuhr er durch ihn, daß ein Telegramm gekommen sei, das Clarisse in Empfang genommen habe, und daß die gnädige junge Frau schon vor etwa einer Stunde gekommen sei, gerade als der Alte weggehen wollte, und sich nicht habe abweisen lassen, so daß er es vorgezogen habe, auch für seine Person im Haus zu bleiben und für heute auf seinen Urlaub zu verzichten, denn der gnädige Herr möge ihm die Bemerkung verzeihen, aber die junge Dame habe auf ihn einen sehr aufgeregten Eindruck gemacht.
Als Ulrich ihm gedankt hatte und seine Wohnung betrat, lag Clarisse auf einem Diwan, etwas zur Seite gedreht und die Beine an den Leib gezogen; ihre taillenlos schlanke Figur, der knabenartig frisierte Kopf mit dem langen lieblichen Gesicht, das ihm, auf den Arm gestützt, entgegensah, als er die Tür öffnete, waren überaus verführerisch. Er erzählte ihr, daß er sie für einen Einbrecher gehalten habe. Clarisse bekam Augen, die wie das Schnellfeuer eines Brownings waren. »Vielleicht bin ich einer!« erwiderte sie. »Der alte Schlaukopf, der dich bedient, hat mich um keinen Preis bleiben lassen wollen; ich habe ihn schlafen geschickt, aber ich weiß, daß er sich unten irgendwo versteckt hat! Schön hast du’s hier!« Dabei reichte sie ihm die Depesche, ohne aufzustehen. »Ich habe einmal sehen wollen, wie du nach Hause kommst, wenn du glaubst, daß du allein bist« fuhr sie fort. »Walter ist in einem Konzert. Er kommt erst nach Mitternacht zurück. Ich habe ihm aber nicht gesagt, daß ich zu dir gehe.«
Ulrich riß die Depesche auf und las sie, während er nur mit halbem Ohr hörte, was Clarisse sagte; er wurde überraschend bleich und las ungläubig noch einmal den sonderbaren Wortlaut. Er hatte schon seit einiger Zeit, obgleich er verschiedene Anfragen seines Vaters wegen der Parallelaktion und der verminderten Zurechnungsfähigkeit zu beantworten verabsäumt hatte, kein Mahnschreiben erhalten, ohne daß es ihm aufgefallen wäre; nun meldete ihm das Telegramm in einer ausführlichen, aus halb unterdrückten Vorwürfen und voller Todesfeierlichkeit wunderlich gemischten Weise, die sein Vater offenbar selbst noch auf das genaueste geregelt und aufgesetzt hatte, das Ableben seines Erzeugers. Sie hatten wenig Neigung füreinander besessen, ja es war Ulrich der Gedanke an seinen Vater beinahe immer unangenehm gewesen, trotzdem dachte er, während er den schnurrig-unheimlichen Text ein zweites Mal las: »Ich bin nun ganz allein auf der Welt!« Es war nicht so recht der wörtliche und schlecht zu dem nun beendeten Verhältnis passende Sinn dieser Worte, was er meinte; eher fühlte er sich verwundert aufsteigen, als wäre ein Ankertau zerrissen, oder fühlte einen sich nun ganz herstellenden Zustand der Landesfremdheit in einer Welt, der er durch seinen Vater noch verbunden gewesen war.
»Mein Vater ist gestorben!« sagte er zu Clarisse und hob mit einiger unwillkürlicher Feierlichkeit die Hand mit der Depesche.
»Ach!« antwortete Clarisse. »Ich gratuliere!« Und nach einer kleinen, besinnlichen Pause fügte sie hinzu: »Da wirst du jetzt wohl sehr reich?« Sie sah sich neugierig um.
»Ich glaube nicht, daß er mehr als wohlhabend war« erwiderte Ulrich ablehnend. »Ich lebte hier über seine Verhältnisse.«
Clarisse bestätigte die Zurechtweisung mit einem ganz kleinen Lächeln, einer Art Kratzfuß von Lächeln; viele ihrer ausdrücklichen Bewegungen waren so hastig und auf kleinstem Raum übertrieben wie die Verbeugung eines Knaben, der einer gesellschaftlichen Verpflichtung seinen Erziehungstribut entrichten muß. Sie blieb allein im Zimmer zurück, da sich Ulrich für einige Augenblicke entschuldigte, um die Anordnungen für seine Abreise zu treffen. Als sie nach dem heftigen Auftritt, den sie miteinander gehabt, Walter verlassen hatte, war sie nicht weit gegangen, denn vor der Türe ihrer Wohnung führte eine selten benutzte Stiege zum Boden hinauf, und dort war sie, in ein Tuch gehüllt, sitzen geblieben, bis sie ihren Gatten das Haus verlassen hörte. Sie wußte irgendetwas von Schnürböden in Theatern; dort oben, von wo die Seile laufen, saß sie also, während Walter seinen Abgang über die Treppe hatte. Sie malte sich aus, daß die Schauspielerinnen in ihren Spielpausen, wo sie nichts zu tun hatten, in Tücher geschlagen in dem Gebälk über der Bühne sitzen und zusehen; sie war jetzt auch eine solche Schauspielerin und hatte alle Vorgänge unter sich zu Füßen. Darin kam wieder ihr alter Lieblingsgedanke hervor, daß das Leben eine schauspielerische Aufgabe sei. Man braucht es gewiß nicht mit der Vernunft zu begreifen – dachte sie; was weiß man denn überhaupt davon, selbst wenn einer mehr wußte als sie. Aber man muß den richtigen Instinkt für das Leben haben, wie ein Sturmvogel! Man muß seine Arme – und das hieß nun bei ihr: seine Worte, seine Küsse, seine Tränen – ausspannen wie Flügel! In dieser Vorstellung fand sie einen Ersatz dafür, daß sie nicht mehr an Walters Zukunft glauben konnte. Sie sah das steile Treppenhaus hinunter, das Walter hinabgestiegen war, breitete die Arme aus und hielt sie in dieser Lage erhoben, so lange sie vermochte: vielleicht konnte sie ihm dadurch helfen! »Steil aufwärts und steil abwärts sind in ihrer Stärke feindlich verwandt und gehören zusammen!« dachte sie. »Jubelnde Weltschräge« nannte sie ihre ausgebreiteten Arme und den Blick in die Tiefe. Sie ließ den Vorsatz fahren, heimlich den Kundgebungen in der Stadt zuzusehen; was ging sie die »Herde« an, das ungeheure Drama der Einzelnen hatte begonnen!
So war Clarisse zu Ulrich gegangen. Sie hatte unterwegs manchmal ihr listiges Lächeln gezeigt, wenn sie daran dachte, daß Walter sie für verrückt halte, sobald sie etwas von ihrer höheren Einsicht in ihrer beider Zustand merken ließ. Es schmeichelte ihr, daß er sich davor fürchtete, ein Kind von ihr zu bekommen, und es doch kaum erwarten konnte; sie verstand unter »verrückt« etwa so viel wie einem Wetterleuchten ähnlich zu sein oder sich in einem solchen hohen Zustand von Gesundheit zu befinden, daß es andere erschreckt, und es war eine Eigenschaft, die sich in ihrer Ehe entwickelt hatte, Schritt um Schritt, so wie ihre Überlegenheit und beherrschende Stellung wuchs. Immerhin wußte sie aber, daß sie manchmal den anderen unverständlich war, und als Ulrich wieder eintrat, hatte sie das Gefühl, ihm etwas sagen zu müssen, wie es sich bei einem Ereignis gehörte, das in sein Leben so tief einschnitt. Sie sprang rasch von ihrem Diwan auf, durchschritt einigemal das Zimmer und die angrenzenden Räume und sagte dann: »Also mein herzlichstes Beileid, alter Junge!«
Ulrich sah sie erstaunt an, obwohl er diesen Ton schon an ihr kannte, wenn sie nervös war. »Sie hat dann manchmal etwas so unvermittelt Konventionelles,« dachte er »wie wenn in ein Buch versehentlich eine Seite aus einem anderen eingebunden ist.« Sie hatte ihm ihren Satz nicht etwa mit dem üblichen Ausdruck zugerufen, sondern von der Seite, über die Schulter weg, und das verstärkte diese Wirkung, daß man nicht einen falschen Ton zu hören glaubte, sondern einen verwechselten Text, und den nicht ganz geheuren Eindruck empfing, sie selbst bestehe aus mehreren solcher Textlagen. Sie blieb jetzt, da Ulrich nicht antwortete, vor ihm stehen und sagte: »Ich muß mit dir reden!«
»Ich möchte dir gerne eine Erfrischung anbieten« sagte Ulrich.
Clarisse bewegte nur zum Zeichen der Ablehnung die aufgerichtete Hand in Schulterhöhe rasch hin und her. Sie nahm ihre Gedanken zusammen und begann: »Walter will durchaus ein Kind von mir. Verstehst du das?« Sie schien auf Antwort zu warten.
Was hätte Ulrich erwidern sollen?
»Ich will aber nicht!« rief sie heftig aus.
»Sei doch nicht gleich bös« meinte Ulrich. »Wenn du nicht willst, kann es ohnehin nicht geschehn.«
»Aber daran geht er zugrunde!«
»Leute, die jederzeit zu sterben meinen, leben lang! Du und ich werden längst verhutzelt sein, aber Walter wird noch unter weißem Haar und als Direktor seines Archivs ein Jünglingsgesicht haben!«
Clarisse drehte sich nachdenklich auf dem Absatz herum und ging von Ulrich fort; in einiger Entfernung nahm sie wieder Stellung und »faßte« ihn »ins Auge«. »Weißt du, wie ein Regenschirm aussieht, nachdem man den Stock herausgezogen hat? Walter fällt zusammen, wenn ich mich abwende. Ich bin sein Stock, er ist –« »Der Schirm« hatte sie sagen wollen, aber es fiel ihr eine wesentliche Verbesserung ein; »er ist mein Schirm-Herr« sagte sie. »Er glaubt mich beschirmen zu müssen. Erst möchte er mich dazu mit einem schweren Bauch sehen. Dann wird er mir zureden, daß eine natürliche Mutter ihr Kind selbst stillt. Dann wird er dieses Kind in seinem Sinn erziehen wollen. Das weißt du doch selbst. Er will sich einfach Rechte aneignen und mit einer großartigen Ausrede Spießbürger aus uns beiden machen. Aber wenn ich weiter, so wie ich es bisher getan habe, nein sage, dann ist es aus mit ihm! Ich bin einfach alles für ihn!«
Ulrich lächelte ungläubig zu dieser umfassenden Behauptung.
»Er will dich töten!« fügte Clarisse rasch hinzu.
»Was? Ich dachte, das hättest du ihm geraten?«
»Ich möchte das Kind von dir haben!« sagte Clarisse.
Ulrich pfiff überrascht durch die Zähne.
Sie lächelte wie ein sehr junger Mensch, der eine ungezogene Forderung gestellt hat.
»Ich möchte jemand, den ich so gut kenne wie Walter, nicht hintergehn. Ich habe eine Abneigung dagegen« sagte Ulrich langsam.
»So? Du bist also sehr anständig?« Clarisse schien dem eine Bedeutung beizumessen, die Ulrich nicht verstand; sie überlegte, und erst nach einer Weile setzte sie ihren Angriff fort: »Aber wenn du mich liebst, hat er dich in der Hand!?«
»Wieso?«
»Das ist doch ganz klar; ich kann es bloß nicht recht sagen. Du wirst dich gezwungen sehen, rücksichtsvoll gegen ihn zu sein. Er wird uns sehr leid tun. Du kannst ihn doch natürlich nicht einfach betrügen, also wirst du ihm etwas dafür zu geben suchen. Na, und so weiter. Und was das Wichtigste ist: Du wirst ihn zwingen, daß er sein Bestes hergibt. Das kannst du doch nicht leugnen, daß wir in uns stecken wie die Figuren in einem Steinblock. Man muß sich aus sich herausarbeiten! Man muß sich gegenseitig dazu zwingen!«
»Gut« sagte Ulrich; »aber du setzt viel zu schnell voraus, daß es geschehen wird.«
Clarisse lächelte wieder. »Vielleicht vorschnell!« sagte sie. Sie näherte sich ihm und hing freundschaftlich ihren Arm in den seinen, der schlaff vom Körper hängen blieb, ohne ihr Platz zu bereiten. »Gefalle ich dir nicht? Hast du mich nicht gern?« fragte sie. Und als Ulrich keine Antwort gab, fuhr sie fort: »Ich gefalle dir, das weiß ich doch; ich habe oft genug bemerkt, wie du mich anschaust, wenn du bei uns bist! Erinnerst du dich, ob ich dir schon einmal gesagt habe, du bist der Teufel? Mir ist so. Versteh mich gut: Ich sage nicht, du bist ein armer Teufel, das ist einer, der das Böse will, weil er es nicht besser versteht; du bist ein großer Teufel, du weißt, was gut wäre, aber du tust gerade das Gegenteil von dem, was du möchtest! Du findest das Leben, wie wir alle es führen, abscheulich, und darum sagst du zum Trotz, man soll es weiterführen. Und du sagst furchtbar anständig: ›Ich betrüge meine Freunde nicht!‹, aber du sagst es bloß, weil du dir schon hundertmal gedacht hast: ›Ich möchte Clarisse haben!‹ Aber weil du ein Teufel bist, hast du auch etwas von Gott in dir, Ulo! Von einem großen Gott! Einem, der lügt, damit man ihn nicht erkennen soll! Du möchtest mich –«
Sie hatte statt eines Arms jetzt seine beiden Arme ergriffen und stand mit emporgehobenem Gesicht vor ihm, den Leib wie eine Pflanze zurückgebogen, die man sanft an der Blüte anfaßt. »Jetzt wird es gleich wieder über ihr Gesicht strömen, so wie damals!« fürchtete Ulrich. Aber es geschah nicht. Ihr Gesicht blieb schön. Sie hatte nicht ihr gewöhnliches schmales Lächeln, sondern ein geöffnetes, das mit dem Fleisch der Lippen zugleich ein wenig die Zähne zeigte, als wollte sie sich wehren, und die Form ihres Mundes bildete den doppelt geschwungenen Bogen des Liebesgotts, der sich in den Hügeln der Stirn wiederholte und über ihnen noch einmal in der lichtdurchstrahlten Wolke des Haars.
»Du möchtest mich längst zwischen die Zähne deines Lügenmunds nehmen und forttragen, wenn du es nur über dich brächtest, dich mir zu zeigen, wie du bist!« war Clarisse fortgefahren. Ulrich machte sich sanft los. Sie ließ sich auf dem Diwan nieder, als hätte er sie dorthin gesetzt, und zog ihn nach.
»Du solltest nicht so übertreiben« verwies ihr Ulrich ihre Worte.
Clarisse hatte ihn losgelassen. Sie schloß die Augen und stützte den Kopf in beide Arme, deren Ellbogen sich auf die Knie stemmten; ihr zweiter Angriff war abgeschlagen, und sie hatte jetzt die Absicht, Ulrich durch eisige Logik zu überzeugen. »Du brauchst dich nicht an die Worte zu halten« antwortete sie; »das sind Redensarten, wenn ich Teufel sage oder Gott. Aber wenn ich allein zu Haus bin, gewöhnlich den ganzen Tag, und in der Umgebung herumstreife, habe ich mir früher oft gedacht: Gehe ich jetzt links, so kommt Gott, gehe ich rechts, so kommt der Teufel. Oder ich habe dasselbe Gefühl gehabt, wenn ich etwas in die Hand nehmen sollte und konnte es rechts oder links tun. Wenn ich das Walter gezeigt habe, so hat er die Hände aus Angst in die Taschen gesteckt! Er freut sich an den Blumen oder schon an einer Schnecke; aber sag, ist das Leben, das wir führen, nicht furchtbar traurig? Es kommt weder Gott noch Teufel. So gehe ich schon jahrelang herum. Was kann denn kommen?! Nichts: das ist alles, wenn mit der Kunst nicht noch durch ein Wunder eine Änderung glückt!«
Sie machte in diesem Augenblick einen so sanft traurigen Eindruck, daß sich Ulrich verleiten ließ, ihr weiches Haar mit der Hand zu berühren. »Du magst im einzelnen schon recht haben, Clarisse,« sagte er »aber ich verstehe bei dir nie die Zusammenhänge und Sprünge der Folgen.«
»Die sind einfach« antwortete sie, noch in der gleichen Haltung wie zuvor. »Ich habe mit der Zeit eben eine Idee bekommen: Hör zu!« Nun richtete sie sich aber auf und war plötzlich wieder lebhaft. »Hast du nicht selbst einmal gesagt, daß der Zustand, in dem wir leben, Risse hat, aus denen sozusagen ein unmöglicher Zustand hervorschaut. Du brauchst nichts zu erwidern; ich weiß das schon lange. Jeder Mensch will natürlich sein Leben in Ordnung haben, aber keiner hat es! Ich mache Musik oder male; das ist aber so, wie wenn ich eine spanische Wand vor ein Loch in der Mauer stellen würde. Du und Walter habt außerdem Ideen, davon verstehe ich wenig, aber irgendetwas stimmt dabei auch nicht, und du hast gesagt, daß man zu diesem Loch aus Trägheit und Gewohnheit nicht hinsieht oder sich mit bösen Dingen davon ablenkt. Nun, das Weitere ist einfach: durch dieses Loch muß man hinaus! Und ich kann das! Ich habe Tage, wo ich aus mir hinausschlüpfen kann. Dann steht man – wie soll ich das sagen? – wie geschält zwischen den Dingen, von denen auch die schmutzige Rinde abgezogen ist. Oder man ist mit allem, was dasteht, durch die Luft wie ein zusammengewachsener Zwilling verbunden. Es ist ein unerhört großartiger Zustand; alles geht ins Musikalische und Farbige und Rhythmische, und ich bin dann nicht die Bürgerin Clarisse, als die ich getauft bin, sondern vielleicht ein glänzender Splitter, der in ein ungeheures Glück eindringt. Aber das weißt du ja alles selbst! Denn das hast du gemeint, wenn du gesagt hast, daß die Wirklichkeit einen unmöglichen Zustand in sich hat und daß man seinen Erlebnissen nicht die Wendung zu sich geben und sie nicht als persönlich und wirklich ansehen darf, sondern daß man sie, wie gesungen oder gemalt, hinauswenden muß und so weiter und so weiter: ich könnte dir alles ja ganz genau wiederholen!« – Dieses »und so weiter« kehrte wie ein wilder Reim wieder, während Clarisse überstürzt weitersprach, und fast jedesmal schloß sie die Behauptung daran: »Und du hast die Kraft dazu, aber du willst nicht; ich weiß nicht, warum du nicht willst, aber ich werde an dir rütteln!!«
Ulrich hatte sie sprechen lassen; er hatte hie und da stumm verneint, wenn sie ihm etwas zuschrieb, was sich zu weit vom Möglichen entfernte, fand aber nicht den Willen in sich, Einspruch zu erheben, und ließ seine Hand auf ihrem Haar ruhen, darunter er das wirre Pulsen dieser Gedanken fast mit den Fingerspitzen fühlte. Er hatte Clarisse noch nie so sinnlich erregt gesehen, und es verwunderte ihn fast, daß auch in ihrem schmalen, harten Körper alle Lockerung und weiche Ausbreitung des weiblichen Erglühens Platz fand, wobei die ewige Überraschung, daß sich eine Frau, die man für alle nur geschlossen gekannt hat, plötzlich öffnet, ihre Wirkung auch diesmal nicht verfehlte. Ihre Worte stießen ihn aber nicht ab, obwohl sie die Vernunft beleidigten; denn indem sie seinem Inneren nahekamen und sich davon wieder bis zur Absurdität entfernten, wirkte diese dauernde rasche Bewegung wie ein Schwirren oder Summen, dessen Tonschönheit oder -häßlichkeit neben der Heftigkeit der Schwingung nicht zur Geltung kam. Er fühlte, daß es ihm seine eigenen Entschlüsse wie eine wilde Musik erleichterte, ihr zuzuhören, und nur als ihm vorkam, sie selbst finde keinen Ausweg aus ihren Worten mehr und kein Ende, schüttelte er mit seiner gebreiteten Hand ein wenig ihren Kopf, um sie zurückzurufen und zu ermahnen.
Aber da geschah das Gegenteil von dem, was er wollte, denn Clarisse rückte ihm nun plötzlich auf den Leib. Sie schlang so geschwind, daß er es nicht abwehren konnte und ordentlich verdutzt darüber war, ihren Arm um seinen Hals und preßte ihre Lippen auf seine, hatte ihre Beine mit einer raschen Bewegung unter sich gezogen und rutschte zu ihm hin, so daß sie in seinen Schoß zu knien kam, und an der Schulter fühlte er den kleinen Ball ihres Busens. Er faßte das wenigste auf, was sie sagte. Sie stammelte von ihrer Kraft zu erlösen und seiner Feigheit, und so viel verstand er, daß er ein »Barbar« sei und daß sie deshalb von ihm und nicht von Walter den Erlöser der Welt empfangen werde, eigentlich waren ihre Worte aber nur ein wildes Spiel nahe an seinem Ohr, ein halblautes, hastiges Murmeln, mehr mit sich selbst beschäftigt als mit der Mitteilung, und nur hie und da war in diesem drieselnden Bach ein einzelnes Wort, wie »Moosbrugger« oder »Teufelsauge«, wahrzunehmen. Er hatte zu seiner Verteidigung seine kleine Bedrängerin an den Oberarmen gefaßt und auf den Diwan gedrückt, nun arbeitete sie mit den Beinen an ihm herum, preßte das Haar ihres Kopfes an sein Gesicht und trachtete, sein Genick wieder zu umschlingen. »Ich werde dich ermorden, wenn du nicht nachgibst!« sagte sie hell und klar. Sie glich einem Knaben, der sich in einem Gemisch von Zärtlichkeit und Ärger nicht abweisen lassen will und in seiner Erregung immer mehr steigert. Die Anstrengung, sie zu bändigen, ließ das Fließen der Wollust in ihren Gliedern dabei nur schwach fühlen; trotzdem hatte Ulrich den Augenblick, wo er fest seinen Arm um ihren Körper schlang und sie niederdrückte, heftig empfunden. Es war geradeso, als wäre ihr Körper in sein Gefühl eingedrungen; er kannte sie doch schon so lange und hatte oft ein wenig mit ihr gebalgt, aber er hatte dieses vertraut-fremde kleine Wesen, mit seinem wild springenden Herzen, noch nie so von oben bis unten berührt, und als sich Clarissens Bewegungen nun, von seinen Händen gefesselt, sänftigten und diese Lösung der Glieder zärtlich in ihren Augen zu schimmern begann, wäre beinahe das geschehen, was er nicht wollte. In diesem Augenblick erinnerte er sich aber an Gerda, als ob jetzt erst die Forderung vor ihm stünde, mit sich selbst zu einem Abschluß zu kommen.
»Ich will nicht, Clarisse!« sagte er und ließ sie los. »Ich will jetzt allein bleiben und habe vor meiner Abreise noch viel zu ordnen!«
Als Clarisse seine Ablehnung begriff, war das, als ob mit einigen harten Rucken ein anderes Räderwerk in ihrem Kopf eingeschaltet würde. Sie sah Ulrich mit peinlich verzerrten Zügen einige Schritte weit vor sich stehen, sah ihn reden, verstand scheinbar nichts, aber während sie den Bewegungen seiner Lippen folgte, fühlte sie einen wachsenden Widerwillen, dann bemerkte sie, daß sich ihre Röcke über die Knie hochgeschoben hatten, und schnellte in die Höhe. Ehe sie sich noch an irgend etwas erinnerte, stand sie auf den Beinen, schüttelte ihr Haar und ihre Kleider zurecht, als hätte sie in Gras gelegen, und sagte: »Natürlich mußt du einpacken, ich will dich nicht länger aufhalten!« Sie hatte ihr gewöhnliches Lächeln wieder, das sich spöttisch unsicher durch einen schmalen Spalt zwängte, und wünschte gute Reise. »Wenn du wiederkommst, wird wahrscheinlich Meingast bei uns sein; er hat sich angekündigt, und das bin ich eigentlich dir zu sagen gekommen!« fügte sie nebenbei an.
Ulrich hielt zögernd ihre Hand.
Ihr Finger feilte spielend an der seinen; sie würde für ihr Leben gern gewußt haben, was sie ihm eigentlich alles gesagt hatte, denn es mußte alles mögliche gewesen sein, weil sie so erregt gewesen war, daß sie es vergessen konnte. Ungefähr wußte sie, was vorgegangen war, und machte sich nichts daraus, denn ihr Gefühl sagte ihr, daß sie tapfer oder opferbereit gewesen sei und Ulrich zaghaft. Sie hatte bloß den Wunsch, sich recht kameradschaftlich von ihm zu verabschieden, damit er darüber nicht im Zweifel bleibe. Sie sagte leichthin: »Es ist besser, du erzählst Walter nichts von diesem Besuch, und was wir gesprochen haben, bleibt bis zum nächsten Mal unter uns!« Sie reichte ihm an der Gartentür noch einmal die Hand und lehnte eine weitere Begleitung ab.
Als Ulrich zurückkehrte, erging es ihm sonderbar. Er mußte einige Briefe schreiben, um sich von Graf Leinsdorf und Diotima zu verabschieden, und hatte auch sonst verschiedenes in Ordnung zu bringen, denn er sah voraus, daß ihn die Übernahme seines Erbes längere Zeit fernhalten werde; dann tat er die mannigfaltigen Gegenstände des kleinen Gebrauchs und Bücher in die von seinem Diener, den er schlafen geschickt hatte, schon gepackten Koffer, und als er mit alledem fertig war, fühlte er keine Lust mehr, sich zur Ruhe zu legen. Er war abgespannt und überreizt als Folge des bewegten Tags, und diese beiden Zustände schwächten sich nicht, sondern hoben sich wechselseitig in die Höhe, so daß er sich bei großer Müdigkeit schlaflos fühlte. Nicht denkend, sondern hin und her schwingenden Erinnerungen folgend, gestand Ulrich sich zunächst ein, daß der schon einigemal empfangene Eindruck, Clarisse sei nicht bloß ein ungewöhnliches, sondern im geheimen wohl bereits ein geisteskrankes Wesen, keinen Zweifel mehr erlaube, und doch hatte sie in ihrem Anfall, oder wie man den Zustand nennen mochte, worin sie sich vor kurzem befunden, Aussprüche getan, die manchen seiner eigenen bedenklich ähnlich waren. Es hätte ihn von neuem und gründlich zum Nachdenken darüber bringen können, aber er fühlte sich bloß in einer unangenehmen und zu der Natur seines Halbschlafzustandes gegensätzlichen Weise darauf aufmerksam gemacht, daß er noch viel zu tun habe. Von dem Jahr, das er sich vorgesetzt hatte, war die eine Hälfte fast schon verstrichen, ohne daß er mit irgendeiner Frage in Ordnung gekommen wäre. Es fuhr ihm durch den Sinn, daß Gerda von ihm verlangt hatte, er möge ein Buch darüber schreiben. Aber er wollte leben, ohne sich in einen wirklichen und einen schattenhaften Teil zu spalten. Er entsann sich des Augenblicks, wo er mit Sektionschef Tuzzi darüber gesprochen hatte. Er sah sich und ihn in Diotimas Salon stehn, und es hatte etwas Dramatisches, etwas von Darstellern an sich. Er erinnerte sich, leichthin gesagt zu haben, er werde wohl ein Buch schreiben oder sich töten müssen. Aber auch der Gedanke an den Tod war, wenn er sich das jetzt, und sozu sagen aus der Nähe, überlegte, durchaus nicht der wirkliche Ausdruck seines Zustands; denn wenn er ihm weiter nachgab und sich vorstellte, er könnte sich ja, statt abzureisen, noch vor dem Morgen töten, so kam es ihm in dem Augenblick, wo er die Todesnachricht seines Vaters erhalten hatte, einfach als ein unpassendes Zusammentreffen vor! Er befand sich in einem halben Zustand des Schlafs, wo die Gebilde der Einbildungskraft einander zu jagen beginnen. Er sah den Lauf einer Waffe vor sich, in dessen Dunkel er hineinblickte und darin er ein schattiges Nichts, den die Tiefe absperrenden Schatten wahrnahm, und fühlte, es sei eine seltsame Übereinstimmung und ein sonderbares Zusammentreffen, daß dieses gleiche Bild einer geladenen Waffe in seiner Jugend ein Lieblingsbild seines auf Flug und Ziel wartenden Willens gewesen war. Und er sah mit einemmal viele solche Bilder wie jenes der Pistole und seines Beisammenstehens mit Tuzzi. Der Anblick einer Wiese am frühen Morgen. Das von der Eisenbahn gesehene, von dicken Abendnebeln erfüllte Bild eines lange gewundenen Flußtals. Am anderen Ende Europas ein Ort, wo er sich von einer Geliebten getrennt hatte; das Bild der Geliebten war vergessen, jenes der erdigen Straßen und schilfgedeckten Häuser frisch wie gestern. Das Achselhaar einer anderen Geliebten, einzig und allein übrig geblieben von ihr. Einzelne Teile von Melodien. Die Eigenart einer Bewegung. Gerüche von Blumenbeeten, einst unbeachtet über heftigen Worten, die aus tiefer Erregung der Seelen kamen, heute diese Vergessenen überlebend. Ein Mensch auf verschiedenen Wegen, beinahe peinlich anzusehen: er; wie eine Reihe Puppen übrig geblieben, in denen die Federn längst gebrochen sind. Man sollte meinen, solche Bilder seien das Flüchtigste von der Welt, aber eines Augenblicks ist das ganze Leben in solche Bilder aufgelöst, nur sie stehen auf dem Lebensweg, nur von ihnen zu ihnen scheint er gelaufen zu sein, und das Schicksal hat nicht Beschlüssen und Ideen gehorcht, sondern diesen geheimnisvollen, halb unsinnigen Bildern.
Aber während ihn diese sinnlose Ohnmacht aller Bemühungen, deren er sich gerühmt hatte, beinahe zu Tränen rührte, entfaltete sich in dem übernächtigen Zustand, worin er sich befand, oder fast müßte man sagen, geschah um ihn wunderliches Gefühl. In allen Zimmern brannten noch die Lampen, die Clarisse, als sie allein war, überall angezündet hatte, und der Überfluß des Lichts strömte zwischen den Wänden und Dingen hin und her, den dazwischen liegenden Raum mit einem fast lebenden Etwas ausfüllend. Und wahrscheinlich war es die in jeder schmerzlosen Müdigkeit enthaltene Zärtlichkeit, die das Gesamtgefühl seines Körpers veränderte, denn dieses immer vorhandene, wenn auch unbeachtete Selbstgefühl des Körpers, ohnehin ungenau begrenzt, ging in einen weicheren und weiteren Zustand über. Es war eine Auflockerung, als hätte sich ein zusammenschnürendes Band entknotet; und da sich ja weder an den Wänden und Dingen etwas wirklich änderte und kein Gott das Zimmer dieses Ungläubigen betrat und Ulrich selbst keineswegs auf die Klarheit seines Urteils verzichtete (soweit ihn nicht seine Müdigkeit darüber täuschte), konnte es nur die Beziehung zwischen ihm und seiner Umgebung sein, was dieser Veränderung unterworfen war, und von dieser Beziehung wieder nicht der gegenständliche Teil, noch Sinne und Verstand, die ihm nüchtern entsprechen, sondern es schien sich ein tief wie Grundwasser ausgebreitetes Gefühl zu ändern, worauf diese Pfeiler des sachlichen Wahrnehmens und Denkens sonst ruhten, und sie rückten nun weich auseinander oder ineinander: diese Unterscheidung hatte nämlich im gleichen Augenblick auch ihren Sinn verloren. »Es ist ein anderes Verhalten; ich werde anders und dadurch auch das, was mit mir in Verbindung steht!« dachte Ulrich, der sich gut zu beobachten meinte. Man hätte aber auch sagen können, daß seine Einsamkeit – ein Zustand, der sich ja nicht nur in ihm, sondern auch um ihn befand und also beides verband – man hätte sagen können, und er fühlte es selbst, daß diese Einsamkeit immer dichter oder immer größer wurde. Sie schritt durch die Wände, sie wuchs in die Stadt, ohne sich eigentlich auszudehnen, sie wuchs in die Welt. »Welche Welt?« dachte er. »Es gibt ja gar keine!« Es kam ihm vor, daß dieser Begriff keine Bedeutung mehr hätte. Aber Ulrich hatte sich immer noch so viel Selbstüberwachung bewahrt, daß dieser zu hoch gesteigerte Ausdruck ihn im gleichen Augenblick unangenehm berührte; er suchte nach keinen anderen Worten mehr, ja im Gegenteil, er näherte sich von da an wieder der Vollwachheit und nach wenigen Sekunden fuhr er auf. Es graute der Tag und mischte seine Fahlheit in die rasch abwelkende Helligkeit des künstlichen Lichts.
Ulrich sprang auf und dehnte seinen Körper. Es war etwas darin zurückgeblieben, das sich nicht abschütteln ließ. Er strich sich mit dem Finger über die Augen, aber sein Blick behielt etwas von der Weichheit einer einsinkenden Berührung der Dinge. Und mit einem Mal erkannte er in einer schwer beschreiblichen, abströmenden Weise, einfach so, als verließe ihn die Kraft, es länger abzuleugnen, daß er wieder dort stand, wo er sich schon einmal vor vielen Jahren befunden hatte. Er schüttelte lächelnd den Kopf. Einen »Anfall der Frau Major« nannte er sein Befinden spöttisch. Nach der Meinung seiner Vernunft bestand keine Gefahr, denn es war niemand da, mit dem er eine solche Torheit hätte wiederholen können. Er öffnete ein Fenster. Es war eine gleichgültige Luft draußen, eine Allerweltsmorgenluft mit den ersten anklingenden Geräuschen der Stadt. Während die Kühle seine Schläfen wusch, begann ihn die Abneigung des Europäers gegen Gefühlsduselei mit ihrer klaren Härte zu erfüllen, und er nahm sich vor, dieser Geschichte, wenn es sein müßte, mit aller Exaktheit zu begegnen. Und doch hatte er, lange so am Fenster stehend und ohne Gedanken in den Morgen blickend, auch da noch etwas von dem blinkenden Vergleiten aller Empfindungen in sich.
Er war überrascht, als mit einemmal sein Diener mit dem feierlichen Ausdruck des Frühaufgestandenen eintrat, um ihn zu wecken. Er badete, gab rasch seinem Körper einige lebhafte Bewegung und fuhr zur Bahn.
Ende des ersten Buches



ERSTES BUCH

Erster Teil: Eine Art Einleitung
Zweiter Teil: Seinesgleichen geschieht

ZWEITES BUCH

Dritter Teil: Die Verbrecher
Vierter Teil: Eine Art Ende

Das erste Buch des Romans ist mit dem vorliegenden Bande selbständig abgeschlossen worden.
Das zweite Buch, den dritten und vierten Teil umfassend, befindet sich in Vorbereitung.