Und während nun
Ulrich las, beobachtete Agathe mutlos sein Mienenspiel. Er hatte sein Gesicht über den Brief geneigt, und der Ausdruck darin schien unentschlossen zu sein, wie er sich entscheiden solle, ob für Spott, Ernst, Kummer oder Verachtung. In diesem Augenblick senkte sich ein schweres Gewicht auf sie; es drang von allen Seiten ein, als verdichte sich die Luft zu unerträglicher Dumpfheit, nachdem zuvor eine unnatürlich köstliche Leichtigkeit geherrscht habe: was Agathe mit dem Testament ihres Vaters getan hatte, bedrückte zum
erstenmal ihr Gewissen. Aber es würde nicht genügen, sagte man, daß sie mit einemmal ermaß, wessen sie sich in Wirklichkeit schuldig gemacht habe; vielmehr empfand sie ein solches wirkliches Ermessen im Verhältnis zu allem, auch zu ihrem Bruder, und sie fühlte eine unbeschreibliche Nüchternheit. Alles, was sie getan hatte, erschien ihr unbegreiflich. Sie hatte davon gesprochen, ihren Gatten zu töten, sie hatte ein Testament gefälscht, und sie hatte sich ihrem Bruder angeschlossen, ohne zu fragen, ob sie sein Leben damit störe: in einem einbildungsreichen Rauschzustand hatte sie das getan. Und besonders beschämte es sie in diesem Augenblick, daß ihr der nächste
und natürlichste Gedanke dabei völlig gefehlt habe, denn jede andere Frau, die sich von einem Mann
freimacht, den sie nicht mag, wird entweder einen besseren suchen oder sich durch Unternehmen anderer, aber ebenso natürlicher Art entschädigen. Oft genug hatte sogar Ulrich selbst darauf hingewiesen, doch hatte sie nie darauf gehört. Nun stand sie da und wußte nicht, was er sagen werde. Ihr Verhalten kam ihr so sehr als das eines wirklich nicht ganz zurechnungsfähigen Wesens vor, daß sie Hagauer recht gab, der ihr in seiner Weise vorhielt, was sie sei; und sein Brief in Ulrichs Hand machte sie ähnlich betroffen, wie es ein Mensch sein mag, der ohnehin unter Anklage steht und nun noch ein Schreiben seines früheren Lehrers erhält, worin ihn dieser seiner Verachtung versichert. Natürlich hatte sie Hagauer niemals einen Einfluß auf sich eingeräumt; trotzdem war die Wirkung so, als dürfte er ihr sagen: »ich habe mich in dir getäuscht!« oder: »ich habe mich leider nie in dir getäuscht und immer das Gefühl gehabt, du wirst ein böses Ende nehmen!« In dem Bedürfnis, diesen lächerlichen und kummervollen Eindruck abzuschütteln, unterbrach sie vor der Zeit Ulrich, der noch immer aufmerksam in dem Brief las und, wie es schien, damit gar nicht fertig werden konnte, mit ungeduldigen Worten:
»Er beschreibt mich eigentlich ganz richtig« ließ sie scheinbar gleichmütig einfließen, aber doch mit dem Nachdruck einer Herausforderung, die deutlich den Wunsch verriet, das Gegenteil zu hören. »Und wenn er es auch nicht ausspricht, so ist es doch wahr: entweder muß ich unzurechnungsfähig gewesen sein, als ich ihn ohne zwingenden Grund heiratete, oder ich bin es jetzt, wo ich ihn mit ebenso wenig Grund verlasse.«
Ulrich, der in diesem Augenblick zum drittenmal die Briefstellen durchlas, die seine Vorstellungsgabe
unfreiwillig zum Zeugen des engen Verhältnisses zu Hagauer machten, antwortete zerstreut etwas Unverständliches.
»Aber gib doch nur acht!« bat ihn Agathe. »Bin ich die zeitgemäße, wirtschaftlich oder geistig irgendwie tätige Frau? Nein. Bin ich die verliebte Frau? Auch nicht. Bin ich die gute, ausgleichende,
vereinfachende, nestbildende Gefährtin und Mutter? Schon gar nicht. Was bleibt da noch übrig? Wozu bin ich also auf der Welt? Die Geselligkeit, in der wir uns bewegen, das muß ich dir doch gleich sagen, ist mir im Grunde völlig gleichgültig. Und ich glaube beinahe, was es an Musik, Dichtung und Kunst gibt, das gebildete Kreise entzückt, könnte ich auch ganz gut entbehren. Hagauer zum Beispiel nicht; Hagauer braucht das allein schon für seine Zitate und Hinweise. Er hat wenigstens das Erfreuliche und Ordentliche einer Sammlung immer für sich: Ist er also nicht im Recht, wenn er mir vorwirft, daß ich nichts leiste, daß ich mich dem ›Reichtum des Schönen und Sittlichen‹ verweigere und daß ich höchstens noch bei Professor Hagauer Verständnis und Nachsicht finden kann?!«
Ulrich gab ihr das Schreiben zurück und erwiderte in Ruhe: »Sehen wir der Sache ins Gesicht: Du bist mit einem Wort doch wirklich sozial schwachsinnig!« Er lächelte, aber in seinem Ton war die Gereiztheit zu spüren, die der Einblick in diesen vertrauten Brief in ihm zurückgelassen hatte.
Agathe aber war es nicht recht, daß ihr Bruder so antworte. Es vergrößerte ihren Kummer. Nun fragte sie mit schüchternem Spott: »Warum hast du denn, wenn es so ist, ohne mir etwas zu sagen, darauf
bestanden, daß ich geschieden werde und meinen einzigen Beschützer verliere?«
»Ach, vielleicht deshalb,« meinte Ulrich ausweichend »weil es so herrlich einfach ist, in einem festen männlichen Ton miteinander zu verkehren. Ich habe mit der Faust auf den Tisch geschlagen, er hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen; natürlich mußte ich dann doppelt so heftig auf den Tisch schlagen: Ich glaube, deshalb habe ich es getan.«
Bisher hatte sich Agathe, obwohl ihre Verstimmung verhinderte, daß sie es selbst merke, doch sehr, ja wild darüber gefreut, daß ihr Bruder heimlich das Gegenteil von dem getan habe, was er in der Zeit des scherzhaft tändelnden Geschwisterspiels offen an den Tag legte; denn daß er Hagauer beleidigte, konnte scheinbar nur den Zweck haben, hinter ihr ein Hindernis zu errichten, das jede Umkehr ausschlösse. Aber jetzt war auch an der Stelle dieser verborgenen Freude nur der hohle Verlust, und Agathe verstummte.
»Wir dürfen nicht übersehn,« fuhr Ulrich fort »wie gut es Hagauer in seiner Art gelingt, dich, wenn ich so sagen darf, beinahe treffend mißzuverstehn. Gib acht, er wird auf seine Weise, ohne Detektivbüro, bloß indem er über die Schwächen deines Verhältnisses zur Menschheit nachzudenken beginnt, noch herausfinden, was du mit Vaters Testament vorgenommen hast. Wie wollen wir dich dann verteidigen?«
Zum erstenmal, seit sie wieder beisammen waren, kam so zwischen
den Geschwistern die Rede auf den unselig-seligen Streich, den Agathe gegen Hagauer geführt hatte. Heftig zuckte sie die Achseln und machte eine unbestimmte Abwehrbewegung.
»Hagauer ist natürlich im Recht« gab ihr Ulrich sanft und nachdrücklich zu bedenken.
»Er ist nicht im Recht!« entgegnete sie mit Bewegung.
»Er hat teilweise recht« vermittelte Ulrich. »Wir müssen in einer so gefährlichen Lage mit einem völlig klaren Selbstbekenntnis beginnen. Was
du getan hast, kann uns beide ins Zuchthaus bringen.«
Agathe sah ihn mit erschreckt geöffneten Augen an. Eigentlich wußte sie das ja, aber es war noch nie so unbezweifelt ausgesprochen worden.
Ulrich antwortete mit einer freundlichen Gebärde. »Das ist noch nicht das Schlimmste« fuhr er fort. »Aber wie halten wir das, was du getan hast, und auch die Art, wie du es getan hast, von dem Vorwurf frei, daß es –« Er suchte nach einem Ausdruck, der ihm genügen sollte, und fand keinen: »Also, sagen wir einfach, daß es doch ein wenig so ist, wie Hagauer meint; daß es sich nach der Seite des Schattens neigt, der Ausfallserscheinungen, der Fehler, die aus etwas Fehlendem entstehn? Hagauer vertritt die Stimme der Welt, wenn sie auch lächerlich in seinem Mund klingt.«
»Jetzt kommt die Tabaksdose« rief Agathe kleinlaut aus.
»Jawohl, jetzt kommt sie« antwortete Ulrich beharrlich. »Ich muß dir etwas sagen, was mich schon lange bedrückt.«
Agathe wollte ihn nicht zu Wort kommen lassen. »Ist es nicht besser, wir machen es ungeschehn?!« fragte sie. »Vielleicht sollte ich gütlich mit ihm sprechen und ihm irgendeine Entschuldigung anbieten?«
»Dazu ist es schon zu spät. Er könnte es jetzt als Werkzeug gebrauchen, um dich zu zwingen, daß du zu ihm zurückkehrst« erklärte Ulrich.
Agathe schwieg.
Ulrich fing mit der Tabaksdose an, die ein wohlhabender Mann im Hotel stiehlt. Er hatte sich eine Theorie gemacht, daß es nur drei Gründe für ein
solches Eigentumsvergehen gebe: Not, Beruf oder, wenn keines von beiden zutrifft, eine beschädigte seelische Anlage. »Du hast mir, als wir einmal davon sprachen, eingewandt, man könne es auch aus Überzeugung tun« fügte er hinzu.
»Ich habe gesagt, man könne es einfach tun!« warf Agathe ein.
»Nun ja: aus Prinzip.«
»Nein, nicht aus Prinzip!«
»Also, das ist es eben!« sagte Ulrich. »Wenn man so etwas tut, so muß man wenigstens eine Überzeugung damit verbinden! Ich komme nicht darüber hinweg! Man tut nichts ›einfach‹; entweder ist es von außen begründet oder von innen. Das mag sich wohl nicht
leicht trennen lassen, aber darüber wollen wir jetzt nicht philosophieren; ich sage bloß: wenn man etwas ganz Unbegründetes für recht hält oder wenn gar ein Entschluß wie aus dem Nichts entsteht, dann verdächtigt man sich einer krankhaften oder schadhaften Anlage.«
Damit war nun freilich weit mehr und Schlimmeres gesagt, als Ulrich wollte; es deckte sich bloß in der Richtung mit seinen Bedenken.
»Ist das alles, was du mir darüber mitzuteilen hast?« fragte Agathe still.
»Nein, es ist nicht alles« erwiderte Ulrich erbittert: »Wenn man keinen Grund hat, so muß man einen suchen!«
Keiner von beiden war darüber in Zweifel, wo sie ihn suchen müßten. Aber Ulrich wollte es anders und sagte nach einer kleinen Weile des Schweigens
nachdenklich: »In dem Augenblick, wo du dich aus dem Einklang mit den anderen hinausbegibst, wirst du in alle Ewigkeit nicht mehr wissen, was gut und was böse ist. Willst du gut sein, so mußt du also
überzeugt sein, daß die Welt gut ist. Und das sind wir beide nicht. Wir leben in einer Zeit, wo die Moral entweder in Auflösung oder in Krämpfen ist. Aber um einer Welt willen, die noch kommen kann, soll man sich rein halten!«
»Glaubst du denn, daß das irgendeinen Einfluß darauf hat, ob sie kommt oder nicht?« wandte Agathe ein.
»Nein, das glaube ich leider nicht. Höchstens so glaube ich es: Wenn auch die Menschen, die das sehen, nicht richtig handeln, so kommt sie gewiß nicht und der Verfall ist nicht aufzuhalten!«
»Was hast du denn davon, ob es in fünfhundert Jahren anders sein wird oder nicht?!«
Ulrich zögerte. »Ich tue meine Pflicht, verstehst du? Vielleicht wie ein Soldat.«
Wahrscheinlich lag es daran, daß Agathe an diesem Unglücksmorgen eines anderen und zärtlicheren Trostes bedürftig war, als ihn Ulrich gab: sie erwiderte: »Am Ende bloß wie dein General?!«
Ulrich schwieg.
Agathe mochte nicht einhalten. »Du bist doch gar nicht sicher, ob es deine Pflicht ist« fuhr sie fort. »Du tust es, weil du eben so bist und weil es dir Freude macht. Etwas anderes habe ich auch nicht getan!«
Sie verlor plötzlich die Selbstbeherrschung. Irgend etwas war sehr traurig. Sie hatte mit einemmal Tränen in den Augen, und in der Kehle würgte ein heftiges Schluchzen. Um das zu verbergen und nicht den Augen ihres Bruders darzubieten, schlang sie die Arme um seinen Hals und verbarg ihr Gesicht
an seiner Schulter. Ulrich fühlte, wie sie weinte und ihr Rücken zitterte. Eine lästige Verlegenheit beschlich ihn: er bemerkte sich kalt werden. So viele zärtliche und glückliche Gefühle er auch für seine Schwester zu
besitzen glaubte, sie waren in diesem
Augenblick, der ihn rühren mußte, nicht da; sein Empfinden war verstört und kam nicht in Tätigkeit. Er streichelte Agathe und flüsterte einige Trostworte, aber es widerstrebte ihm. Und weil die geistige Miterregung fehlte, kam ihm die Berührung der beiden Körper wie die zweier Strohwische vor. Er machte dem ein Ende, indem er Agathe zu einem Stuhl führte und sich selbst einige Schritte von ihr entfernt in einen anderen setzte. Dabei erwiderte er auf das, was sie eingewandt hatte, mit den Worten: »Die Geschichte mit dem Testament macht dir ja gar keine Freude! Und wird dir auch nie eine machen, weil sie etwas Unordentliches gewesen ist!«
»Ordnung?!« rief Agathe unter Tränen aus. »Pflicht?!«
Sie war eigentlich ganz fassungslos, weil sich Ulrich so kalt betragen hatte. Aber sie lächelte schon wieder. Sie begriff, daß sie mit sich allein fertig werden müsse. Sie hatte die Empfindung, das Lächeln, das ihr hervorzubringen gelang, schwebe sehr weit vor ihren eisigen Lippen. Ulrich dagegen war jetzt frei von Verlegenheit, es kam ihm sogar schön vor, daß sich die gewöhnliche körperliche Rührung bei ihm nicht eingestellt hatte; es leuchtete ihm ein, daß auch das zwischen ihnen beiden anders sein müsse. Er hatte aber nicht Zeit darüber nachzudenken, denn er sah, daß Agathe sehr in Mitleidenschaft gezogen war, und deshalb fing er zu sprechen an. »Laß dich nicht durch die Worte kränken, die ich benutzt habe,« bat er »und verüble sie mir nicht! Wahrscheinlich habe ich unrecht, wenn ich solche
Worte wie Ordnung und Pflicht wähle; sie muten ja auch an wie eine Predigt. Aber warum« unterbrach er das gleich wieder »warum, zum Teufel, sind Predigten
verächtlich? Sie müßten doch unser höchstes Glück sein?!«
Agathe hatte gar keine Lust, darauf zu antworten.
Ulrich ließ von seiner Frage ab.
»Glaub nicht, daß ich mich vor dir als der Gerechte aufspielen möchte!« bat er. »Ich habe nicht sagen wollen, daß ich nichts Schlechtes täte. Bloß es heimlich tun müssen, das mag ich nicht. Ich liebe die Räuber der Moral, und nicht die Diebe. Ich möchte also einen moralischen Räuber aus dir machen« scherzte er »und gestatte dir nicht, aus Schwäche zu fehlen!«
»Ich habe da keinen Ehrenstandpunkt!« sagte seine Schwester hinter ihrem sehr weit von ihr entfernten Lächeln.
»Es ist ja furchtbar lustig, daß es Zeiten wie unsere gibt, wo alle jungen Menschen für das Schlechte eingenommen sind!« warf er lachend ein, um das Gespräch vom Persönlichen zu entfernen. »Diese heutige Vorliebe für das moralisch Gruselige ist natürlich eine Schwäche. Wahrscheinlich bürgerliche Übersättigung am Guten; sein Ausgelutschtsein. Ich selbst habe auch ursprünglich gedacht, daß man zu
allem Nein sagen müsse; alle haben so gedacht, die heute zwischen fünfundzwanzig und fünfundvierzig sind; aber das war natürlich nur eine Art Mode: ich könnte mir vorstellen, daß jetzt bald der Umschwung und mit ihm eine Jugend kommt, die sich statt der Unmoral wieder die Moral ins Knopfloch stecken wird. Die ältesten Esel, die nie in ihrem Leben das Erregende der Moral verspürt und bei Gelegenheit bloß moralische Gemeinplätze von
sich gegeben haben, werden dann plötzlich Vorläufer und Pioniere eines neuen Charakters sein!«
Ulrich war aufgestanden und ging unruhig hin
und her. »Wir können vielleicht so sagen« schlug er vor: »Das Gute ist beinahe schon seiner Natur nach Gemeinplatz, das Böse bleibt Kritik! Das Unmoralische gewinnt sein himmlisches Recht als eine drastische Kritik des Moralischen! Es zeigt uns, daß das Leben auch anders geht. Es straft Lügen. Dafür danken wir ihm mit einer gewissen Nachsicht! Daß es Testamentsfälscher gibt, die über jeden Zweifel reizend sind, sollte beweisen, daß an der Unverbrüchlichkeit des Eigentums etwas nicht stimmt. Vielleicht bedarf das ja keines Beweises; aber da fängt dann die Aufgabe an: denn wir müssen
uns zu jeder Art von Verbrechen entschuldigte Verbrecher als möglich denken, selbst zum Kindesmord oder was es sonst Greuliches gibt –«
Er hatte vergeblich einen Blick seiner Schwester zu fangen gesucht, obwohl er sie mit der Erwähnung des Testaments neckte. Jetzt machte sie eine unwillkürliche Bewegung der Abwehr. Sie war keine Theoretikerin, sie konnte nur ihr eigenes Verbrechen entschuldigt finden, sie war durch seinen Vergleich eigentlich von neuem beleidigt.
Ulrich lachte. »Es sieht wie eine Spielerei aus, hat aber Bedeutung,« versicherte er »daß wir so jonglieren können. Es beweist, daß an der Bewertung unseres Tuns etwas nicht stimmt. Und es stimmt ja auch nicht: Du selbst wärest in einer Gesellschaft von Testamentfälschern
ganz gewiß für die Unantastbarkeit der rechtlichen Bestimmungen; bloß in einer Gesellschaft von Gerechten verwischt und verkehrt sich das. Ja, du würdest sogar, wenn Hagauer ein Lump wäre, glühend gerecht sein; es ist geradezu
ein Unglück, daß schon er anständig ist! So wird man hin- und hergestoßen!«
Er wartete auf eine Antwort, die nicht kam; so
zuckte er die Achseln und wiederholte: »Wir suchen einen Grund für dich. Wir haben festgestellt, daß sich die honetten Menschen gar zu gern, wenn auch natürlich nur in der Phantasie, auf Verbrechen einlassen. Wir dürfen hinzufügen, daß dafür die Verbrecher, wenn man sie selbst hört, fast ohne Ausnahme als honette Menschen gelten möchten. Also könnte man geradezu definieren: Verbrechen sind die in den Herrn Sündern stattfindende Vereinigung alles dessen, was die andern Menschen in kleinen Unregelmäßigkeiten abströmen lassen. Das heißt in der Phantasie und in
tausend alltäglichen Bosheiten und Lumpereien der Gesinnung. Man könnte auch sagen: die Verbrechen liegen in der Luft und suchen sich bloß einen Weg des geringsten Widerstandes, der sie zu bestimmten Menschen hinführt. Man könnte sogar sagen, sie sind zwar auch die Handlungen von Individuen, die der Moral nicht fähig sind, in der Hauptsache sind sie aber der zusammengezogene Ausdruck irgendeines allgemeinen menschlichen Mißverhaltens in der Scheidung zwischen Gut und Böse. Das ist es, was uns schon von Jugend an mit der Kritik erfüllt hat, über die unsere Zeitgenossenschaft nicht hinausgekommen ist!«
»Aber was ist denn Gut und Bös?« warf Agathe hin, ohne daß Ulrich bemerkte, daß er sie mit seiner Unbefangenheit peinige.
»Ja, das weiß ich doch nicht!« antwortete er lachend. »Ich bemerke doch soeben erst und zum erstenmal, daß ich das Böse verabscheue. Ich habe es wirklich bis heute nicht in dem Maße gewußt. Ach, Agathe, du hast ja keine Ahnung, wie das ist« klagte
er nachdenklich; »zum Beispiel die Wissenschaft! Für einen Mathematiker ist, um es ganz einfach zu sagen, Minus Fünf nicht schlechter als Plus Fünf. Ein
Forscher darf vor nichts Abscheu haben und wird von einem schönen Krebsfall unter Umständen freudiger erregt als von einer schönen Frau. Ein Wissender weiß, daß nichts wahr ist und die ganze Wahrheit erst am Ende aller Tage liegt. Die Wissenschaft ist amoralisch. Dieses ganze herrliche Eindringen ins Unbekannte entwöhnt uns der persönlichen Beschäftigung mit unserem Gewissen, ja es gewährt uns nicht einmal die Genugtuung, sie ganz ernst zu nehmen. Und die Kunst? Bedeutet sie nicht dauernd ein Schaffen von Bildern, die mit dem des Lebens nicht übereinstimmen? Ich rede nicht von dem falschen Idealismus oder von der Üppigkeit des Aktmalens zu Zeiten, wo man bis zur Nasenspitze angezogen lebt« scherzte er nun wieder. »Aber denk an ein wirkliches Kunstwerk: Hast du nie das Gefühl gehabt, daß etwas daran an den brenzlichen Geruch erinnert, der von einem Messer aufsteigt, das du an einem Stein schleifst? Es ist ein kosmischer, meteorischer, gewittriger Geruch, himmlisch unheimlich!?«
Hier war die einzige Stelle, wo ihn Agathe aus eigenem Antrieb unterbrach. »Hast du nicht früher selbst Gedichte gemacht?« fragte sie ihn.
»Das weißt du noch? Wann habe ich dir das einbekannt?« fragte Ulrich. »Ja; wir machen doch alle irgendwann Gedichte. Ich habe es sogar noch als Mathematiker getan« gab er zu. »Aber sie sind, je älter ich wurde, desto schlechter geworden; und ich glaube, nicht so sehr aus Talentlosigkeit wie aus wachsender Abneigung gegen das Unordentliche und zigeunerhaft Romantische dieser Gefühlsabschweifung –«
Seine Schwester schüttelte bloß leise den Kopf, aber Ulrich bemerkte es. »Doch!« beharrte er. »Ein Gedicht soll doch genau so wenig bloß ein Ausnahmezustand sein wie eine Tat der Güte! Aber wo kommt
denn, wenn ich so fragen darf, der Augenblick der Erhebung im nächsten Augenblick hin? Du liebst Gedichte, das weiß ich: aber was ich sagen will, ist, daß man nicht bloß den Feuergeruch in der Nase haben darf, bis er sich verflüchtigt. Dieses unvollständige Verhalten ist genau das Seitenstück zu dem in der Moral, das sich in halbfertiger Kritik erschöpft.« Und plötzlich zur Hauptsache zurückkehrend, entgegnete er seiner Schwester: »Wenn ich mich in dieser Hagauer-Sache so verhielte, wie du es heute von mir erwartest, dann müßte ich doch skeptisch, lässig und ironisch sein. Die sicher sehr tugendhaften Kinder, die du oder ich vielleicht noch haben könnten, werden dann wahrhaftig von uns sagen, daß wir in eine bürgerlich sehr geborgene Zeit gehört haben, die sich keine Sorgen gemacht hat oder höchstens überflüssige. Und wir haben uns mit unserer Überzeugung doch schon soviel Mühe gegeben –!«
Ulrich wollte wahrscheinlich noch vieles sagen; er zögerte ja eigentlich nur mit dem Einsatz, den er für seine Schwester bereit hatte, und es wäre gut gewesen, hätte er ihr das verraten. Denn plötzlich stand sie auf und machte sich unter einem flüchtigen Vorwand zum Ausgehen bereit. »Es bleibt also dabei, daß ich moralisch schwachsinnig bin?« fragte sie mit einem erzwungenen Versuch zu scherzen. »Ich komme mit dem allen, was du dagegen sagst, nicht mehr mit!«
»Wir beide sind moralisch schwachsinnig!« versicherte Ulrich höflich. »Wir beide!« Und er war etwas
verstimmt durch die Eile, mit der ihn seine Schwester verließ, ohne zu sagen, wann sie wiederkäme.
In Wahrheit
war sie davongeeilt, weil sie nicht nochmals ihrem Bruder den Anblick der Tränen darbieten wollte, die sie kaum zurückzudrängen vermochte. Sie war so traurig, wie es ein Mensch ist, der alles verloren hat. Warum, wußte sie nicht. Es war gekommen, während Ulrich sprach. Warum, wußte sie auch nicht. Er hätte etwas anderes tun sollen als sprechen. Was, wußte sie nicht. Er hatte ja recht, wenn er das »dumme Zusammentreffen« ihrer Aufregung mit dem Brief nicht wichtig nahm und weiter so redete, wie er es immer tat. Aber Agathe mußte davonlaufen.
Sie hatte zuerst nur das Bedürfnis zu laufen. Sie lief schnurstracks von ihrer Wohnung fort. War sie von Straßenzügen zum Abbiegen gezwungen, hielt sie die Richtung ein. Sie floh; in der gleichen Art, wie Menschen und Tiere aus einem Unglück flüchten. Warum, fragte sie sich nicht. Erst als sie ermüdete, wurde ihr klar, was sie vorhatte: Nicht mehr zurückkehren!
Sie wollte bis zum Abend gehn. Mit jedem Schritt weiter von Hause fort. Sie setzte voraus, wenn sie an der Schranke des Abends einhielte, würde auch ihr Entschluß fertig sein. Es war der Entschluß, sich zu töten. Es war eigentlich nicht der Entschluß, sich zu töten, sondern die Erwartung, daß er am Abend fertig
sein werde. Ein verzweifeltes Strudeln und Treiben in ihrem Kopf hinter dieser Erwartung. Sie hatte nicht einmal etwas bei sich, sich zu töten. Ihre kleine Giftkapsel lag irgendwo in einer Lade oder in
einem Koffer. Von ihrem Tod war nur das Verlangen fertig, nicht mehr zurückkehren zu müssen. Sie wollte aus dem Leben gehn. Davon war das Gehn da. Sie ging, mit jedem Schritt, gleichsam schon aus dem Leben.
Als sie müde wurde, bekam sie Sehnsucht nach Wiesen und Wald, nach Gehn im Stillen und Freien. Dorthin mußte man aber fahren. Sie nahm eine Straßenbahn. Sie war dazu erzogen, sich vor fremden Menschen zu beherrschen. Man merkte darum ihrer Stimme, als sie den Fahrschein löste und eine Auskunft erbat, keine Erregung an. Sie saß ruhig und aufgerichtet, kein Finger zuckte an ihr. Und während sie so saß, kamen die Gedanken. Es wäre ihr freilich wohler gewesen, wenn sie hätte toben können; bei gefesselten Gliedern blieben diese Gedanken wie große Packen, die sie sich vergeblich durch eine Öffnung zu zwängen mühte. Sie verübelte Ulrich, was er gesagt hatte. Sie wollte es ihm nicht verübeln. Sie sprach sich das Recht dazu ab. Was hatte er denn von ihr?! Sie nahm ihm seine Zeit und gab ihm nichts dafür; sie störte seine Arbeit und seine Lebensgewohnheiten. Bei dem Gedanken an seine Gewohnheiten empfand sie einen Schmerz. Solange sie im Hause war, hatte dieses anscheinend keine andere Frau betreten. Agathe war überzeugt, daß ihr Bruder immer eine Frau besitzen müsse. Er legte sich also ihretwegen Zwang an. Und da sie ihn durch nichts entschädigen konnte, war sie eigensüchtig und schlecht. In diesem Augenblick wäre sie gern umgekehrt und hätte ihn zärtlich um Verzeihung
gebeten. Aber da fiel ihr nun wieder ein, wie kalt er gewesen sei. Offenbar bereute er, sie zu sich genommen zu haben. Was hatte er nicht alles entworfen und gesagt, ehe er ihrer überdrüssig geworden war!
Nun sprach er nicht mehr davon. Die große Ernüchterung, die mit dem Brief gekommen war, marterte wieder Agathes Herz. Sie war eifersüchtig. Sinnlos und gemein eifersüchtig. Sie hätte sich ihrem Bruder aufnötigen mögen und fühlte die leidenschaftliche
und ohnmächtige Freundschaft des Menschen, der sich einer Zurückweisung entgegenwirft. »Ich könnte für ihn stehlen oder auf die Straße gehn!« dachte sie und sah ein, daß dies lächerlich war, konnte aber nicht anders. Ulrichs Gespräche mit ihren Scherzen und ihrer scheinbar unparteiischen Überlegenheit wirkten wie ein Hohn darauf. Sie bewunderte diese Überlegenheit und alle die geistigen Bedürfnisse, die über die ihren hinausgingen. Aber sie sah nicht ein, warum alle Gedanken immer gleich für alle Menschen gelten sollten! Sie verlangte in ihrer Beschämung persönlichen Trost und nicht allgemeine Belehrung! Sie wollte nicht tapfer sein!! Und nach einer Weile warf sie sich vor, daß sie so sei, und vergrößerte ihren Schmerz durch die Einbildung, daß sie nichts Besseres verdiene als Ulrichs Gleichgültigkeit.
Diese Selbstverkleinerung, zu der weder Ulrichs Benehmen noch auch das peinliche Schreiben Hagauers einen ausreichenden Anlaß gegeben hatte, war ein Temperamentsausbruch. Alles, was Agathe bisher in der nicht sehr langen Zeit, seit sie kein Kind mehr war, als ihr Versagen vor den Forderungen des Gemeinschaftslebens empfunden hatte, war dadurch bewirkt worden, daß sie diese Zeit in dem Gefühl verbrachte, ohne oder sogar gegen ihre innigsten
Neigungen zu leben. Es waren Neigungen der Hingabe und des Vertrauens, denn sie war niemals so in der Einsamkeit heimisch geworden wie ihr Bruder; aber wenn es ihr bisher unmöglich gewesen
war, sich einem Menschen oder einer Sache mit ganzer Seele hinzugeben, so kam es dennoch davon, daß sie die Möglichkeit einer größeren Hingabe in sich trug, mochte diese nun die Arme nach der Welt oder nach Gott ausstrecken! Es ist ja ein bekannter Weg zur Hingabe an die ganze Menschheit, daß man sich mit seinen Nachbarn nicht verträgt, und ebenso kann ein verstecktes und inniges Gottesverlangen daraus entstehn, daß ein unsoziales Exemplar mit einer großen Liebe ausgestattet ist: der religiöse Verbrecher in solcher Bedeutung ist kein ärgerer Widersinn als die religiöse alte Person, die keinen Mann gefunden hat, und Agathes Verhalten gegen Hagauer, das die ganz unsinnige Form eines eigennützigen Vorgehens hatte, war ebenso der Ausbruch eines ungeduldigen Willens wie die Heftigkeit, mit der sie sich anklagte, durch ihren Bruder zum Leben erweckt worden zu sein und in ihrer Schwäche es wieder verlieren zu müssen.
Es duldete sie nicht lange in der gemächlich rollenden Bahn; als die Häuser zu seiten des Wegs anfingen niedriger und ländlich zu werden, verließ sie den Wagen und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Die Höfe waren geöffnet, durch Torgänge und über niedere Zäune kam der Blick zu Handwerkern,
Tieren und spielenden Kindern. Die Luft war erfüllt von einem Frieden, in dessen Weite Stimmen
sprachen und Geräte pochten; mit den unregelmäßigen und sanften Bewegungen eines Schmetterlings regten sich diese Laute in der hellen Luft, während sich Agathe wie einen Schatten
daran vorbei zu der nahe ansteigenden Flucht der Weinberge und Wälder gleiten fühlte. Aber einmal blieb sie stehn, vor einem Hof mit Böttchern und dem guten Laut mit Hämmern geklopften Faßholzes. Sie hatte zeitlebens gern einer solchen
guten Arbeit zugesehn und Vergnügen an dem bescheiden sinnvollen und überlegten Werk der Hände empfunden. Auch diesmal konnte sie von dem Takt der Schlägel und den rundum schreitenden Bewegungen der Männer nicht genughaben. Es ließ sie für Augenblicke ihren Kummer vergessen und versenkte sie in eine angenehme und gedankenlose Verbundenheit mit der Welt. Sie empfand immer Bewunderung für Menschen, die so etwas konnten, das mannigfaltig und natürlich aus einem Bedarf hervorging, der allgemein anerkannt war. Nur selbst mochte sie nicht tätig sein, obwohl sie mancherlei geistiges und nützliches Geschick hatte. Das Leben war auch ohne sie vollständig. Und mit einemmal, ehe ihr noch der Zusammenhang klar war, hörte sie Glocken läuten und konnte sich nur mit Mühe hindern, wieder zu weinen. Die kleine Kirche des Vororts hatte wohl schon die ganze Zeit ihre zwei Glocken schallen lassen, aber Agathe beachtete es erst jetzt, und im gleichen Augenblick überwältigte es sie unmittelbar, wie sehr diese nutzlosen Klänge, die, ausgeschlossen von der guten, strotzenden Erde, leidenschaftlich durch die Luft flogen, ihrem eigenen Dasein verwandt seien.
Sie nahm hastig ihren Weg wieder auf, und begleitet von dem Geläute, das sie nun nicht mehr aus den Ohren verlor, kam sie rasch zwischen den letzten Häusern auf die Hügel hinaus, deren Hänge unten von Weinrieden und einzelnen die Pfade säumenden Büschen bestanden waren, während oben
hellgrün der Wald winkte. Sie wußte nun auch, wohin es sie zog, und es war ein schönes Gefühl, als sänke sie mit jedem Schritt tiefer in die Natur. Ihr Herz klopfte vor Entzücken und Anstrengung, wenn sie manchmal anhielt und sich vergewisserte, daß
auch die Glocken sie noch immer begleiteten, obschon hoch in der Luft versteckt und kaum hörbar. Es kam ihr vor, daß sie noch nie so mitten im Alltag Glocken läuten gehört hätte, gleichsam ohne besonderen, festlichen Anlaß und demokratisch eingemengt in die natürlichen und selbstgewissen Geschäfte. Aber von allen Zungen der tausendstimmigen Stadt sprach diese nun als letzte zu ihr, und daran war etwas, das sie packte, als wolle es sie aufheben und den Berg hinanschwingen, aber dann ließ es sie jedesmal doch wieder los und verlor sich in ein kleines metallenes Geräusch, das vor den zirpenden, brummenden oder rauschenden anderen Geräuschen des Landes nichts voraus hatte. So mochte Agathe wohl noch gegen eine Stunde
gestiegen und gewandert sein, als sie sich plötzlich vor jener kleinen Buschwildnis fand, die sie im Gedächtnis getragen hatte. Sie umhegte ein vernachlässigtes Grab am Rand des Waldes, wo sich vor fast hundert Jahren ein Dichter getötet hatte und nach seinem letzten Wunsch auch zur Ruhe gebettet worden war. Ulrich hatte gesagt, daß es kein guter, wenn auch ein gerühmter Dichter gewesen sei, und die immerhin etwas kurzsichtige Poesie, die sich in dem Verlangen ausdrückt, auf einem Aussichtspunkt begraben
zu sein, hatte an ihm einen scharfen Beurteiler gefunden. Aber Agathe liebte die Inschrift auf der großen Steinplatte, seit sie gemeinsam ihre von Regen verwaschenen schönen Biedermeier-Buchstaben auf einem Spaziergang entziffert hatten, und
sie beugte sich über die schwarzen, aus großen kantigen Gliedern bestehenden Ketten, die das Viereck des Todes gegen das Leben umgrenzten.
»Ich war euch nichts« hatte der lebensunzufriedene Dichter auf sein Grab setzen lassen, und Agathe
dachte, das könne man auch von ihr sagen. Dieser Gedanke, am Rand einer Waldkanzel, über den grünenden Weinbergen und der fremden, unermeßlichen Stadt, die in der Vormittagssonne langsam ihre Rauchschweife bewegte, rührte sie von neuem. Sie kniete unversehens nieder und lehnte die Stirn gegen einen der als Kettenträger dienenden Steinpfeiler; die ungewohnte Stellung und die kühle Berührung des Steins täuschten ihr den etwas steifen, willenlosen Frieden des Todes vor, der sie erwartete. Sie versuchte sich zu sammeln. Es gelang ihr aber nicht gleich: Vogellaute drangen in ihr Ohr, es gab so viele verschiedene Vogellaute, daß es sie überraschte; Äste bewegten sich, und da sie den Wind nicht wahrnahm, kam ihr vor, daß die Bäume selbst ihre Äste bewegten; in einer plötzlichen Stille war ein leises Trippeln zu hören; der Stein, den sie ruhend berührte, war so glatt, daß sie das Gefühl hatte, zwischen ihm und ihrer Stirn liege ein Eisstück, das sie nicht ganz heranlasse. Erst nach einer Weile wußte sie, daß sich in dem, was sie ablenkte, gerade das ausdrückte, was sie sich vergegenwärtigen wollte, jenes Grundgefühl ihrer Überflüssigkeit, das, wenn man es aufs einfachste bezeichnete, nur mit den Worten auszusprechen war, das Leben wäre auch ohne sie so vollständig, daß sie darin nichts zu suchen und zu bestellen hätte. Dieses grausame Gefühl war im Grunde weder verzweifelt noch gekränkt, sondern ein Zuhören und Zusehen, wie es Agathe immer gekannt hatte, und bloß ohne jeden
Antrieb, ja ohne die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen. Beinahe lag eine Geborgenheit in dieser Ausgeschlossenheit, so wie es ein Staunen gibt, das alles Fragen vergißt. Sie konnte ebensogut weggehen. Wohin? Irgendein Wohin mußte es wohl geben.
Agathe gehörte nicht zu den Menschen, in denen auch die überzeugte Vorstellung von der Nichtigkeit aller Einbildungen
eine Art Genugtuung zu bewirken vermag, die einer kriegerischen oder hämischen Enthaltsamkeit gleichkommt, mit der man sein unbefriedigendes Los entgegennimmt. Sie war großzügig und unbedenklich in solchen Fragen und nicht so wie Ulrich, der seinen Gefühlen die erdenklichsten Schwierigkeiten bereitete, um sie sich zu verbieten, wenn sie die Probe nicht bestünden. Sie war eben dumm! Ja, das sagte sie sich. Sie wollte nicht nachdenken! Trotzig preßte sie die tiefgesenkte Stirn gegen die eisernen Ketten, die ein wenig nachgaben und dann straff widerstanden. Sie hatte in den letzten Wochen angefangen, irgendwie wieder an Gott zu glauben, aber ohne an ihn zu denken. Gewisse Zustände, in denen ihr immer die Welt anders vorgekommen war, als es den Anschein hat, und so, daß auch sie dann nicht mehr ausgeschlossen lebte, sondern ganz in einer strahlenden Überzeugung, waren durch Ulrich nahe an eine innere Metamorphose und gänzliche Umwandlung gebracht worden. Sie wäre bereit gewesen, sich einen Gott zu denken, der seine Welt öffnet wie ein Versteck. Aber Ulrich sagte, das sei nicht nötig, es schade höchstens, sich mehr einzubilden, als man erfahren könne. Und es war seine Sache, so etwas zu entscheiden. Dann mußte er sie aber auch führen, ohne sie zu verlassen. Er war die Schwelle zwischen zwei Leben, und alle Sehnsucht, die sie nach dem einen der beiden
empfand,
und alle Flucht aus dem anderen führte zuerst zu ihm. Sie liebte ihn in einer so schamlosen Weise, wie man das Leben liebt. Er erwachte des Morgens in allen ihren Gliedern, wenn sie die Augen aufschlug. Er sah sie auch jetzt aus dem dunklen
Spiegel ihres Kummers an: Und da erst erinnerte sich Agathe wieder daran, daß sie sich töten wollte. Sie hatte das Gefühl, daß sie ihm zu Trotz von Hause zu Gott fortgelaufen wäre, als sie es mit dem Vorsatz verließ, sich zu töten. Aber der Vorsatz war wohl nun erschöpft und wieder auf seinen Ursprung zurückgesunken, daß sie von Ulrich gekränkt worden sei. Sie war böse auf ihn, das fühlte sie noch immer, aber die Vögel sangen, und sie hörte es wieder. Sie war genau so verwirrt wie zuvor, aber nun fröhlich verwirrt. Sie wollte irgend etwas tun, aber es sollte Ulrich treffen, und nicht nur sie. Die unendliche Erstarrung, in der sie auf den Knien gelegen hatte, wich der Wärme lebhaft in die Glieder strömenden Blutes, während sie sich aufrichtete.
Als sie aufblickte, stand ein Herr bei ihr. Sie wurde verlegen, denn sie wußte nicht, wie lange er ihr schon zugesehen habe. Als ihr von der Erregung noch dunkler Blick über den seinen glitt, bemerkte sie, daß er sie mit unverhüllter Anteilnahme betrachtete und ihr augenscheinlich herzliches Vertrauen einflößen wollte: Der Herr war groß und mager, trug dunkle Kleidung, und ein kurzer blonder Bart verdeckte Kinn und Wangen. Unter diesem Bart konnte man leicht aufgeworfene, weiche Lippen gewahren, die in so merkwürdig
jugendlichem Gegensatz zu den allenthalben sich schon in das Blond mengenden grauen Haaren standen, als hätte sie das Alter unter dem Haarwuchs übersehen. Überhaupt war dieses Gesicht nicht ganz einfach
zu entziffern. Der erste Eindruck machte an einen Mittelschullehrer denken; das Strenge in diesem Gesicht war nicht aus hartem Holz geschnitzt, sondern glich eher etwas Weichem, das sich unter täglichem kleinen Ärger verhärtet hatte. Ging man aber von dieser Weichheit aus, auf
der der Mannesbart wie eingepflanzt wirkte, um einer Ordnung zu genügen, der sein Besitzer beipflichtete, so bemerkte man doch in dieser ursprünglich wohl weibischen Anlage harte, fast asketische Einzelheiten der Form, die offenbar ein unablässig tätiger Wille aus dem weichen Material geschaffen hatte.
Agathe wurde aus dem Anblick nicht klug, auch Anziehung und Abstoßung hielten sich in ihr die Wage, und sie verstand nur, daß dieser Mann ihr helfen wollte.
»Das Leben bietet ebensoviel Gelegenheit zur Kräftigung des Willens wie zu seiner Schwächung; man soll niemals fliehn vor den Schwierigkeiten, sondern soll sie zu beherrschen suchen!« sagte der Fremde und wischte, um besser zu sehen, die Augengläser ab, die sich beschlagen hatten. Agathe blickte ihn staunend an. Er mußte ihr offenbar doch schon lange zugesehen haben, denn diese Worte kamen ganz aus der Mitte eines inneren Gesprächs. Da erschrak er und lüftete den Hut, um diese Handlung nachzuholen, die man nicht vergessen darf; aber er fand sich rasch wieder und ging von neuem gerade vor. »Verzeihn Sie, wenn ich Sie frage, ob ich Ihnen helfen kann?« – sagte er – »Es kommt mir vor, daß man einen Schmerz, wahrhaftig oft selbst eine tiefe Erschütterung des Ich, wie ich sie hier sehe, leichter einem Fremden anvertraut!«
Es zeigte sich, daß der Fremde nicht ohne Anstrengung sprach; er schien eine charitative Pflicht
erfüllt zu haben, indem er sich mit dieser schönen Frau einließ, und jetzt, wo sie nebeneinander dahinschritten, kämpfte er geradezu mit den Worten. Denn Agathe war einfach aufgestanden und hatte angefangen, langsam in seiner Gesellschaft von dem Grab
fortzugehn, aus den Bäumen hinaus ins Freie an den Rand der Hügel, ohne daß sie sich entschieden, ob sie nun auch einen der in die Tiefe führenden Wege und welchen dieser Abstiege sie wählen wollten. Sie gingen vielmehr im Gespräch ein großes Stück Wegs die Höhe entlang, dann kehrten sie um und dann gingen sie noch einmal in der ersten Richtung; keiner wußte, wohin der andere gewollt habe, und mochte doch darauf Rücksicht nehmen. »Wollen Sie mir nicht sagen, warum Sie geweint haben?« wiederholte der Fremde mit der milden Stimme des Arztes, der fragt, wo es weh tue. Agathe schüttelte den Kopf. »Das könnte ich Ihnen nicht leicht erklären« sagte sie und
bat ihn plötzlich: »Aber beantworten Sie mir eine andere Frage: Was gibt Ihnen die Gewißheit, daß Sie mir helfen können, ohne mich zu kennen? Ich sollte eher glauben, man kann niemand helfen!«
Ihr Begleiter antwortete nicht gleich. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, aber es schien, daß er sich zwang zu warten. Endlich sagte er: »Man kann wahrscheinlich nur jemand helfen, dessen Leid man selbst einmal durchlebt hat.«
Er schwieg. Agathe lachte über den Einfall, daß dieser Mann ihr Leid durchlebt haben wolle, das ihm Abscheu einflößen müßte, wenn er es kennte. Ihr Begleiter schien dieses Lachen zu überhören oder für eine Ungezogenheit der Nerven zu halten. Er überlegte und sagte ruhig: »Ich meine natürlich nicht, daß man sich einbilden dürfe, jemand zeigen
zu können, wie er es zu machen habe. Aber sehen Sie: Angst in einer Katastrophe steckt an, und – Entronnensein steckt auch an! Ich meine das bloße Entronnensein wie bei einem Brand. Alle sind kopflos geworden und rennen in die Flammen: Welche ungeheure Hilfe, wenn ein einziger draußen steht und winkt, nichts
tut als winken und ihnen unverständlich zuschrein, daß es einen Ausweg gibt...!«
Agathe hätte über die schrecklichen Vorstellungen, die dieser gütige Mann doch in sich beherberge, beinahe wieder gelacht; aber gerade weil sie nicht mit ihm übereinstimmten, arbeitete
sie sein wachsweiches Gesicht fast unheimlich hervor. – »Sie sprechen ja wie ein Feuerwehrmann!« gab sie zur Antwort und ahmte mit Absicht die Neckerei und Oberflächlichkeit einer Dame nach, um ihre Neugierde zu verbergen. »Aber irgendeine Vorstellung davon, in welcher Katastrophe ich mich befinde, müssen Sie sich wohl doch gemacht haben?!« – Ohne ihren Willen kam dabei der Ernst des Spottes durch, denn die schlichte Vorstellung, daß dieser Mann ihr helfen wolle, empörte sie durch die ebenso schlichte Dankbarkeit dafür, die sich in ihr meldete. Der Fremde sah sie erstaunt an, dann sammelte er sich und entgegnete ihr fast zurechtweisend: »Sie sind wahrscheinlich noch zu jung, um zu wissen, daß unser Leben sehr einfach ist. Es ist unüberwindlich verworren nur dann, wenn man an sich denkt; aber in dem Augenblick, wo man nicht an sich denkt, sondern sich fragt, wie man einem andern helfen könne, ist es sehr einfach!«
Agathe schwieg und dachte nach. Und machte es ihr Schweigen oder die ermutigende Weite, in die seine Worte hinausflogen, der Fremde sprach weiter, ohne sie anzusehen: »Die Überschätzung
des Persönlichen ist ein moderner Aberglaube. Es wird ja heute so viel von Kultur der Persönlichkeit geredet, von Ausleben und Lebensbejahung. Aber durch solche unklaren und vieldeutigen Worte verraten ihre Bekenner nur, daß sie Nebel brauchen, um den eigentlichen Sinn ihrer Auflehnung zu verhüllen! Was soll denn bejaht werden? Alles mit
einander und
durcheinander? Entwicklung ist immer an Gegendruck gebunden, hat ein amerikanischer Denker gesagt. Wir können die eine Seite unserer Natur gar nicht entwickeln, ohne die andere im Wachstum zurückzuhalten. Und was soll denn ausgelebt werden? Der Geist oder die Triebe? Die Launen oder der Charakter? Die Selbstsucht oder die Liebe? Soll unsere höhere Natur sich ausleben, so muß die niedere Entsagung und Gehorsam lernen.«
Agathe dachte darüber nach, warum es einfacher sein solle, für andere zu sorgen als für sich. Sie gehörte zu jenen ganz und gar nicht egoistischen Naturen, die wohl stets an sich denken, aber nicht für sich sorgen, und das ist von der gewöhnlichen, um Vorteile besorgten Selbstsucht viel weiter entfernt als die zufriedene Selbstlosigkeit derer, die sich um ihre Mitmenschen sorgen. So blieb ihr das, was ihr Nachbar sagte, schon an der Wurzel fremd, aber irgendwie berührte es sie doch, und die einzelnen Worte, so energisch angepackt, bewegten sich beunruhigend vor ihr, als wäre ihre Bedeutung mehr in der Luft zu sehen denn zu hören. Es kam dazu, daß sie einen Rain entlang gingen, der Agathe einen wundervollen Blick auf das tief gewölbte Tal öffnete, während diese Lage ihren Begleiter offensichtlich wie eine Kirchenkanzel oder ein Katheder anmutete. Sie blieb stehen und zog mit ihrem Hut, den sie all die Zeit nachlässig in der Hand geschwenkt
hatte, einen Strich durch die Rede des Unbekannten. »Sie haben sich« sagte sie »also doch ein Bild von mir gemacht: ich sehe es durchleuchten, und es ist nicht schmeichelhaft!«
Der lange Herr erschrak, denn er hatte sie nicht kränken wollen, und Agathe sah ihn freundlich lachend an. »Sie scheinen mich mit dem Recht der
freien Persönlichkeit zu verwechseln. Und noch dazu mit einer etwas nervösen und recht unangenehmen Persönlichkeit!« behauptete sie.
»Ich habe nur von der Grundbedingung des persönlichen Lebens gesprochen,« – entschuldigte er sich – »und ich hatte allerdings nach der Lage, in der ich Sie antraf, das Gefühl, daß Ihnen vielleicht mit einem Rat gedient sein könnte. Die Grundbedingung des Lebens wird heute vielfach verkannt. Die ganze moderne Nervosität mit allen ihren Ausschreitungen kommt nur von einer schlaffen inneren Atmosphäre, in der der Wille fehlt, denn ohne eine besondere Anstrengung seines Willens gewinnt niemand jene Einheit und Stetigkeit, die ihn über den dunklen Wirrwarr des Organismus hinaushebt!«
Wieder kamen da zwei Worte, Einheit und Stetigkeit, vor, die wie eine Erinnerung an Sehnsucht und Selbstvorwürfe Agathens waren. »Erklären Sie mir, was Sie darunter verstehen« – bat sie. »Einen Willen kann es doch eigentlich nur geben, wenn man schon ein Ziel hat?!«
»Es kommt nicht darauf an, was ich verstehe!« bekam sie in einem
Ton zur Antwort, der ebenso mild wie schroff war. »Sagen denn nicht schon die großen Urkunden der Menschheit in unübertrefflicher Klarheit, was wir zu tun und zu lassen haben?« – Agathe war verblüfft. »Zur Aufstellung von grundlegenden
Lebensidealen« erläuterte ihr Begleiter »gehört eine so durchdringende Lebens- und Menschenkenntnis und zugleich eine so heroische Überwindung der Leidenschaften und der Selbstsucht, wie das im Lauf der Jahrtausende nur ganz wenigen Persönlichkeiten beschieden war. Und diese Lehrer der Menschheit haben zu allen Zeiten die gleiche Wahrheit bekannt.«
Agathe setzte sich unwillkürlich zur Wehr, wie es jeder Mensch tut, der sein junges Fleisch und Blut für besser hält als die Gebeine toter Weiser. »Aber Menschengesetze, die vor tausenden Jahren entstanden sind, können doch unmöglich auf die heutigen Verhältnisse passen!« rief sie aus.
»Nicht entfernt so sehr, wie das von Skeptikern behauptet wird, die von der lebendigen Erfahrung und Selbsterkenntnis losgelöst sind!« erwiderte ihr Zufallsgefährte mit bitterer Befriedigung. »Tiefe Lebenswahrheit wird nicht durch Debattieren vermittelt, – sagt schon Platon; der Mensch vernimmt sie als lebendige Deutung und Erfüllung seiner selbst! Glauben Sie mir, was den Menschen wahrhaft frei macht, und was ihm die Freiheit nimmt, was ihm wahre Seligkeit gibt und was sie vernichtet: das unterliegt nicht dem Fortschritt, das weiß jeder aufrichtig lebende Mensch ganz genau im Herzen, wenn er nur hinhorcht!«
Das Wort »lebendige Deutung« gefiel Agathe, aber es war ihr ein unerwarteter Einfall gekommen: »Sind Sie vielleicht religiös?« fragte sie. Sie sah ihren Begleiter neugierig an. Er antwortete nicht. »Sie sind doch am Ende kein Geistlicher?!« wiederholte sie und beruhigte sich an seinem Bart, weil ihr plötzlich die übrige Erscheinung einer solchen Überraschung fähig zu sein schien. Man muß ihr zugutehalten,
daß sie nicht erstaunter gewesen wäre, wenn der Fremde nebenbei im Gespräch gesagt hätte: ›Unser erlauchter Herrscher, der Göttliche Augustus‹: sie wußte zwar, daß in der Politik die Religion eine große Rolle spiele, aber man ist so gewohnt, die der Öffentlichkeit dienenden Ideen nicht ernst zu nehmen, daß die Vermutung, die Parteien des Glaubens bestünden aus gläubigen Menschen, leicht so übertrieben erscheinen
kann wie die Forderung, ein Postsekretär müsse ein Markenliebhaber sein.
Nach einer langen, irgendwie schwankenden Pause entgegnete der Fremde: »Ich möchte Ihre Frage lieber nicht beantworten; Sie sind zu weit von alledem entfernt.«
Aber Agathe war von einer lebhaften Begierde ergriffen worden. »Ich möchte jetzt wissen, wer Sie sind!?« verlangte sie zu erfahren, und das war nun freilich ein weibliches Vorrecht, dem man sich
schlechterdings nicht widersetzen konnte. Wieder war die gleiche, etwas lächerliche Unsicherheit an dem Fremden zu bemerken wie vorhin, als er den Gruß mit dem Hut nachgetragen hatte; es schien ihn im Arm zu jucken, daß er seine Kopfbedeckung abermals förmlich lüpfe, dann aber versteifte sich etwas, eine Gedankenarmee schien einer anderen eine Schlacht zu liefern und schließlich zu siegen, statt daß eine spielleichte Sache spielend geschah. »Ich heiße Lindner und bin Lehrer am Franz-Ferdinand-Gymnasium« gab er zur Antwort und fügte nach einer kleinen Überlegung hinzu: »Auch Dozent an der Universität.«
»Dann kennen Sie ja vielleicht meinen Bruder?« fragte Agathe erfreut und nannte ihm Ulrichs Namen. »Er hat, wenn ich nicht irre, in der Pädagogischen
Gesellschaft vor nicht langer Zeit über Mathematik und Humanität oder etwas Ähnliches gesprochen.«
»Nur dem Namen nach. Und ja, dem Vortrag habe ich beigewohnt« gestand Lindner zu. Es schien Agathe, daß in dieser Antwort eine Ablehnung liege, aber sie vergaß es über dem Folgenden:
»Ihr Herr Vater war der bekannte Rechtsgelehrte?« fragte Lindner.
»Ja, er ist vor kurzem gestorben, und ich wohne jetzt bei meinem Bruder« sagte Agathe frei. »Wollen Sie uns nicht einmal besuchen?«
»Ich habe leider keine Zeit für gesellschaftlichen Umgang« erwiderte Lindner mit Schroffheit und unsicher niedergeschlagenen Augen.
»Dann dürfen Sie aber nichts dagegen haben,« fuhr Agathe fort, ohne sich um sein Widerstreben zu kümmern »wenn ich einmal zu Ihnen komme: ich brauche Rat!« – Er sprach sie noch immer als Fräulein an: »Ich bin Frau« setzte sie hinzu »und heiße Hagauer.«
»Dann sind Sie am Ende« – rief Lindner aus – »die Gattin des verdienstvollen Schulmannes Professor Hagauer?« – Er hatte den Satz mit einem hellen Entzücken begonnen und dämpfte ihn gegen Ende zögernd ab. Denn Hagauer war zweierlei: er war Schulmann, und er war ein fortschrittlicher Schulmann; Lindner war ihm eigentlich feindlich gesinnt, aber wie erquickend ist es, wenn man in den unsicheren Nebeln einer weiblichen Psyche, die soeben den unmöglichen Einfall hatte, in die Wohnung eines Mannes zu kommen, einen solchen vertrauten Feind entdeckt: der Abfall von der zweiten zur ersten Empfindung war es, was sich im Ton seiner Frage wiederholte.
Agathe hatte es bemerkt. Sie wußte nicht, ob sie
Lindner mitteilen solle, in welchem Zustand sich ihre Beziehung zu ihrem Gatten befinde. Es konnte zwischen ihr und diesem neuen Freund augenblicklich alles zu Ende sein, wenn sie es ihm sagte: diesen Eindruck hatte sie sehr deutlich. Und es hätte ihr leid getan; denn gerade weil Lindner durch mancherlei ihre Spottlust reizte, flößte er ihr auch Vertrauen ein. Der glaubwürdig durch seine Erscheinung
unterstützte Eindruck, daß dieser Mann nichts für sich selbst zu wollen schien, zwang sie
eigentümlich zur Aufrichtigkeit: er machte alles Verlangen still, und da kam die Aufrichtigkeit ganz von selbst empor. »Ich bin im Begriff, mich scheiden zu lassen!« gestand sie schließlich zu.
Es folgte ein Schweigen; Lindner machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Agathe fand ihn nun doch allzu jämmerlich. Endlich sagte Lindner gekränkt lächelnd: »Dachte ich mir doch gleich etwas Ähnliches, als ich Sie antraf!«
»Sie sind also am Ende auch ein Gegner der Scheidung?!« rief Agathe aus und ließ ihren Ärger frei. »Natürlich, Sie müssen es ja wohl sein! Aber wissen Sie, das ist wirklich etwas rückständig von Ihnen!«
»Ich kann es wenigstens nicht so selbstverständlich finden wie Sie« – verteidigte sich Lindner nachdenklich, nahm seine Brille ab, putzte sie, setzte sie wieder auf und betrachtete Agathe. »Ich glaube, Sie haben zu wenig Willen« stellte er fest.
»Wille? Ich habe eben den Willen, mich scheiden zu lassen!« rief Agathe aus und wußte, daß es keine verständige Antwort war.
»Nicht so ist das zu verstehn« verwies es ihr Lindner sanft. »Ich will ja gerne annehmen, daß Sie triftige Gründe haben. Aber ich denke nun einmal anders:
Freie Sitten, wie man sie sich heute gewährt, kommen im Gebrauch doch immer nur auf ein Zeichen dafür hinaus, daß ein Individuum unbeweglich angeschmiedet liegt an sein Ich und nicht fähig ist, von größeren Horizonten aus zu leben und zu handeln. Die Herren Dichter,« – fügte er eifersüchtig hinzu, mit einem Versuch, über Agathes inbrünstige Wallfahrt zu scherzen, der in seinem Munde recht säuerlich wurde – »die dem Sinn der jungen Damen
schmeicheln und dafür von ihnen überschätzt werden, haben es natürlich leichter als ich, wenn ich Ihnen sage, daß die Ehe eine Einrichtung der Verantwortlichkeit und der Herrschaft des Menschen über die Leidenschaften ist! Aber bevor sich ein einzelner von den äußeren Schutzmitteln losspricht, welche die Menschheit in richtiger Selbsterkenntnis gegen ihre eigene Unzuverlässigkeit aufgerichtet hat, sollte er sich wohl sagen, daß Isolierung und Bruch des Gehorsams gegen das höhere Ganze schlimmere Schäden sind als die Enttäuschungen des Leibes, vor denen wir uns so sehr fürchten!«
»Das klingt wie ein Kriegsreglement für Erzengel,« sagte Agathe »aber ich sehe nicht ein, daß Sie recht haben. Ich werde Sie ein Stück begleiten. Sie müssen mir erklären, wie man so denken kann. Wohin gehen Sie jetzt?«
»Ich muß nach Hause gehn« antwortete Lindner.
»Würde denn Ihre Frau etwas dagegen haben, wenn ich Sie nach Hause begleite? Wir können in der Stadt unten einen Wagen nehmen. Ich habe noch Zeit!«
»Es kommt mein Sohn aus der Schule heim« sagte Lindner mit
abwehrender Würde. »Wir essen stets pünktlich; darum muß ich zu Hause sein. Meine Frau ist übrigens schon vor einigen Jahren plötzlich
gestorben« verbesserte er Agathes fehlerhafte Annahme, und mit einem Blick auf die Uhr fügte er ängstlich und ärgerlich hinzu: »Ich muß mich beeilen!«
»So müssen Sie mir das ein andermal erklären, es ist mir wichtig!« beteuerte Agathe lebhaft. »Wenn Sie nicht zu uns kommen wollen, so kann ich doch Sie aufsuchen.«
Lindner schnappte nach Luft, aber es wurde nichts daraus. Endlich sagte er: »Aber Sie als Frau können mich doch nicht besuchen!«
»Doch!« versicherte Agathe. »Sie werden sehn, eines Tags bin ich da. Ich weiß noch nicht wann. Und es ist gewiß nichts Schlimmes!« Damit verabschiedete sie ihn und schlug einen Weg ein, der sich von dem seinen trennte.
»Sie haben keinen Willen!« sagte sie halblaut und versuchte Lindner nachzuahmen, aber das Wort Wille war dabei frisch und kühl im Munde. Gefühle wie Stolz, Härte, Zuversicht waren damit verbunden; eine stolze Tonart des Herzens: der Mann hatte ihr wohlgetan.
Indes sich Ulrich
allein zu Hause befand, fragte das Kriegsministerium an, ob ihn der Herr Leiter des Militär-Erziehungs- und Bildungswesens persönlich sprechen könnte, wenn er in einer halben Stunde zu ihm käme, und fünfunddreißig Minuten später schäumte das Dienstgespann des Generals von Stumm die kleine Rampe herauf.
»Eine schöne Geschichte!« rief der General seinem Freund entgegen, dem es gleich auffiel, daß die Ordonnanz mit dem Brot des Geistes diesmal fehlte. Der General war in Waffenrock und hatte sogar die Orden angelegt. »Du hast mir eine schöne Geschichte eingebrockt!« wiederholte er. »Heute abend
ist bei deiner Kusine große Sitzung. Ich habe noch nicht einmal meinem Chef darüber Vortrag halten können. Und da platzt jetzt die Nachricht, daß wir ins Narrenhaus sollen; spätestens in einer Stunde müssen wir dort sein!«
»Aber warum denn?!«
fragte Ulrich, wie es nahelag. »Gewöhnlich überläßt man das doch einer Vereinbarung!?«
»Frag nicht so viel!« flehte ihn der General an. »Telefonier lieber augenblicklich deiner Freundin oder Kusine oder was sie ist, daß wir sie abholen müssen!«
Während Ulrich nun den Krämer anrief, bei dem Clarisse ihre kleinen
Einkäufe zu besorgen pflegte, und darauf wartete, daß sie an den Fernsprecher käme, erfuhr er das Unglück, das der General beklagte. Dieser hatte sich, um Clarissens durch Ulrich vermitteltem Wunsch zu willfahren, an den Chef des Militärärztlichen Dienstes gewendet, der sich wieder mit seinem berühmten Zivilkollegen, dem Vorstand der Universitätsklinik, in Verbindung gesetzt hatte, wo Moosbrugger einem Obergutachten entgegenharrte. Durch ein Mißverständnis der beiden Herren war dabei aber auch gleich Tag und Stunde verabredet worden, und Stumm hatte das mit vielen Entschuldigungen erst im letzten Augenblick erfahren, zugleich mit dem Irrtum, daß er selbst dem berühmten Psychiater angekündigt worden sei, der seinem Besuch mit großem Vergnügen entgegensehe.
»Mir ist übel!« erklärte er. Das war eine alte und eingebürgerte Formel dafür, daß er sich einen Schnaps wünsche.
Als er diesen getrunken hatte, ließ die Spannung seiner Nerven nach. »Was geht mich ein Narrenhaus an? Nur deinethalben muß ich hin!« klagte er. »Was soll ich überhaupt diesem blöden Professor sagen, wenn er mich fragt, warum ich mitgekommen bin?«
In diesem Augenblick ertönte am anderen Ende der Fernsprechleitung ein jubelnder Kriegsschrei.
»Schön!« sagte der General verdrießlich. »Aber ich
muß außerdem dringend mit dir über heute abend reden. Und ich muß dem Exzellenz noch darüber Vortrag halten. Und um vier geht er weg!« Er sah nach seiner Uhr und rührte sich nicht vom Stuhl vor Hoffnungslosigkeit.
»Also ich bin ja fertig!« erklärte Ulrich.
»Deine Gnädige kommt nicht mit?« fragte Stumm erstaunt.
»Meine Schwester ist nicht zu Hause.«
»Schade!« bedauerte der General. »Deine Schwester ist die bewundernswerteste Frau, die ich je gesehen habe!«
»Ich dachte, das sei Diotima?« meinte Ulrich.
»Auch« erwiderte Stumm.
»Auch sie ist bewundernswert. Aber seit sie sich der Sexualwissenschaft ergibt, komme ich mir wie ein Schulbub vor. Ich blicke ja gern zu ihr auf; denn, mein Gott, der Krieg ist, wie ich immer sag, ein einfaches und rauhes Handwerk; aber gerade auf sexuellem Gebiet widerstrebt es sozusagen der Offiziersehre, sich als Laie behandeln zu lassen!«
Sie hatten indessen doch den Wagen bestiegen und waren im schärfsten Trab davongefahren.
»Ist deine Freundin wenigstens hübsch?« erkundigte sich Stumm mißtrauisch.
»Eigenartig ist sie, du wirst ja sehen« erwiderte Ulrich.
»Also heute abend« seufzte der General »beginnt etwas. Ich erwarte ein Ereignis.«
»Das hast du noch jedesmal gesagt, wenn du zu mir gekommen bist« verwahrte sich Ulrich lächelnd.
»Kann schon sein, aber trotzdem ist es wahr. Und heute abend wirst du Zeuge der Entrevue zwischen deiner Kusine und der Professor Drangsal sein. Du hast doch hoffentlich nicht alles vergessen, was ich
dir schon darüber gesagt hab? Also die Drangsal – so nennen wir sie nämlich, deine Kusine und ich – die Drangsal also hat deine Kusine so lang drangsaliert, bis es dazu gekommen ist; alle Leut hat sie haranguiert, heute sollen sich die zwei aussprechen. Wir haben bloß noch auf den Arnheim gewartet, damit er sich auch ein Urteil bilden kann.«
»So?« Das hatte Ulrich auch nicht gewußt, daß Arnheim, den er lange nicht gesehen hatte, zurückgekommen sei.
»Aber natürlich. Für ein paar Tage« erläuterte Stumm. »Da haben wir die Sache in die Hand nehmen müssen –« Plötzlich unterbrach er sich und prallte aus den schwankenden Polstern mit einer Geschwindigkeit gegen den Kutschbock, die ihm niemand zugetraut hätte: »Sie Trottel,« brüllte er gemessen ins Ohr der Ordonnanz, die als Zivilfuhrmann verkleidet die ministeriellen Pferde lenkte, und klammerte sich, hilflos gegen die Schwankungen des Wagens, an den Rücken des Beschimpften. »Sie fahren ja einen Umweg!« Der Soldat in Zivil hielt den Rücken steif wie ein Brett, empfindungslos
gegen die außerdienstlichen Rettungsversuche, die der General daran anstellte, warf den Kopf genau um neunzig Grade herum, so daß er weder seinen General, noch seine Pferde sehen konnte, und meldete stolz einer ins Leere endenden Senkrechten, daß der nächste Weg wegen Straßenarbeiten auf dieser Strecke nicht zu befahren sei, aber bald wieder erreicht sein werde. »Na also, da habe ich doch recht!« rief Stumm zurückfallend aus, teils vor der Ordonnanz, teils vor Ulrich den vergeblichen Ausbruch seiner Ungeduld beschönigend: »Da muß der Kerl einen Umweg fahren, und ich soll doch meinem Exzellenz heute noch Vortrag halten, der um vier Uhr
nach Haus will und selbst noch vorher dem Minister einen Vortrag halten muß!... Seine Exzellenz, der Minister, hat sich nämlich für heute abend persönlich bei Tuzzis angesagt!« fügte er, ausschließlich für Ulrichs Ohren, leiser hinzu.
»Was du nicht sagst?!« Ulrich zeigte sich von dieser Nachricht überrascht.
»Ich sag dir ja schon lang, es liegt was in der Luft.«
Jetzt wollte Ulrich doch wissen, was in der Luft liege. »So sag schon, was der Minister will?!« forderte er.
»Das weiß er doch selbst nicht« erwiderte Stumm. »Seine Exzellenz hat das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Der alte Leinsdorf hat auch das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Der Chef des
Generalstabs hat ebenfalls das Gefühl: jetzt ist es an der Zeit. Wenn viele das haben, dann kann schon etwas Wahres daran sein.«
»Aber wozu an der Zeit?« forschte Ulrich weiter.
»Das braucht man deshalb noch nicht zu wissen!« belehrte ihn der General. »Das sind eben so absolute
Eindrücke! Wie viele werden wir übrigens heute sein?« fragte nun er, sei es zerstreut, sei es nachdenklich.
»Wie kannst du das mich fragen?« erwiderte Ulrich erstaunt.
»Ich hab jetzt gemeint,« erklärte Stumm »wieviel wir sein werden, die ins Narrenhaus gehn? Entschuldige! Komisch was, so ein Mißverständnis? Es gibt halt Tage, wo zu viel auf einen eindringt! Also wieviel werden wir sein?«
»Ich weiß nicht, wer mitkommt; je nachdem drei bis sechs Leute.«
»Ich hab nämlich sagen wollen,« äußerte der
General bedenklich »wenn wir mehr als drei sind, müssen wir einen zweiten Wagen nehmen. Du verstehst, weil ich in Uniform bin.«
»Ja, natürlich« beruhigte ihn Ulrich.
»Da darf ich nicht wie in einer Sardinenbüchse fahren.«
»Gewiß. Aber sag, wie kommst du auf die absoluten Eindrücke?«
»Aber werden wir denn da draußen auch einen Wagen bekommen?« grübelte Stumm. »Da sagen sich doch die Füchs gute Nacht!?«
»Wir werden unterwegs einen mitnehmen« erwiderte Ulrich entschieden. »Und jetzt erklär mir, bitte, wieso ihr den absoluten Eindruck habt, daß jetzt etwas an der Zeit sei?«
»Da ist gar nichts zu erklären« entgegnete Stumm. »Wenn ich von etwas sag, daß es absolut so und nicht anders sein muß, dann heißt das doch gerade, daß ich es nicht erklären kann! Man könnte höchstens hinzufügen, daß die Drangsal so eine Art Pazifistin ist, wahrscheinlich, weil der Feuermaul, den sie lanciert,
Gedichte darüber macht,
daß der Mensch gut ist. Daran glauben jetzt viele.«
Ulrich wollte ihm nicht traun. »Du hast mir doch erst unlängst das Gegenteil erzählt: daß man in der Aktion jetzt für eine Tat ist, für die starke Hand und ähnliches!«
»Auch« gab der General zu. »Und einflußreiche Kreise setzen sich halt für die Drangsal ein; so etwas versteht sie ja ausgezeichnet. Man verlangt von der Vaterländischen Aktion eine Handlung der menschlichen Güte.«
»So?« sagte Ulrich.
»Ja. Du kümmerst dich eben auch um gar nichts mehr! Anderen Leuten macht das Sorgen. Ich
erinnere dich zum Beispiel daran, daß der deutsche Bruderkrieg von Sechsundsechzig daraus entstanden ist, daß sich alle Deutschen im Frankfurter Parlament als Brüder erklärt haben. Natürlich will ich damit nicht im geringsten gesagt haben, daß vielleicht der Kriegsminister oder der Generalstabschef diese Sorgen
hat; das wäre ein Unsinn von mir. Aber es kommt halt so eins zum andern: So ist es! Verstehst du mich?«
Das war nicht klar, aber es war richtig. Und dem fügte der General etwas sehr Weises hinzu. »Schau, du verlangst immer Klarheit« hielt er seinem Nachbarn vor. »Ich bewundere dich ja dafür, aber du mußt auch einmal geschichtlich denken: Wie sollen denn die an einem Ereignis unmittelbar Beteiligten im voraus wissen, ob es ein großes wird? Doch höchstens, weil sie sich einbilden, daß es eines ist! Wenn ich also paradox sein darf, möchte ich behaupten, daß die Weltgeschichte früher geschrieben wird, als sie geschieht; sie ist zuerst immer so eine Art Tratsch. Und da stehen die energischen
Menschen eben vor einer sehr schwierigen Aufgabe.«
»Da hast du recht« lobte Ulrich. »Und jetzt erzähl mir doch alles!«
Aber der General wurde, obwohl er selbst davon zu sprechen wünschte, in diesen überlasteten Augenblicken, als die Pferdehufe schon weichen Straßengrund zu treten begannen, plötzlich wieder von anderen Sorgen ergriffen: »Ich bin doch für den Minister, falls er mich rufen läßt, schon angezogen wie ein Christbaum« rief er aus und unterstrich es, indem er auf seinen hellblauen Waffenrock und die daran hängenden Orden hinwies: »Meinst du nicht, daß es zu peinlichen Zwischenfällen führen kann, wenn ich mich so in Uniform den Narren zeige? Was mach
ich zum Beispiel, wenn einer meinen Rock beleidigt? Da kann ich doch nicht den Säbel ziehn, und zu schweigen, ist für mich auch höchst gefährlich!?«
Ulrich beruhigte seinen Freund, indem er ihm in Aussicht stellte, daß er über der Uniform einen weißen Arztkittel tragen werde; aber ehe sich Stumm noch von dieser Lösung zufriedengestellt erklärt hatte, begegnete ihnen Clarisse in großer Sommerkleidung, die ihnen, von Siegmund begleitet, ungeduldig auf dem Fahrweg entgegenkam. Sie erzählte Ulrich, daß sich Walter und Meingast geweigert hätten mitzukommen. Und nachdem auch ein zweiter Wagen aufgetrieben war, sagte der General zufrieden zu Clarisse: »Gnädige haben, wie Sie da den Weg herabgekommen sind, ausgesehen wie ein Engerl!«
Clarisse
drehte ihre Handschuhe zwischen den Fingern, sah an den Fenstern empor und stand keinen Augenblick still, während Ulrich
den Mietwagen bezahlte. Stumm von Bordwehr wollte nicht zulassen, daß Ulrich das tue, und der Kutscher saß wartend am Bock und lächelte geschmeichelt, während die beiden Herren einander aufhielten. Siegmund bürstete wie gewöhnlich mit den Fingerspitzen ein Stäubchen vom Rock oder starrte ins Leere. Leise sagte der General zu Ulrich: »Eine sonderbare Frau ist deine Freundin. Sie hat mir auf der Fahrt
auseinandergesetzt, was Wille ist. Ich habe kein Wort verstanden!«
»So ist sie« sagte Ulrich.
»Hübsch ist sie« flüsterte der General. »Wie ein vierzehnjähriges Ballettmäderl. Aber warum sagt sie, daß wir hierhergefahren sind, um uns unserem ›Wahn‹ zu überlassen? Die Welt ist zu ›wahnfrei‹, sagt sie? Weißt du darüber etwas Näheres? Es war so peinlich, ich hab ihr eigentlich nicht ein Wort erwidern können.«
Der General verzögerte ersichtlich die Verabschiedung der Fuhrwerke nur deshalb, weil er diese Fragen stellen wollte; aber ehe Ulrich eine Antwort gab, wurde er ihrer durch einen Abgesandten enthoben, der die Angekommenen im Namen des Chefs der Klinik begrüßte und, seinen Herrn bei General von Stumm mit dringender Arbeit für eine kleine Weile entschuldigend, die Gesellschaft in einen Warteraum hinaufführte. Clarisse ließ keinen Stein der Treppe und der Gänge außer Augen, und auch in
dem kleinen Empfangszimmer, das mit seinen Stühlen aus verschossenem grünen Samt an die altmodischen Wartesäle erster Klasse auf Eisenbahnhöfen
erinnerte, war ihr Blick fast die ganze Zeit über in langsamer Bewegung. Da saßen die vier, nachdem sie der Abgesandte verlassen hatte, und sprachen anfangs kein Wort, bis Ulrich, um das Schweigen zu brechen, Clarisse mit der Frage neckte, ob ihr nicht schon davor grusele, Moosbrugger von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten.
»Ach!« sagte Clarisse wegwerfend. »Er hat ja nur Ersatzweiber gekannt; da hat es so kommen müssen!«
Der General wollte sich wieder zu Ehren bringen, weil ihm nachträglich etwas eingefallen war. »Wille
ist jetzt sehr modern« sagte er. »Auch in der Patriotischen Aktion beschäftigen wir uns viel mit diesem Problem.«
Clarisse lächelte ihn an und dehnte die Arme, um die Spannung darin zu beruhigen. »Wenn man so warten muß, fühlt man das Kommende in den Gliedern, als ob man durch ein Fernrohr schaute« erwiderte sie.
Stumm von Bordwehr dachte nach, er wollte nicht wieder zurückstehen. »Richtig!« sagte er. »Das hängt vielleicht mit der modernen Körperkultur zusammen. Mit der befassen wir uns auch!«
Dann kam der Hofrat mit seiner Kavalkade von Assistenten und
Volontärinnen hereingefegt, war sehr liebenswürdig, namentlich zu Stumm, erzählte etwas von etwas Dringendem und bedauerte, sich gegen seine Absicht auf diese Begrüßung beschränken zu müssen und nicht selbst die Führung übernehmen zu können. Er stellte Dr. Friedenthal vor, der das an seiner Stelle tun werde. Dr. Friedenthal
war ein großer, schlanker und etwas weichlich gebauter Mann, hatte einen üppigen Scheitel und lächelte bei der Vorstellung wie ein Akrobat, der die Leiter hinaufsteigt, einen Todessprung vorzuführen. Als sich der Chef empfahl, wurden die Kittel gebracht.
»Um die Patienten nicht zu beunruhigen« erläuterte Dr. Friedenthal.
Clarisse fühlte, während sie in den ihren schlüpfte, einen eigenartigen Kraftzuwachs. Wie ein kleiner Arzt stand sie da. Sie kam sich sehr männlich und sehr weiß vor.
Der General suchte einen Spiegel. Es war schwierig, einen Kittel zu finden, der sich dem ihm eigentümlichen Verhältnis von Höhe und Breite anpaßte; als es endlich gelang, seinen Körper vollständig
einzuhüllen, sah er wie ein Kind im zu langen Nachthemd aus. »Meinen Sie nicht, daß ich die Sporen ablegen sollte?« fragte er Dr. Friedenthal.
»Militärärzte tragen auch Sporen!« widersprach Ulrich.
Stumm machte noch eine hilflose und verwickelte Anstrengung, um einen Blick in seinen Rücken zu erhaschen, wo sich die ärztliche Hülle in mächtigen Falten über den Sporen stauchte; dann setzten sie sich in Bewegung. Dr. Friedenthal bat, sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen.
»Bis jetzt ist alles leidlich abgegangen!« flüsterte Stumm seinem Freunde zu. »Aber eigentlich interessiert mich das gar nicht; ich könnte ganz gut die Zeit benutzen, um mit dir über den heutigen Abend zu reden. Also gib acht, du hast gesagt, ich soll dir alles aufrichtig erzählen; das ist nämlich sehr einfach: Alle Welt rüstet. Die Russen haben eine ganz neue Feldartillerie. Gibst du acht? Die Franzosen
haben ihre Zweijährige Dienstzeit dazu benutzt, ihr Heer gewaltig auszubauen. Die Italiener –«
Sie waren die fürstlich-altmodische Treppe, die sie gekommen waren, wieder hinabgestiegen, hatten sich irgendwie zur Seite gewandt und befanden sich in einem Gewirr kleiner Zimmer und winkliger Gänge, deren weißgetünchte Balken aus der Decke hervorstanden. Es waren größtenteils Wirtschafts- und Kanzleiräume, die sie durchschritten, aber wegen des in dem alten Gebäude herrschenden Platzmangels hatten sie etwas Abseitiges und Düsteres. Unheimliche Personen, teils in Anstaltskleidung, teils in Zivil, bevölkerten sie. Auf einer Tür stand: »Aufnahme«, auf der anderen: »Männer«. Dem General versiegte die Rede. Er hatte ein Vorgefühl von Zwischenfällen, die jeden Augenblick entstehen
könnten und durch ihre
unvergleichliche Natur große Geistesgegenwart erforderten. Wider seinen Willen beschäftigte ihn auch die Frage, wie er sich zu verhalten hätte, wenn ihn ein unwiderstehliches Bedürfnis zwingen sollte sich abzusondern und er sodann allein und ohne sachverständige Begleitung an einem Ort, wo alle Menschen gleich sind, mit einem Geisteskranken zusammenstieße. Clarisse dagegen ging immer einen halben Schritt vor Dr. Friedenthal. Daß er gesagt hatte, sie müßten die weißen Mäntel tragen, um die Kranken nicht zu erschrecken, hob sie wie eine Schwimmweste in den strömenden Eindrücken empor. Lieblingsgedanken beschäftigten sie. Nietzsche: »Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins? Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind? Ist Wahnsinn vielleicht nicht notwendig ein Symptom der
Entartung?« Sie dachte es nicht wörtlich, aber sie erinnerte sich im ganzen daran; ihre Gedanken hatten es zu einem ganz kleinen Paket zusammengepreßt und so wunderbar auf den kleinsten Raum gebracht wie das Einbruchswerkzeug eines Räubers. Für sie war dieser Weg halb Philosophie und halb Ehebruch.
Dr. Friedenthal blieb vor einer eisernen Tür stehn und holte aus der Hosentasche einen Stechschlüssel hervor. Als er öffnete, drang blendende Helle auf die Wanderer ein, sie traten aus dem Schutz des Hauses, und im gleichen Augenblick vernahm Clarisse einen gellenden und fürchterlichen Schrei, wie sie noch im Leben keinen gehört hatte. Trotz ihrer Tapferkeit zuckte sie zusammen.
»Bloß ein Pferd!« sagte Dr. Friedenthal und lächelte.
Wirklich befanden sie sich auf einem Stück Straße, das von der Anfahrt längs des Amtsgebäudes nach hinten zu dem Wirtschaftshof der Anstalt führte. Nichts unterschied es von anderen Straßenstücken mit alten Radspuren und gemütlichem Unkraut, und die Sonne brannte heiß darauf. Trotzdem waren auch alle anderen bis auf Friedenthal sonderbar davon überrascht, ja auf eine verdutzte und verworrene Weise darüber empört, daß sie sich auf einer gesunden und gewöhnlichen Straße befanden, nachdem sie schon einen langen abenteuerlichen Weg überstanden hatten. Die Freiheit hatte im ersten Augenblick etwas Befremdendes, wenn sie auch ungemein behaglich war, und man mußte sich zunächst wieder an sie gewöhnen. In Clarisse, wo alle Zusammenstöße unvermittelter waren, zerklirrte die Spannung in ein lautes Kichern.
Dr. Friedenthal schritt lächelnd über die Straße
voran und öffnete auf der gegenüberliegenden Seite ein kleines, schweres Eisentor, das in eine Parkmauer eingelassen war. »Jetzt kommt es erst!« sagte er sanft.
Und nun befanden sie sich wirklich in jener Welt, die Clarisse
schon wochenlang unbegreiflich angezogen hatte, und nicht nur mit dem Schauer des Unvergleichlichen und Abgeschlossenen, sondern so, als ob es ihr bestimmt wäre, dort etwas zu erleben, das sie sich vorher nicht vorstellen könne. Zunächst konnten die Eingetretenen aber in nichts diese Welt von einem großen alten Park unterscheiden, der in einer Richtung sanft anstieg und auf seiner Höhe zwischen Gruppen mächtiger Bäume kleine, weiße, villenartige Gebäude zeigte. Dahinter gab das Aufsteigen des Himmels den Vorgeschmack einer schönen Aussicht, und auf einem dieser Aussichtspunkte bemerkte
Clarisse Kranke mit Wärtern, die in Gruppen standen und saßen und wie weiße Engel aussahen. General von Stumm hielt den Zeitpunkt für geeignet, das Gespräch mit Ulrich wieder aufzunehmen. »Also ich möchte dich noch auf heute abend vorbereiten« begann er. »Die Italiener, die Russen, die Franzosen und dann auch die Engländer, du verstehst, die rüsten alle, und wir –«
»Ihr wollt eure Artillerie haben, das weiß ich doch schon« unterbrach ihn Ulrich.
»Auch!« fuhr der General fort. »Aber wenn du mich nie ausreden läßt, werden wir gleich wieder bei den Narren sein und nicht in Ruhe sprechen können. Ich habe sagen wollen, wir sitzen in der Mitte und befinden uns in einer militärisch sehr gefährlichen Position. Und in dieser Lage verlangt man nun bei uns – jetzt rede ich von der patriotischen Aktion – nichts als menschliche Güte!«
»Und da seid ihr dagegen! Das habe ich schon begriffen.«
»Aber im Gegenteil!« beteuerte von Stumm. »Wir sind nicht dagegen! Wir nehmen den Pazifismus sehr ernst! Nur möchten wir unsere Artillerievorlage durchbringen. Und wenn wir das sozusagen Hand in Hand mit dem Pazifismus tun könnten, so wären wir am besten vor allen imperialistischen Mißverständnissen geschützt, die gleich behaupten, daß man den Frieden stört! Ich geb dir also zu, daß wir mit der Drangsal tatsächlich ein wenig unter einer Decke stecken. Aber andrerseits muß man das mit Vorsicht tun; denn andrerseits ist ja ihre Gegenpartei, die nationalistische Strömung, die wir jetzt auch in der Aktion haben, gegen den Pazifismus, aber für militärische Ertüchtigung!«
Der General kam nicht zu Ende und mußte die
Fortsetzung mit einem bitteren Gesicht hinunterschlucken, denn sie waren beinahe auf die Höhe gelangt und Dr. Friedenthal wartete auf seine Schar. Der Platz der Engel erwies sich als leicht umgittert, und der Führer durchschritt ihn, ohne ihm Bedeutung zu geben, als ein bloßes Vorspiel. »Eine ›Friedliche Abteilung‹«
erläuterte der Arzt.
Es waren nur Frauen darin; sie hatten das Haar offen auf die Schultern fallen, und ihre Gesichter waren abstoßend, mit fetten, verwachsenen, weichen Zügen. Eines dieser Weiber kam sofort zu dem Arzt
gelaufen und drängte ihm einen Brief auf. »Es ist immer die gleiche Sache« erläuterte Friedenthal und las vor: »Adolf, Geliebter! Wann kommst du?! Hast du mich vergessen?!« Die etwa sechzigjährige Alte stand mit stumpfem Antlitz daneben und hörte zu. »Du beförderst ihn doch gleich?!« bat sie. »Gewiß!« versprach Dr. Friedenthal, zerriß den Brief
noch vor ihren Augen und lächelte der Aufsichtsschwester zu. Clarisse stellte ihn sofort zur Rede: »Wie können Sie das tun?!« sagte sie. »Man muß die Kranken ernst nehmen!«
»Kommen Sie!« erwiderte Friedenthal. »Es lohnt nicht, daß wir hier unsere Zeit verlieren. Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen nachher hunderte solcher Briefe. Sie haben doch bemerkt, daß es die Alte gar nicht berührt hat, als ich den Brief zerriß.«
Clarisse war verdutzt, denn was Friedenthal sagte, war richtig, aber es störte ihre Gedanken. Und ehe sie diese ordnen konnte, wurden sie noch einmal gestört, denn im Augenblick, wo sie den Platz verließen, hob eine andere Alte, die dort gelauert hatte, ihren Kittel hoch und zeigte den vorbeigehenden Herrn über den groben Wollstrümpfen ihre häßlichen Altweiberschenkel bis zum Bauch.
»So eine alte Sau!« sagte halblaut Stumm von Bordwehr und vergaß empört und angeekelt für eine Weile die Politik.
Clarisse aber hatte entdeckt, daß das Bein dem Gesicht ähnlich sah. Es zeigte wahrscheinlich die gleichen Stigmata des fetten körperlichen Verfalls wie dieses, doch in Clarisse entstand daraus zum ersten Mal der Eindruck fremdartiger Zusammenhänge und einer Welt, in der es anders zugehe, als man es mit den gewöhnlichen Begriffen erfassen könne. In diesem Augenblick fiel ihr auch ein, daß sie die Verwandlung der weißen Engel in diese Weiber nicht wahrgenommen, ja obwohl sie mitten hindurchging, nicht einmal unterschieden habe, welche von ihnen Kranke und welche Wärterinnen seien. Sie wandte sich um und blickte zurück, konnte aber, weil sich der Weg um ein Haus gebogen hatte, nichts mehr sehen und stolperte wie ein Kind, das
den Kopf abwendet, hinter ihren Begleitern weiter. Aus der Folge von Eindrücken, die damit begannen, bildete sich nun nicht mehr der durchsichtig strömende Bach von Geschehnissen, als den man das Leben hinnimmt, sondern ein schaumiges Wirbeln, aus dem sich bloß gelegentlich glatte Flächen hervorhoben und im Gedächtnis verharrten.
»Gleichfalls eine ›Ruhige Abteilung‹. Diesmal für Männer« erläuterte Dr. Friedenthal, der an der Pforte des Hauses seine Gefolgschaft sammelte, und als sie vor dem ersten Krankenbett haltmachten, stellte er seinen Insassen den Besuchern mit höflich gedämpfter
Stimme als »Depressive Dementia paralytica« vor. »Ein alter Syphilitiker. Versündigungs- und nihilistische Wahnideen« flüsterte Siegmund, das Wort erklärend, seiner Schwester zu. Clarisse befand sich einem alten Herrn
gegenüber, der allem
Anschein nach einst der höheren Gesellschaft angehört hatte. Er saß aufrecht im Bett, mochte Ende der Fünfzig sein und hatte eine sehr weiße Gesichtshaut. Ebenso weißes, reiches Haar umrahmte sein gepflegtes und durchgeistigtes Antlitz, das so unwahrscheinlich edel aussah, wie man es nur in den schlechtesten Romanen beschrieben liest. »Kann man den nicht malen lassen?« fragte Stumm von Bordwehr. »Die leibhaftige Geistesschönheit: das Bild möchte ich deiner Kusine schenken!« erklärte er Ulrich. Dr. Friedenthal lächelte schwermütig dazu und erläuterte: »Der edle Ausdruck kommt vom Nachlassen der Spannung in den Gesichtsmuskeln.« Dann zeigte er den Besuchern mit einer flüchtigen Handbewegung noch die reflektorische Pupillenstarre und führte sie weiter. Die Zeit war knapp bei der Fülle des Materials. Der alte Herr, der schwermütig zu allem genickt hatte, was an seinem Bett gesprochen
wurde, antwortete noch leise und bekümmert, als die fünf schon einige Betten weiter beim nächsten Fall haltmachten, den Friedenthal ausersehen hatte.
Diesmal war es einer, der selbst der Kunst oblag, ein fröhlicher dicker Maler, dessen Bett nahe beim hellen Fenster stand; er hatte Papier und viele Bleistifte auf seiner Decke liegen und beschäftigte sich damit den ganzen Tag. Was Clarisse gleich auffiel, war die heitere Ruhelosigkeit dieser Bewegung. »So sollte Walter malen!« dachte sie. Friedenthal, der ihre Anteilnahme gewahrte, entwendete dem Dicken rasch ein Blatt und reichte es Clarisse; der Maler kicherte und gehabte sich wie ein Weibsbild, das man gekniffen hat. Clarisse sah aber zu ihrer Überraschung einen vollendet sicher gezeichneten, durchaus sinnvollen, ja im Sinn sogar banalen Entwurf zu einem großen Gemälde vor sich, mit vielen perspektivisch
ineinander verwickelten Figuren und einem Saal, dessen Anblick peinlich genau ausgeführt war, so daß das Ganze derart gesund und professoral wirkte, als käme es aus der Staatsakademie. »Überraschend gekonnt!« rief sie unwillkürlich aus.
Friedenthal aber lächelte geschmeichelt.
»Etsch!« rief ihm trotzdem der Maler zu. »Siehst du, dem Herrn gefällt es! Zeig ihm doch mehr! Überraschend gut hat er gesagt! Zeig ihm nur! Ich weiß schon, du lachst bloß über mich, aber ihm gefällt es!« Er sagte das gemütlich und schien mit dem Arzt, dem er nun auch seine anderen Bilder hinhielt, auf gutem Fuß zu stehn, obwohl dieser seine Kunst nicht würdigte.
»Wir haben heute keine Zeit für dich« erwiderte ihm Friedenthal, und zu Clarisse gewandt, faßte er seine Kritik in die Worte: »Er ist nicht schizophren;
leider haben wir im Augenblick keinen andern, das sind oft große, ganz moderne Künstler.«
»Und krank?« zweifelte Clarisse.
»Weshalb nicht?« erwiderte Friedenthal schwermütig.
Clarisse biß die Lippe.
Indessen standen Stumm und Ulrich schon an der Schwelle des nächsten Raums, und der General sagte: »Wenn ich das seh, tut es mir wirklich leid, daß ich meine Ordonnanz vorhin einen Trottel geschimpft hab; ich will es auch nie wieder tun!« Sie blickten nämlich in ein Zimmer mit schweren Idioten.
Clarisse sah es noch nicht und dachte: »Sogar eine so ehrbare und anerkannte Kunst wie die akademische hat also ihre verleugnete, beraubte, dennoch zum Verwechseln ähnliche Schwester im Irrenhaus?!« Es machte ihr beinahe mehr Eindruck als die Bemerkung Friedenthals, daß er ihr ein andermal
expressionistische Künstler zeigen könne. Aber sie nahm sich vor, auch darauf zurückzukommen. Sie hatte den Kopf gesenkt und biß immer noch auf ihre Lippe. Da stimmte etwas nicht. Es erschien ihr offenkundig falsch, so begabte Menschen einzusperren; die Ärzte verstünden ja wohl die Krankheiten, dachte sie, aber wahrscheinlich doch nicht in ihrer ganzen Tragweite die Kunst. Sie hatte das Gefühl, daß da etwas geschehen müsse. Aber es wollte ihr noch nicht klar werden was. Doch verlor sie nicht die Zuversicht, denn der dicke Maler hatte sie gleich als »Herr« angesprochen: das kam ihr als ein gutes Zeichen vor.
Friedenthal betrachtete sie mit Neugierde.
Als sie seinen Blick fühlte, sah sie mit ihrem schmalen Lächeln auf und ging zu ihm, aber ehe sie etwas sagen konnte, löschte ein furchtbarer Eindruck
alle Überlegung aus. In ihren Betten hing und saß in dem neuen Zimmer eine Reihe des Grauens. Alles an den Körpern schief, unsauber, verbildet oder gelähmt. Entartete Gebisse. Wackelnde Köpfe. Zu große, zu kleine und ganz verwachsene Köpfe. Schlaff herabhängende Kiefer, aus denen Speichel troff, oder tierisch malmende Bewegungen des Mundes, in dem weder Speise noch Wort war. Meterdicke Bleibarren schienen zwischen diesen Seelen und der Welt zu liegen, und nach dem leisen Lachen und Schwirren in dem andern Zimmer fiel auch ins Ohr ein dumpfes Schweigen, in dem es nur dunkel grunzende und murrende Laute gab. Solche Säle mit Idioten hohen Grades gehören zu den erschütterndsten Eindrücken, die man in der Häßlichkeit des Irrenhauses findet, und Clarisse fühlte sich einfach in ein völliges grauenvolles Schwarz gestürzt, darin nichts mehr zu unterscheiden war.
Der Führer Friedenthal aber sah auch im Dunklen,
und auf verschiedene Betten weisend, erklärte er: »Das ist Idiotie, und das hier ist Kretinismus.«
Stumm von Bordwehr horchte auf: »Ein Kretin und ein Idiot sind nicht dasselbe?!« fragte er.
»Nein, das ist medizinisch etwas Verschiedenes« belehrte ihn der Arzt.
»Interessant« sagte Stumm. »Auf so etwas kommt man im gewöhnlichen Leben gar nicht!«
Clarisse ging von Bett zu Bett. Sie bohrte ihre Augen in die Kranken und strengte sie aufs äußerste an, ohne von diesen Gesichtern, die von ihr nicht Kenntnis nahmen, auch nur das Geringste zu verstehn. Alle Einbildungen erloschen daran. Dr. Friedenthal folgte ihr leise und erklärte: »Amaurotische familiäre Idiotie«. »Tuberöse hypertrophische Sklerose«. »Idiotia thymica« ...
Der General, der inzwischen genug von den »Trotteln« gesehen zu haben vermeinte, und das gleiche von Ulrich voraussetzte, blickte auf die Uhr und sagte: »Wo sind wir denn eigentlich stehen geblieben? Wir müssen die Zeit ausnutzen!« Und etwas unvermutet fing er an: »Also erinnere dich, bitte: Das Kriegsministerium gewahrt auf seiner einen Seite die Pazifisten und auf der andern die Nationalisten –«
Ulrich, der sich nicht so gelenkig wie er von der Bindung an die Umgebung loslösen konnte, sah ihn ohne Verständnis an.
»Aber ich mach doch keine Witze!« erklärte Stumm. »Das ist Politik, was ich rede! Es muß etwas geschehn. Dabei sind wir doch schon einmal stehen geblieben. Wenn nicht bald etwas geschieht, kommt der Geburtstag vom Kaiser, und wir sind blamiert. Aber was
soll geschehn? Diese Frage ist logisch, nicht wahr? Und wenn ich das jetzt etwas grob
zusammenfasse, was ich dir alles schon gesagt hab, so verlangen die einen von uns, wir sollen ihnen helfen, alle Menschen zu lieben, und die zweiten, wir sollen ihnen erlauben, die andern zu kujonieren, damit das edlere Blut siegt, oder wie man das nennen will. Beides hat etwas für sich. Und darum solltest du es, kurz gesagt, irgendwie vereinen, damit kein Schaden entsteht!«
»Ich?« verwahrte sich Ulrich, nachdem sein Freund dergestalt seine Bombe platzen ließ, und würde ihn ausgelacht haben, wenn es der Ort gestattet hätte.
»Natürlich du!« erwiderte der General fest. »Ich will dir gern beistehn, aber du
bist der Sekretär der Aktion und die rechte Hand vom Leinsdorf!«
»Ich werde dir hier eine Unterkunft besorgen!« erklärte Ulrich entschieden.
»Schön!«
meinte der General, der aus der Kriegskunst wußte, daß man einem unerwarteten Widerstand am besten ausweiche, ohne sich bestürzt zu zeigen. »Wenn du mir hier einen Platz besorgst, lerne ich vielleicht doch jemand kennen, der die größte Idee von der Welt erfunden hat. Draußen haben sie ohnehin keine Freude mehr an den großen Gedanken.« Er sah wieder nach der Uhr. »Da soll es doch welche geben, die der Papst sind oder das Weltall, erzählt man: von denen haben wir noch keinen einzigen gesehn, und gerade auf die habe ich mich gefreut! Deine Freundin ist furchtbar gründlich« klagte er.
Dr. Friedenthal löste Clarisse vorsichtig von dem Anblick der Oligophrenen los.
Die Hölle ist nicht interessant, sie ist furchtbar. Wenn man sie nicht humanisiert hat – wie Dante, der sie mit Literaten und Prominenten bevölkerte und dadurch die Aufmerksamkeit vom Straftechnischen ablenkte – sondern versucht hat, eine
ursprüngliche Vorstellung von ihr zu geben, sind selbst die phantasievollsten Menschen nicht über läppische Qualen und gedankenarme Verrenkungen irdischer Eigenheiten hinausgekommen. Aber gerade der leere Gedanke der unvorstellbaren und darum unabwendbaren unendlichen Strafe und Qual, die Voraussetzung einer für alle Gegenanstrengungen unempfänglichen Veränderung zum Schlechten, hat die Anziehung eines Abgrunds. So sind auch Irrenhäuser. Sie sind Armenhäuser. Sie haben etwas von der Phantasielosigkeit der Hölle. Aber viele Menschen, die in die Ursachen von Geisteskrankheiten keinen Einblick haben, fürchten nebst der Möglichkeit, daß sie ihr Geld verlieren könnten, keine andere so sehr wie die, daß sie eines Tags den Verstand
verlieren könnten; und es ist merkwürdig, wie zahlreich diese Menschen sind, die von der Vorstellung geplagt werden, sie könnten sich plötzlich verlieren. Aus der Überschätzung dessen, was sie von sich haben, folgt wahrscheinlich die Überschätzung der Schauer, von denen sich die Gesunden die Häuser der Kranken umgeben denken. Auch Clarisse litt etwas unter einer leichten Enttäuschung, die von einer unbestimmten, mit ihrer Erziehung aufgenommenen Erwartung kam. Das war bei Dr. Friedenthal umgekehrt. Er war diesen Weg gewohnt. Ordnung wie in einer Kaserne oder jeder anderen Massenanstalt, Linderung vordringlicher Schmerzen und Beschwerden, Bewahrung vor vermeidlichen Verschlimmerungen, ein wenig Besserung oder Heilung: das waren die Elemente seines täglichen Tuns. Viel beobachten, viel wissen, aber ohne eine ausreichende Erklärung der Zusammenhänge zu besitzen, war sein geistiges Teil. Auf dem Rundgang durch die Häuser, außer den Arzneien gegen Husten, Schnupfen, Verstopfung und Wunden, ein paar
Beruhigungsmittel zu verordnen, seine tägliche Heilarbeit. Er empfand die spukhafte Verruchtheit der Welt, in der er lebte, nur noch dann, wenn durch eine Berührung mit der gewöhnlichen der Gegensatz geweckt wurde; man kann es nicht täglich, aber Besuche sind solche Gelegenheiten, und darum war das, was Clarisse zu sehen bekam, nicht ohne eine Art Gefühl für Spielleitung aufgebaut und setzte sich, nachdem er sie aus ihrer Versunkenheit geweckt hatte, sogleich wieder mit etwas Neuem und gesteigert Dramatischem fort.
Denn kaum da sie den Raum verlassen hatten, schlossen sich ihnen mehrere große Männer mit fleischigen Schultern, freundlichen Feldwebelgesichtern
und sauberen Kitteln an. Es geschah so stumm, daß
es wie ein Trommelwirbel wirkte. »Jetzt kommt eine Unruhige Abteilung« kündigte Friedenthal an, und schon begannen sie sich auch einem Schreien und Schnattern zu nähern, das aus einem ungeheuren Vogelkäfig zu dringen schien. Als sie vor der Türe standen, zeigte diese keine Klinke, aber einer der Wärter öffnete sie mit einem Stecher, und Clarisse schickte sich an, wie sie es bisher getan hatte, als erste einzutreten; aber jäh riß sie Dr. Friedenthal zurück. »Hier heißt es warten!« sagte er, ohne sich zu entschuldigen, bedeutungsvoll und müd. Der Wärter, der die Tür aufschloß, hatte sie nur zu einem schmalen Spalt geöffnet, den sein mächtiger Körper verdeckte, und nachdem er in das Innere zuerst gelauscht, dann gespäht hatte, schob er sich eilig hinein, und ein zweiter Wärter folgte ihm, der auf der andern Seite des Eingangs Stellung bezog. Clarisse begann das Herz zu klopfen. Der General sagte anerkennend: »Vorhut, Nachhut, Flankendeckung!« Und so gedeckt, traten sie ein und wurden von den
Wärterriesen von Bett zu Bett gebracht. Was in den Betten saß, flatterte, aufgeregt und schreiend, mit Armen und Augen; es machte den Eindruck, daß jeder in einen Raum hineinschreie, der nur für ihn da sei, und doch schienen alle in einer tobenden Konversation begriffen zu sein, wie fremde, in einen gemeinsamen Käfig gesperrte Vögel, von denen jeder die Sprache eines andern Eilands spricht. Manche saßen frei,
und manche waren mit Schlingen an den Bettrand gefesselt, die den Händen nur wenig Spielraum ließen. »Wegen Selbstmordgefahr« erläuterte der Arzt und nannte die Krankheiten: Paralyse, Paranoia, Dementia praecox und andere
waren die Rassen, denen diese fremden Vögel angehörten.
Clarisse fühlte sich anfangs von dem verworrenen Eindruck wieder eingeschüchtert und fand keinen Halt. Und da war es auch wie ein freundliches Zeichen, daß ihr schon von ferne einer lebhaft winkte und ihr Worte entgegenschrie, als sie noch durch viele Betten von ihm getrennt war. Er fuhr in dem seinen hin und her, als wollte er sich verzweifelt befreien, um ihr entgegenzueilen, übertrumpfte den Chor mit seinen Anklagen und Zornausbrüchen und zog Clarissens Aufmerksamkeit immer stärker an sich. Je näher sie ihm kam, desto mehr beunruhigte sie der Eindruck, daß er bloß zu ihr zu sprechen schien, während sie in keiner Weise zu verstehen vermochte, was er ihr ausdrücken wolle. Als sie endlich bei ihm waren, erzählte der Oberwärter dem Arzt etwas so leise, daß Clarisse es nicht verstand, und Friedenthal traf irgendeine Anordnung mit sehr ernstem Gesicht. Dann aber machte er sich einen Scherz und sprach den Kranken an. Der Irre erwiderte nicht gleich darauf, aber plötzlich fragte er: »Wer ist der Herr?« und gab durch eine Bewegung zu verstehen,
daß er Clarisse meine. Friedenthal wies auf ihren Bruder und antwortete, dieser sei ein Arzt aus Stockholm. »Nein, dieser!« entgegnete der Kranke und beharrte auf Clarisse.
Friedenthal lächelte und behauptete, das sei eine Ärztin aus Wien. »Nein. Das ist ein Herr« widersprach der Kranke und schwieg. Clarisse fühlte ihr Herz schlagen. Auch der hielt sie also für einen Mann!
Da sagte der Kranke langsam: »Das ist der siebente Sohn des Kaisers.«
Stumm von Bordwehr stieß Ulrich an.
»Das ist nicht wahr« gab Friedenthal zur Antwort
und setzte das Spiel fort, indem er sich an Clarisse mit der Aufforderung wandte: »Sagen Sie ihm doch selbst, daß er sich irrt.«
»Es ist nicht wahr, mein Freund« sprach Clarisse leise, die vor Aufregung kaum ein Wort hervorbringen konnte, den Kranken an.
»Du bist doch der siebente Sohn!« gab er hartnäckig zurück.
»Nein, nein« versicherte Clarisse und lächelte ihm vor Erregung zu, wie in einer Liebesszene mit Lippen, die vor Lampenfieber ganz steif waren.
»Du bist es!!« wiederholte der Kranke und sah sie mit einem Blick an, für den sie keine Bezeichnung wußte. Es fiel ihr ganz und gar nichts ein, was sie noch antworten könnte, sie sah hilflos freundlich dem Irren in die Augen, der sie für einen Prinzen hielt, und lächelte immer weiter. In ihr ging dabei etwas Merkwürdiges vor sich: es bildete sich die Möglichkeit, ihm recht zu geben. Es löste sich unter dem Druck seiner wiederholten Behauptung etwas in ihr auf, sie verlor in irgendetwas die Herrschaft über ihre Gedanken, und neue Zusammenhänge bildeten sich, die ihre Umrisse aus Nebeln hervorstreckten:
er war nicht der erste, der wissen wollte, wer sie sei, und sie für einen »Herrn« hielt. Aber während sie ihm noch, in diese sonderbare Verbundenheit verfangen, ins Gesicht blickte, von dessen Alter sie sich ebensowenig Rechenschaft gab wie von den anderen Resten des freien Lebens, die noch darin ausgeprägt waren, ging in dem Gesicht und an dem ganzen Menschen etwas gänzlich Unverständliches vor sich. Es sah aus, als würde ihr Blick plötzlich zu schwer für die Augen, auf denen er ruhte, denn in diesen begann ein Gleiten und Fallen. Aber auch die Lippen gerieten in eine lebhafte Bewegung,
und wie dicke Tropfen, die immer dichter zusammenflossen, mischten sich in ein flüchtiges Geschnatter vernehmliche Unzüchtigkeiten. Clarisse war von dieser abgleitenden Verwandlung so bestürzt, als entglitte ihr selbst etwas, und machte unwillkürlich eine Bewegung mit beiden Armen zu dem Unseligen hin; und ehe es noch jemand hinderte, sprang ihr da auch der Kranke entgegen: er warf seine Decke ab, kniete im gleichen Augenblick am Bettende und bearbeitete mit der Hand sein Glied, wie Affen in der Gefangenschaft masturbieren. »Treib keine Schweinereien!« sagte rasch und streng der Arzt, und im gleichen Augenblick packten die Wärter den Mann und die Decken und machten im Nu ein reglos liegenbleibendes Bündel aus beiden. Aber Clarisse war
dunkelrot geworden; ihr war so wirr wie in einem Lift, wenn man plötzlich das Gefühl unter den Füßen verliert. Es kam ihr plötzlich vor, daß alle Kranken, an denen sie schon vorbeigekommen war, hinter ihr drein schrien, und die anderen, die sie noch nicht besucht hatte, ihr entgegenschrien. Und der Zufall wollte es, oder die ansteckende Kraft der Erregung, daß auch der Nächste, ein freundlicher Alter, der gutmütige
Witzchen zu den Besuchern gemacht hatte, als sie noch nebenan standen, in dem Augenblick, wo Clarisse an ihm vorbeieilte, aufsprang und zu schimpfen begann, mit unflätigen Worten, die einen widerlichen Schaum vor seinem Mund bildeten. Auch ihn faßten die Fäuste der Wärter wie schwere Stempel, die jeden Widerstand zermalmen.
Aber der Zauberkünstler Friedenthal verstand seine Darbietungen noch zu steigern. Von den Begleitern ebenso wie beim Eintritt gesichert, verließen sie den Saal an seinem anderen Ende, und mit einemmal
schien das Ohr in sanfte Stille zu tauchen. Sie befanden sich in einem sauberen, mit Linoleum belegten, freundlichen Gang und trafen auf sonntäglich aussehende Menschen und hübsche Kinder, die voll Vertrauen und Höflichkeit den Arzt grüßten. Es waren Besucher, die hier darauf warteten, zu ihren Angehörigen vorgelassen zu werden, und wieder war der Eindruck der gesunden Welt ein sehr befremdlicher; diese sich bescheiden und höflich verhaltenden Menschen in ihren besten Kleidern wirkten im ersten Augenblick wie Puppen oder sehr gut nachgemachte, künstliche Blumen. Friedenthal schritt aber rasch hindurch und kündigte seinen Freunden an, daß er sie nun in eine Versammlung von Mördern und ähnlich schwer verbrecherischen Irren führen wolle. Vorsicht und Mienen der Begleiter, als sie bald danach vor einem neuen Eisentor standen, verhießen denn auch Schlimmes. Sie traten in einen abgeschlossenen Hof, der von einer Galerie umzogen war und einem der modernen Kunstgärten glich, wo es viele Steine und wenig Pflanzen gibt. Wie ein Würfel aus Schweigen stand zunächst die leere Luft darin; erst nach einer Weile entdeckte man Menschen, die stumm an den Wänden saßen. Nahe dem Eingang kauerten idiotische Jungen,
rotzig, unsauber und regungslos, als ob sie ein grotesker Bildhauereinfall an den Pfeilern des Tors angebracht hätte. Neben ihnen saß, als erster an der Wand und von den weiteren abgerückt, ein einfacher Mann, noch in seiner dunklen Sonntagskleidung, nur ohne Kragen; er mußte erst vor kurzem eingeliefert worden sein und war in seinem Nirgendhingehören unsagbar rührend. Clarisse stellte sich plötzlich den Schmerz vor, den sie Walter zufügen würde, wenn sie ihn verließe, und weinte beinahe darüber. Zum
erstenmal geschah ihr das, aber sie kam rasch darüber hinweg, denn die andern, an denen sie vorbeigeführt wurde, machten bloß jenen Eindruck der schweigenden Gewöhnung, den man in Gefängnissen kennt; sie
grüßten scheu und höflich und trugen kleine Bitten vor. Bloß einer von ihnen, ein junger Mensch, wurde aufdringlich und begann sich zu beschweren; Gott allein wußte, aus welcher Vergessenheit er auftauchte. Er verlangte vom Arzt, hinausgelassen zu werden und Auskunft, warum er hier wäre, und als dieser ausweichend entgegnete, daß nicht er, sondern nur der Direktor darüber entscheide, ließ der Frager nicht nach; seine Bitten begannen sich wie eine immer rascher ablaufende Kette zu wiederholen, und allmählich kam der Ton des Bedrängens in seine Stimme, steigerte sich zur Drohung und schließlich zur tierhaft-wissenlosen Gefährdung. Als er so weit gekommen war, drückten ihn die Riesen auf die Bank nieder, und er kroch stumm wie ein Hund in sein Schweigen zurück, ohne Antwort erhalten zu haben. Clarisse kannte das nun schon, und es ging bloß in die allgemeine Aufregung ein, die sie fühlte.
Sie hatte auch zu anderem keine Zeit, denn am Ende des Hofes war eine zweite Panzertür, und an
diese pochten nun die Wärter. Das war etwas Neues, da sie bisher die Türen bloß mit Vorsicht, aber ohne Ankündigung geöffnet hatten. An dieses Tor schlugen
sie dagegen viermal mit der Faust und lauschten auf die herausdringende Unruhe. »Auf dieses Zeichen müssen sich alle, die drinnen sind, an den Wänden aufstellen« erläuterte Friedenthal »oder auf die Bänke setzen, die an den Wänden entlanglaufen.« Und wirklich, als sich die Tür langsam, Grad für Grad, drehte, zeigte sich, daß alle,
die vorher teils stumm, teils lärmend durcheinandergekreist waren, wie wohlgedrillte Sträflinge gehorcht hatten. Und trotzdem wandten die Wärter beim Eintritt noch solche Vorsicht an, daß Clarisse plötzlich Dr. Friedenthal am Ärmel faßte und erregt fragte, ob Moosbrugger dabei sei. Friedenthal schüttelte stumm den Kopf. Er hatte keine Zeit. Er schärfte den Besuchern eilig ein, daß sie mindestens zwei Schritte Abstand von jedem Kranken zu halten hätten. Die Verantwortung für das Unternehmen schien ihn doch etwas zu bedrücken. Sie waren sieben gegen dreißig; in einem weltfernen, ummauerten, nur von Irren bewohnten Hof, von denen fast alle schon einen Mord begangen hatten. Menschen, die gewohnt sind, eine Wehr zu tragen, fühlen sich ohne das unsicherer als andere: es trifft darum auch den General, der seinen Säbel im Wartezimmer zurückgelassen hatte, kein Vorwurf, daß er den Arzt fragte: »Tragen Sie eigentlich eine Waffe bei sich?« »Aufmerksamkeit und Erfahrung!« erwiderte Friedenthal, dem diese schmeichelhafte Frage willkommen war. »Es kommt alles darauf an, jede Auflehnung schon im Keim zu ersticken.«
Und wirklich, sobald einer auch nur die kleinste Bewegung aus der Reihe zu machen versuchte,
stürzten sich schon die Wärter auf ihn und drückten ihn so schnell auf seinen Platz nieder, daß diese Überfälle
als die einzigen Gewalttaten erschienen, die sich ereigneten. Clarisse war nicht einverstanden mit ihnen. »Was die Ärzte vielleicht nicht verstehn,« sagte sie sich »ist, daß diese Menschen doch, obwohl sie hier den ganzen Tag ohne Aufsicht zusammengesperrt sind, einander nichts tun; und nur uns, die wir aus der ihnen fremden Welt kommen, sind sie gefährlich!« Und sie wollte einen ansprechen;
sie stellte sich mit einemmal vor, ihr müßte es gelingen, sich mit ihm in der rechten Weise zu verständigen. Gleich bei der Tür stand einer in der Ecke, es war ein kräftiger mittelgroßer Mann mit einem braunen Vollbart und stechenden Augen; er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, schwieg und sah dem Treiben der Besucher böse zu. Clarisse trat ihn an; aber im gleichen Augenblick legte Dr. Friedenthal seine Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück. »Nicht diesen« sagte er halblaut. Er suchte Clarisse einen anderen Mörder aus und sprach ihn an. Das war ein kleiner Untersetzter mit einem kahl geschorenen spitzen Sträflingsschädel, den der Arzt wohl als umgänglich kannte, denn der Angesprochene stand sofort stramm vor ihm und zeigte, dienstwillig antwortend, zwei Zahnreihen, die in einer bedenklichen Weise an zwei Reihen Grabsteine erinnerten.
»Fragen Sie ihn doch einmal, warum er hier ist« flüsterte Dr. Friedenthal Clarissens Bruder zu, und Siegmund fragte den breitschulterigen Spitzkopf: »Warum bist du hier?«
»Das weißt du sehr gut!« war die knappe Antwort.
»Ich weiß es nicht« versetzte Siegmund, der nicht gleich locker lassen wollte, ziemlich albern. »Also sag schon, warum bist du hier?!«
»Das weißt du sehr gut!!« wiederholte sich die Antwort mit verstärktem Nachdruck.
»Warum bist du unhöflich gegen mich?« fragte Siegmund. »Ich weiß es wirklich nicht!«
»Dieses Lügen!« dachte Clarisse, und sie freute sich darüber, daß der Kranke einfach erwiderte: »Weil ich will!! Ich kann tun was ich will!!!« wiederholte er und fletschte die Zähne.
»Aber man soll doch nicht ohne Grund unhöflich sein!« wiederholte der unselige Siegmund, dem eigentlich auch nicht mehr einfiel als dem Irren. Clarisse war wütend auf ihn, der die dumme Rolle eines Menschen spielte, der in einem Tierpark ein gefangenes Tier reizt.
»Das geht dich nichts an! Ich tue, was ich will, verstehst du?! Was ich will!!« ranzte der Geisteskranke wie ein Unteroffizier und lachte mit irgend etwas in seinem Gesicht, aber weder mit Mund noch Augen, die beide vielmehr voll unheimlichen Zorns waren.
Selbst Ulrich dachte: »Ich möchte mit dem Kerl jetzt nicht allein sein.« Siegmund hatte es schwer, auf seinem Platz auszuharren, da der
Irre nahe an ihn herangetreten war, und Clarisse wünschte, daß dieser ihren Bruder an der Kehle packen und ins Gesicht beißen möge. Friedenthal ließ mit Befriedigung den Auftritt sich entwickeln, denn einem ärztlichen Kollegen durfte er doch wohl etwas zumuten, und er hatte seinen Genuß an dessen Verlegenheit. Er ließ es meisterlich bis auf den höchsten Punkt kommen und setzte erst, als der Kollege kein Wort mehr hervorbrachte, dazu an, das Zeichen zum Abbruch zu geben. Aber da war wieder dieser Wunsch in Clarisse, sich einzumengen! Irgendwie war er mit dem Trommeln der Antworten immer heftiger geworden,
sie konnte plötzlich nicht mehr an sich halten, trat dem Kranken entgegen und sagte: »Ich komme von Wien!« Das war nun sinnlos wie ein beliebiger Laut, den man einer Trompete entlockt. Sie wußte weder, was sie damit wolle, noch wie es ihr eingefallen sei, noch hatte sie sich gefragt, ob der Mann wisse, in welcher Stadt er sich befinde, und wenn er es wußte, so war ihre Bemerkung
wohl erst recht sinnlos. Aber sie fühlte eine große Zuversicht dabei. Und wirklich geschehen zuweilen noch Wunder, wenn auch mit Vorliebe in Irrenhäusern: als sie das sagte und in Erregung flammend vor dem Mörder stand, ging plötzlich ein Glanz über ihn; seine Steinbrecherzähne zogen sich unter die Lippen zurück, und über den stechenden Blick breitete sich Wohlwollen. »Oh, das goldene Wien! Eine schöne Stadt!« sagte er mit dem Ehrgeiz des früheren Mittelständlers, der seine Phrasen kennt, wie sie sich gehören.
»Ich gratuliere Ihnen!« sagte Dr. Friedenthal lachend.
Aber für Clarisse war dieser Auftritt sehr wichtig geworden.
»Und nun wollen wir zu Moosbrugger gehn!« sagte Friedenthal.
Es kam jedoch nicht mehr dazu. Sie zogen vorsichtig aus den beiden Höfen wieder hinaus und strebten auf der Höhe des Parks einem anscheinend entlegenen Pavillon zu, als von irgendwo ein Wärter auf sie zugelaufen kam, der den Eindruck machte, schon lange nach ihnen gesucht zu haben. Er trat an Friedenthal heran und überbrachte ihm flüsternden Tons eine längere Meldung, die nach der Miene des Arztes, der sie zuweilen mit Fragen unterbrach, wichtig und unangenehm sein mußte. Und Friedenthal trat mit einer ernsten und bedauernden Gebärde zu
den Wartenden zurück, ihnen mitzuteilen, daß ihn ein Zwischenfall in eine der Abteilungen rufe, dessen Ende nicht abzusehen sei, so daß er leider die Führung abbrechen müsse. Er wandte sich damit in erster Linie an die Respektsperson in der unter dem ärztlichen Kittel steckenden Generalsuniform; aber Stumm von Bordwehr
erklärte dankbar, daß er von der hervorragenden Disziplin und Ordnung der Anstalt ohnehin schon genug gesehen habe und daß es nach dem Erlebten auf einen Mörder mehr schließlich nicht ankäme. Clarisse dagegen zeigte ein so enttäuschtes und bestürztes Gesicht, daß
Friedenthal den Vorschlag hinzufügte, den Besuch bei Moosbrugger und einiges andere nachzuholen und Siegmund telephonisch zu verständigen, sobald sich ein Tag dafür bestimmen ließe. »Sehr scharmant von Ihnen,« dankte der General für alle »nur weiß ich für meine Person wirklich nicht, ob mir meine anderen Aufgaben gestatten werden, dabei zu sein.«
Mit diesem Vorbehalt blieb es bei der Verabredung, und Friedenthal schlug einen Weg ein, der ihn alsbald jenseits der Höhe entschwinden ließ, während die anderen, von dem Wärter begleitet, den der Arzt bei ihnen zurückgelassen hatte, dem Ausgang zustrebten. Sie verließen den Weg und gingen auf der kürzesten Linie über den schönen von Buchen und Platanen bestandenen Hang hinunter. Der General hatte sich seines Kittels entledigt und trug ihn fröhlich über dem Arm wie einen Staubmantel bei einem Ausflug, aber ein Gespräch wollte nicht mehr zustandekommen. Ulrich zeigte keine Neigung, sich nochmals auf den bevorstehenden Abend vorbereiten zu lassen, und Stumm selbst war schon zu sehr mit dem Nachhausekommen beschäftigt; bloß an Clarisse, zu deren Linken er galant dahinging, fühlte er sich
verpflichtet einige unterhaltende Worte zu richten. Aber Clarisse war geistesabwesend und schweigsam. »Ob sie sich am Ende noch wegen dem Schweinigel geniert?« fragte er sich und hatte das Bedürfnis, irgendwie aufzuklären, daß es ihm unter jenen besonderen Umständen
nicht möglich gewesen sei, ritterlich für sie einzutreten; aber anderseits war das doch auch wieder so, daß man am besten nicht davon sprach. So verlief der Rückweg schweigend und beschattet.
Erst als Stumm von Bordwehr seinen Wagen bestieg und es Ulrich überantwortet hatte, für Clarisse und deren Bruder zu sorgen, kehrte seine gute Laune wieder, und mit ihr stellte sich auch eine Idee ein, von der die beklemmenden Erlebnisse eine gewisse Ordnung empfingen. Er hatte aus dem großen Lederetui, das er bei sich führte, eine Zigarre geholt und blies, schon in den Polstern ruhend, die ersten blauen Wölkchen in die sonnige Luft. Behaglich sagte er: »Schrecklich muß so eine Geisteskrankheit sein! In dem Moment fällt mir erst auf, daß ich während der ganzen Zeit, die wir da drin waren, nicht einen einzigen rauchen gesehn hab! Man weiß wirklich nicht, was man alles voraushat, solange man gesund ist!«
An diesem bewegten Tag
schloß sich ein »Großer Abend« bei Tuzzis an.
Die Parallelaktion paradierte in Licht und Glanz; Augen strahlten, Schmuck strahlte, Namen strahlten, Geist strahlte. Ein Geisteskranker könnte unter Umständen daraus folgern, daß die Augen, der Schmuck,
die Namen und der Geist an einem solchen Gesellschaftsabend auf das gleiche hinauskommen: er befände sich damit nicht ganz im Unrecht.
Alles, was nicht an der Riviera oder den Oberitalienischen Seen weilte, war erschienen, bis auf wenige, die um diese Zeit, gegen Ende der Saison, grundsätzlich keine »Ereignisse« mehr anerkannten.
An ihrer Stelle waren eine Menge Leute da, die man noch nie gesehen hatte. Eine lange Pause hatte Lücken in die Präsenzliste gerissen, und zu ihrer Ausfüllung waren neue Menschen hastiger herangezogen worden, als es Diotimas umsichtigen Gepflogenheiten entsprach: Graf Leinsdorf selbst hatte seiner Freundin eine Liste von Personen übergeben, die er sie aus politischen Rücksichten aufzufordern bat, und nachdem der Grundsatz der Exklusivität ihres Salons diesen höheren Rücksichten einmal geopfert war, hatte sie auf das Weitere nicht mehr das gleiche Gewicht gelegt wie sonst. Überhaupt war Se. Erlaucht ganz allein die Ursache dieser festlichen Zusammenkunft; Diotima war der Ansicht, daß der Menschheit nur paarweise zu helfen sei. Aber Graf Leinsdorf bestand auf der Behauptung: »Besitz und Bildung haben in der historischen Entwicklung nicht ihre Schuldigkeit getan; wir müssen einen letzten Versuch mit ihnen machen!«
Und Graf Leinsdorf kam jedesmal darauf zurück. »Meine Liebe, Sie haben sich noch immer nicht entschlossen?« pflegte er zu fragen. »Es ist höchste Zeit. Alle möglichen Leute kommen schon mit destruktiven Tendenzen hervor: wir müssen der Bildung eine letzte Gelegenheit geben, ihnen das Gleichgewicht zu halten.« Aber Diotima, abgelenkt durch den Formenreichtum der menschlichen Paarung, war für alles andere vergeßlich.
Schließlich ermahnte sie Graf Leinsdorf: »Schaun Sie, meine Liebe, das bin ich doch gar nicht von Ihnen gewohnt? Jetzt haben wir bei allen Leuten
die Parole der Tat ausgegeben; ich für meine Person habe den Minister des Innern – also Ihnen kann ich das ja anvertraun, daß ich ihn zu seinem Rücktritt veranlaßt hab; so oben herum ist das gekommen, sehr hoch oben herum: aber es ist ja auch wirklich schon ein Skandal gewesen, und niemand hat den Mut gehabt, dem ein Ende zu machen! Ich vertraue Ihnen das also an,« fuhr er fort »und nun
hat mich der Ministerpräsident gebeten, daß wir uns doch selbst intensiver an der Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung in bezug auf die Reform der inneren Verwaltung beteiligen mögen, weil sich der neue Minister ja noch nicht so auskennen kann: und da wollen nun gerade Sie mich im Stich lassen, die Sie immer die Ausdauerndste gewesen sind? Wir müssen
Besitz und Bildung eine letzte Gelegenheit geben! Wissen Sie so: entweder – oder anders!«
Diesen etwas unvollständigen Schlußsatz brachte er so drohend vor, daß nicht mißzuverstehen war, er wisse, was er wolle, und Diotima versprach auch dienstwillig, daß sie sich beeilen werde; aber dann vergaß sie es doch wieder und tat es nicht.
Da wurde eines Tags Graf Leinsdorf von seiner bekannten Tatkraft gepackt und fuhr bei ihr vor, von vierzig Pferdestärken getrieben.
»Ist jetzt etwas geschehn?!« fragte er, und Diotima mußte es verneinen.
»Kennen Sie den Inn, meine Liebe?« fragte er. Natürlich kannte Diotima diesen Fluß, der außer der Donau der bekannteste von allen, und mannigfach in die Geographie und Geschichte des
Vaterlands verwoben war. Etwas zweifelnd beobachtete sie ihren Besucher, obwohl sie sich zu lächeln bemühte.
Aber Graf Leinsdorf blieb todernst.
»Wenn man von Innsbruck absieht,« eröffnete er ihr »was sind das für lächerliche kleine Nester im Inntal, und was für ein stattlicher Fluß ist dagegen der Inn bei uns! Und ich selbst bin nie und nie darauf gekommen!« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nämlich heute zufällig eine Autokarte angesehn,« erklärte er sich endlich vollends »und da habe ich bemerkt, daß der Inn aus der Schweiz kommt. Das habe ich freilich wahrscheinlich schon gewußt; das wissen wir alle, aber wir denken nie daran. Bei Maloja entspringt er, ein lächerlicher Bach ist er, ich hab ihn ja selbst dort gesehn; so wie bei uns die Kamp oder die Morava. Aber was haben die Schweizer aus ihm gemacht? Das Engadin! Das weltberühmte Engadin! Das Engad-Inn, meine Liebe!! Haben Sie schon je daran gedacht, daß dieses ganze Engadin vom Worte Inn kommt?! Dadrauf bin ich heute gekommen: Und wir mit unserer unerträglichen österreichischen Bescheidenheit machen natürlich nie was aus dem, was uns gehört!«
Nach diesem Gespräch berief Diotima in Eile die gewünschte Gesellschaft ein, teils, weil sie einsah, daß sie Sr. Erlaucht beipflichten müsse, teils weil sie fürchtete, ihren hohen Freund zum Äußersten zu treiben, wenn sie sich jetzt noch weigere.
Aber als sie es ihm versprach, sagte Leinsdorf: »Und ich bitte Sie, meine Verehrte, vergessen Sie diesmal nicht, auch die... – na, die X,
die Sie ›Drangsal‹ nennen – einzuladen; ihre Freundin, die Wayden, läßt mir wegen der Person schon wochenlang keine Ruh!«
Selbst das versprach Diotima, obwohl sie zu
andern Zeiten in der Duldung ihrer Konkurrentin eine Pflichtverletzung gegen das Vaterland gesehen hätte.
Als die Zimmer
von den Strahlen der Festbeleuchtung und der Gesellschaft erfüllt waren, bemerkte »man« nicht nur Se. Erlaucht neben anderen Spitzen der Aristokratie, für deren Erscheinen er gesorgt hatte, sondern auch Se. Exzellenz den Herrn Kriegsminister und in seinem Gefolge den durchgeistigten, etwas überarbeiteten Kopf des Generals Stumm von Bordwehr. Man bemerkte Paul Arnheim. (Einfach und am wirksamsten ohne Titel. Das Man hatte es sich ausdrücklich überlegt. Litotes
nennt man das, kunstvolle Schlichtheit des Ausdrucks, wenn man sich sozusagen ein Nichts vom eigenen Leibe zieht, wie der König den Reif vom Finger, und es einem anderen ansteckt.) Dann bemerkte man alles Nennenswerte aus den Ministerien (der Minister für Unterricht und Kultur hatte sich bei Sr. Erlaucht im Herrenhaus persönlich vom Erscheinen entbunden, weil er am gleichen Tag zur Einweihung eines großen Altargitters nach Linz mußte). Dann bemerkte man, daß die ausländischen Botschaften und Vertretungen eine »Elite« entsandt hätten. Dann »aus Industrie, Kunst und Wissenschaft« bekannte Namen, und eine alte Allegorie des Fleißes lag in dieser unabänderlichen Zusammenstellung dreier bürgerlichen Tätigkeiten, die sich von selbst der schreibenden Feder bemächtigte. Dann nahm und brachte diese gewandte Feder die Damen zu Kenntnis:
Beige, Rosa, Kirsch, Creme...; gestickt und geschlungen, dreimal gerafft oder unter der Taille fallend; und zwischen der Gräfin Adlitz und der Kommerzienrat
Weghuber wurde die bekannte Frau Melanie Drangsal genannt, Witwe des weltberühmten Chirurgen, »selbst gewohnt, dem Geist auf liebenswürdige Weise in ihrem Haus eine Stätte zu bereiten«. Endlich kam abgesondert am Ende dieser Abteilung auch noch Ulrich von Soundso mit Schwester, denn Man hatte geschwankt, ob es schreiben solle: »von dessen aufopfernder Tätigkeit im Dienste des hochgeistigen und vaterländisch so erfreulichen Unternehmens man weiß« oder gar: »ein coming man«; man hatte längst gehört, daß von diesem Günstling des Grafen Leinsdorf viele voraussetzten, er könnte seinen Gönner noch einmal zu einer großen Unüberlegtheit verleiten, und
die Versuchung, sich beizeiten eingeweiht zu erweisen, war groß. Aber die tiefste Genugtuung des Wissenden ist immer das Schweigen gewesen, zumal wenn er vorsichtig ist; und dem verdankten Ulrich und Agathe eine blanke Stellung ihrer Namen als Nachzügler unmittelbar vor jenen Spitzen der Gesellschaft und des Geistes, die nicht mehr persönlich angeführt wurden, sondern bloß fürs Massengrab des »Alles, was Rang und Namen hat« bestimmt waren. Dort hinein kamen viele Menschen, darunter der bekannte Strafrechtslehrer Hofrat Professor Schwung, der als Teilnehmer einer ministeriellen Enquete vorübergehend in der Hauptstadt weilte, und diesmal noch der junge Dichter Friedel Feuermaul, denn obwohl es bekannt war, daß sein Geist diesen Abend ins Leben zu rufen geholfen habe, blieb streng zu unterscheiden, daß damit noch lange nicht jene Geltung festerer Art gewonnen sei, die Toiletten und Titeln zukommt. Leute
wie Titular-Bankdirektor Leo Fischel mit Familie – die den Zutritt zu Diotima nach großen Anstrengungen und
auf Gerdas Betreiben, ohne Ulrich zu bemühn, also nur dank der augenblicklich herrschenden Nachlässigkeit erreicht hatten – wurden überhaupt bloß in einem Augenwinkel verscharrt. Und nur die Gattin eines bekannten, in solcher Gesellschaft aber noch unter der Wahrnehmungsschwelle liegenden, Juristen, mit ihrem heimlichen, selbst dem Man unbekannten Namen Bonadea, wurde nachträglich wieder ausgegraben und unter die Toiletten versetzt, weil ihre Erscheinung allgemein auffiel und bewundernden Anklang fand.
Dieses Man, die überwachende Neugierde der Öffentlichkeit, war natürlich ein Mensch; gewöhnlich sind es ja deren viele, in der Metropole Kakaniens überragte aber damals einer alle übrigen, und zwar war das Regierungsrat Meseritscher. Geboren in Wallachisch-Meseritsch, wovon sein Name Spuren behalten hatte, war dieser Herausgeber, Chefredakteur und Chefberichterstatter der von ihm gegründeten »Parlaments- und Gesellschaftskorrespondenz« in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts als junger Mann in die Hauptstadt gekommen, der die Aussicht, den elterlichen Schnapsausschank in Wallachisch-Meseritsch zu übernehmen, für den Beruf des Journalisten hingab, angezogen von dem Glanz des damals in Hochglut strahlenden Liberalismus. Und alsbald hatte auch er das Seine zu dieser Ära beigetragen durch Gründung einer Korrespondenz, die mit der Versendung kleiner lokaler Nachrichten polizeilicher Art an die Zeitungen begann. Diese Urform seiner Korrespondenz erregte dank des Fleißes, der Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit ihres Besitzers nicht nur die Zufriedenheit
der Zeitungen und der Polizei, sondern wurde in Bälde auch von anderen Hohen
Behörden bemerkt, zur Unterbringung wünschenswerter Nachrichten, für die sie nicht selbst einstehen wollten, benutzt, schließlich bevorzugt und mit Material
versehen, bis sie auf dem Gebiete der nichtamtlichen, aber aus amtlichen Quellen schöpfenden Berichterstattung eine Ausnahmestellung einnahm. Ein Mann voll Tatkraft und unermüdlichem Arbeitseifer, hatte Meseritscher, als er diesen Erfolg sich entwickeln sah, seine Tätigkeit aber auch schon um die Hof- und Gesellschaftsberichterstattung erweitert, ja wahrscheinlich wäre er niemals aus Meseritsch in die Hauptstadt gekommen, wenn ihm das nicht immer vorgeschwebt hätte. Lückenlose Präsenzlisten galten als seine Spezialität. Sein Gedächtnis für Personen und das, was man von ihnen erzählte, war außergewöhnlich und verschaffte ihm zum Salon leicht das gleiche ausgezeichnete Verhältnis wie zum Kriminal. Er kannte die Große Welt, wie sie sich selbst nicht kannte, und mit unerschöpflicher Liebe vermochte er die Leute, die sich in Gesellschaft trafen, am nächsten Tag miteinander bekannt zu machen, wie ein alter Kavalier, dem man seit Jahrzehnten alle Heiratspläne und Schneiderangelegenheiten anvertraut hat. So war schließlich bei Festen und Feiern der emsige, bewegliche, stets dienstbereite und gefällige kleine Herr eine stadtbekannte Figur, und in den späteren Jahren seines Lebens empfingen solche Veranstaltungen überhaupt erst durch ihn und sein Erscheinen ihre unanfechtbare Geltung.
Ihre Höhe hatte diese Laufbahn mit der Ernennung Meseritschers zum Regierungsrat gefunden, denn an diesem Titel hing eine Besonderheit, die dazugehörte: Kakanien war ja das friedlichste Land
der Welt, aber irgendwann hatte es in der tiefen Unschuld
seiner Überzeugung, Kriege gebe es doch nicht mehr, den Einfall gehabt, seine Beamten in Rangsklassen einzuteilen, die denen der Offiziere entsprachen, und hatte ihnen sogar ebensolche Uniformen und Abzeichen verliehn. Der Rang eines Regierungsrats entsprach seither dem eines kaiserlich und königlichen Oberstleutnants; aber wenn das auch an und für sich kein sehr hoher Rang war, so bestand seine Besonderheit, als er Meseritscher verliehen wurde, doch darin, daß dieser nach einer unverbrüchlichen Überlieferung, die, wie alles Unverbrüchliche, in Kakanien nur ausnahmsweise durchbrochen wurde, eigentlich Kaiserlicher Rat hätte werden müssen. Denn Kaiserlicher Rat war nicht etwa, wie man nach dem Gehalt des Worts urteilen sollte, mehr als Regierungsrat, sondern weniger; Kaiserlicher Rat entsprach nur dem Range eines Hauptmanns. Und Meseritscher hätte Kaiserlicher Rat werden müssen, weil dieser Titel außer an Kanzleibeamte nur an die Angehörigen freier Berufe verliehen wurde, also etwa an Hoffrisöre und Wagenfabrikanten, aus dem gleichen Grund aber auch an Schriftsteller und Künstler; wogegen Regierungsrat damals ein wirklicher Beamtentitel war. Darin, daß ihn Meseritscher trotzdem als erster und einziger erhielt, drückte sich also mehr aus als bloß die Höhe des Titels, ja sogar
mehr als die tägliche Aufforderung, das, was hierzulande geschehe, nicht allzu ernst zu nehmen: durch den ungerechtfertigten Titel wurde dem unermüdlichen Chronisten seine nahe Zugehörigkeit zu Hof, Staat und Gesellschaft auf eine feine und bedächtige Weise bestätigt.
Meseritscher hatte auf viele Journalisten seiner Zeit vorbildlich gewirkt, und er war Vorstandsmitglied
maßgeblicher Schriftstellervereine. Es ging
auch die Sage, daß er sich eine Uniform mit einem Goldkragen hätte machen lassen, sie aber nur manchmal zu Hause anzöge. Aber es dürfte nicht wahr gewesen sein, denn im Grunde seines Wesens hatte Meseritscher immer gewisse Erinnerungen an das Schankgewerbe in Meseritsch bewahrt, und ein guter Schankwirt trinkt nicht selbst. Ein guter Schankwirt weiß auch die Geheimnisse aller seiner Gäste, aber er macht nicht von allem Gebrauch, was er weiß; er mengt sich niemals mit einer eigenen Ansicht in die Debatte, erzählt aber und merkt sich mit Behagen alles, was Tatsache, Anekdote oder Witz ist. Und so war Meseritscher, dem man auf allen Festen als dem anerkannten Berichterstatter der schönen Frauen und vornehmen Männer begegnete, für seine Person nie auch nur auf den Versuch gekommen, sich einen guten Schneider zu nehmen, er kannte alle Kulissengeheimnisse der Politik und betätigte sich nicht mit einer Zeile politisch, er wußte von allen Erfindungen und Entdeckungen seiner Zeit und verstand keine einzige. Es genügte ihm vollauf, all das vorhanden und gegenwärtig zu wissen. Er liebte ehrlich seine Zeit, und auch sie vergalt es ihm mit einer gewissen Liebe, weil er täglich von ihr berichtete, daß sie da sei.
Als er eintrat und Diotima ihn gewahrte, winkte sie ihn sofort zu sich heran. »Lieber Meseritscher,« sagte sie, so lieblich sie konnte »Sie werden die Rede, die Seine Erlaucht im Herrenhaus gehalten hat, doch nicht etwa für den Ausdruck unserer Gesinnung gehalten oder gar wörtlich genommen haben!?«
Seine Erlaucht hatte nämlich, zusammenhängend mit dem Ministersturz und gereizt durch seine Sorgen, im Herrenhaus nicht nur eine viel bemerkte
Rede gehalten, in der er seinem Opfer
vorwarf, daß es den aufbauenden wahren Geist der Hilfsbereitschaft und Strenge habe vermissen lassen, sondern hatte sich dabei von seinem Eifer auch zu allgemeinen Betrachtungen hinreißen lassen, die auf unaufgeklärte Weise in einer Würdigung der Wichtigkeit der Presse gipfelten, worin er dieser »zur Großmachtstellung aufgerückten Institution« ungefähr alles vorwarf, was ein ritterlich denkender, unabhängiger und unparteiischer christlicher Mann einem Institut vorwerfen kann, das nach seiner Meinung in keiner Weise so ist wie er. Das war es, was Diotima diplomatisch gutzumachen suchte, und während sie immer schönere
und schwerer verständliche Worte für die wahre Gesinnung des Grafen Leinsdorf fand, hörte ihr Meseritscher nachdenklich zu. Aber plötzlich legte er ihr die Hand auf den Arm und schnitt ihr großmütig das Wort ab: »Gnädige Frau, wo werden Sie sich darüber aufregen« sagte er zusammenfassend. »Seine Erlaucht ist doch unser guter Freund. Er hat groß übertrieben: warum soll er nicht als Kavalier?!« Und um ihr gleich sein ungetrübtes Verhältnis zu ihm zu beweisen, fügte er hinzu: »Ich geh jetzt zu ihm!«
So war Meseritscher! Aber ehe er sich auf den Weg machte, wandte er sich noch einmal vertraulich an Diotima: »Und was ist eigentlich mit Feuermaul, gnädige Frau?«
Diotima hob lächelnd die schönen Schultern. »Wirklich nichts Erschütterndes, lieber Regierungsrat. Wir wollen uns nicht nachsagen lassen, daß wir irgendjemand zurückweisen, der sich uns mit gutem Willen naht!«
»›Guter Wille‹ ist gut!« dachte Meseritscher auf dem Weg zu Graf Leinsdorf; aber ehe er diesen
erreichte, ja ehe er auch nur seinen Gedanken zu Ende
gedacht hatte, dessen Ende er selbst gern gewußt hätte, stellte sich ihm freundlich der Hausherr in den Weg. »Lieber Meseritscher, die amtlichen Quellen haben wieder einmal versagt,« begann Sektionschef Tuzzi lächelnd »ich wende mich an die halbamtliche Berichterstattung: Können Sie mir etwas über den Feuermaul erzählen, der heute bei uns ist?«
»Was soll ich erzählen können, Herr Sektionschef?!« beklagte sich Meseritscher.
»Man sagt, daß er ein Genie sein soll!«
»Hör ich gern!« antwortete Meseritscher. – Will man rasch und sicher berichten können, was es Neues gibt, so darf das Neue nicht allzu verschieden vom Alten sein, das man schon kennt. Auch das Genie macht davon keine Ausnahme, das heißt, das wirkliche und anerkannte, über dessen Bedeutung sich seine Zeit rasch einig ist. Anders das Genie, das nicht gleich jeder für ein solches hält! Das hat sozusagen etwas ganz und gar Ungeniales, aber nicht einmal das hat es für sich allein, so daß man sich in ihm in jeder Hinsicht irren kann. Für Regierungsrat Meseritscher gab es also einen festen Bestand an Genies, den er mit Liebe und Aufmerksamkeit versorgte, aber Neuaufnahmen vollzog er nicht gern. Je älter und erfahrener er wurde, desto mehr hatte sich sogar in ihm die Gewohnheit herausgebildet, daß er das aufstrebende künstlerische Genie, und vornehmlich das ihm beruflich nahestehende der Literatur, bloß für einen leichtfertigen Störungsversuch seiner Berichterstatteraufgabe ansah, und er haßte es mit seinem guten Herzen solange, bis es für die Rubrik der Personalnachrichten reif war. So weit war Feuermaul aber damals noch lange nicht
und sollte erst
dahin gebracht werden. Regierungsrat Meseritscher war nicht ohneweiters damit einverstanden.
»Man sagt, daß er ein großer Dichter sein soll« wiederholte Sektionschef Tuzzi unsicher, und Meseritscher erwiderte fest: »Wer sagt das?! Die Kritiker im Feuilleton sagen das! Was zählt das schon, Herr Sektionschef?!« fuhr er fort. »Die Sachverständigen sagen das. Was sind die Sachverständigen? Manche sagen das Gegenteil. Und man hat Beispiele, daß Sachverständige heute so und morgen anders sagen. Kommt es überhaupt auf sie an? Was wirklich ein Ruhm ist, muß schon bei den Unverständigen angelangt sein, dann ist er erst verläßlich! Wenn ich Ihnen sagen soll, was ich denke: Von einem bedeutenden Mann darf man nicht wissen, was er macht, außer daß er ankommt und abreist!«
Er hatte sich schwermütig in Feuer geredet, und seine Augen hingen an Sektionschef Tuzzi. Dieser schwieg verzichtend. »Was ist eigentlich heute los, Herr Sektionschef?« fragte Meseritscher.
Tuzzi zuckte lächelnd und zerstreut die Schultern. »Nichts. Eigentlich nichts. Ein bißl Ehrgeiz. Haben Sie schon einmal ein Buch von dem Feuermaul gelesen?«
»Ich weiß, was darin steht: Friede, Freundschaft, Güte und so.«
»Sie halten also nicht viel von ihm?« meinte Tuzzi.
»Gott!« begann Meseritscher und wand sich »Bin ich ein Sachverständiger? –« In diesem Augenblick steuerte aber Frau Drangsal auf die beiden los, und Tuzzi mußte ihr höflich einige Schritte entgegentun; diesen Augenblick benutzte Meseritscher, der in dem Graf Leinsdorf umgebenden Kreis eine Lücke erspähte, mit raschem Entschluß, und ohne sich noch einmal aufhalten zu lassen, warf er neben Sr.
Erlaucht Anker. Graf Leinsdorf stand im Gespräch mit dem Minister und einigen anderen Herren, wandte
sich aber, sobald Regierungsrat Meseritscher allen seine große Verehrung ausgesprochen hatte, sofort ein wenig ab und zog ihn zur Seite. »Meseritscher,« sagte Se. Erlaucht eindringlich »versprechen Sie mir, daß keine Mißverständnisse entstehn, die Herren bei den Zeitungen wissen ja nie, was sie schreiben sollen. Also: Am Stand der Dinge hat sich seit dem letztenmal nicht das geringste geändert. Vielleicht wird sich etwas ändern. Das wissen wir nicht. Vorderhand dürfen wir nicht gestört werden. Ich bitt Sie also, auch wenn Sie jemand von Ihren Kollegen fragt, ist der ganze heutige Abend nur eine häusliche Angelegenheit der Frau Sektionschef Tuzzi!«
Meseritschers Augendeckel bestätigten langsam und besorgt, daß er die ausgegebene feldherrliche Disposition verstanden habe. Und da ein Vertrauen das andere wert ist, feuchteten sich seine Lippen mit dem Glanz, der eigentlich in die Augen gehört hätte, und er fragte: »Und was ist mit Feuermaul, Erlaucht, wenn es erlaubt ist, das zu wissen?«
»Warum soll das nicht zu wissen erlaubt sein?« erwiderte Graf Leinsdorf erstaunt. »Gar nichts ist mit dem Feuermaul! Er ist halt eingeladen worden, weil die Baronin Wayden nicht früher Ruh gegeben hat. Was soll denn sonst sein? Wissen Sie vielleicht was?«
Regierungsrat Meseritscher hatte der Angelegenheit Feuermaul bisher keine Bedeutung beimessen wollen, sie vielmehr bloß für eine der vielen gesellschaftlichen Rivalitäten gehalten, von denen er alle Tage erfuhr. Daß nun aber auch noch Graf Leinsdorf so energisch bestritt, sie besäße Wichtigkeit, erlaubte ihm nicht mehr, bei dieser Auffassung zu
bleiben, und er war nun doch überzeugt, daß sich hier etwas Wichtiges vorbereite. »Was können sie
vorhaben?« grübelte er, während er weiterwanderte, und ließ die kühnsten Möglichkeiten der inneren und äußeren Politik an sich vorüberziehn. Nach einer Weile dachte er aber kurz entschlossen: »Es wird schon nichts sein!« und ließ sich von seiner Berichterstattertätigkeit nicht länger ablenken. Denn so sehr es in Widerspruch mit dem Inhalt seines Lebens zu stehen schien: Meseritscher glaubte nicht an große Ereignisse, ja er liebte sie nicht. Wenn man überzeugt ist, daß man in einer sehr wichtigen, sehr schönen und sehr großen Zeit lebe, verträgt man nicht die Vorstellung, daß in ihr noch etwas besonders Wichtiges, Schönes und Großes geschehen könnte. Meseritscher war kein Alpinist, aber wäre er einer gewesen, so würde er gesagt haben, das sei so richtig wie die Tatsache, daß man Aussichtstürme ins Mittelgebirge setzt, und niemals auf Hochgebirgsgipfel. Da ihm solche Vergleiche fehlten, begnügte er sich mit einem Unbehagen und dem Vorsatz, Feuermaul dafür auf keinen Fall in seinem Bericht schon mit Namen zu erwähnen.
Ulrich,
der neben seiner Kusine gestanden hatte, während sie mit Meseritscher sprach, fragte sie, als sie einen Augenblick allein blieben: »Ich bin leider zu spät eingetroffen: wie war die erste Begegnung mit der Drangsal?«
Diotima hob die schweren Augenwimpern für
einen einzigen weltmüden Blick und ließ sie wieder
sinken. »Natürlich reizend« sagte sie. »Sie hat mich aufgesucht. Wir werden heute irgend etwas vereinbaren. Es ist ja so gleichgültig!«
»Sehen Sie!« sagte Ulrich. Es klang wie in alten Gesprächen; es schien deren Schlußstrich ziehen zu wollen.
Diotima wandte den Kopf zur Seite und sah ihren Vetter fragend an.
»Ich habe es Ihnen vorher gesagt. Schon ist alles beinahe vorbei und nicht gewesen« behauptete Ulrich. Er hatte ein Bedürfnis zu reden; als er nachmittags nach Hause gekommen war, war Agathe dagewesen und bald wieder fortgegangen; sie hatten nur wenige kurze Worte gewechselt, ehe sie hieherfuhren; Agathe hatte sich die Gärtnersfrau geholt und sich mit ihrer Hilfe angekleidet. »Ich habe Sie gewarnt!« sagte Ulrich.
»Wovor gewarnt?« fragte Diotima langsam.
»Ach, ich weiß nicht. Vor allem!«
Es war die Wahrheit, er wußte selbst nicht mehr, wovor nicht. Vor ihren Ideen, vor
ihrem Ehrgeiz, vor der Parallelaktion, vor der Liebe, vor dem Geist, vor dem Weltjahr, vor den Geschäften, vor ihrem Salon, vor ihren Leidenschaften; vor der Empfindsamkeit und vor dem nachlässigen Gewährenlassen, vor der Maßlosigkeit und vor der Korrektheit, vor dem Ehebruch wie vor der Heirat; es gab nichts, wovor er sie nicht gewarnt hatte: »So ist sie eben!« dachte er. Er empfand alles lächerlich, was sie tat, und doch war sie so schön, daß es traurig war. »Ich habe Sie gewarnt« wiederholte Ulrich. »Sie sollen jetzt ja nur noch Interesse für sexualwissenschaftliche Fragen haben!?«
Diotima überging es. »Halten Sie diesen Liebling der Drangsal für begabt?« fragte sie.
»Gewiß« erwiderte Ulrich. »Begabt, jung, unfertig. Sein Erfolg und diese Frau werden ihn verderben. Bei uns werden ja schon die Säuglinge verdorben, weil man ihnen sagt, daß sie fabelhafte Instinktmenschen seien, die durch eine intellektuelle Entwicklung nur verlieren könnten. Er hat manchmal schöne Einfälle, aber er kann nicht zehn Minuten warten, ohne einen Unsinn zu sagen.« Er näherte sich Diotimas Ohr. »Kennen Sie die Frau genauer?«
Diotima schüttelte in einer kaum merklichen Weise den Kopf.
»Sie ist gefährlich ehrgeizig« sagte Ulrich. »Aber sie sollte Sie bei Ihren neuen Studien interessieren: Dort, wo schöne Frauen früher ein Feigenblatt hatten, hat sie ein Lorbeerblatt! Ich hasse solche Frauen!«
Diotima lachte nicht, sie lächelte nicht einmal; sie überließ bloß dem »Vetter« ihr Ohr. »Wie finden Sie ihn denn als Mann?« fragte er.
»Traurig« flüsterte Diotima. »Wie ein Lämmchen, das vorzeitig die Fettsucht bekommen hat.«
»Warum nicht! Die Schönheit des Mannes ist nur ein sekundäres Geschlechtsmerkmal« meinte Ulrich. »Primär erregend ist an ihm die Hoffnung auf seinen Erfolg. Feuermaul ist in zehn Jahren eine internationale Größe; dafür werden die Verbindungen der Drangsal sorgen, und dann wird sie ihn heiraten. Wenn der Ruhm bei ihm bleibt, wird es eine glückliche Ehe werden.«
Diotima besann sich und verbesserte ernst: »Das Glück der Ehe
hängt von Bedingungen ab, über die man nicht ohne disziplinierte Arbeit an sich selbst urteilen lernt!« Dann ließ sie ihn zurück, wie ein stolzes Schiff den Kai zurückläßt, an dem es gelegen hat. Ihre Aufgaben als Hausfrau führten sie fort, und sie nickte unmerklich, ohne ihn anzusehen,
als
sie die Taue löste. Aber sie meinte es nicht bös; im Gegenteil, Ulrichs Stimme war ihr wie eine alte Jugendmusik vorgekommen. Sie fragte sich sogar im stillen, zu welchen Ergebnissen eine liebeswissenschaftliche Beleuchtung seiner Person wohl führen könnte. Merkwürdigerweise hatte sie ihre eingehende Durchforschung dieser Fragen bisher noch nie mit ihm in Verbindung gesetzt.
Ulrich blickte auf, und durch eine Lücke in dem geselligen Treiben, eine Art optischen Kanals, dem vielleicht auch schon Diotimas Auge gefolgt war, ehe sie etwas unvermittelt ihren Platz verließ, gewahrte er im übernächsten Zimmer Paul Arnheim mit Feuermaul im Gespräch, und Frau Drangsal stand wohlwollend daneben. Sie hatte die beiden Männer zusammengebracht. Arnheim hielt die Hand mit der Zigarre erhoben, es sah wie eine unbewußte Abwehrbewegung aus, aber er lächelte sehr liebenswürdig; Feuermaul sprach lebhaft, hielt seine Zigarre mit zwei Fingern und sog zwischen den Sätzen mit der Gier eines Kalbes an ihr, das seine Schnauze gegen den mütterlichen Euter stößt. Ulrich konnte sich denken, was sie sprachen, aber er gab sich nicht die Mühe, es zu tun. Er blieb in glücklicher Verlassenheit stehn, und sein Auge suchte seine Schwester. Er entdeckte sie in einer Gruppe ihm ziemlich fremder Männer, und etwas kühl Gefrierendes rann durch seine Zerstreutheit. Da stieß ihm Stumm von Bordwehr eine Fingerspitze sanft zwischen die Rippen, und im gleichen Augenblick näherte sich auf der anderen Seite Hofrat Professor Schwung, wurde aber wenige Schritte vor ihm durch einen dazwischentretenden hauptstädtischen Kollegen aufgehalten.
»Daß ich dich endlich finde!« flüsterte der
General
erleichtert. »Der Minister möchte wissen, was ›Richtbilder‹ sind.«
»Wieso Richtbilder?«
»Wieso weiß ich nicht. Also was sind Richtbilder?«
Ulrich definierte: »Ewige Wahrheiten, die weder wahr noch ewig sind, sondern für eine Zeit gelten, damit sie sich nach etwas richten kann. Das ist ein philosophischer und soziologischer Ausdruck und wird selten gebraucht.«
»Aha, das stimmt schon« meinte der General. »Der Arnheim hat nämlich behauptet: die Lehre, der Mensch ist gut, sei nur ein Richtbild. Der Feuermaul dagegen hat geantwortet: was Richtbilder seien, wisse er nicht, aber der Mensch sei gut, und das sei eine ewige Wahrheit! Darauf hat der Leinsdorf gesagt: ›Das ist schon ganz richtig. Böse Menschen gibt es eigentlich überhaupt nicht, denn das Böse kann
niemand wollen; das sind nur Irregeleitete. Die Leute sind heute eben nervös, weil in Zeiten wie den heutigen so viele Zweifler entstehn, die an nichts Festes glauben.‹ Ich habe mir gedacht, der hätte heute nachmittags mit uns sein sollen! Aber im übrigen meint er ja selbst auch, daß man die Leute, wenn sie nicht einsehen wollen, zwingen muß. Und da möchte der Minister jetzt eben wissen, was Richtbilder sind: Ich geh bloß schnell zu ihm zurück und bin gleich wieder da; du bleibst derweilen hier stehn, damit ich dich wiederfinde?! Ich muß nämlich dringend mit dir noch etwas anderes sprechen und dich dann zum Minister führen!«
Ehe Ulrich Aufklärung verlangen konnte, schob im Vorbeistreifen mit den Worten »Man hat Sie lange nicht bei uns gesehn!« Tuzzi die Hand in seinen Arm und fuhr fort: »Erinnern Sie sich, daß ich
Ihnen vorausgesagt habe, wir werden es mit einer
Invasion des Pazifismus zu tun bekommen?!« Er blickte dabei auch dem General freundlich in die Augen, aber Stumm hatte es eilig und erwiderte bloß, daß er zwar als Offizier ein anderes Richtbild habe, jedoch gegen keine ehrenwerte Überzeugung...:
der Rest dieses Satzes entschwand mit ihm, denn er ärgerte sich jedesmal über Tuzzi, und das ist der Ausbildung der Gedanken nicht günstig.
Der Sektionschef blinzelte fröhlich hinter dem General drein und wandte sich dann wieder dem »Vetter« zu. »Die Öllagersache ist natürlich nur Spiegelfechterei« sagte er.
Ulrich sah ihn erstaunt an.
»Sie wissen am Ende noch nichts von dieser Ölgeschichte?« fragte Tuzzi.
»Doch« erwiderte Ulrich. »Ich habe mich bloß darüber gewundert, daß Sie es wissen.« Und um keine Unhöflichkeit zu verraten, fügte er hinzu: »Sie haben es vortrefflich zu verheimlichen verstanden!«
»Ich weiß es schon lange« erklärte Tuzzi geschmeichelt. »Daß dieser Feuermaul heute bei uns ist, hat natürlich der Arnheim durch den Leinsdorf veranlaßt. Haben Sie übrigens seine Bücher gelesen?«
Ulrich bejahte es.
»Ein Erzpazifist!« sagte Tuzzi. »Und die Drangsal, wie sie meine Frau nennt, bemuttert ihn mit solchem Ehrgeiz, daß sie für den Pazifismus über Leichen geht, wenn es sein muß, obwohl sie sich von Haus aus gar nicht dafür interessiert, sondern nur für Künstler.« Tuzzi überlegte eine kleine Weile, dann eröffnete er Ulrich: »Der Pazifismus ist natürlich die Hauptsache, die Öllager sind nur ein Ablenkungsmanöver; darum schiebt man den Feuermaul
mit seinem Pazifismus vor, denn dann denkt jeder: ›Aha, das ist das Ablenkungsmanöver!‹ und glaubt,
daß es hintenherum um die Ölfelder geht! Ausgezeichnet gemacht, aber viel zu klug, als daß man es nicht merkte. Denn wenn der
Arnheim die galizischen Ölfelder und einen Liefervertrag mit dem Militärärar hat, müssen wir die Grenze natürlich schützen. Wir müssen auch an der Adria Ölstützpunkte für die Marine errichten und Italien beunruhigen. Wenn wir aber in dieser Weise unsere Nachbarn reizen, steigt natürlich das Friedensbedürfnis und die Friedenspropaganda, und wenn dann der Zar mit irgendeiner Idee zum Ewigen Frieden hervortritt, so wird er den Boden psychologisch vorbereitet finden. Das ist es, was der Arnheim will!«
»Und dagegen haben Sie etwas?«
»Dagegen haben wir natürlich nichts« sagte Tuzzi. »Aber wie Sie sich vielleicht erinnern, habe ich Ihnen schon einmal auseinandergesetzt, daß es nichts so Gefährliches gibt wie den Frieden um jeden Preis. Wir müssen uns gegen den Dilettantismus schützen!«
»Aber Arnheim ist doch Rüstungsindustrieller« entgegnete Ulrich lächelnd.
»Natürlich ist er das!« flüsterte Tuzzi etwas gereizt. »Denken Sie doch um Himmelswillen nicht so einfach von diesen Dingen! Seinen Vertrag hat er dann ja. Und höchstens rüsten auch noch die Nachbarn auf. Sie werden sehen: im entscheidenden Augenblick entpuppt er sich als Pazifist! Pazifismus ist ein dauerndes und sicheres Rüstungsgeschäft, Krieg ein Risiko!«
»Ich glaube ja, die Militärpartei meint es gar nicht so schlimm« lenkte Ulrich ein. »Sie möchte bloß durch das Geschäft mit Arnheim ihre Umbewaffnung
der Artillerie erleichtern, weiter nichts. Und schließlich rüstet man heute in der ganzen Welt doch nur für den Frieden; also denkt sie wahrscheinlich,
daß es bloß korrekt ist, wenn man das einmal auch mit Hilfe der Friedensfreunde tut!«
»Wie stellen sich die Herren denn die Durchführung vor?« forschte Tuzzi, ohne auf den Scherz einzugehn.
»Ich glaube, so weit sind sie noch gar nicht; vorderhand nehmen sie erst gefühlsmäßig Stellung.«
»Natürlich!« bekräftigte Tuzzi ärgerlich, als hätte er nichts anderes erwartet. »Die Militärs sollten an nichts als den Krieg denken und sich mit allem anderen an das zuständige Ressort wenden. Aber ehe sie das tun, bringen die Herren lieber mit ihrem Dilettantismus die ganze Welt in Gefahr. Ich wiederhole Ihnen: Nichts ist in der Diplomatie so gefährlich wie das unsachliche Reden vom Frieden! Jedesmal, wenn das Bedürfnis danach eine gewisse Höhe erreicht hat und nicht mehr zu halten war, ist noch ein Krieg daraus entstanden! Das kann ich Ihnen aktenmäßig beweisen!«
In diesem Augenblick war Hofrat Professor Schwung seines Fachkollegen ledig geworden und benutzte Ulrich aufs herzlichste, um dem Hausherrn vorgestellt zu werden. Ulrich willfahrte dem mit der
Bemerkung, man könne sagen, daß der berühmte Gelehrte auf dem Gebiet des Strafrechts den Pazifismus ähnlich verurteile, wie der maßgebliche Sektionschef auf dem Gebiet der Politik.
»Aber um Gotteswillen,« verwahrte sich Tuzzi lachend »da haben Sie mich ganz falsch verstanden!« Und auch Schwung, nachdem er einen Augenblick gewartet hatte, schloß sich, sicher gemacht, dem Einspruch mit der Bemerkung an, daß er seine Auffassung
der Verminderten Zurechnungsfähigkeit keinesfalls als blutdürstig und inhuman bezeichnet sehen möchte. »Im Gegenteil!« rief er als alter
Katheder-Schauspieler mit einer sich an Stelle der Arme beteuernd ausbreitenden Stimme aus. »Gerade die Pazifizierung des Menschen veranlaßt uns zu einer gewissen Strenge! Darf ich voraussetzen, daß Herr Sektionschef von meinen augenblicklich aktuellen Bemühungen in dieser Sache etwas gehört haben?« Er wandte sich jetzt unmittelbar an Tuzzi, der zwar nichts von dem Streit um die Frage gehört hatte, ob die verminderte Zurechnungsfähigkeit eines kranken Verbrechers ihre Begründung nur in dessen Vorstellungen oder nur in dessen Willen haben könne, aber umso höflicher allem zustimmte. Schwung, der mit der Wirkung, die er hervorbrachte, sehr zufrieden war, fing darauf den Eindruck zu loben an, den ihm die ernste Lebensauffassung mache, deren Zeugnis der heutige Abend sei, und erzählte, daß er, da und dort den Gesprächen zuhörend, sehr oft die Worte »männliche Strenge« und »moralische Gesundheit« vernommen habe. »Unsere Kultur wird viel zu sehr von Minderwertigen, moralisch Schwachsinnigen verseucht« fügte er für seine Person hinzu und frug: »Aber was ist eigentlich der Zweck des heutigen Abends? Ich habe, an verschiedenen Gruppen vorbeikommend, auffallend oft geradezu Rousseauische Ansichten über die angeborene Güte des Menschen äußern gehört?«
Tuzzi, an den diese Frage vornehmlich gerichtet war, schwieg lächelnd, aber da kehrte gerade der General zu Ulrich zurück, und Ulrich, der ihm zu entschlüpfen wünschte, machte ihn mit Schwung bekannt und bezeichnete ihn als den geeignetsten Mann unter allen Anwesenden, diese Frage zu beantworten.
Stumm von Bordwehr wehrte sich lebhaft dagegen, aber Schwung und auch Tuzzi ließen ihn nicht los; und Ulrich frohlockte bereits, mit den ersten
Schritten den Rückzug antretend, als ihn ein alter Bekannter mit den Worten festhielt: »Meine Frau und Tochter sind auch hier.« Es war Bankdirektor Leo Fischel.
»Hans Sepp hat die Staatsprüfung gemacht« erzählte er. »Was sagt man dazu? Jetzt fehlt ihm nur noch ein Examen zum Doktor! Wir sitzen alle dort drüben in einer Ecke« – er wies auf das entfernteste Zimmer. »Wir kennen zu wenig Leute hier. Übrigens hat man Sie lange nicht bei uns gesehen! Ihr Herr Vater, nicht wahr? Hans Sepp
hat uns die Einladung für heute abend besorgt, meine Frau wollte durchaus: soweit ist der Bursche ja nicht ganz untüchtig. Sie sind jetzt so halboffiziell verlobt, Gerda und er. Das wissen Sie wohl gar nicht? Aber Gerda, sehen Sie, das Mädel, ich weiß nicht einmal, ob sie ihn liebt oder ob sie sich das bloß in den Kopf gesetzt hat. Kommen Sie doch ein bissel zu uns herüber –!«
»Ich komme dann später« versprach Ulrich.
»Ja, kommen Sie!« wiederholte Fischel und schwieg. Dann flüsterte er: »Das ist wohl der Hausherr? Wollen Sie mich nicht mit ihm bekannt machen? Wir haben noch keine Gelegenheit gehabt. Weder ihn noch sie kennen wir.«
Als sich Ulrich dazu anschickte, hielt ihn Fischel aber zurück. »Und der große Philosoph? Was macht er?« fragte er. »Meine Frau und Gerda sind natürlich ganz verliebt in ihn. Aber was ist mit den Öllagern? Man hört jetzt, das soll ein falsches Gerücht gewesen sein: ich glaub das nicht! Dementiert wird immer! Wissen Sie, das ist so: Wenn sich meine Frau über ein Dienstmädel ärgert, dann heißt es, sie
lügt, sie ist unmoralisch, sie ist frech –: sozusagen lauter seelische Defekte. Wenn ich dem Mädel aber heimlich eine Lohnerhöhung zusichere, um Ruhe zu haben, ist die Seele plötzlich weg! Keine Rede mehr von
Seele, alles geht auf einmal in Ordnung, und meine Frau weiß nicht warum: Nicht? So ist es doch? Die Öllager haben zu viel kaufmännische Wahrscheinlichkeit für sich, als daß man dem Dementi glauben könnte.«
Und weil sich Ulrich schweigsam verhielt, Fischel aber im Ornat des Wissenden zu seiner Frau zurückkehren wollte, fing er noch einmal an: »Man muß zugeben, daß es hier hübsch ist. Aber meine Frau möchte wissen: es wird so sonderbar geredet? Und was ist eigentlich dieser Feuermaul?« fügte er gleich noch hinzu. »Gerda sagt, er ist ein großer Dichter; Hans Sepp sagt, er ist gar nichts als ein Streber, auf den die Leute hereingefallen sind!?«
Ulrich meinte, die Wahrheit werde ungefähr in der Mitte liegen.
»Das ist einmal ein gutes Wort!« bedankte ihn Fischel. »Die Wahrheit liegt nämlich immer in der Mitte, und das vergessen heute alle, wo man nur extrem ist! Ich sage Hans Sepp jedesmal: Ansichten kann jeder haben, aber bleibend sind auf die Dauer nur die, mit denen man etwas verdient, weil das beweist, daß sie andern Leuten auch einleuchten!« – Es hatte sich irgend etwas Wichtiges unmerklich an Leo Fischel verändert, aber Ulrich verabsäumte es leider, dem nachzugehn, und beeilte sich bloß, Gerdas Vater an die Gruppe des Sektionschefs Tuzzi weiterzugeben.
Dort war inzwischen Stumm von Bordwehr beredt geworden, da er Ulrichs nicht habhaft werden konnte und mit einem so lebhaften Verlangen sich
auszusprechen geladen war, daß es auf dem nächsten
Wege ausbrach. »Wie man den heutigen Abend erklären soll?« rief er aus, die Frage des Hofrats Schwung wiederholend: »Ich möchte sozusagen in
seinem eigenen wohlerwogenen Sinn behaupten: am besten gar nicht! Das ist kein Witz, meine Herrn« erläuterte er sich, nicht ohne bescheidenen Stolz: »Ich habe heute nachmittag eine junge Dame, der ich die Psychiatrische Klinik unserer Universität zeigen mußte, zufällig im Gespräch gefragt, was sie dort eigentlich will, damit man ihr alles recht erklären kann, und da hat sie mir eine geistvolle Antwort gegeben, die ausnehmend zum Nachdenken anregt. Sie hat nämlich gesagt: ›Wenn man alles erklären soll, so wird der Mensch niemals etwas an der Welt ändern!‹«
Schwung mißbilligte diese Behauptung durch ein Kopfschütteln.
»Wie sie das gemeint hat, weiß ich ja nicht« verwahrte sich Stumm »und will mich nicht damit identifizieren, aber etwas Wahres fühlt man unmittelbar daran! Sehen Sie, ich verdanke zum Beispiel meinem Freund, der schon oft Seine Erlaucht und damit die Aktion beraten hat,« – er wies höflich auf Ulrich hin – »sehr viel Belehrung, aber was sich hier heute bildet, das ist eine gewisse Abneigung gegen Belehrung. Damit komme ich auf das zurück, was ich eingangs behauptet habe!«
»Aber Sie wollen doch« sagte Tuzzi »– ich
meine, man erzählt, daß die Herren vom Kriegsministerium heute einen vaterländischen Beschluß provozieren wollen; eine Sammlung öffentlicher Gelder, oder so etwas Ähnliches, für eine Neubewaffnung der Artillerie. Natürlich soll das nur einen demonstrativen Wert haben, um das Parlament durch den öffentlichen Willen unter einen gewissen Druck zu setzen.«
»So möchte ich allerdings auch manches verstehn, was ich heute gehört habe!« pflichtete Hofrat Schwung bei.
»Das ist viel komplizierter, Herr Sektionschef!« sagte der General.
»Und Doktor Arnheim?« fragte Tuzzi unverblümt. »Ich darf doch offen reden: Sind Sie sicher, daß auch Arnheim nichts will als die galizischen Ölfelder, die mit der Kanonenfrage sozusagen ein Junktim bilden?«
»Ich kann nur von mir und dem, was ich damit zu tun habe, sprechen, Herr Sektionschef,« verwahrte sich Stumm noch einmal »und da ist alles viel komplizierter!«
»Natürlich ist es komplizierter!« gab Tuzzi lächelnd zurück.
»Natürlich brauchen wir die Kanonen,« ereiferte sich der General »und möglicherweise kann es vorteilhaft sein, dabei in der von Ihnen angedeuteten Weise mit Arnheim zusammenzuarbeiten. Aber ich wiederhole, daß ich nur von meinem Standpunkt als Bildungsreferent sprechen kann, und da frage ich Sie: was nützen Kanonen ohne Geist!«
»Und warum wurde dann solcher Wert auf die Beiziehung des
Herrn Feuermaul gelegt?« fragte Tuzzi spöttisch. »Das ist doch der lebendige Defaitismus!«
»Verzeihen Sie, daß ich widerspreche,« sagte der General entschieden »aber das ist Zeitgeist! Der Zeitgeist hat heute zwei Strömungen. Seine Erlaucht – er steht drüben mit dem Minister, und ich bin soeben erst von dort gekommen – Seine Erlaucht zum Beispiel sagt, man muß eine Parole der Tat ausgeben, das verlange die Zeitentwicklung. Und wirklich haben ja auch heute alle viel weniger
Freude an den großen Gedanken der Menschheit, als, sagen wir, vor hundert Jahren. Aber anderseits hat natürlich auch die Gesinnung der Menschenliebe etwas für sich, nur sagt da Seine Erlaucht: wenn jemand sein Glück
nicht will, so muß man ihn unter Umständen auch dazu zwingen! Seine Erlaucht ist also für die eine Strömung, aber er entzieht sich auch nicht der andern! –«
»Das
habe ich nicht ganz verstanden« wandte Professor Schwung ein.
»Das ist auch nicht leicht zu verstehn« räumte Stumm bereitwillig ein. »Gehen wir also vielleicht noch einmal von der Tatsache aus, daß ich zwei Strömungen des Zeitgeistes bemerke. Die eine Strömung sagt, daß der Mensch von Natur gut ist, wenn man ihn sozusagen nur in Ruh läßt –«
»Wieso gut?« unterbrach ihn Schwung. »Wer soll heute so naiv denken? Wir leben doch nicht mehr in der Ideenwelt des achtzehnten Jahrhunderts?!«
»Da muß ich mich schon verwahren,« verteidigte sich der General gekränkt »denken Sie bloß an die Pazifisten, an die Rohköstler, an die Gegner der Gewalt, an die natürlichen Lebensreformer, an die Antiintellektuellen,
an die Kriegsdienstverweigerer...:
mir fällt in der Eile gar nicht alles ein, und alle, die sozusagen dieses Vertrauen in den Menschen setzen, bilden zusammen eine große Strömung. Aber bitte,« fügte er mit jener Bereitwilligkeit hinzu, die an ihm so liebenswürdig war »wenn Sie wollen, können wir ja auch vom Gegenteil ausgehn. Gehn wir also vielleicht von der Tatsache aus, daß der Mensch geknechtet werden muß, weil er alleinig und von selbst niemals das Rechte tut: darin sind wir möglicherweise leichter einer Meinung. Die Masse braucht eine starke Hand, sie braucht Führer,
die mit ihr energisch umgehn und nicht bloß reden, also mit einem Wort, sie braucht über sich den Geist der Tat; die menschliche Gesellschaft besteht eben sozusagen nur aus einer kleinen Anzahl von Freiwilligen, die dann auch die
nötige Vorbildung haben, und aus Millionen ohne höheren Ehrgeiz, die nur zwangsweise dienen: so ist es doch ungefähr?! Und weil sich diese Erkenntnis allmählich auf Grund der gemachten Erfahrungen auch in unserer Aktion Bahn gebrochen hat, ist nun die erste Strömung (denn das, was ich jetzt beschrieben habe, war schon
die zweite Strömung im Zeitgeist) – also die erste Strömung ist sozusagen erschrocken vor der Befürchtung, daß die große Idee der Liebe und des Glaubens an den Menschen ganz verloren gehen könnte, und da waren dann Kräfte am Werk, die eben den Feuermaul in unsere Aktion entsendet haben, um im letzten Augenblick zu retten, was noch zu retten ist. So ist alles viel einfacher zu verstehn, als es anfangs ausschaut, nicht wahr?« meinte Stumm.
»Und was wird geschehn?« fragte Tuzzi.
»Ich glaube, nichts« erwiderte Stumm. »Wir haben schon viele Strömungen in der Aktion gehabt.«
»Aber zwischen diesen beiden besteht doch ein unerträglicher Widerspruch!« wandte Professor Schwung ein, der als Jurist eine solche Unklarheit nicht ertragen konnte.
»Genau genommen nicht« – widerlegte ihn Stumm. – »Auch die andere Strömung will natürlich den Menschen lieben; nur meint sie, daß man ihn dazu vorher mit Gewalt umbilden muß: es ist das sozusagen bloß ein technischer Unterschied.«
Hier nahm Direktor Fischel das Wort: »Da ich erst später hinzugekommen bin, überblicke ich leider
nicht den ganzen Zusammenhang; aber wenn es trotzdem gestattet ist, möchte ich bemerken, daß mir die Achtung vor dem Menschen doch grundsätzlich höher zu stehen scheint als ihr Gegenteil! Ich habe heute abend von einigen Seiten, wenn es auch gewiß Ausnahmen sein werden, unglaubliche Ansichten
über andersdenkende und vornehmlich andersnationale Menschen gehört!« Er sah mit seinem durch ein glattes Kinn geteilten Backenbart und dem schräg sitzenden Kneifer wie ein englischer Lord aus, der an den großen Ideen der Menschen- und Handelsfreiheit festhält, und verschwieg, daß er die gerügten Ansichten von Hans Sepp gehört hatte, seinem zukünftigen Schwiegersohn, der in der »zweiten Strömung des Zeitgeistes« recht in seinem Fahrwasser war.
»Rohe Ansichten?« fragte ihn der General auskunftsbereit.
»Außerordentlich rohe« bestätigte Fischel.
»Da war vielleicht von ›Ertüchtigung‹ die Rede, das kann man nämlich leicht miteinander verwechseln« meinte Stumm.
»Nein, nein!« rief Fischel aus. »Völlig respektlose, geradezu revolutionäre Ansichten! Sie kennen vielleicht nicht unsere verhetzte Jugend, Herr Generalmajor: Ich habe mich gewundert, daß man solche Leute hier überhaupt zuläßt.«
»Revolutionäre Ansichten?« fragte Stumm, dem das nicht gefiel, und lächelte so kühl, wie es sein rundes Antlitz nur gestattete. »Da muß ich leider sagen, Herr Direktor, daß ich durchaus nicht ganz und gar gegen das Revolutionäre bin! Natürlich heißt das, soweit man es nicht wirklich Revolution machen läßt! Oft steckt ja ungemein viel Idealismus
darin. Und was das Zulassen betrifft, so hat
doch die Aktion, die das gesamte Vaterland zusammenfassen soll, gar kein Recht, aufbauwillige Kräfte zurückzuweisen, in welcher Art immer sie sich ausdrücken!«
Leo Fischel schwieg. Professor Schwung lag nicht viel an der Meinung eines Würdenträgers, der nicht zur Zivilverwaltung gehörte. Tuzzi hatte geträumt:
»Erste Strömung – zweite Strömung.« Es erinnerte ihn an zwei ähnliche Wortgebilde: »erste Stauung, zweite Stauung«, aber ohne daß ihm diese einfielen oder das Gespräch mit Ulrich, darin sie vorgekommen waren; bloß eine unbegreifliche Eifersucht auf seine Frau erwachte in ihm und hing mit diesem ungefährlichen General durch unsichtbare Zwischenglieder zusammen, die er in keiner Weise entwirren konnte. Als ihn das Schweigen aufweckte, wollte er dem Vertreter des Militärs zeigen, daß er sich nicht durch ausschweifende Reden in die Irre führen lasse. »Wenn ich das zusammenfasse, Herr General,« begann er »so will die Militärpartei –«
»Aber Herr Sektionschef, es gibt doch keine Militärpartei!« unterbrach ihn Stumm sofort. »Wir hören immer sagen: Militärpartei, und dabei ist das Militär doch seinem ganzen Wesen nach überparteilich!«
»Also dann das Militär-Ressort« erwiderte Tuzzi ziemlich unwirsch auf diese Unterbrechung. »Sie haben gesagt, der Armee ist nicht nur mit Kanonen gedient, sondern sie braucht auch den dazugehörigen Geist: von welchem Geist werden Sie nun belieben ihre Geschütze laden zu lassen?«
»Viel zu weit gegriffen, Herr Sektionschef!« beteuerte Stumm. »Wir sind davon ausgegangen, daß ich den Herrn den heutigen Abend habe erklären sollen, und ich habe gesagt, daß man da eigentlich
nichts erklären kann: das ist das einzige, was ich aufrecht erhalte! Denn wenn der Zeitgeist wirklich die zwei Strömungen hat, von denen ich gesprochen habe, so sind sie ja alle beide auch nicht fürs ›Erklären‹. Man ist heute für Triebkräfte, Blutkräfte und dergleichen: ich geh ja gewiß nicht mit, aber daran ist etwas!«
Bei diesen Worten kochte noch einmal Direktor Fischel auf und fand es unmoralisch, daß sich das Militär unter Umständen auch mit dem Antisemitismus vergleichen wolle, um zu seinen Geschützen zu kommen.
»Aber Herr Direktor!« beruhigte ihn Stumm. »Erstens kommt es doch wirklich nicht auf ein bisserl Antisemitismus an, wenn die Leute schon einmal überhaupt Anti sind, die Deutschen gegen die Tschechen und Madjaren, die Tschechen gegen die Madjaren und die Deutschen, und so halt weiter ein jeder gegen alle. Und zweitens ist gerade das österreichische Offizierskorps immer international gewesen, da braucht man nur die vielen italienischen, französischen, schottischen, ja was
weiß ich für Namen anzusehn; auch einen General der Infanterie von Kohn haben wir, der ist Korpskommandant in Olmütz!«
»Ich fürchte trotzdem, Sie muten sich zu viel zu« unterbrach Tuzzi die Unterbrechung. »Sie sind international und kriegerisch, möchten aber mit den nationalen Strömungen und den pazifistischen ein Geschäft machen: das ist beinahe mehr, als ein Diplomat von Fach leisten könnte. Mit dem Pazifismus Militärpolitik zu treiben, beschäftigt heute in Europa die gewiegtesten Fachleute!«
»Aber das sind doch überhaupt nicht wir, die Politik treiben!« verteidigte sich Stumm noch einmal,
im Ton der müden Klage über so viel Mißverständnis. »Seine Erlaucht wollte Besitz und Bildung eine letzte Gelegenheit geben, ihren Geist zu einigen: daraus ist dieser Abend entsprungen. Natürlich, wenn sich der Zivilgeist ganz und gar nicht einigen könnte, würden wir in die Lage kommen –«
»Nun, in welche Lage? Das wäre ja gerade
wissenswert!« rief Tuzzi aus, vorschnell das Wort schürend, das kommen sollte.
»Natürlich in eine schwierige« meinte Stumm vorsichtig und bescheiden.
Während sich die vier Herren so unterhielten, hatte sich aber Ulrich längst unauffällig davongemacht und suchte Gerda, in einem Bogen der Gruppe Sr. Erlaucht und des Kriegsministers ausweichend, damit er nicht herangewinkt werde.
Er sah sie schon von ferne an der Wand sitzen neben ihrer steif in den Salon blickenden Mutter, und Hans Sepp stand unruhig und trotzig an ihrer anderen Seite. Seit jenem unseligen letzten Beisammensein mit Ulrich war sie noch magerer geworden, und je mehr er sich ihr näherte, desto kahler der Reize entblößt, aber irgendwie gerade dadurch verhängnisvoller anziehend, hob sich ihr Kopf mit den kraftlosen Schultern vom Zimmer ab. Als sie Ulrichs ansichtig wurde, übergoß eine jähe Röte ihre Wangen, die von noch tieferer Blässe gefolgt wurde, und sie machte eine unwillkürliche Bewegung mit dem Oberkörper wie ein Mensch, den das Herz schmerzt und irgendwelche Umstände verhindern hinzugreifen. Der Auftritt flog ihm durch den Kopf, wo er, wild hingegeben an den tierischen Vorteil, daß er ihren Körper errege, ihren Willen mißbraucht hatte: Da saß nun dieser Körper, für ihn unter dem Kleid sichtbar, auf einem Stuhl, empfing
Befehle des gekränkten Willens, sich jetzt stolz zu verhalten, und zitterte dabei. Gerda war nicht böse auf ihn, das sah er, aber sie wollte um jeden Preis mit ihm »fertig« sein. Er verlangsamte unauffällig seinen Schritt, um so lange wie möglich von alledem zu kosten, und diese wollüstige Verzögerung schien dem Verhältnis dieser beiden
Menschen zu einander zu entsprechen, die nie ganz zusammenkommen konnten.
Und als Ulrich ihr schon nahe war und nichts mehr sah als das Beben in dem Gesicht, das ihn erwartete, fiel etwas Gewichtloses auf ihn, das wie ein Schatten war oder ein Streifen Wärme, und er gewahrte Bonadea, die stumm, aber wohl kaum ohne Absicht an ihm vorbeigegangen war und ihn wahrscheinlich verfolgt hatte, und er grüßte sie. Die Welt ist schön, wenn man sie nimmt, wie sie ist: Für eine Sekunde kam ihm der naive Gegensatz des Üppigen und des Kargen, wie er sich an diesen beiden Frauen ausdrückte, so groß vor wie der zwischen Wiese und Stein an der Felsgrenze, und er hatte das Gefühl, der Parallelaktion zu entsteigen, wenn auch mit einem schuldbewußten Lächeln. Als Gerda dieses Lächeln langsam hernieder- und ihrer hingestreckten Hand entgegensinken sah, zitterten ihre Augenlider.
In diesem Augenblick gewahrte Diotima, daß Arnheim den jungen Feuermaul zu der Gruppe Sr. Erlaucht und des Kriegsministers führe, und unterbrach als erfahrene Taktikerin alle Anknüpfungen, indem sie die gesamte Bedienung mit Erfrischungen in die Zimmer einbrechen hieß.
37.
Ein Vergleich
Solche Gespräche
wie die geschilderten gab es zu Dutzenden, und alle hatten etwas gemeinsam, das sich nicht ohne weiteres beschreiben läßt, aber auch nicht verschwiegen werden kann, wenn man es nicht wie Regierungsrat Meseritscher versteht, eine blendende Gesellschaftsschilderung bloß dadurch zu
geben, daß man aufzählt: der und die waren da, hatten dies und das an und äußerten das und jenes; worauf allerdings gerade das hinausläuft, was von vielen für die echteste erzählerische Kunst gehalten wird. Friedel Feuermaul war also kein elender Schmeichler, und das war er nie, sondern hatte nur zeitgemäße Einfälle am rechten Platz, wenn er von Meseritscher vor Meseritscher sagte: »Er ist eigentlich der Homer unserer Zeit! Nein, ganz im Ernst,« fügte er hinzu, denn Meseritscher deutete eine unwillige Bewegung an »das episch unerschütterliche ›Und‹, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse aneinanderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz Großes!« Er war des Chefs der Parlaments- und Gesellschaftskorrespondenz habhaft geworden, da dieser das Haus nicht hatte verlassen wollen, ohne Arnheim seine Aufwartung gemacht zu haben; aber Meseritscher versetzte ihn trotzdem nicht unter die mit Namen angeführten Gäste.
Ohne auf die feinere Unterscheidung zwischen Idioten und Kretins
einzugehen, darf nun daran erinnert werden, daß es einem Idioten gewissen Grades nicht mehr gelingt, den Begriff »Eltern« zu bilden, während ihm die Vorstellung »Vater und Mutter« noch ganz geläufig ist. Dieses schlichte, aneinanderreihende
»Und« war es aber auch, durch das Meseritscher die Erscheinungen der Gesellschaft verband. Ferner ist daran zu erinnern, daß Idioten in der schlichten Dinglichkeit ihres Denkens etwas besitzen, das nach der Erfahrung aller Beobachter in geheimnisvoller Weise das Gemüt anspricht; und daß Dichter auch vornehmlich das Gemüt ansprechen, ja sogar auf eine soweit gleiche Weise, als sie sich durch eine möglichst handgreifliche Geistesart auszeichnen sollen. Wenn Friedel Feuermaul also
Meseritscher als Dichter ansprach, hätte er ihn ebensogut – das heißt, aus den gleichen Empfindungen, die ihm dunkel, und das hieß bei ihm wieder in einer plötzlichen Erleuchtung, vorschwebten – auch als einen Idioten ansprechen können, und zwar auf eine auch für die Menschheit bedeutsame Weise. Denn das Gemeinsame, um das es sich da handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende »Und« ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt; und es darf behauptet werden, daß sich auch die Welt, unerachtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der Imbezillität verwandten Zustand befindet, ja es läßt sich das gar nicht vermeiden, wenn man die Geschehnisse, die sich in ihr abspielen, aus dem Ganzen verstehen will.
Nicht, als ob nun etwa Urheber oder Teilnehmer
einer solchen Betrachtung die einzig Klugen sein sollten! Es kommt da gar nicht auf den einzelnen an, so wenig wie auf die Geschäfte, die er betreibt
und die auch von jedem, der an diesem Abend zu Diotima gekommen war, mit mehr oder weniger Schlauheit betrieben wurden. Denn wenn zum Beispiel General von Stumm in der Pause alsbald mit Sr. Erlaucht in ein Gespräch geriet, in dessen Verlauf er freundlich-eigensinnig und ehrerbietig-freimütig mit den Worten widersprach: »Halten zu Gnaden, Erlaucht, daß ich das aufs heftigste bestreite; aber in dem Stolz der Leute auf ihre Rasse liegt nicht nur eine Anmaßung, sondern auch etwas sympathisches Adeliges!« so
wußte er genau, was er mit diesen Worten meinte, nicht genau wußte er bloß, was er mit ihnen sagte, denn um solche zivile Worte ist ein Plus wie dicke Handschuhe, in denen man aus einer Schachtel Zündhölzer ein einzelnes zu fassen sucht. Und Leo Fischel, der sich nicht von Stumm getrennt hatte, als er bemerkte, daß der General ungeduldig zu Sr. Erlaucht strebe, fügte hinzu: »Man muß die Menschen nicht nach der Rasse
unterscheiden, sondern nach Verdienst!« Und auch was Se. Erlaucht entgegnete, war folgerichtig; Se. Erlaucht überging nämlich den ihm frisch vorgestellten Direktor Fischel und antwortete von Stumm: »Wozu brauchen die Bürgerlichen eine Rasse?! Daß ein Kammerherr sechzehn adelige Ahnen haben muß, darüber haben sie sich immer aufgehalten als eine Anmaßung, und was tun sie jetzt selber? Nachmachen möchten sie’s und übertreiben tun sie’s. Mehr als sechzehn Ahnen ist ja einfach schon ein Snobismus!« Denn Se. Erlaucht war gereizt, und da war es ganz logisch, daß er so sprach. Es ist ja überhaupt nicht strittig, daß der Mensch Vernunft besitzt, sondern nur, wie er sie in Gemeinschaft anwendet.
Se. Erlaucht war ärgerlich über das Eindringen »völkischer« Elemente in die Parallelaktion, das er
selbst veranlaßt hatte. Verschiedene politische und gesellschaftliche Rücksichten hatten ihn dazu gezwungen; er selbst anerkannte nur das »Staatsvolk«. Seine politischen Freunde hatten ihm geraten: »Es schad’t doch nichts, wenn du dir anhörst, was sie von Rasse und Reinheit und Blut sagen; wer nimmt denn überhaupt ernst, was einer redet!« »Aber da sprechen sie ja vom Menschen geradeso, als ob er ein Vieh wäre!« hatte Graf Leinsdorf abgewehrt, der eine katholische Auffassung von der Würde des
Menschen besaß, die ihn einzusehen hinderte, daß man die Ideale der Hühner- und Pferdezucht auch auf Gottes Kinder anwenden könne, obwohl er ein Großgrundbesitzer war. Darauf hatten seine Freunde gesagt: »Du mußt es ja nicht gleich so tief betrachten! Und vielleicht ist es sogar besser, als daß sie von Humanität und solchen ausländischen Revolutionsbegriffen reden, wie das bisher immer geschehen ist!« Und das hatte Sr. Erlaucht schließlich eingeleuchtet. Se. Erlaucht war aber auch ärgerlich darüber, daß dieser Feuermaul, dessen Einladung er Diotima aufgenötigt hatte, bloß neue Verwirrung in die Parallelaktion brachte und ihn enttäuschte. Die Baronin Wayden hatte von ihm Wunder erzählt, und er hatte ihrem Drängen schließlich nachgegeben. »Darin haben Sie ja ganz recht,« hatte Leinsdorf eingeräumt »daß wir bei dem jetzigen Kurs leicht in den Ruf kommen zu germanisieren. Und darin haben Sie auch recht, daß es da vielleicht nicht schadet, wenn wir auch einen Dichter einladen, der davon redet, daß man alle Menschen lieben muß.
Aber sehen Sie, ich kann das halt der Tuzzi nicht antun!« Aber die Wayden hatte nicht nachgelassen und mußte neue einleuchtende Gründe gefunden haben, denn am Ende der Unterredung hatte Leinsdorf
ihr versprochen, die Einladung von Diotima zu fordern. »Gern tu ich‘s
nicht« hatte er gesagt. »Aber eine starke Hand braucht auch ein schönes Wort, um sich den Leuten verständlich zu machen: darin pflichte ich Ihnen bei. Und darin haben Sie auch recht, daß alles in letzter Zeit zu langsam geht, es ist nicht mehr der rechte Eifer dahinter!«
Aber nun war er nicht zufrieden. Se. Erlaucht hielt keineswegs die andern Menschen für dumm, wenn er sich auch für klüger hielt als sie, und er
begriff nicht, warum diese klugen Menschen versammelt auf ihn einen so schlechten Eindruck machten. Ja, das ganze Leben machte auf ihn diesen Eindruck, als bestünde neben einem Zustand der Klugheit im einzelnen sowie in den amtlichen Vorkehrungen, zu denen er wie bekannt auch Glauben und Wissenschaft rechnete, ein völliger Zustand der Unzurechnungsfähigkeit im ganzen. Da tauchten immer wieder Ideen auf, die man noch nicht kannte, erhitzten die Leidenschaften und verschwanden nach Jahr und Tag wieder; da liefen die Leute bald dem, bald jenem nach und fielen von einem Aberglauben in den andren; da jubelten sie das eine Mal Seiner Majestät zu, und das andere Mal hielten sie verabscheuungswürdige Brandreden im Parlament: aber herausgekommen war noch nie etwas dabei! Wenn man das millionenfach verkleinern könnte und sozusagen auf die Ausmaße eines Einzelkopfes bringen, so gäbe es darum genau das Bild der Unberechenbarkeit, Vergeßlichkeit, Unwissenheit und eines närrischen Herumhopsens, das sich Graf Leinsdorf immer von einem Verrückten gemacht hatte, obwohl er bisher nur wenig Gelegenheit gehabt hatte, darüber nachzudenken. Unmutig stand er in der Mitte der ihn umgebenden Herrn, überlegte, daß
doch gerade die Parallelaktion das Wahre hätte an den Tag bringen sollen, und konnte irgendeinen Gedanken über Glauben nicht hervorbringen, von dem er bloß etwas fühlte, das angenehm beruhigend war wie der Schatten einer hohen Mauer, und wahrscheinlich war das eine Kirchenmauer. »Komisch!« sagte er, diesen Gedanken nach einer Weile aufgebend, zu Ulrich: »Wenn man das alles mit einer gewissen Distanz anschaut, erinnert es einen irgendwie an Stare, wenn sie im Herbst zu Scharen in den Obstbäumen sitzen.«
Ulrich war von Gerda zurückgekommen. Das Gespräch hatte nicht das gehalten, was der Anfang versprach; Gerda hatte nicht viel mehr als kurze, von einem Etwas mühsam abgehackte Antworten herausgebracht, das wie ein Keil in ihrer Brust saß; desto mehr hatte Hans Sepp gesprochen, er hatte sich als ihr Wächter aufgespielt und gleich gezeigt, daß er sich von dieser morschen Umgebung nicht einschüchtern lasse.
»Sie kennen den großen Rasseforscher Bremshuber nicht?« hatte er Ulrich gefragt.
»Wo lebt er?« hatte Ulrich gefragt.
»In Schärding an der Laa« hatte Hans gesagt.
»Was ist er?« hatte Ulrich gefragt.
»Das will doch nichts bedeuten!« hatte Hans gesagt. »Jetzt kommen eben neue Leute! Apotheker ist er!«
Ulrich hatte zu Gerda gesagt: »Sie sind ja jetzt richtig verlobt, wie ich gehört habe!«
Und Gerda hatte geantwortet: »Bremshuber fordert die schonungslose Unterdrückung alles Andersrassischen; das ist bestimmt weniger grausam als Schonen und Verachten!« Ihre Lippe hatte wieder gezittert, während sie sich diesen aus geborstenen
Stücken schief zusammengepreßten Satz abzwang.
Ulrich hatte sie bloß angesehn und den Kopf geschüttelt. »Das verstehe ich nicht!« hatte er gesagt, während er ihr die Hand zum Abschied gab, und nun stand er neben Leinsdorf und kam sich unschuldig wie ein Stern im unendlichen Raum vor.
»Wenn man es aber nicht mit Distanz anschaut,« setzte Graf Leinsdorf nach einer Weile langsam seinen neuen Gedanken fort »dann dreht es sich einem im Kopf wie ein Hund, der sein Schwanzspitzel fangen möcht! Schauen Sie,« fügte er hinzu »da hab ich
jetzt meinen Freunden nachgegeben und hab der Baronin Wayden nachgegeben, aber wenn man so zuhört, was wir reden, so macht es ja im einzelnen einen sehr gescheiten Eindruck, aber gerade in den veredelten geistigen Beziehungen, die wir suchen wollen, macht es den Eindruck einer weitgehenden Willkür und großer Zusammenhangslosigkeit!«
Um den Kriegsminister und Feuermaul, den Arnheim zu ihm hingebracht hatte, war eine Gruppe entstanden, und in ihr führte Feuermaul lebhaft das Wort und liebte alle Menschen, während sich um Arnheim selbst, nachdem er sich wieder zurückgezogen hatte, an einer entfernteren Stelle eine zweite Gruppe bildete, in der Ulrich später auch Hans Sepp und Gerda gewahrte. Man hörte herüber, wie Feuermaul ausrief: »Man versteht das Leben nicht durch Lernen, sondern durch Güte; man muß dem Leben glauben!« Frau Professor Drangsal stand aufrecht hinter ihm und bestätigte: »Auch Goethe ist nicht Doktor geworden!« Überhaupt hatte Feuermaul in ihren Augen viel Ähnlichkeit mit ihm. Der Kriegsminister stand gleichfalls sehr aufrecht und lächelte ausdauernd, so wie er es gewohnt
war, bei einer Parade die Hand lange dankend an den Kappenschirm zu halten.
Graf Leinsdorf fragte: »Sagen Sie, wer ist eigentlich dieser Feuermaul?«
»Sein Vater hat in Ungarn mehrere Betriebe« erwiderte Ulrich. »Ich glaube, irgendwas mit Phosphor, wobei kein Arbeiter älter als vierzig Jahre wird: Berufskrankheit Knochennekrose.«
»Na ja, aber der Junge?« Das Arbeiterschicksal berührte Leinsdorf nicht.
»Der hat studieren sollen; Jus, glaube ich. Der Vater ist ein selbstgemachter Mann, und es soll ihn
gekränkt haben, daß der Junge keine Lust zu lernen hatte.«
»Warum hat er keine Lust zu lernen gehabt?« fragte Graf Leinsdorf, der an diesem Tag sehr gründlich war.
»Du lieber Himmel,« meinte Ulrich achselzuckend »wahrscheinlich: ›Väter und Söhne‹. Wenn der Vater arm ist, lieben die Söhne das Geld; wenn der Papa Geld hat, lieben die Söhne wieder alle Menschen. Haben Erlaucht noch nichts von dem Problem des Sohnes in unserer Zeit gehört?«
»Ja, ich hab was davon gehört. Aber warum protegiert der Arnheim den Feuermaul? Hängt das mit den Ölfeldern zusammen?« fragte Graf Leinsdorf.
»Erlaucht wissen das?!« rief Ulrich aus.
»Natürlich weiß ich alles« gab Leinsdorf geduldig zur Antwort. »Aber was ich nicht verstehe, bleibt das Folgende: Daß die Menschen einander lieben sollen und daß die Regierung dazu eine starke Hand braucht, das hat man ja immer gewußt; also warum soll das auf einmal ein ›Entweder-Oder‹ sein?«
Ulrich erwiderte: »Erlaucht haben sich immer
eine aus dem Ganzen aufsteigende Kundgebung gewünscht: so muß sie aussehn!«
»Ah, das ist nicht wahr –!« widersprach ihm Leinsdorf angeregt, aber ehe er fortfahren konnte, wurden sie durch Stumm von Bordwehr unterbrochen, der von der Gruppe Arnheim kam und in aufgeregter Eile von Ulrich etwas zu wissen wünschte. »Entschuldigen, Erlaucht, wenn ich störe« bat er. »Aber sag mir,« wandte er sich an Ulrich »kann man wirklich behaupten, daß der Mensch nur seinen Affekten folgt, und nie der Vernunft?«
Ulrich sah ihn ungeistesgegenwärtig an.
»Drüben ist so ein Marxist,« erläuterte Stumm »der behauptet sozusagen, daß der ökonomische Unterbau eines Menschen ganz und gar seinen ideologischen Überbau bestimmt. Und ihm widerspricht ein Psychoanalytiker; der behauptet, daß der ideologische Überbau ganz und gar ein Produkt seines triebhaften Unterbaus ist.«
»Das ist nicht so einfach« meinte Ulrich, der zu entkommen wünschte.
»Das sag ich auch immer! Aber es hat nur nichts genutzt!« erwiderte der General sofort und ließ ihn nicht aus den Augen. Aber auch Leinsdorf ergriff wieder das Wort. »Ja, sehen Sie,« sagte er zu Ulrich »so etwas Ähnliches habe ich ja gerade auch zur Diskussion stellen wollen. Denn ob der Unterbau jetzt meinethalben ökonomisch oder geschlechtlich ist – also was ich vordem hab sagen wollen, ist: warum sind die Leut im Überbau so unzuverlässig?! Nämlich, man sagt doch sprichwörtlich: die Welt ist verrückt; und am End könnte man manchmal glauben, daß es wahr ist!«
»Das ist die Psychologie der Masse, Erlaucht!« mischte sich der gelehrte General wieder ein. »Soweit
es die Masse angeht, versteh ich
das sehr gut. Die Masse wird nur von Trieben bewegt, und dann natürlich von denen, die den meisten Individuen gemeinsam sind: das ist logisch! Das heißt, das ist natürlich unlogisch: Die Masse ist unlogisch, sie benützt logische Gedanken gerade nur zum Aufputzen! Wovon sie sich wirklich leiten läßt, das ist einzig und allein die Suggestion! Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren – wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat – aus
den Menschen Menschenfresser zu machen! Gerade darum braucht die Menschheit ja auch eine starke Führung! Erlaucht wissen das übrigens besser als ich! Aber daß auch der unter Umständen so hochstehende einzelne Mensch nicht logisch sein soll, das kann ich nicht glauben, obwohl es auch der Arnheim behauptet.«
Was hätte Ulrich seinem Freund für diese sehr zufällige Kontroverse an die Hand geben sollen? Wie sich an einer Angel ein Grasbüschel statt eines Fisches verfängt, hing an des Generals Frage ein wirres Büschel von Theorien. Ob der Mensch nur seinen Affekten folgt, nur das tut, fühlt, ja sogar denkt, wozu ihn unbewußte Ströme des Verlangens oder die sanftere Brise der Lust treiben, wie man heute annimmt? Ob er nicht doch eher der Vernunft und dem Willen folgt, – wie man gleichfalls heute annimmt? Ob er bestimmten Affekten besonders folgt, so dem geschlechtlichen, wie man heute annimmt? Oder doch nicht vor allem dem geschlechtlichen, sondern der psychologischen Wirkung wirtschaftlicher Bedingungen, wie man gleichfalls heute annimmt? Man kann ein so verwickeltes Gebilde,
wie er es ist, von vielen Seiten ansehn und im theoretischen Bild das oder jenes als Achse wählen: es entstehen Teilwahrheiten, aus deren gegenseitiger Durchdringung langsam die Wahrheit höher wächst: Wächst sie aber wirklich höher? Es hat sich noch jedesmal gerächt, wenn man eine Teilwahrheit für das allein Gültige angesehen hat. Anderseits wäre man aber kaum zu dieser Teilwahrheit gelangt, hätte man sie nicht überschätzt. So hängt die Geschichte der Wahrheit und die des Gefühls mannigfach zusammen, aber die des Gefühls blieb dabei im Dunkel. Ja, nach Ulrichs Überzeugung war sie gar keine Geschichte, sondern
ein Wust. Spaßig zum Beispiel, daß die religiösen, und also doch wohl leidenschaftlichen, Gedanken, die sich das Mittelalter über den Menschen gemacht hat, sehr von seiner Vernunft und seinem Willen überzeugt waren, während heute viele Gelehrte, deren Leidenschaft höchstens darin besteht, daß sie zuviel rauchen, das Gefühl für die Grundlage alles Menschlichen ansehn. Solche Gedanken gingen Ulrich durch den Kopf, und er hatte natürlich keine Lust, auf Stumms Reden zu antworten, der übrigens auch gar nicht darauf wartete,
sondern sich nur noch etwas auskühlte, ehe er sich entschloß, seinen Weg zurück zu nehmen.
»Graf Leinsdorf!« sagte Ulrich sanft. »Erinnern Sie sich, daß ich Ihnen einmal den Rat gegeben habe, ein Generalsekretariat für alle Fragen zu gründen, zu denen man ebensoviel Seele wie Genauigkeit braucht?«
»Freilich erinnere ich mich« gab Leinsdorf zur Antwort. »Ich hab das ja Seiner Eminenz erzählt, er hat herzlich gelacht. Er hat aber gesagt, daß Sie
zu spät kommen!«
»Und doch ist es gerade das, was Sie vorhin vermißt
haben, Erlaucht!« fuhr Ulrich fort. »Sie bemerken, daß die Welt sich heute nicht mehr an das erinnert, was sie gestern gewollt hat, daß sie sich in Stimmungen befindet, die ohne zureichenden Grund wechseln, daß sie ewig aufgeregt ist, daß sie nie zu einem Ergebnis kommt, und wenn man sich das in einem einzigen Kopf vereinigt dächte, was so in den Köpfen der Menschheit vorgeht, würde
er wirklich unverkennbar eine ganze Reihe von bekannten Ausfallserscheinungen zeigen, die man zur geistigen Minderwertigkeit rechnet –«
»Hervorragend richtig!« rief Stumm von
Bordwehr, der sich durch den Stolz auf seine nachmittags erworbenen Kenntnisse von neuem festgehalten sah. »Das ist genau das Bild der – na, ich hab wieder vergessen, wie diese Geisteskrankheit heißt, aber es ist genau ihr Bild!«
»Nein,« sagte Ulrich lächelnd »das ist sicher nicht das Bild einer bestimmten Geisteskrankheit; denn was einen Gesunden von einem Geisteskranken unterscheidet, ist doch gerade, daß der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat, und der Geisteskranke nur eine!«
»Sehr geistvoll!« riefen Stumm und Leinsdorf wie aus einem Munde, wenn auch in etwas verschiedenen Worten, aus, und dann fügten sie ebenso hinzu: – »Aber was soll es eigentlich heißen?«
»Das heißt« behauptete Ulrich: »Wenn ich unter Moral die Regelung aller jener Beziehungen verstehen darf, die Gefühl, Phantasie und dergleichen einschließen, so richtet sich darin der einzelne nach den anderen und hat auf diese Weise scheinbar einige Festigkeit, aber alle zusammen sind in der Moral über den Zustand des Wahns nicht hinaus!«
»Na, das geht zu weit!« meinte Graf Leinsdorf gutmütig,
und auch der General sagte: »Aber hör, jeder Mensch muß doch selbst seine Moral haben; man kann doch keinem vorschreiben, ob er eine Katz lieber hat oder einen Hund!«
»Kann man es ihm vorschreiben, Erlaucht?!« fragte Ulrich eindringlich.
»Ja, früher« sagte Graf Leinsdorf diplomatisch, obwohl bei seiner gläubigen Überzeugung gepackt, daß es auf allen Gebieten »das Wahre« gebe »früher war das besser. Aber heutzutage?«
»Dann bleibt eben der Glaubenskrieg in Permanenz« meinte Ulrich.
»Sie nennen das einen Glaubenskrieg?« fragte Leinsdorf neugierig.
»Wie denn sonst?«
»Na ja, gar nicht schlecht. Eine ganz gute Bezeichnung für das heutige Leben. Übrigens hab ich immer gewußt, daß in Ihnen heimlich gar kein schlechter Katholik steckt!«
»Ich bin ein sehr schlechter« antwortete Ulrich. »Ich glaube nicht, daß Gott da war, sondern daß er erst kommt. Aber nur, wenn man ihm den Weg kürzer macht als bisher!«
Se. Erlaucht wies das mit den würdigen Worten zurück: »Das ist mir zu hoch!«
Leinsdorf machte den Eindruck, daß er etwas sagen wolle, die Gedanken arbeiteten gewaltig in ihm, aber Ulrich und er waren kaum einen Augenblick allein geblieben, so sahen sie sich von Menschen umgeben, die das allgemeine Kreisen heranführte und die anziehende Person Sr. Erlaucht festhielt. Von dem, was Ulrich soeben gesagt hatte, war natürlich nicht mehr die Rede, und niemand außer ihm dachte noch daran, da schob sich von hinten ein Arm in den seinen, und Agathe stand bei ihm. »Hast du schon einen Grund gefunden, mich zu verteidigen?« fragte sie mit liebkosender Bosheit.
Ulrich ließ ihren Arm nicht los und wandte sich mit ihr von den Menschen ab, bei denen er gestanden hatte.
»Können wir nicht nach Hause gehn?« fragte Agathe.
»Nein,« sagte Ulrich »ich kann ja noch nicht fort.«
»Dich läßt wohl die kommende Zeit nicht fort, um deretwillen du dich hier rein halten mußt?« neckte ihn Agathe.
Ulrich drückte ihren Arm.
»Ich finde, es spricht sehr für mich, daß ich nicht hieher gehöre, sondern ins Zuchthaus!« flüsterte sie ihm ins Ohr.
Sie suchten einen Platz, wo sie allein sein könnten. Die Versammlung war jetzt richtig aufgekocht und trieb ihre Teilnehmer langsam durcheinander. Immer noch war im ganzen die zweifache Gruppierung zu unterscheiden: um den Kriegsminister war von Frieden und Liebe die Rede, um Arnheim augenblicklich davon, daß die deutsche Milde am besten im Schatten der deutschen Kraft gedeihe.
Er hörte es wohlwollend an, weil er niemals eine ehrliche Meinung zurückwies und eine besondere Liebe für neue Meinungen hatte. Seine Sorge war, ob das Geschäft mit den Ölfeldern im Parlament Schwierigkeiten finden werde. Er rechnete damit, daß die Opposition der slawischen Politiker keinesfalls zu vermeiden sein werde, und hoffte, sich der Stimmung unter den Deutschen zu vergewissern. In den Regierungskreisen stand die Angelegenheit gut bis auf eine gewisse Gegnerschaft im Ministerium des Äußern, der er keine große Bedeutung beimaß. Nächsten Tags sollte er nach Budapest reisen.
Feindliche »Beobachter« gab es rings um ihn und die anderen Hauptpersonen genug. Sie waren am raschesten daran zu erkennen, daß sie zu allem Ja sagten und die nettesten Leute waren, während doch die übrigen meist verschiedener Meinung waren.
Tuzzi suchte einen von ihnen mit den Worten zu überzeugen: »Was geredet wird, bedeutet gar nichts. Das bedeutet nie etwas!« Der andere glaubte es ihm. Es war ein Parlamentarier. Aber er änderte nicht die Meinung, die er schon mitgebracht hatte, daß trotzdem hier Böses vor sich gehe.
Se. Erlaucht verteidigte dagegen im Gespräch mit einem anderen Frager die Bedeutung des Abends mit den Worten: »Mein Verehrter, sogar Revolutionen werden seit Achtzehnhundertachtundvierzig nur noch durch vieles Reden gemacht!«
Es wäre falsch, in solchen Unterschieden nichts als die erlaubte Abweichung von der Eintönigkeit zu sehen, die das Leben sonst hätte; und doch wird dieser folgenschwere Irrtum beinahe ebensooft begangen, wie von dem Satz: »Das ist Gefühlssache!« Gebrauch gemacht wird, ohne den die Einrichtung unseres Geistes gar nicht zu denken ist. Dieser unentbehrliche Satz trennt das, was im Leben sein muß, von dem, was sein kann. »Er trennt« sagte Ulrich zu Agathe »die gesetzte Ordnung von einem eingeräumten persönlichen Spielraum. Er trennt das, was rationalisiert ist, von dem, was für irrational gilt. Er bedeutet, in der üblichen Art gebraucht, das Eingeständnis, daß die Menschlichkeit in den Hauptsachen ein Zwang sei, in den Nebensachen aber eine verdächtige Willkür. Man meint, das Leben wäre ein Zuchthaus, stünde es nicht in unserem Belieben, ob wir Wein oder Wasser vorziehn, Atheisten oder Frömmler sein wollen, und man meint nicht im geringsten damit, daß nun das, was Gefühlssache sei, wirklich dem Belieben überlassen bleibe; vielmehr gibt es ja, ohne daß die Grenze eindeutig wäre, erlaubte und unerlaubte Gefühlssachen.«
Die zwischen Ulrich und Agathe war eine unerlaubte, obwohl die beiden, die sich Arm in Arm vergeblich nach einem Versteck umsahen, bloß über die Versammlung sprachen und dabei in einer wilden und verschwiegenen Weise die Freude empfanden, nach ihrer Entzweiung wieder vereint zu sein. Dagegen war die Wahl, ob man seine Mitmenschen alle lieben oder vorher einen Teil von ihnen vernichten solle, offenbar Gefühlssache von zweifacher Erlaubtheit, denn sonst wäre sie nicht in Diotimas Haus und in Gegenwart Sr. Erlaucht so eifrig abgehandelt worden, obwohl sie noch dazu die Gesellschaft in zwei gehässige Parteien trennte. Ulrich behauptete, die Erfindung der »Gefühlssache« habe der Sache des Gefühls den schlechtesten Dienst erwiesen, der ihr je geleistet worden sei, und als er es unternahm, seiner Schwester den abenteuerlichen Eindruck zu erklären, den dieser Abend in ihm weckte, kam er darauf in einer Weise zu sprechen, die ohne seinen Willen das am Morgen abgebrochene Gespräch fortsetzte und es wahrscheinlich rechtfertigen sollte. »Ich weiß freilich nicht,« sagte er »womit ich anfangen soll, ohne dich zu langweilen. Darf ich dir sagen, was ich unter Moral verstehe?«
»Bitte« erwiderte Agathe.
»Moral ist Regelung des Verhaltens innerhalb einer Gesellschaft, vornehmlich aber schon die seiner inneren Antriebe, also der Gefühle und Gedanken.«
»Das ist ein großer Fortschritt in wenigen Stunden!« entgegnete Agathe lachend. »Heute morgen hast du noch gesagt, du wissest nicht, was Moral sei!«
»Natürlich weiß ich es nicht. Trotzdem kann ich dir ja ein Dutzend Erklärungen geben. Die älteste ist, daß Gott uns die Ordnung des Lebens in allen ihren Einzelheiten geoffenbart hat –« »Das wäre die schönste!« sagte Agathe.
»Die wahrscheinlichste ist aber,« betonte Ulrich »daß Moral wie alle andere Ordnung durch Zwang und Gewalt entsteht! Eine zur Herrschaft gelangte Gruppe von Menschen auferlegt den anderen einfach die Vorschriften und Grundsätze, durch die sie ihre Herrschaft sichert. Gleichzeitig hängt sie aber an denen, die sie selbst groß gemacht haben. Gleichzeitig wirkt sie damit als Beispiel. Gleichzeitig wird sie durch Rückwirkungen verändert: das ist natürlich verwickelter als man es in Kürze beschreiben könnte, und weil es keineswegs ohne Geist vor sich geht, aber auch keineswegs durch den Geist, sondern durch die Praxis, ergibt es schließlich ein unübersehbares Geflecht, das sich scheinbar so unabhängig wie Gottes Himmel über allem spannt. Nun bezieht sich alles auf diesen Kreis, aber dieser Kreis bezieht sich auf nichts. Mit andern Worten: alles ist moralisch, aber die Moral selbst ist nicht moralisch! –«
»Das ist reizend von ihr« sagte Agathe. »Aber weißt du, daß ich heute einen guten Menschen gefunden habe?«
Ulrich war etwas erstaunt über diese Unterbrechung, aber als ihm Agathe die Begegnung mit Lindner zu erzählen begann, suchte er sie zunächst in seinem Gedankengang unterzubringen: »Gute Menschen kannst du heute auch hier zu Dutzenden finden,« meinte er »aber du sollst erfahren, warum gleich auch die bösen dabei sind, wenn du mich noch eine Weile fortfahren läßt.«
Sie waren unter diesen Worten, dem Trubel auszuweichen, bis ans Vorzimmer gekommen, und Ulrich mußte überlegen, wohin sie sich wenden könnten; Diotimas Zimmer fiel ihm ein, ebenso Rachels Kammer, aber er wollte beide nicht wieder betreten, und so blieben Agathe und er einstweilen zwischen den menschenleeren Kleidungsstücken stehn, die in der Diele hingen. Ulrich fand keine Fortsetzung. »Ich müßte eigentlich noch einmal von vorn anfangen« erklärte er mit einer ungeduldigen und ratlosen Bewegung. Und plötzlich sagte er: »Du willst nicht wissen, ob du Gutes oder Böses getan hast, sondern dich beunruhigt es, daß du beides ohne einen festen Grund tust!«
Agathe nickte.
Er hatte ihre beiden Hände gefaßt.
Die mattschimmernde Haut seiner Schwester, mit dem Geruch ihm unbekannter Pflanzen, die vor seinem Auge dem leicht ausgeschnittenen Kleid entstieg, verlor für einen Augenblick den irdischen Begriff. Der Stoß des Blutes klopfte aus einer Hand an die andere. Ein tiefer Graben unweltlicher Herkunft schien sie und ihn in ein Nirgendland einzuschließen.
Es mangelten ihm plötzlich die Vorstellungen, es zu bezeichnen; er verfügte nicht einmal über die, deren er sich dazu schon oft bedient hatte. »Wir wollen nicht aus der Eingebung der Augenblicke handeln, sondern aus dem bis ans Letzte währenden Zustand.« »So, daß es uns an den Mittelpunkt führt, von wo man nicht mehr zurückkommt, um zurückzunehmen.« »Nicht vom Rande und seinen wechselnden Zuständen her, sondern aus dem einzigen unveränderlichen Glück«: Solche Sätze kamen ihm wohl zu Munde, und es wäre ihm auch möglich erschienen, sie zu gebrauchen, hätte es nur als Gespräch geschehen sollen; aber in der unmittelbaren Anwendung, die sie zwischen ihm und seiner Schwester in diesem Augenblick erfahren sollten, war es plötzlich unmöglich. Das erregte ihn hilflos. Aber Agathe verstand ihn deutlich. Und es hätte sie glücklich machen müssen, daß zum erstenmal die Schale um ihn ganz zerbrach und ihr »harter Bruder« wie ein zu Boden gefallenes Ei das Innere preisgab. Zu ihrer Überraschung war aber diesmal ihr Gefühl nicht ganz bereit, mit dem seinen zu gehn: Zwischen Morgen und Abend lag die wunderliche Begegnung mit Lindner, und obwohl dieser Mann bloß ihr Erstaunen und ihre Neugierde erregt hatte, genügte auch ein solches Körnchen schon, die unendliche Spiegelung der eremitischen Liebe nicht entstehen zu lassen.
Ulrich fühlte es an ihren Händen, noch ehe sie etwas erwiderte, und Agathe – erwiderte nichts.
Er erriet, daß dieses unerwartete Sichversagen mit dem Erlebnis zusammenhänge, dessen Bericht er vorhin hatte anhören müssen. Beschämt und von dem Rückstoß seines unerwiderten Gefühls verwirrt, sagte er kopfschüttelnd: »Es ist doch ärgerlich, was alles du von der Güte eines solchen Menschen erwartest!«
»Wahrscheinlich ist es das« gab Agathe zu.
Er sah sie an. Er verstand, daß seiner Schwester dieses Erlebnis mehr bedeute als die Bewerbungen, die sie bisher unter seinem Schutz erfahren hatte. Er kannte sogar diesen Menschen ein wenig; Lindner stand im öffentlichen Leben; er war der Mann, der seinerzeit in der allerersten Sitzung der vaterländischen Aktion jene kurze, mit peinlichem Schweigen aufgenommene Rede gehalten hatte, die dem »historischen Augenblick« galt, oder ähnlichem, ungeschickt, aufrichtig und unbedeutend...: Unwillkürlich blickte sich Ulrich um; aber er erinnerte sich nicht, diesen Mann unter den Anwesenden bemerkt zu haben, und wußte auch, daß er nicht mehr eingeladen worden war. Er mußte ihm anderswo ab und zu begegnet sein, wahrscheinlich in gelehrten Gesellschaften, und das oder jenes von ihm gelesen haben, denn während er sein Gedächtnis sammelte, bildete sich aus ultramikroskopischen Erinnerungsspuren wie ein zäher, widerlicher Tropfen das Urteil: »Ein fader Esel! Will man auf einer gewissen Höhe des Lebenszustands sein, so kann man einen solchen Menschen ebensowenig ernst nehmen wie Professor Hagauer!«
Er sagte es Agathe.
Agathe schwieg dazu. Sie drückte ihm sogar die Hand.
Er hatte das Gefühl: Da ist etwas ganz widersinnig, aber es läßt sich nicht aufhalten!
In diesem Augenblick kamen Leute in das Vorzimmer, und die Geschwister traten voneinander zurück. »Soll ich dich wieder hineinbegleiten?« fragte Ulrich.
Agathe sagte nein und sah sich nach einem Ausweg um.
Ulrich fiel mit einemmal ein, daß sie sich, um den andern zu entgehen, nur in die Küche zurückziehen könnten.
Dort wurden Batterien von Gläsern gefüllt und Bretter mit Kuchen beladen. Die Köchin wirtschaftete in großem Eifer, Rachel und Soliman harrten auf ihre Ladung, flüsterten aber nicht miteinander, wie es früher bei solchen Gelegenheiten geschah, sondern standen reglos auf getrennten Plätzen. Die kleine Rachel machte ihren Knicks, als die Geschwister eintraten, Soliman ließ bloß seine dunklen Augen strammstehn, und Ulrich sagte: »Es ist drinnen zu heiß, können wir hier bei euch eine Erfrischung bekommen?« Er setzte sich mit Agathe an die Fensterbank und stellte zum Schein Teller und Glas hin, damit es, falls sie jemand entdecke, aussehe, wie wenn sich zwei Vertraute des Hauses einen kleinen Scherz gestatten. Als sie saßen, sagte er mit einem kleinen Seufzer: »Das ist also bloß Gefühlssache, ob man einen solchen Professor Lindner gut oder unerträglich findet!«
Agathe beschäftigte ihre Finger mit einer eingewickelten Süßigkeit.
»Das heißt:« fuhr Ulrich fort »das Gefühl ist nicht wahr oder falsch! Das Gefühl ist Privatsache geblieben! Es ist der Suggestion überlassen geblieben, der Einbildung, der Überredung! Du und ich sind nicht anders wie die da drinnen! Weißt du, was die drinnen wollen?«
»Nein. Aber ist es nicht gleichgültig?«
»Es ist vielleicht nicht gleichgültig. Denn sie bilden zwei Parteien, von denen die eine so recht oder unrecht hat wie die andere.«
Agathe sagte, es käme ihr doch etwas besser vor, an die Menschengüte zu glauben als nur an Kanonen und Politik; möge die Art, in der es geschehe, auch lächerlich sein.
»Wie ist denn dieser Mensch, den du kennen gelernt hast?« fragte Ulrich.
»Ach, das läßt sich gar nicht sagen; gut ist er!« antwortete seine Schwester und lachte.
»Du kannst so wenig auf das, was dir gut vorkommt, etwas geben wie auf das, was Leinsdorf so vorkommt!« erwiderte Ulrich ärgerlich.
Beider Gesichter waren lachend steif erregt: das leichte Strömen des höflich heiteren Ausdrucks von tieferen Gegenströmen gehemmt. Rachel spürte es unter ihrem Häubchen an den Haarwurzeln; aber sie fühlte sich selbst so elend, daß es viel gedämpfter geschah als früher, gleich einer Erinnerung aus besseren Zeiten. Das schöne Rund ihrer Wangen war unmerklich gehöhlt, der schwarze Brand ihres Auges von Mutlosigkeit getrübt: wäre Ulrich in der Laune gewesen, ihre Schönheit mit der seiner Schwester zu vergleichen, so hätte es ihm auffallen müssen, daß Rachels schwarzer einstiger Glanz wie ein Stückchen Kohle zerfallen war, über das ein schwerer Wagen hinweggefahren ist. Aber er achtete ihrer nicht. Sie war schwanger, und niemand wußte es außer Soliman, der ohne Verständnis für die Wirklichkeit des Unheils mit romantischen und läppischen Plänen darauf antwortete.
»Seit Jahrhunderten« fuhr Ulrich fort »kennt die Welt Gedankenwahrheit und darum verstandesmäßig bis zu einem gewissen Grad Gedankenfreiheit. In der gleichen Zeit hatte das Gefühl weder die strenge Schule der Wahrheit, noch die der Bewegungsfreiheit. Denn jede Moral hat für ihren Zeitlauf das Gefühl nur soweit, und in diesem Umkreis noch dazu starr, geregelt, als gewisse Grundsätze und Grundgefühle für das ihr beliebende Handeln nötig waren; das übrige hat sie aber dem Gutdünken, dem persönlichen Gefühlsspiel, den ungewissen Bemühungen der Kunst und der akademischen Erörterung überlassen. Die Moral hat also die Gefühle den Bedürfnissen der Moral angepaßt und dabei vernachlässigt, sie zu entwickeln, obwohl sie selbst von ihnen abhängt. Sie ist ja die Ordnung und Einheit des Gefühls.« Hier hielt er aber ein. Er fühlte Rachels mitgerissenen Blick auf seinem eifernden Gesicht, wenn sie auch für die Angelegenheiten großer Leute nicht mehr ganz die Begeisterung aufbringen konnte wie früher. »Es ist ja vielleicht komisch, daß ich sogar hier in der Küche von Moral spreche« sagte er verlegen.
Agathe sah ihn gespannt und nachdenklich an. Er beugte sich näher zu seiner Schwester und fügte leise mit einem zuckend scherzenden Lächeln hinzu: »Aber es ist nur ein anderer Ausdruck für einen Zustand der Leidenschaft, der sich gegen die ganze Welt bewaffnet!«
Ohne seine Absicht hatte sich nun der Gegensatz des Morgens wiederholt, worin er in der nicht angenehmen Figur des scheinbar Lehrhaften auftrat. Er konnte nicht anders. Moral war für ihn weder Botmäßigkeit, noch Gedankenweisheit, sondern das unendliche Ganze der Möglichkeiten zu leben. Er glaubte an eine Steigerungsfähigkeit der Moral, an Stufen ihres Erlebnisses, und nicht etwa nur, wie das üblich ist, an Stufen ihrer Erkenntnis, als ob sie etwas Fertiges wäre, wofür der Mensch bloß nicht rein genug sei. Er glaubte an Moral, ohne einer bestimmten Moral zu glauben. Gewöhnlich versteht man unter ihr eine Art von Polizeiforderungen, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird; und weil das Leben nicht einmal ihnen gehorcht, gewinnen sie den Anschein, nicht ganz erfüllbar, und auf diese dürftige Weise also auch den, ein Ideal zu sein. Aber man darf die Moral nicht auf diese Stufe bringen. Moral ist Phantasie. Das war es, was er Agathe sehen lassen wollte. Und das zweite war: Phantasie ist nicht Willkür. Überantwortet man die Phantasie der Willkür, so rächt sich das. In Ulrichs Mund zuckten die Worte. Er war im Begriff gewesen, von dem zu wenig beachteten Unterschied zu sprechen, daß die verschiedenen Zeitläufte den Verstand in ihrer Weise entwickelt, die moralische Phantasie aber in ihrer Weise fixiert und verschlossen haben. Er war im Begriff gewesen, davon zu sprechen, weil die Folge ist: eine trotz aller Zweifel mehr oder weniger geradlinig durch alle Wandlungen der Geschichte aufsteigende Linie des Verstandes und seiner Gebilde, dagegen ein Scherbenberg der Gefühle, der Ideen, der Lebensmöglichkeiten, wo sie in Schichten so liegen, wie sie als ewige Nebensachen entstanden und wieder verlassen worden sind. Weil eine weitere Folge ist: daß es schließlich eine Unzahl von Möglichkeiten gibt, so oder so eine Meinung zu haben, sobald das ins Gebiet des grundsätzlichen Lebens reicht, aber keine einzige Möglichkeit, sie zu einigen. Weil eine Folge ist: daß diese Meinungen aufeinander losschlagen, da sie gar keine Möglichkeit haben, sich zu verständigen. Weil alles in allem die Folge ist, daß die Affektivität in der Menschheit hin und her schwankt wie Wasser in einem Bottich, der keinen festen Stand hat. Und Ulrich hatte eine Idee, die ihn schon den ganzen Abend verfolgte; übrigens eine alte Idee von ihm, und sie wurde an diesem Abend bloß immerzu bestätigt, und er hatte Agathe zeigen wollen, wo der Fehler läge und wie er zu beheben wäre, wenn alle wollten, und eigentlich hatte er damit ja nur die schmerzliche Absicht, zu beweisen, daß man eher auch den Entdeckungen seiner eigenen Phantasie nicht trauen dürfe.
Und Agathe sagte, mit einem kleinen Seufzer, so wie sich eine bedrängte Frau schnell noch einmal wehrt, ehe sie sich ergibt: »Man muß also doch alles ›aus Prinzip‹ tun?!« Und sie blickte ihn an, sein Lächeln erwidernd.
Er aber antwortete: »Ja; aber nur aus einem Prinzip!« Und das war nun etwas ganz anderes, als er zu sagen vorgehabt hatte. Es kam wieder aus dem Bereich der Siamesischen Zwillinge und des Tausendjährigen Reichs, wo das Leben in zauberhafter Stille wächst wie eine Blume, und mochte es gleich nicht aus der Luft gegriffen sein, so deutete es doch gerade auf Grenzen des Gedankens hin, die einsam und trügerisch sind. Agathes Auge war wie ein auseinandergebrochener Achat. Wenn er in dieser Sekunde nur noch ein wenig mehr gesagt oder die Hand auf sie gelegt hätte, so wäre etwas geschehen, wovon sie bald danach nichts mehr angeben konnte, da es wieder unterging. Denn Ulrich wollte nicht mehr sagen. Er nahm eine Frucht und ein Messer und begann zu schälen. Er war glücklich darüber, daß die Entfernung, die ihn noch vor kurzem von seiner Schwester getrennt hatte, zu einer unermeßlichen Nähe zusammenschmolz, aber er war auch froh, als sie in diesem Augenblick unterbrochen wurden.
Es war der General, der mit dem listigen Auge eines Patrouillekommandanten, der den Feind im Biwak überrascht, in die Küche spähte: »Entschuldigung, daß ich störe!« rief er eintretend aus. »Aber bei einem tête à tête mit dem Bruder, Gnädigste, kann es ja unmöglich ein großes Verbrechen sein!« Und mit den Worten: »Man sucht dich wie eine Spennadel!« wandte er sich an Ulrich.
Und Ulrich sagte dann dem General, was er hatte Agathe sagen wollen. Aber zunächst fragte er: »Wer ist ›man‹?«
»Ich sollte dich doch zum Minister bringen!« klagte ihn Stumm an.
Ulrich winkte ab.
»Na, ist auch schon überholt« meinte der Gutmütige. »Der alte Herr ist gerade fortgegangen. Aber ich, wegen meiner eigenen Kompetenzen, muß dich dann, sobald die gnädige Frau eine bessere Gesellschaft gewählt hat als deine, noch verhören, wie du das mit dem ›Glaubenskrieg‹ gemeint hast, falls du die Güte hast, dich noch an deine Worte zu erinnern.«
»Wir sprechen gerade davon« erwiderte Ulrich.
»Aber wie interessant!« rief der General aus. »Gnädige beschäftigen sich also auch mit Moral?«
»Mein Bruder spricht überhaupt nur von Moral« verbesserte es Agathe lächelnd.
»Das hat heute ja geradezu die Tagesordnung gebildet!« seufzte Stumm. »Der Leinsdorf hat zum Beispiel erst vor ein paar Minuten gesagt, Moral ist ebenso wichtig wie Essen. Das kann ich nicht finden!« Sprachs und beugte sich mit Gefallen über die Süßigkeiten, die ihm Agathe reichte. Es hatte ein Witz sein sollen. Agathe tröstete ihn: »Ich kann es auch nicht finden« sagte sie.
»Ein Offizier und eine Frau müssen Moral haben, aber sie sprechen nicht gerne davon!« improvisierte der General weiter. »Habe ich nicht recht, Gnädigste?«
Rachel hatte ihm einen Küchenstuhl gebracht, den sie eifrig mit ihrer Schürze abwischte, und sie wurde von seinen Worten ins Herz getroffen; beinahe kamen ihr die Tränen.
Stumm aber munterte Ulrich von neuem auf: »Also wie ist das mit dem Glaubenskrieg?« Ehe jedoch Ulrich etwas sagen konnte, unterbrach er ihn schon wieder mit den Worten: »Ich habe nämlich das Gefühl, daß auch deine Kusine durch die Zimmer irrt, dich zu suchen, und bin ihr nur dank meiner militärischen Ausbildung zuvorgekommen. Ich muß also die Zeit ausnutzen. Es ist nämlich nicht mehr schön, was drinnen vor sich geht! Man blamiert uns geradezu. Und sie, also wie soll ich das sagen? sie läßt halt die Zügel schleifen! Weißt du, was beschlossen worden ist?«
»Wer hat beschlossen?«
»Viele sind schon weggegangen. Manche sind dageblieben und hören sich die Vorgänge sehr genau an« umschrieb es der General. »Man kann nämlich nicht sagen, wer beschließt.«
»Vielleicht ist es dann besser, du sagst zuerst, was sie beschlossen haben« meinte Ulrich.
Stumm von Bordwehr zuckte die Achseln. »Nun ja. Aber ein Beschluß im geschäftsordnungsmäßigen Sinn ist es ja zum Glück auch nicht« führte er aus. »Denn alle verantwortlichen Leute hatten sich, Gott sei Dank, schon rechtzeitig zurückgezogen. Man kann also sagen, es ist nur ein Partikularbeschluß, ein Vorschlag oder ein Minoritätsvotum. Ich werde die Meinung vertreten, daß wir offiziell gar nicht davon Kenntnis haben. Das mußt du aber deinem Sekretär sagen, wegen dem Protokoll, damit gleich nichts davon hineinkommt. Entschuldigen Gnädige,« und er wandte sich an Agathe »daß ich so dienstlich rede!«
»Aber was ist eigentlich geschehen?« fragte auch sie.
Stumm machte eine vieles umfassende Gebärde. »Der Feuermaul, wenn gnädiger Frau dieser junge Mann erinnerlich ist, den wir eigentlich nur eingeladen haben, damit – also wie soll ich das sagen? Weil er ein Exponent des Zeitgeistes ist, und weil wir ja ohnehin auch die entgegengesetzten Exponenten haben einladen müssen: Man hat also hoffen dürfen, unbeschadet dessen, und sogar im Genuß gewisser geistiger Anregungen von den Dingen reden zu können, auf die es ja leider nun einmal ankommt. Ihr Bruder weiß das ja, gnädige Frau; es hatte der Minister mit dem Leinsdorf und dem Arnheim zusammengebracht werden sollen, um zu sehen, ob der Leinsdorf nichts gegen gewisse –: patriotische Auffassungen hat. Und absolut genommen, bin ich auch gar nicht unzufrieden,« – wandte er sich nun wieder vertraulich an Ulrich – »die Sache ist soweit in Ordnung gekommen. Aber während das stattfand, ist der Feuermaul mit den anderen –« hier sah sich Stumm genötigt, für Agathes Verständnis etwas einzufügen: »also der Exponent einer Auffassung, daß der Mensch gewissermaßen ein friedliches und liebevolles Geschöpf sei, mit dem man gut umgehen muß, mit den Exponenten, die ungefähr das Gegenteil behaupten, so daß man zur Ordnung nach ihnen eine starke Faust braucht und was sonst noch dazugehört – dieser Feuermaul ist mit diesen anderen in einen Streit geraten, und ehe man es hindern konnte, haben sie einen gemeinsamen Beschluß gefaßt!«
»Einen gemeinsamen?« vergewisserte sich Ulrich.
»Ja. Ich hab das nur so erzählt, wie wenn es ein Witz wäre« versicherte Stumm, dem die unfreiwillige Komik seiner Darstellung nachträglich selbst schmeichelhaft auffiel. »Das hat kein Mensch erwarten können. Und wenn ich dir erzähle, was für einen Beschluß, du wirst es nicht glauben! Da ich heute nachmittag den Moosbrugger quasi dienstlich habe besuchen sollen, wird sich außerdem das ganze Ministerium nicht ausreden lassen, daß ich selbst dahinterstecke!«
Hier brach Ulrich in ein Gelächter aus und unterbrach in gleicher Weise auch die weiteren Ausführungen Stumms von Zeit zu Zeit, was nur Agathe ganz verstand, während ihm sein Freund wiederholt etwas gekränkt bemerkte, daß er nervös zu sein scheine. Aber was sich ereignet hatte, entsprach zu sehr dem Muster, das Ulrich seiner Schwester soeben erst entworfen hatte, als daß er sich nicht hätte freuen sollen. Die Feuermaul-Gruppe war im letzten Augenblick auf den Plan getreten, um zu retten, was noch zu retten wäre. Das Ziel pflegt in solchen Fällen undeutlicher zu sein als die Absicht. Der junge Dichter Friedel Feuermaul – in vertrautem Kreis aber Pepi genannt, denn er schwärmte für Alt-Wien und bemühte sich dem jungen Schubert ähnlich zu sehen, obwohl er in einer ungarischen Kleinstadt auf die Welt gekommen war – glaubte eben an Österreichs Sendung, und er glaubte außerdem an die Menschheit. Es lag auf der Hand, daß ihn ein Unternehmen wie die Parallelaktion, wenn er nicht beigezogen wurde, von Anfang an beunruhigen mußte. Wie konnte ein Menschheitsunternehmen mit österreichischer Note oder ein österreichisches Unternehmen mit der Note Menschlichkeit ohne ihn gedeihen! Das hatte er allerdings, mit einem Achselzucken, nur zu seiner Freundin Drangsal geäußert, diese aber, als ihrer Heimat zur Ehre gereichende Witwe und dazu Inhaberin eines geistigen Schönheitssalons, der erst im letzten Jahr von dem Diotimas überflügelt worden war, hatte es jedem einflußreichen Menschen gesagt, mit dem sie in Berührung kam. So war ein Gerücht entstanden, daß die Parallelaktion in Gefahr sei, wenn nicht –: dieses Wenn nicht und jene Gefahr blieben, wie es begreiflich ist, dabei ein wenig unbestimmt, denn erst mußte man Diotima zwingen, Feuermaul einzuladen, und dann konnte man vielleicht sehen. Aber die Ankündigung einer Gefahr, die von der vaterländischen Aktion ausgehen sollte, wurde von jenen wachsamen Politikern vermerkt, die kein Vaterland anerkannten, sondern nur ein Mütterchen Volk, das mit dem Staat in aufgezwungener Ehe lebte und von ihm mißhandelt wurde; sie hatten schon lange geargwöhnt, daß aus der Parallelaktion bloß eine neue Unterdrückung hervorgehen werde. Und wenn sie es auch höflich verbargen, so legten sie weniger Wert auf die Absicht, das abzuwenden – denn verzweifelnde Humanisten hätte es unter den Deutschen immer gegeben, aber in ihrer Gesamtheit blieben sie Unterdrücker und Staatsschmarotzer! –, als auf den nützlichen Hinweis, daß Deutsche selbst die Gefährlichkeit ihres Volkstums zugaben. Dadurch fühlten sich Frau Professor Drangsal und der Dichter Feuermaul von einer Teilnahme an ihren Bestrebungen getragen, die sie wohltätig empfanden, ohne sie zu ergründen, und Feuermaul, der ein anerkannter Gefühlsmensch war, wurde von dem Einfall besessen, man müsse etwas zu Liebe und Frieden Ratendes dem Kriegsminister selbst sagen. Warum gerade dem Kriegsminister und welche Rolle diesem zugedacht war, blieben dabei wieder im Dunkel, aber der Einfall selbst war so blendend erfunden und dramatisch, daß er einer anderen Unterstützung wirklich nicht bedurfte. Dies fand auch Stumm von Bordwehr, der ungetreue General, den sein Bildungseifer zuweilen in Frau Drangsals Salon führte, ohne daß es Diotima wußte; er bewirkte überdies, daß die ursprüngliche Auffassung, der Rüstungsindustrielle Arnheim sei ein Bestandteil der Gefahr, der Auffassung Platz machte, daß der Denker Arnheim ein wichtiger Bestandteil alles Guten sei.
Soweit war also alles so vorsichgegangen, wie es den Beteiligten entsprach, und auch daß die Zwiesprache des Ministers mit Feuermaul, als sie heute stattfand, trotz Frau Drangsals Mithilfe nichts ergab als einige Wunder Feuermaulschen Geistes und ihre geduldige Anhörung durch Se. Exzellenz, lag im Verlauf der menschlichen Dinge, wie er gewöhnlich ist. Dann aber hatte Feuermaul noch Reserven in sich; und weil sein Heerbann sich aus jungen und älteren Literaten zusammensetzte, aus Hofräten, Bibliothekaren und einigen Friedensfreunden, kurz aus Leuten jeden Alters und aller Stellungen, die ein Gefühl für das alte Vaterland und seine menschliche Sendung vereinte, das sich ebensogern für die Wiederbelebung der abgeschafften Pferdeomnibusse mit ihrem historischen Dreigespann oder für das Wiener Porzellan eingesetzt hätte, und weil diese Getreuen im Lauf des Abends durch mannigfache Beziehungen mit den Gegnern verbunden worden waren, die ja auch nicht das Messer gleich offen in der Hand trugen, hatten sich viele Gespräche ergeben, worin die Meinungen blind durcheinandergingen. Diese Verlockung fand Feuermaul vor, als ihn der Kriegsminister verabschiedet hatte und Frau Drangsals Aufsicht durch unbekannte Umstände für eine Weile abgelenkt wurde. Stumm von Bordwehr wußte nur zu berichten, daß er in ein überaus lebhaftes Gespräch mit einem jungen Manne geraten wäre, dessen Beschreibung nicht ausgeschlossen erscheinen ließ, daß es Hans Sepp gewesen sei. Jedenfalls war es einer von denen, die einen Sündenbock benutzen, dem sie die Schuld an allem Übel geben, mit dem sie nicht fertig werden; die nationale Überheblichkeit ist ja nur jener besondere Fall davon, wo man sich aus reiner Überzeugung einen solchen Sündenbock wählt, der nicht mit einem blutsverwandt ist und überhaupt möglichst wenig Ähnlichkeit mit einem selbst hat. Nun ist es bekanntlich eine große Erleichterung, wenn man sich ärgert, seinen Zorn an jemand auszulassen, auch wenn er nichts dafür kann; aber weniger bekannt ist das von der Liebe. Trotzdem ist es auch da geradeso, und die Liebe muß oft an jemand ausgelassen werden, der nichts dafür kann, da sie sonst keine Gelegenheit findet. So war Feuermaul ein betriebsamer junger Mann, der im Kampf um den Nutzen recht ungut sein konnte, aber sein Liebesbock war »der Mensch«, und sobald er an den Menschen im allgemeinen dachte, konnte er sich an unbefriedigter Güte kaum genugtun. Hans Sepp war dagegen im Grunde ein guter Kerl, der es nicht einmal übers Herz brachte, Direktor Fischel zu hintergehn, und sein Sündenbock dafür war »der undeutsche Mensch«, auf den er den Groll gegen alles lud, was er nicht ändern konnte. Weiß der Himmel, was sie anfangs miteinander gesprochen hatten; sie werden wohl gleich ihre Böcke gegeneinander geritten haben, denn Stumm erzählte: »Ich begreife wirklich nicht, wie das gekommen ist: auf einmal sind andere dabei gewesen, dann hat es im Handumdrehn einen richtigen Auflauf gegeben, und schließlich sind alle, die in den Zimmern waren, um sie herumgestanden!«
»Und weißt du, worüber sie gestritten haben?« fragte Ulrich.
Stumm zuckte die Achseln. »Der Feuermaul hat dem anderen zugerufen: ›Sie möchten hassen, aber das können Sie gar nicht! Denn die Liebe ist jedem Menschen eingeboren!‹ Oder so ähnlich war’s. Und der andere hat ihm zugeschrien: ›Und Sie möchten lieben? Aber das können Sie noch viel weniger, Sie, Sie –‹ Genau kann ich’s wirklich nicht sagen, denn ich habe mich wegen der Uniform in einer gewissen Entfernung halten müssen.«
»Oh,« sagte Ulrich »das ist schon die Hauptsache!« Und er wandte sich mit einem Blick, der den ihren suchte, an Agathe.
»Aber die Hauptsache war doch erst der Beschluß!« erinnerte Stumm. »Daß sie einander fast gefressen haben, und mir nichts, dir nichts ist daraus ein gemeinsamer und ganz gemeiner Beschluß geworden!«
Stumm machte in seiner vollen Rundheit den Eindruck geschlossenen Ernstes. »Der Minister ist auf der Stelle fortgegangen« berichtete er.
»Ja, was haben sie denn beschlossen?« fragten die Geschwister.
»Das kann ich nicht genau sagen,« erwiderte Stumm, »denn ich bin natürlich auch sofort verschwunden, und da waren sie noch nicht fertig. Man kann sich sowas auch gar nicht merken. Es ist irgend etwas zu Gunsten des Moosbrugger und gegen das Militär gewesen!«
»Moosbrugger? Ja, wie denn?« Ulrich lachte.
»›Wie denn?‹!« wiederholte der General giftig. »Du hast leicht lachen, aber mir bringt das eine so lange Nase ein! Oder zumindest eine tagelange Schreiberei. Weiß man denn bei solchen Leuten: ›wie denn‹?! Vielleicht war dieser alte Professor schuld, der heute überall für das Aufhängen und gegen die Milde gesprochen hat. Oder es ist geschehn, weil in den letzten Tagen wieder die Zeitungen die Frage dieses Scheusals aufgegriffen haben. Jedenfalls ist auf einmal von ihm die Rede gewesen. Das muß rückgängig gemacht werden!« erklärte er mit einer an ihm ungewohnten Festigkeit.
In diesem Augenblick traten kurz nacheinander Arnheim, Diotima, ja sogar Tuzzi und Graf Leinsdorf in die Küche. Arnheim hatte im Vorzimmer die Stimmen gehört. Er war im Begriff gewesen, sich heimlich zu entfernen, denn die eingetretene Unruhe verführte ihn zu der Hoffnung, daß er sich diesmal noch einer Aussprache mit Diotima entziehen könne, und anderntags wäre er wieder für eine Weile verreist gewesen. Aber die Neugierde verleitete ihn, in die Küche zu blicken, und da er von Agathe gesehen wurde, hinderte ihn die Höflichkeit, sich zurückzuziehn. Stumm bestürmte ihn sofort um Auskunft über den Stand der Dinge. »Ich kann es Ihnen sogar im originalen Wortlaut mitteilen« erwiderte Arnheim lächelnd. »Es war manches so drollig, daß ich mich nicht enthalten habe können, es heimlich niederzuschreiben.«
Er zog ein Kärtchen aus seiner Brieftasche, und seine stenographische Aufzeichnung entziffernd, las er langsam den Inhalt der geplanten Kundgebung vor: »›Die vaterländische Aktion hat auf Antrag der Herren Feuermaul und‹ – den andern Namen habe ich nicht verstanden – ›beschlossen: Für seine eigenen Ideen soll sich jeder töten lassen, wer aber Menschen dazu bringt, für fremde Ideen zu sterben, ist ein Mörder!‹ So war es vorgeschlagen,« fügte er hinzu »und ich hatte nicht den Eindruck, daß sich noch etwas ändern werde.«
Der General rief aus: »Das ist der Wortlaut! So habe auch ich ihn schon gehört! Sind ja ekelerregend, diese geistigen Debatten!«
Arnheim sagte milde: »Es ist der Wunsch der heutigen Jugend nach Festigkeit und Führung.«
»Aber es ist doch nicht nur Jugend dabei,« entgegnete Stumm angewidert »sondern selbst Kahlköpfe sind zustimmend herumgestanden!«
»Dann ist es eben das Bedürfnis nach Führung überhaupt« meinte Arnheim und nickte freundlich. »Es ist heute allgemein. Die Resolution stammt übrigens aus einem zeitgenössischen Buch, wenn ich mich recht entsinne.«
»So?« sagte Stumm.
»Ja« sagte Arnheim. »Und man muß sie natürlich als ungeschehen behandeln. Aber wenn man es verstünde, das seelische Bedürfnis, das sich in ihr ausdrückt, nutzbar zu machen, so würde sich das wohl lohnen.«
Der General zeigte sich etwas beruhigt; er wandte sich an Ulrich: »Hast du eine Idee, was man da tun könnte?«
»Natürlich!« erwiderte Ulrich.
Arnheims Aufmerksamkeit wurde durch Diotima abgelenkt.
»Also bitte!« sagte der General leise. »Schieß los! Ich würde es ja vorziehen, wenn die Führung unter uns bliebe!«
»Du mußt dir vergegenwärtigen, was eigentlich geschehen ist« sagte Ulrich, ohne sich zu beeilen. »Die Leute haben ja gar nicht unrecht, wenn der eine dem andern vorwirft, daß er lieben möchte, wenn er bloß könnte, und der andere dem einen zurückgibt, daß ganz das gleiche doch auch vom Hassen gilt. Es gilt überhaupt von allen Gefühlen. Der Haß hat heute etwas Verträgliches in sich, und anderseits müßte man, um das, was wirklich Liebe wäre, für einen Menschen zu empfinden –: ich behaupte,« sagte Ulrich kurz »daß diese zwei Menschen noch nicht da waren!«
»Das ist sicher sehr interessant,« unterbrach ihn der General schnell »denn ich kann absolut nicht verstehn, wie du das behaupten kannst. Aber ich muß morgen einen Rechenschaftsbericht über die heutigen Vorfälle schreiben, und darum beschwöre ich dich, daß du darauf Rücksicht nimmst! Beim Militär ist das Wichtigste, daß man immer einen Fortschritt melden kann; ein gewisser Optimismus ist da selbst in der Niederlage unentbehrlich, das liegt am Metier: Wie kann ich also das, was geschehen ist, als einen Fortschritt darstellen?!«
»Schreib« riet Ulrich augenzwinkernd: »Es war die Rache der moralischen Phantasie!«
»Aber so was kann man beim Militär doch nicht schreiben!« erwiderte Stumm ärgerlich.
»Dann laß das Wort weg« fuhr Ulrich ernst fort »und schreib: Alle schöpferischen Zeiten sind ernst gewesen. Es gibt kein tiefes Glück ohne tiefe Moral. Es gibt keine Moral, wenn sie sich nicht von etwas Festem ableiten läßt. Es gibt kein Glück, das nicht auf einer Überzeugung ruht. Ohne Moral lebt nicht einmal das Tier. Aber der Mensch weiß heute nicht mehr, mit welcher –«
Stumm unterbrach auch dieses scheinbar gleichmütig fließende Diktat: »Lieber Freund, ich kann von der Moral einer Truppe sprechen, von Gefechtsmoral oder von der Moral eines Frauenzimmers; aber immer im einzelnen; und von Moral ohne eine solche Vorsicht kann man in einem militärischen Dienststück genau so wenig sprechen wie von Phantasie und vom lieben Gott: das weißt du doch selbst!«
Diotima sah Arnheim am Fenster ihrer Küche stehn, ein sonderbar heimlicher Anblick, nachdem sie während des ganzen Abends nur vorsichtige Worte miteinander gewechselt hatten. Sie empfand dabei plötzlich das widerspruchsvolle Verlangen, das abgebrochene Gespräch mit Ulrich fortzusetzen. In ihrem Kopf herrschte jene angenehme Verzweiflung, die sich, in mehreren Richtungen gleichzeitig einbrechend, fast zu einer freundlich-ruhigen Erwartung geschwächt und aufgehoben hat. Der längst vorhergesehene Zusammenbruch des Konzils war ihr gleichgültig. Arnheims Untreue war ihr, wie sie glaubte, auch beinahe gleichgültig. Er sah ihr entgegen, als sie eintrat, und für einen Augenblick war das alte Gefühl da: lebender Raum, der sie verband. Aber sie erinnerte sich wieder, daß ihr Arnheim seit Wochen ausweiche, und der Gedanke: »Erotischer Feigling!« gab ihren Knien die Kraft zurück, daß sie hoheitsvoll auf ihn zuschritt. Arnheim sah das: das Sehen, das Zaudern, das Schmelzen der Entfernung; über eingefrorenen Wegen, die sie in unendlicher Zahl verbanden, lag die Ahnung, daß sie wieder auftauen könnten. Er hatte sich von den übrigen abgewandt, aber im letzten Augenblick machten er und Diotima eine Wendung, die sie zu Ulrich, General Stumm und den übrigen führte, die sich auf der anderen Seite befanden.
Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das Gefühl, eine einzige, jahrhundertealte Gärung ohne Ausgärung. Ein Wesen ist der Mensch, das nicht ohne Begeisterung auskommen kann. Und Begeisterung ist der Zustand, worin alle seine Gefühle und Gedanken den gleichen Geist haben. Du meinst, beinahe im Gegenteil, sie sei der Zustand, wenn ein Gefühl übermächtig stark sei, ein einziges, das – Hingerissensein! – die anderen zu sich hinreißt? Nein, du hast darüber gar nichts sagen wollen? Immerhin, es ist so. Es ist auch so. Aber die Stärke einer solchen Begeisterung ist ohne Halt. Dauer gewinnen die Gefühle und Gedanken nur an einander, in ihrem Ganzen, sie müssen irgendwie gleichgerichtet sein und sich gegenseitig mitreißen. Und mit allen Mitteln, mit Rauschmitteln, Einbildungen, Suggestion, Glauben, Überzeugung, oft auch nur mit Hilfe der vereinfachenden Wirkung der Dummheit, trachtet ja der Mensch, einen Zustand zu schaffen, der dem ähnlich ist. Er glaubt an Ideen, nicht weil sie manchmal wahr sind, sondern weil er glauben muß. Weil er seine Affekte in Ordnung halten muß. Weil er durch eine Täuschung das Loch zwischen seinen Lebenswänden verstopfen muß, durch das seine Gefühle sonst in alle vier Winde gingen. Das Richtige wäre wohl, statt sich vergänglichen Scheinzuständen hinzugeben, die Bedingungen der echten Begeisterung wenigstens zu suchen. Aber obwohl alles in allem die Zahl der Entscheidungen, die vom Gefühl abhängen, unendlich viel größer ist als die jener, die sich mit der blanken Vernunft treffen lassen, und alle die Menschheit bewegenden Ereignisse aus der Phantasie entstehen, erweisen sich nur die Verstandesfragen überpersönlich geordnet, und für das andere ist nichts geschehn, was den Namen einer gemeinsamen Anstrengung verdiente oder auch nur die Einsicht in ihre verzweifelte Notwendigkeit andeutete:
Ungefähr so sprach Ulrich, unter begreiflichen Protesten des Generals.
Er sah in den Vorgängen des Abends, wenn sie auch nicht ohne Ungestüm waren und durch mißgünstige Auslegung sogar noch folgenschwer werden sollten, nur das Beispiel einer unendlichen Unordnung. Herr Feuermaul erschien ihm in diesem Augenblick so gleichgültig wie die Menschenliebe, der Nationalismus so gleichgültig wie Herr Feuermaul, und vergeblich fragte ihn Stumm, wie man denn aus dieser überaus persönlichen Stellungnahme den Gedanken eines greifbaren Fortschritts destillieren solle. »Melde eben,« erwiderte Ulrich »das sei der Tausendjährige Glaubenskrieg. Und noch nie seien die Menschen so schlecht gegen ihn gerüstet gewesen wie in dieser Zeit, da der Schutt ›des vergeblich Gefühlten‹, den ein Zeitalter über dem anderen hinterläßt, Bergeshöhe erreicht hat, ohne daß etwas dagegen geschähe. Das Kriegsministerium darf also beruhigt dem nächsten Massenunglück entgegensehen.«
Ulrich sagte das Schicksal vorher und hatte davon keine Ahnung. Es lag ihm auch gar nichts am wirklichen Geschehen, sondern er kämpfte um seine Seligkeit. Er versuchte alles dazwischenzuschieben, was sie hindern könnte. Darum lachte er auch und suchte die anderen durch den Anschein irrezuführen, daß er spotte und übertreibe. Er übertrieb für Agathe; er setzte sein Gespräch mit ihr fort, und nicht nur dieses letzte. Er errichtete in Wahrheit ein Gedankenbollwerk gegen sie und wußte, daß daran an einer gewissen Stelle ein kleiner Riegel wäre: zöge man an diesem, so würde alles von Gefühl überflutet und begraben werden! Und eigentlich dachte er unausgesetzt an diesen Riegel.
Diotima stand in seiner Nähe und lächelte. Sie fühlte etwas von Ulrichs Bemühung um seine Schwester, war wehmütig gerührt, vergaß die Sexualwissenschaft, und etwas stand offen: es war wohl die Zukunft, jedenfalls waren es aber ein wenig auch ihre Lippen.
Arnheim fragte Ulrich: „Und Sie meinen, – daß man etwas dagegen tun könnte?« Die Art, wie er diese Frage stellte, gab zu verstehen, daß er durch die Übertreibung den Ernst erkenne, aber immerhin auch ihn übertrieben finde.
Tuzzi sagte zu Diotima: »Man muß jedenfalls verhindern, daß etwas von diesen Vorgängen in die Öffentlichkeit dringt.«
Ulrich erwiderte Arnheim: »Liegt es nicht ganz nahe? Wir sehen uns heute vor zuviel Gefühls- und Lebensmöglichkeiten gestellt. Gleicht diese Schwierigkeit aber nicht der, die der Verstand bewältigt, wenn er vor einer Unmenge von Tatsachen und einer Geschichte der Theorien steht? Und für ihn haben wir ein unabgeschlossenes und doch strenges Verhalten gefunden, das ich Ihnen nicht zu beschreiben brauche. Ich frage Sie nun, ob etwas Ähnliches nicht auch für das Gefühl möglich wäre? Wir möchten doch ohne Zweifel daraufkommen, wozu wir da sind, das ist eine Hauptquelle aller Gewalttaten der Welt. Nun haben das andere Zeiten mit ihren unzureichenden Mitteln versucht, das große Zeitalter der Erfahrung aus seinem Geist heraus aber überhaupt noch nicht –«
Arnheim, der rasch begriff und gerne unterbrach, legte ihm beschwörend die Hand auf die Schulter: »Das wäre ja ein steigendes Verhältnis zu Gott!« rief er gedämpft und warnend aus.
»Das wäre doch nicht das Schrecklichste?« meinte Ulrich, nicht ganz ohne spöttische Schärfe für diese vorschnelle Angst. »Aber so weit bin ich ja gar nicht gegangen!«
Arnheim nahm sich sofort zusammen und lächelte. »Man freut sich, wenn man nach langer Abwesenheit jemand unverändert antrifft; das ist heutzutage selten!« sagte er. Er freute sich übrigens, kaum daß er sich durch diese wohlwollende Abwehr in Sicherheit fühlte, wirklich. Ulrich hätte ja auch auf das peinliche Stellungsangebot zurückkommen können, und Arnheim war ihm dankbar dafür, daß er in seiner unverantwortlichen Unbedingtheit jede Berührung mit der Erde verschmähe. »Wir müssen einmal darüber sprechen« fügte er herzlich seinen Worten hinzu. »Mir ist unklar, wie Sie sich diese Übertragung unseres theoretischen Verhaltens auf das praktische denken.«
Ulrich wußte, daß es wirklich noch unklar sei. Er meinte ja weder ein »Forscherleben« noch ein Leben »im Lichte der Wissenschaft«, sondern ein »Suchen des Gefühls«, ähnlich dem Suchen der Wahrheit, nur daß es da nicht auf Wahrheit ankam. Er sah Arnheim nach, der zu Agathe hinübertrat. Dort stand auch Diotima; Tuzzi und Graf Leinsdorf gingen und kamen. Agathe plauderte mit allen und dachte: »Warum spricht er mit allen?! Er hätte mit mir fortgehen sollen! Er entwertet das, was er mir gesagt hat!« Manche Worte, die sie herüber hörte, gefielen ihr, aber sie taten ihr trotzdem weh. Alles, was von Ulrich kam, tat ihr jetzt wieder weh, und noch einmal an diesem Tag hatte sie plötzlich das Bedürfnis, ihn zu fliehn. Sie verzagte daran, daß sie in ihrer Einseitigkeit ihm genug sein könne, und die Vorstellung, daß sie nach einer Weile bloß wie zwei Leute nach Hause gehen sollten, die den vergangenen Abend beschwätzen, war ihr unerträglich!
Ulrich aber dachte weiter: »Arnheim wird das nie verstehn!« Und er ergänzte es: »Der wissenschaftliche Mensch ist ja gerade im Gefühl beschränkt, der praktische erst recht. Das ist so notwendig wie ein fester Stand der Beine, wenn man mit den Armen etwas packen soll.« Er selbst war unter gewöhnlichen Umständen so. Sobald er dachte, und geschähe es über das Gefühl in Person, ließ er das Gefühl nur vorsichtig zu. Agathe nannte das kalt; er aber wußte: will man das andere ganz sein, so muß man wie bei einem tödlichen Abenteuer vorher auf das Leben verzichten, denn man kann sich nicht vorstellen, wie es weitergehen wird! Er hatte Lust dazu und fürchtete es in diesem Augenblick nicht mehr. Er sah lange seine Schwester an. Das lebhafte Spiel des Sprechens auf dem davon unberührten tieferen Gesicht. Er wollte sie auffordern, mit ihm fortzugehn. Ehe er aber noch seinen Platz verlassen konnte, sprach ihn Stumm an, der wieder zu ihm herübergekommen war.
Der gute General hatte Ulrich gern; er hatte ihm die Scherze über das Kriegsministerium schon verziehen, ja irgendwie gefiel ihm die Rede vom »Glaubenskrieg« ganz gut, denn sie hatte so etwas festtäglich Militärisches wie Eichenlaub am Tschako oder Hurraschreien an Kaisers Geburtstag. Er lehnte seinen Arm an den des Freundes und bugsierte Ulrich außer Hörweite. »Siehst du, ich finde es schön, daß du sagst, alle Ereignisse entstehen aus der Phantasie« begann er; »natürlich ist das mehr meine private als meine dienstliche Stellung dazu.« Er bot Ulrich eine Zigarette an.
»Ich muß nach Hause gehn« sagte Ulrich.
»Deine Schwester unterhält sich großartig, stör sie doch nicht« sagte Stumm. »Der Arnheim legt sich tüchtig ins Zeug, ihr den Hof zu machen. Und was ich dir sagen wollte: Alle haben jetzt keine rechte Freud mehr an den großen Gedanken der Menschheit; du solltest wieder Schwung hineinbringen. Ich meine: die Zeit bekommt einen neuen Geist, und den solltest du eben in die Hand nehmen!«
»Wie kommst du denn darauf?!« fragte Ulrich mißtrauisch.
»Ich denke es mir halt so.« Stumm überging es und fuhr dringend fort: »Für Ordnung bist du doch auch, das sieht man ja an allem, was du sagst. Und sodann fühle ich mich gefragt: Ist der Mensch mehr gut oder braucht er mehr eine starke Hand? Darin liegt ein gewisses heutiges Bedürfnis nach Entschiedenheit. Alles in allem habe ich dir ja schon gesagt, daß es mir eine Beruhigung wäre, wenn du wieder die Führung in der Aktion übernehmen tätest. Man weiß schließlich doch nicht, was sonst bei dem vielen Reden geschieht!«
Ulrich lachte. »Weißt du, was ich jetzt tue? Ich komm nicht mehr her!« antwortete er glücklich.
»Warum denn?!« eiferte Stumm. »Die werden recht behalten, die sagen, daß du nie eine wirkliche Kraft gewesen bist!«
»Wenn ich den Leuten verriete, wie ich denke, würden sie es erst recht sagen!« gab Ulrich lachend zur Antwort und machte sich von seinem Freunde los.
Stumm war ärgerlich, aber dann siegte seine Gutmütigkeit, und er sagte abschiednehmend: »Diese Geschichten sind verdammt kompliziert. Ich habe mir geradezu manchmal gedacht, das Beste wäre schon, wenn über alle diese Unlösbarkeiten einmal ein rechter Trottel käme, ich meine so eine Art Jeanne d’Arc, der könnte uns vielleicht helfen!«
Ulrichs Blick suchte seine Schwester und fand sie nicht. Als er Diotima nach ihr fragte, kamen Leinsdorf und Tuzzi soeben wieder aus der Wohnung und teilten mit, daß ein allgemeiner Aufbruch stattfinde. »Ich habe gleich gesagt,« berichtete Se. Erlaucht aufgeräumt der Hausfrau »was die geredet haben, ist nicht ihre wahre Meinung gewesen. Und die Drangsal hat dann einen wirklich rettenden Einfall gehabt, es ist nämlich beschlossen worden, die heutige Versammlung ein andermal fortzusetzen. Aber der Feuermaul, oder wie er heißt, wird dabei irgendein langes Gedicht von sich vorlesen, da wird es ruhiger zugehn. Ich habe mir natürlich erlaubt, wegen der Dringlichkeit gleich in Ihrem Namen zuzustimmen!«
Dann erst erfuhr Ulrich, daß sich Agathe plötzlich verabschiedet und ohne ihn das Haus verlassen habe; man richtete ihm aus, daß sie ihn durch ihren Entschluß nicht hätte stören wollen.