MoE 5 | Zweites Buch | 1933-1936 | Erste Fortsetzungsreihe

NEUANSÄTZE

 
Band 5 (mit Seitensiglen und einfachem HTML-Code

47.
Wandel unter Menschen


In der Zeit, die nun folgte, zogen sie sich auch von ihren nächsten Bekannten zurück und setzten sie dadurch in Erstaunen, daß sie jede Einladung ablehnten und zu Hause nicht zu erreichen waren. Wenn sie ausgingen, vermieden sie Orte, wo sie gesehen werden konnten, besuchten aber Theater und Vergnügungsstätten, wo sie sich vor der Welt, der sie angehörten, sicher fühlen durften, denn sie empfanden ein starkes Bedürfnis nach Ablenkung. Es vergnügte sie, an einem Leben teilzuhaben, das sich von dem ihren unterschied und ihnen die Verantwortung für dieses abnahm; auch war es ihnen neu und sagte ihnen besonders zu, sich den zufälligen Anziehungen zu überlassen, die gleich veränderlichen Wirbeln die geistlosen Menschen einer Großstadt an verschiedenen und wechselnden Orten zusammenführen.
Sehr bald ließen sie aber auch darin nach und durchstreiften nun am liebsten bloß die Gassen, wie es nachlässige Fremde tun, die den ersten Tag in einer neuen Stadt verbringen, wo sie nichts Besonderes vorhaben. Und noch nie war ihnen die Stadt, worin sie lebten, so schön und so fremd zugleich vorgekommen, wie es dabei geschah. Die Häuser boten in ihrer Gesamtheit ein die Sinne erschütterndes Bild dar, auch wenn sie im einzelnen gar nicht schön waren; der Lärm strömte durch die hitzeverdünnte Luft wie ein an die Dächer reichender Fluß dahin; in dem starken, von der Straße gedämpften Licht sahen die Menschen leidenschaftlicher und geheimnisvoller aus, als sie es wahrscheinlich verdienten. Alles war so unersetzlich und unvergeßlich, als gäbe es zu fühlen, wie es sich in seiner Augenblicklichkeit selbst vorkomme; und die Geschwister nahmen gern diese eigenartige Einladung zum Mitempfinden an, weil sie sich in letzter Zeit so viel um sich selbst gekümmert hatten.
Sie befanden sich dabei alsbald in einem recht eigentümlichen Zustand. Die geheimen Erlebnisse, die sie mit einander verbanden, sonderten sie von den anderen Menschen ab; aber dieselbe ungewisse Leidenschaft, die sie unvermindert weiter fühlten und die sich nicht an einem Verbot gebrochen hatte, sondern an einer Verheißung, hatte sie auch in einen Zustand versetzt, der Ähnlichkeit mit den schwülen Unterbrechungen einer körperlichen Vereinigung besaß: Die Lust ohne Ausweg sank wieder in den Körper zurück und erfüllte ihn mit einer Wollust, die so gegenstandslos war wie der Duft über Rosenbeeten.
Sie hätten ja den Menschen und alles, was geschah, lieben mögen oder spürten wenigstens den schönen Schatten des »Wie es wäre« davon auf ihr Herz fallen; denn dieses konnte der sanften Täuschung weder völlig glauben, noch konnte es sich ihr ganz entziehen. Zwischen ihnen selbst hatte sich noch nichts verändert, außer daß Agathe ihr Gemüt durch ihren verheimlichten Besuch bei Lindner wieder erleichtert hatte; doch schien es, daß sich die übergroße Empfindlichkeit und Teilnahme, von der ihr Verhältnis zu einander beherrscht wurde, nun auch in ihrem Verhalten zur Welt wiederholen sollte, denn dieses inständige Genähertwerden, durch das erst eine über alle Kraft gehende Trennung fühlbar wurde, machte sich jetzt, wenngleich gemäßigter und entsprechend abgeschattet, auch dort bemerkbar. Es war noch gar nicht lange, ja sogar bloß einige Tage her, daß Ulrich auf der Gesellschaft bei Diotima leidenschaftlich davon gesprochen hatte, daß die menschliche Geschichte unfruchtbar aus einem wirr andauernden Zustand hervorgehe und aufs dringendste einer inneren Ordnung bedürfte; und doch schien das jetzt keinen Einfluß mehr auf sein Verhalten auszuüben. Seine Seele war bereit, sich der Welt mit allen Sinnen hinzugeben, wie immer diese wäre. Sein Urteil spielte dabei so gut wie keine Rolle. Es bedeutete sogar fast nichts dafür, ob ihm etwas gefiel oder nicht; alles ergriff ihn mehr, als er verstehen konnte. Und er war es wohl gewohnt gewesen, sich mit anderen Menschen im Großen zu beschäftigen, wie es das mit sich bringt, was ihnen allen gilt; aber jetzt geschah die Beschäftigung auch zu jedem einzeln haltend, ja manchmal völlig gedankenlos und körperlich. Und wenn das eine Weile gedauert und ein volles Maß erreicht hatte, erschien es ihm lächerlich oder wurde ihm widerwärtig, denn seine »Seele« (»Wollen wir es vorderhand so nennen!« sagte er dann) war auf ebenso unbegründete Weise, wie sie sich hingab, auch bereit, diese Hingabe wieder zurückzunehmen.
Manchmal kam ihm der Gedanke, daß diese Veränderungen eine Folge der Vorwürfe sein könnten, die ihm seine Schwester gemacht hatte, und es schien ihm dann, diese hätten ihn nachwirkend nicht sowohl seiner Überzeugung beraubt, als vielmehr irgend etwas an seinen Sinnen verrückt. Er erinnerte sich des Regentags und Agathes Behauptung, daß er an nichts mit schlichter Liebe teilzunehmen vermöge, ebenso wie er seine schmerzlich zweifelnde Antwort nicht vergessen konnte, in der er bestritten hatte, daß man auf einen andern, wer es auch sei, so eingehen könne, wie es sein sollte, selbst auf den geliebtesten Menschen nicht. Er hatte die Liebe eine ehrlich unlösbare und traumhaft eingebildete Aufgabe genannt, solange man nicht imstande sei, auch nur die einfachsten körperlichen Schmerzen mitzuempfinden. Und im großen Ganzen dachte er auch jetzt noch so; aber Agathe befand sich zwischen ihm und der Welt, und so oft er aufblickte, sah er sie zuerst, und die tiefe Nähe zwischen ihnen entsandte so sanfte Nebel, daß er geflissentlich-unredlich nicht immer aufs genaueste unterschied, ob er bloß so zu empfinden wünsche, wie sie es von ihm gewollt hatte, oder gewiß sei, und sich zu seiner Überraschung dazu gezwungen finde, es wirklich zu tun. Jedoch war Agathens Gefühl nicht weniger von dem seinen beeinflußt, und so enthielt durch gegenseitige Einwirkung ihrer beiden Verhalten zu dem, was außer ihnen war, nebeneinander Zweifel und Vertrauen in einem wie ein Regenbogen schwebenden Zustand der Rührung, statt daß sich diese Gegensätze unkenntlich gemischt hätten, wie es dem sicheren Zustand der Alltäglichkeit entspricht.
Vielleicht war es nicht ohne Einfluß darauf, daß sie zu dieser Zeit sowohl zahlreiche Briefe von Professor Schwung erhielten, dem Altersfeind ihres verstorbenen Vaters, als auch von Professor Hagauer, dem erbitterten Gatten und Schwager; denn in den einen wurden sie bei dem Andenken eines verehrungswürdigen Toten beschworen, durch ihre hohen Beziehungen dafür zu sorgen, daß ein strengeres Gehören und Zusammengehören wieder in der Welt um sich greife, wogegen sie in den anderen mit schwellender Erbitterung und anwachsender Drohung verdächtigt wurden, daß sie sich selbst eines tief zweifelhaften und sittenstörenden Verhaltens schuldig machten. Ulrich hatte diese Briefe teils ausweichend, teils gar nicht beantwortet; schließlich verlangte Agathe aber sogar, daß er sie verbrenne, ohne sie zu öffnen. Sie begründete es damit, daß es in dem Zustand, worin sie sich befänden, unmöglich sei, sich mit solchen Briefen zu beschäftigen, und das war wohl die Wahrheit. Aber anderseits war es eben doch auch ein schwer zu rechtfertigendes Verhalten von jemand, den die ganze übrige Welt rühren konnte, solche Briefe ungelesen zu vernichten und nicht einmal hinzuhören, wenn andere tief aus der Seele klagten!
Das Weltverhalten der Geschwister war also zu dieser Zeit keine ganz sichere Äußerung menschenfreundlichen Wohlwollens, und so geschah es eines Tags, und gewann alsbald die Wichtigkeit für sie, ihre Gefühle in einem Brennpunkt zusammenzufassen, daß sie sich die Frage vorlegten, was es eigentlich bedeute, seinen Mitmenschen zu lieben, wenn man ihn gar nicht kenne, ja sogar nach allem, was man von ihm wisse, annehmen müsse, daß man sich nach gegenseitiger Bekanntschaft wahrscheinlich nicht allzu gut gefiele. Diese Frage setzte sie durch ihre schwierige Einfachheit in Erstaunen, aber sie bezeichnete offenbar auch eine Lage, in der sich die meisten Menschen befinden, ohne daß sie es sich jedoch anfechten ließen. Denn sie sehen in dem Gebot der Liebe zum voraus nicht mehr als das kluge Verbot, einander Schaden zuzufügen, wenn es keinen besonderen Zweck habe; und damit war nun gleich auch die erste und irdisch-handgerechteste Antwort gegeben.
Aber Agathe erwiderte, das käme dann auf die Regel hinaus: ›Was du nicht willst, daß dir man tu, das füg auch keinem andern zu!‹ und eine so lahme Nutzregel könne unbezweifelbar nicht der Sinn des hochherzig-leidenschaftlichen und heiter-freigebigen Befehls sein, daß man einen fremden Menschen liebe, ohne auch nur zu fragen, wer er sei. Und da es ein so schöner Tag war wie nur irgendeiner, als dieses Gespräch begann, und die helle Sonne auf allen Turm- und Nasenspitzen lag, blieb zweifellos der gehaltvollere Sinn des Befehls auch im Recht.
Das Gespräch wurde lebhaft. Ulrich wandte ein: »Vielleicht ist der Befehl aber gar nicht wörtlich gemeint? Vielleicht ist das ›Liebe!‹ darin nur ein Ausdruck, der sich einen viel zu großen Schwung genommen hat, um die Widerstände zu überwinden, die der vernünftigen Mahnung sich zu vertragen bösbrünstig entgegenstehn?!« Aber Agathe bestand überzeugend darauf, daß von den beiden Bestandteilen »Liebe ihn!« und »Ohne daß du ihn kennst« nicht ein Wort abzudingen sei. Und Ulrich gab ja gern nach. »Es heißt im Grunde sogar: trotzdem du ihn kennst!« räumte er ein. »Oder: ehe du ihn kennst« fügte Agathe bei und wiederholte: »Jedenfalls: ohne daß du ihn kennst!« Plötzlich hielt sie jedoch ein und sah ihren Bruder verdutzt an: »Aber was liebt man denn eigentlich an ihm, wenn man ihn gar nicht kennt?« fragte sie und mußte darüber lachen.
So hatte die rasch hin und her spielende Frage denn nun diese Form angenommen. »Nicht den wirklichen Menschen und nicht die wirkliche Welt« erwiderte Ulrich langsam. Sie hätten es auch schon daraus schließen können, daß ihrem Empfinden nicht die geringste Prüfung voranging; aber sogar von Gefallen und Mißfallen schien diese ausschweifende Liebe losgelöst zu sein, ja begegnete ihnen etwas besonders Schönes oder ein Mensch, dessen Aussehen unter gewöhnlichen Umständen Anlaß geboten hätte, darüber zu sprechen, so brachte es jetzt eher eine Störung mit sich. War es nun aber nicht das Wirkliche, dem sie sich fühlend gegenüberstehen wußten, so blieb offenbar die Frage zu beantworten, mit welchem Menschen oder welcher Welt, mit welchem Teil oder welcher Umgestaltung und Verklärung des wirklichen Menschen und der wirklichen Welt sie es dann zu tun hätten. Und diese Frage stellte nun Ulrich.
Agathe sagte mit schüchternem Gewissen: »Vielleicht ist gerade das der wirkliche Mensch!?«
Der Inhalt dieser fragenden Behauptung hatte eine tief durchschimmernde Augenfälligkeit für sich, aber es kam ihm doch wohl kein rechter Sinn zu.
Ulrich schüttelte den Kopf. Es war die Luft und Lust dieser Tage so heiter und zärtlich, daß unwillkürlich der Eindruck entstand, Mensch und Welt müßten sich darin so zeigen, wie sie wirklich seien. Ein kleiner übersinnlich-abenteuerlicher Schauer war in dieser Durchsichtigkeit, wie er in der fließenden Durchsichtigkeit eines Baches ist, die den Blick an den Grund gelangen läßt, wo dem schwankend ankommenden die farbig geheimnisvollen Steine wie eine Fischhaut erscheinen, unter der sich das, was er zu suchen glaubte, nun erst recht wieder unzugänglich verborgen hat. Agathe hatte mitten im Sonnenschein das Gefühl, in einen übernatürlichen Bereich geraten zu sein; und was lag dann, einer hartnäckigen, aber niemals deutlich ausgestalteten Überlieferung zufolge, näher, als zu meinen, man habe sich mit einer höheren Wahrheit und Wirklichkeit berührt, wohinter man, je nach Glaube und Geschmack, einen göttlichen Geist, den Geist himmlischer Liebe oder zumindest eine Seite des Daseins vermuten dürfe, wo ein hinterirdisches Pförtchen verborgen aus dem Erdgarten ins Überirdische führt?! Hätte sie fest daran geglaubt, so hätte sie es jetzt vielleicht auch gesehen. Aber sie hatte Ulrich angesehn, der seinen Blick, während er den Kopf geschüttelt hatte, unbewegt auf dem Vorübertreiben hatte ruhen lassen und das jetzt erst recht tat; und wenn Agathe auch nicht gerade seinem Blick gefolgt war, so hatte sich der ihre doch ähnlich gestellt und sie brauchte sich nur zu vergegenwärtigen, was sie sah: es war ein Fähnchen, das lustig, aber ohne alle Hintergründigkeit eine Straßenbahn schmückte, war ein Polizeiwagen mit Gefangenen, dessen Lack im Licht blitzte, war ein Mann mit einer farbigen Mütze, der zwischen den Fuhrwerken die Straße kehrte, und schließlich eine Abteilung Soldaten, deren geschulterte Gewehre die Läufe gegen den Himmel richteten. Und alles das war von etwas übergossen, das mit Liebe Verwandtschaft hatte, aber zu behaupten, daß nun die allgemeine Liebe angebrochen sei, dafür war natürlich nirgends ein Anhaltspunkt. So etwas zu sagen, kam Agathe mit einem Mal nicht anders vor als der Vorteil, den die Verbrecher zu finden glauben, wenn sie sich bei Gericht mit dem Großen Unbekannten verantworten, der alles getan haben soll, wessen sie angeklagt sind.
Und ebenso erging es allen Erklärungen, die irgendwie damit verwandt waren; wie denen, daß an solchen Festtagen alles hervorgekehrt werde, was an den Menschen und der Natur Güte ist, oder daß sich die Menschen in dieser durchsichtigen Hochzeitsluft so schön und gütig zu zeigen vermöchten, wie sie sich selbst sähen, oder vielleicht auch nur zu sehen wünschten, oder daß sie ihren guten Willen zeigten, der sie nicht hindern kann, Schlechtes zu tun, aber an solchen Tagen wunderbarerweise aus dem bösen Willen, der sie gewöhnlich beherrscht, unversehrt hervorkommt wie Jonas aus dem Fischbauch. Das wirklich Merkwürdige an allen diesen Erklärungen sind nur sie selbst, ihr Vorhandensein und daß sie sich immer bei den gleichen Gelegenheiten melden. – Das hatte Ulrich nach und nach seiner Schwester zur Antwort gegeben. Sie wurden manchmal des Fühlens müde, und dann konnten sie über einem solchen Gespräch, das nur von ihm handelte, ihr Gefühl verabsäumen; und weil der gefühlvolle Zustand, der nirgends austreten konnte, eigentlich schmerzte, vergalten sie es ihm auch mit ein wenig Undankbarkeit. Agathe sagte mit einem Seufzer: »Dann scheint also die Sonne, man gerät in einen zärtlichen Zustand, man sieht die Welt so zärtlich, wie man sich selbst fühlt: und nichts ist überhaupt daran zu verwundern!«
Ulrich ergänzte: »Es bleibt von allem eine Stimmung übrig; ein persönlicher, aber häufiger Gemütszustand!«
»Man könnte gleich sagen: bloß ein Instinkt!« antwortete Agathe.
»Entfesselter Altruismus!« schlug Ulrich vor, als wollte er sich selbst dafür verspotten, daß er auch etwas anderes glauben könnte.
»Der gleiche Instinkt wie bei einem Schulmädel oder Schulbuben, die sich verliebt haben!«
versetzte Agathe ebenso. »Wir können auch nicht mehr sagen, als sie zustande brächten: daß sie die ganze Welt küssen möchten und nicht wüßten, warum!«
Als sich aber darauf Ulrichs Antwort verzögerte, sah ihn Agathe von der Seite an und sagte entschieden: »Das ist zu wenig!«
»Gewiß. Aber was soll ich dagegen tun, wenn alles dafür spricht, daß es sich nur um eine Stimmung, ein Verlangen, eine Bereitschaft, einen Gemütszustand, also letzten Endes eben um einen Zustand handelt?!«
»Man ist immer in einem Zustand!« rief Agathe aus. »Und doch sieht man nicht immer nur Einbildungen! Liebe hat recht oder unrecht. Sie hat Grund oder nicht –«
»Und was ist Grund andres als Wirkliches?!« fiel Ulrich ein, der ja gar nicht abgeneigt war, sich selbst diesen Einwand zu machen. »Warum soll also gerade die Liebe, von der wir sprechen, ›nur ein Zustand‹ sein, willst du sagen, zumal da sie uns doch so deutlich von außen kommend begegnet. Aber höre, du mußt einen Augenblick einhalten,« fuhr er belustigt, und doch mit Ernst, fort »denn mir ist jetzt erst etwas eingefallen, das diese Güte schon früher hätte haben sollen. Wir sind betrogene Sophisten. Wir haben eine ganz besondere Lage zu entdecken vermeint, nämlich die, daß wir etwas lieben, das wir nicht kennen; aber es ist völlig überflüssig, darin ein Geheimnis zu suchen, denn man liebt überhaupt immer nur etwas, das man nicht kennt!«
Agathe war einen Augenblick unsicher. »Ist das wahr?«
»Zur Liebe gehört doch Phantasie!«
»Ja. Aber –«
»Die Liebe kommt immer auf einen ersten Blick; müßte man warten, bis man sich kennt, entstünde sie frühestens nach dem letzten!«
»Natürlich hast du recht« sagte Agathe, die sich nun an den Gedanken gewöhnt hatte. »Es ist einem gleichgültig, wie der andere ist –«
»Nicht ganz, aber doch.«
»Wie er denkt, welche Meinungen er hat, was er tut und leistet.«
»Nicht ganz, nicht ganz!«
»Wenn ich erst fühle, wie es der andere wirklich meint, dann ist nicht nur der Zorn entwaffnet, sondern ebenso auch die Liebe. Es ist nie der wirkliche Mensch, den man geliebt hat« fuhr Agathe schmerzlich lächelnd fort. »Man kann von ihm alles weglassen, was man liebt, man könnte ihn selbst weglassen und empfände doch ebenso für ihn weiter, bis man genug hat!« Und plötzlich deckte sie das Gesicht mit den Händen und rief aufschluchzend aus:
»Oh, es ist widerwärtig! Es ist widerwärtig!«


48.
Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte


Die Sonne scheint mit ein und demselben Gnadenblick auf Gerechte und Ungerechte; aus irgendeinem Grund wäre es Ulrich begreiflicher vorgekommen, wenn sie es mit zweien getan hätte: nacheinander, zuerst auf die Gerechten und dann auf die Ungerechten oder umgekehrt. »Nacheinander ist der Mensch doch auch lebendig und tot, Kind und Erwachsener, er straft und verzeiht so; ja diese Fähigkeit, Widersprechendes bloß nacheinander tun zu können, ließe sich geradezu verwenden, um das Wesen des Persönlichen zu definieren, denn überpersönliche Wesen, wie die Menschheit oder ein Volk oder eine Dorfbewohnerschaft, vermögen ihre Widersprüche nicht nur nacheinander zu begehn, sondern auch nebeneinander und durcheinander. Je höher ein Wesen auf der Leiter der Fähigkeiten stünde, desto tiefer stünde es also auf der Leiter der Moral? Jedenfalls: auf einen Tiger kann man sich verlassen, auf die Menschheit nicht …!« So sagte Ulrich.
Wäre seine Freundschaft mit Stumm in Blüte gestanden, wie fruchtbar hätten solche Gespräche sein können! Mit Agathe endeten sie immer in einer Bitte, ihre Überflüssigkeit zu entschuldigen, und führten zu neuer vergeblicher Auflehnung. »Es hat keinen Sinn, so zu sprechen« gab er zu und fing von vorne an. »Denn es gibt viele Fragen,« lehrte er »die keinen Sinn haben, und sie sollten immer im Verdacht stehen, wichtig zu sein. Es gibt Fragen von der Art: warum habe ich zwei Ohren, aber nur eine Zunge? Oder: weshalb ist der Mensch nur einfach und nicht sechseckig symmetrisch? Sie kommen manchmal geradeswegs aus der Kinderstube oder dem Irrenhaus, aber manchmal erlangen sie später auch wissenschaftliche Ehrbarkeit.« Anders, und doch auch im Grunde gleich, verhält es sich mit der Frage: Warum stirbt der Mensch? Schon in den Schullehrbüchern der Logik steht es als das Muster eines Schlusses: »Alle Menschen sind sterblich. Lajus ist ein Mensch. Also ist Lajus sterblich.« Man kann aber auch eine naturwissenschaftliche Antwort geben, und alle solche Antworten lassen eine solche Frage in einem äußerst vernünftigen Zustand zurück: Jedoch das unvernünftige Anstarren dieser Frage, behauptete Ulrich, eine unverständige, ja völlig schamlose Art von Nichtbegreifenwollen der Natur, sei allein schon beinahe Moral, Philosophie und Dichtung!
Agathe, die aus Natürlichkeit Bequeme, Duldsame, Gedankenkunststücken Abholde, erwiderte: »Die Natur hat keine Moral!«
Ulrich sagte: »Die Natur hat zwei Moralen!« Agathe sagte: »Es ist mir gleich, wie viele sie hat.
Das ist kein Problem. Du willst mich doch bloß beschwätzen und ärgern!«
»Aber es ist eins!« erwiderte Ulrich. »Denn da wir doch sicher das gut nennen, was uns gefällt und was wir vorziehen, – das ist nicht Moral, aber es ist ihr Anfang und Ende! – müßte da nicht mit der Zeit das Böse aussterben, so wie die Schlangen und Krankheiten mehr oder minder ausgerottet werden und der Urwald gestorben ist? Warum erhält es sich dann und gedeiht prächtig?«
»Das geht mich nichts an!« erklärte ihm Agathe und verteidigte damit ihre Absicht, das Gespräch nicht ernst zu nehmen, wenn es auf diese Weise geführt werde.
Aber Ulrich erwiderte: »Wir brauchen eben das Böse. Und was dich angeht, ist noch absurder und tiefer! Denn muß es nicht etwas, das schlechter ist als das andere, schon deshalb geben, weil wir nicht wüßten, wohin mit uns, wenn eine unserer Empfindungen so schön wäre wie die andere oder gar jede unserer Handlungen besser als ihre Vorgängerinnen?!«
Agathe blickte auf, denn das war Ernst. Und so geschah es jetzt oft; sie waren in Unsicherheit über den Fortgang ihrer abenteuerlichen Pläne und wichen einer Aussprache aus, weil sie nicht wußten, wie beginnen, aber plötzlich waren sie für einen Teil mitten darin. Ulrich erhielt damals Briefe von Professor Schwung, dem Altersfeind seines verstorbenen Vaters, in denen er bei dem Haupt des verehrten Toten beschworen wurde, dafür zu wirken, daß größere Strenge in die Welt einziehe, und er erhielt Briefe von Professor Hagauer, seinem erbitterten Schwager, in denen er selbst und seine Schwester mit Strenge verdächtigt wurden, daß sie sich eines tief zweifelhaften Verhaltens schuldig machten. Er hatte diese Briefe zuerst ausweichend beantwortet, dann gar nicht mehr; schließlich verlangte Agathe von ihm sogar, daß er sie verbrenne, ohne sie zu öffnen. Sie begründete es damit, daß es unmöglich sei, solche Briefe zu lesen, und das war in dem Zustand, worin sie sich befanden, die Wahrheit. Aber sie ungelesen zu verbrennen und nicht einmal hinzuhören auf das, worüber andere klagten: wie kam es, daß ihr Gewissen davon nicht berührt wurde, obwohl es im übrigen damals so empfindlich war?! Sie begannen damals zu begreifen, welche zweideutige Rolle die anderen Menschen in ihren Empfindungen spielten. Sie wußten, daß sie nicht mit der Allgemeinheit übereinstimmten; in der tausendfältigen Betriebsamkeit, die Tag und Nacht erfüllt, wäre nicht eine einzige Tätigkeit zu finden gewesen, an der sie mit ganzem Herzen hätten teilnehmen mögen, und wessen sie sich selbst unterfingen, dem konnte nichts so sicher wie Geringschätzung oder Verachtung sein. Es lag ein merkwürdiger Friede darin. Wahrscheinlich darf man sagen, daß ein schlechtes Gewissen, wenn es groß genug ist, beinahe ein noch besseres Ruhekissen bildet als ein gutes Gewissen: Die sich unablässig ausdehnende Nebentätigkeit des Geistes, in der Absicht, aus allem Unrecht, von dem er umgeben und in das er verwickelt ist, ein gutes persönliches Gewissen als Abschluß zu gewinnen, ist dann eingestellt und läßt dem Gemüt eine ungemessene Unabhängigkeit zurück. Eine zarte Einsamkeit, ein himmelhoher Hochmut gossen darum ihren Glanz zuweilen auf die Weltausflüge der Geschwister. Die Welt konnte ihnen ebensowohl neben ihren Gedanken schwerfällig aufgeblasen erscheinen wie ein Fesselballon, den Schwalben umkreisen, als auch durch die Steigerung des Ichzustands zu einem Hintergrund erniedrigt werden, der klein war wie ein Wald am Luftrand. Die bürgerlichen Verpflichtungen klangen bald wie ein roh, bald wie ein fern andringendes Geschrei; sie waren unwichtig, wenn nicht unwirklich. Eine ungeheure Ordnung, die zuletzt nichts als eine ungeheure Absurdität ist, das hätte die Welt sein können. Alles, was ihnen dagegen in Gedanken begegnete, hatte die gespannte, die hochseiltänzerische Natur des Einmal und nicht wieder, und wenn sie davon sprachen, so geschah es in dem Bewußtsein, daß sich nicht ein einziges Wort zweimal gebrauchen lasse, ohne seinen Sinn zu verändern. Ebenso war alles, was ihnen widerfuhr, mit dem Eindruck verknüpft, eine Entdeckung zu sein, die keine Wiederholung zulasse, oder es geschah so zur rechten Gelegenheit, als wäre es zauberisch bestellt worden.
Diese leichte Manie, die ja nichts war als eine äußerst gehobene Form der Teilnahme zweier Menschen aneinander, löste jetzt mitunter die vertiefte Teilnahme, das Versinken in das Beisammensein ab; und auch im Verhältnis zur Welt zeigte sich dieser Wechsel jedoch so, daß zeitweilig neben der Hoffart eine eigentümliche Vertiefung in das Wesen und Weben anderer Menschen und in seinen Anspruch auf Anerkennung und Liebe zu überwiegen begann. Eine maßvolle Erklärung wie die, daß sich darin bloß eine überquellende Stimmung bald freundlich, bald überheblich ausgewirkt hätte, leistete nicht genüge. Denn der Glückliche ist wohl freundlich und möchte das in heiterer Gefälligkeit allen anderen mitteilen, und auch Ulrich oder Agathe wußten sich manchmal von solcher Fröhlichkeit gehoben wie einer, der auf den Schultern getragen wird und allen zuwinkt: doch erschien ihnen diese regsam hinausstrebende Freundlichkeit selbst harmlos neben der, die sich reglos und beinahe unheimlich im Anblick der anderen ihrer bemächtigte, sobald sie der Bereitschaft Raum gaben, die sie »zwei Meilen mit ihnen gehen« genannt hatten. Auch durfte sich Ulrich darüber wundern, daß er sich zwar schon oft im großen den anderen Menschen genähert gesehen hätte, wie es eben Theorien und Gefühle mit sich bringen, die ihnen allen gelten; daß es aber jetzt im kleinen, einzeln und zu jedem selbst haltend geschähe, mit jener stillen Unersättlichkeit, die er einmal bei Agathe selbst in den Verdacht gebracht hatte, sie sei eher das Mitgefühlsverlangen einer Natur, die niemals an anderen teilnehme, als die Äußerung sicheren Wohlwollens. Allerdings erging es jetzt Agathe ähnlich wie ihm: obwohl sie ihr Leben im großen und ganzen ohne Liebe und Haß, bloß mit Gleichgültigkeit, verbracht hatte, fühlte sie dieselbe Hinneigung zu allen, der keine Möglichkeit zu handeln entsprach, ja nicht einmal eine Vorstellung, die dem beinahe beklemmenden Mitempfinden eine verständliche Form gegeben hätte.
Ulrich zergliederte es: »Wenn du magst, kannst du es ebensogut einen verzweiten Egoismus nennen wie eine beginnende Liebe zu allen.«
Agathe scherzte: »Als Liebe ist es im Beginn noch etwas schüchtern.«
Ulrich fuhr fort: »In Wahrheit hat es so wenig mit Egoismus wie mit seinem Gegenteil zu tun. Das sind spätere Begriffe; unentbehrlich erst für entmischte Seelen. In der Eudemischen Ethik heißt es dagegen noch: Die Selbstliebe ist nicht Ichsucht, sondern ein höherer Zustand des Ich, der die Folge hat, daß man auch die anderen auf höhere Weise liebt. Auch wurde vor nicht weniger als zweitausend Jahren anscheinend eigens für uns der Begriff einer ›Ziel-Ursache‹ gebildet, und ist wieder verloren gegangen, die ›das Geliebte wie den Liebenden‹ bewegt. Ein unwirklicher Gedanke, und doch wie geschaffen, um das teilnehmende Erkennen des Gefühls von der toten Wahrheit der Vernunft zu unterscheiden!«
Er berührte mit den Fingerspitzen ihre Hand, Agathe sah scheu um sich, sie befanden sich in einer der belebtesten Straßen; es mochten sich nicht viele Menschen auf ihr umhertreiben, deren Sorgen bis ins vierte Jahrhundert vor Christus zurückreichten.
»Meinst du nicht, daß wir uns etwas gespenstisch benehmen?« fragte Agathe. Sie sah Frauen in den neuesten Kleidern und Offiziere mit roten, grünen, gelben, blauen Hälsen und Beinen; manch Hals und Bein hielt plötzlich hinter ihr an und drehte sich nach ihr oder einer der anderen Damen um, eine »Avance« erwartend. Ein Lichtstrahl aus den Himmelshöhen der Wahrheit war auf all das Treiben gefallen, und es sah etwas unsicher aus.
»Ich meine es« sagte Ulrich trocken. »Selbst wenn ich mich geirrt haben sollte.« Denn er erinnerte sich nicht mehr genau an die alte Stelle, die ihm seinerzeit Eindruck gemacht hatte.
Agathe lachte über ihn. »Du bist immer so wahrheitsliebend« spottete sie und bewunderte ihn heimlich.
Aber Ulrich wußte, was ihnen zu suchen befohlen sei, habe mit Wahrheit in gewöhnlichem Sinn so wenig zu tun wie mit Egoismus oder Altruismus. Darum erwiderte er: »Wahrheitsliebe ist eigentlich eine der widerspruchvollsten Wortbildungen. Denn man kann die Wahrheit auf Gott weiß wieviel Weisen verehren, doch gerade lieben darf man sie nicht. Dann fängt sie zu schweben an. Die Liebe löst die Wahrheit auf wie der Wein die Perle.«
»Lösen sich wirklich Perlen im Wein auf?« fragte Agathe.
»Ich weiß es nicht« räumte Ulrich seufzend ein.
»Es ist weit mit mir gekommen. Ich gebrauche bereits Redensarten, von denen ich nicht Rechenschaft geben kann! Ich habe sagen wollen: wer liebt, dem sind Wahrheit und Täuschung gleich geringfügig!«
Diese Beobachtung, daß die Wahrheit durch die Liebe aufgelöst werde – das Gegenteil der kleinmütigeren Behauptung, daß die Liebe keine Wahrheit vertrage! – enthielt nichts Neues. Sobald einem Menschen die Liebe nicht als ein Erlebnis begegnet, sondern als das Leben selbst, mindestens als eine Art des Lebens, begreift er über jede Sache mehrere Wahrheiten. Der ohne Liebe Urteilende nennt es »Ansichten« und »Subjektivität«, der Liebende verneint das mit dem Ausspruch des Weisen: »Selbst die einfachsten Worte, wir wissen nicht, was sie bedeuten, außer wir lieben!« Er ist nicht unempfindlich für die Wahrheit, er ist überempfindlich. Er befindet sich in einer Art Enthusiasmus des Denkens, wo sich die Worte bis zum Grund öffnen. Der ohne Liebe Urteilende erklärt das für eine Täuschung, die bloß die Folge lebhafter beteiligten Gefühls sei. Er selbst ist leidenschaftsfrei, und die Wahrheit ist leidenschaftsfrei; das Gefühl ist seiner Wahrheit abträglich, und sie dort zu erwarten, wo etwas »Sache des Gefühls« ist, erscheint ihm als eine ebenso große Verkehrtheit, wie Gerechtigkeit vom Zorn zu fordern. Und doch ist es gerade der allgemeine Gehalt an Sein und Wahrheit, was die Liebe als Erleben der Welt von der Liebe als Erlebnis der Person unterscheidet. In der besonderen Welt der Liebe heben sich die Widersprüche nicht zu nichts auf, sondern sie heben einander in die Höhe. Sie passen sich auch nicht aneinander an, sondern sind im vorhinein Teile einer höheren Einheit, die im Augenblick der Berührung als durchsichtige Wolke aus ihnen aufsteigt. In der Liebe als dem Leben selbst ist also jedes Wort ein Geschehen, und keines ist ein ganzer Begriff, und es ist keine Behauptung notwendig und keine bloß Willkür.
Es ist schwer, davon Rechenschaft zu geben, weil die Sprache der Liebe eine Geheimsprache ist, und in ihrer höchsten Vollendung so schweigsam wie eine Umarmung. Es konnte Ulrich neben Agathe gehn und vor dem Schwarm seiner Gedanken in leuchtender Klarheit die sichere Linie ihres Profils sehen; dann erinnerte er sich vielleicht daran, daß in jeder Begrenzung ein selbstherrliches Glück haust. Es ist anscheinend das Grundglück aller Kunstwerke, aller Schönheit, des Erdgeformten überhaupt. Es ist aber vielleicht auch die Grundfeindschaft, der Panzer zwischen allen Wesen. Und Agathe blick te von Ulrich fort, in den Menschenstrom hinein, und sie suchte sich vorzustellen, was man sich nicht vorstellen kann, welches Glück es wäre, alle Grenzen aufzuheben. Sie widersprachen in Gedanken einander und hätten auch noch die Seiten des Widerspruchs miteinander tauschen können, da sie doch bald einzeln, bald gemeinsam schon bei früheren Gelegenheiten das eine ebenso gut wie das ande re empfunden hatten. Sie sprachen aber gar nicht erst darüber. Sie lächelten. Das genügte. Sie errieten sich. Und wenn sie sich falsch errieten, so war das geradeso gut wie richtig. Sagten sie dagegen etwas, das fester zusammenhielt, so empfanden sie es fast als eine Störung. Sie hatten sich schon soviel darüber gesagt. Eine gewisse Trägheit, ja Lähmung des Denkens gehörte zu der stillen Unersättlichkeit, mit der sie jetzt die Menschen betrachteten und in den magischen Kreis einzuschließen suchten, der sie selbst umgab, ebenso wie die flüssige und flüchtige Beweglichkeit zu diesem Denken gehörte. Sie waren wie die zwei Schalen einer sich dem Meere öffnenden Muschel.
Und zuweilen lachten sie einander plötzlich aus.
»Es ist nicht so einfach, als man glauben möchte, seinen Mitmenschen zu lieben wie sich selbst!« seufzte Ulrich dann wieder einmal spöttisch.
Agathe atmete tief auf und schob ihm befriedigt die Schuld daran zu. »Du bist es, der es immer wieder zerstört!« beklagte sie sich.
»Sie sind es! Schau sie dir an!« entgegnete Ulrich.
»Schau, wie sie uns ansehn! Sie möchten sich schönstens für unsere solche Liebe bedanken!« Und in Wahrheit, es brachte schon durch eine Art Beschämung zum Lachen, und nichts ist leider komischer, als die Augen aufzuschlagen, wenn sie noch seelenvoll sind. Agathe lachte also zum voraus. Aber dann erwiderte sie: »Und doch kann das, was wir suchen, nicht weit sein. Manchmal fühlt man an einem Schleier seinen eigenen Atem so heiß wie ein Paar fremder Lippen. So nah kommt mir auch das vor.«
Auch Ulrich sagte: »Und es gibt einen Umstand, der glauben machen könnte, daß wir nicht bloß Einbildungen nachhängen. Denn selbst einen Feind errät man nur, wenn man mit ihm zu empfinden vermag. Also gibt es ein ›Liebet eure Nächsten‹ sogar mit dem Nachsatz: damit ihr sie besser zu treffen vermögt! Und ganz allgemein versteht man Menschen niemals vollständig durch Wissen und Beobachten, sondern es bedarf dazu auch einer Art Einverständnis wie mit sich selbst, man muß ihnen das Verständnis schon entgegenbringen.«
»Ich verstehe sie aber gewöhnlich überhaupt nicht« meinte Agathe und musterte die Leute.
»Du glaubst an sie« entgegnete Ulrich. »Du willst es wenigstens tun. Du ›schenkst‹ ihnen Glauben. Das macht es, daß sie dir liebenswert erscheinen.«
»Nein« sagte Agathe. »Ich glaube nicht im geringsten an sie.«
»Nein« sagte auch Ulrich. »Glauben ist auch kein sorgfältiger Ausdruck dafür.«
»Aber wie soll man es denn nun wirklich nennen,« fragte Agathe »wenn man Menschen zu verstehen glaubt, ohne etwas von ihnen zu wissen, und wenn man ihnen eine unwiderstehliche Neigung entgegenbringt, obwohl man beinahe sicher sein kann, daß einem ihre Bekanntschaft mißfiele?!«
»Man lebt gewöhnlich in einer vorsichtigen Balance von Zu- und Abneigung, die man für seine Mitmenschen bereit hat« erwiderte ihr Bruder zögernd. »Wenn nun aus irgendeinem Grund die Abneigung eingeschläfert erscheint, so muß von selbst ein Verlangen nach Hingabe übrigbleiben, das sich mit nichts vergleichen läßt, was man kennt. Es ist aber kein der Wirklichkeit entsprechendes Verhalten mehr.«
»Und du hast so oft gesagt, daß es die Möglichkeit eines anderen Lebens ist!« warf ihm Agathe vor.
»Ein Bewußtsein der Welt, wie sie sein könnte, ist es,« sagte Ulrich »durchkreuzt von einem Bewußtsein der Welt, wie sie ist!«
»Nein, das ist zu wenig!« rief Agathe aus.
»Ich kann doch nicht sagen, daß ich diese Menschen wirklich liebe« verteidigte sich Ulrich. »Oder daß ich die wirklichen Menschen liebe. Wirklich sind diese Menschen in Uniform und Zivil; das ist das Maß, also ist unser Verhalten unwirklich!«
»Untereinander halten gerade sie es aber ebenso!« versetzte Agathe und war im Angriff. »Denn sie lieben einander nicht wirklich oder lieben nicht wirklich einander, genau so, wie du es von unserer Beziehung zu ihnen behauptest: Ihre Wirklichkeit besteht zum Teil aus Einbildungen, und warum soll das dann gerade die unsere entehren?!«
»Du denkst heute so anstrengend scharf!« verwahrte sich Ulrich lachend.
»Ich bin so traurig« erwiderte Agathe. »Alles ist so ungewiß. Es zieht sich scheinbar zusammen und dehnt sich wieder endlos aus. Es erlaubt nichts zu tun, und die Untätigkeit ist auch unerträglich, weil sie eigentlich nach allen Richtungen gegen geschlossene Wände drängt …«
Und so oder ähnlich brach die Beschäftigung der Geschwister mit ihrer Umgebung noch immer ab. Die Teilnahme blieb ungegliedert; es gab nirgends eine Übereinstimmung in Meinung oder Tun, worin sie sich ausdrücken hätte können; das Empfinden wurde umso größer, je weniger es eine Handlungsweise fand, die ihm entsprach; und auch die Lust am Widerspruch meldete sich: Die Sonne schien auf Gerechte und Ungerechte, aber Ulrich fand, man solle besser sagen, auf Ungetrennte und Nichtvereinte; als den eigentlichen Ursprung von der Menschen Böswie Gutsein.
Dieser Meinung schloß sich auch Agathe an.
»Ich bin immer so traurig, wenn wir über uns lachen müssen« wiederholte sie und lachte, weil ihr zu allem noch ein alter Spruch eingefallen war, der sich nun ganz seltsam, so müßiggängerisch wie prophetisch, anhörte. Denn er verkündete: »Da wurden die Augen der Seele aufgetan, und ich sah die Liebe, die auf mich zukam. Und ich sah den Anfang, aber ihr Ende sah ich nicht, nur ihren Fortgang.«


49.
Sonderaufgabe eines Gartengitters


Ein andermal fragte aber Agathe. »Mit welchem Recht darfst du denn gleich von einem ›Weltbild‹ oder gar von einer ›Welt‹ der Liebe sprechen? Von der Liebe ›als dem Leben selbst‹? Du bist leichtsinnig, mein Lieber!« Es war ihr zumute wie Schaukeln auf einem hohen Ast, der unter dieser Bemühung jeden Augenblick abzubrechen droht; doch fragte sie weiter: »Könnte man dann, wenn von einem Weltbild der Liebe, am Ende nicht auch von einem des Zorns, des Neids, des Stolzes, der Härte sprechen?«
»Alle anderen Gefühle dauern kürzer« erwiderte Ulrich. »Sie erheben auch nicht einmal den Anspruch, ewig zu währen.«
»Findest du es aber nicht ein wenig komisch von der Liebe, daß sie diesen Anspruch erhebt?« fragte Agathe.
Ulrich entgegnete: »Ich glaube, man könnte wohl davon sprechen, daß es auch anderen Gefühlen möglich sein müßte, eigentümliche Weltbilder zu gestalten, sozusagen einseitige oder einfarbige Welten; aber es ist immer so gewesen, daß der Liebe darin ein unklarer Vorzug und ein besonderer Anspruch auf weltgestaltende Kraft zugestanden worden ist.«
Unter diesen Worten suchten sie einen Punkt ihres Gartens auf, wo sie durch sein Gitter die Straße mit ihrem abwechslungsreichen Menscheninhalt sehen konnten, ohne sich selbst, soweit es möglich war, fremden Blicken auszusetzen. Gewöhnlich führte sie das zu einem niederen, sonnigen Hügel, dessen trockener Boden den Standplatz einiger Lärchen bildete, wo das Bild der Ruhenden im Spiel von Licht und Schatten verloren ging; in diesem Halbversteck waren sie einesteils der Straße so nahe, daß die vorbeigehenden Menschen ihnen den sonderbaren, bloß tierhaft lebendigen Eindruck gewährten, der uns anhaftet, wenn wir uns unbeobachtet glauben und mit unseren Gebärden allein sind, andernteils konnte jeder aufgeschlagene Blick die Geschwister treffen und in das Geschehen hineinziehen, das sie mit Neigung und einem Vorbehalt beobachteten, für den das mächtig trennende, aber blickdurchlässige Gitter geradezu sinnbildlich war.
»Nun wollen wir also versuchen, ob wir sie wirklich lieben oder nicht« schlug Agathe vor und lächelte spöttisch oder ungeduldig.
Ihr Bruder zuckte die Achseln.
»Möchtest du nicht einen anhalten und mit ihm ein Gespräch beginnen?« versuchte sie ihn.
»Halt ein, Vorbeieilender, und schenke zwei Menschen, die dich lieben wollen, einen Augenblick deiner köstlichen Seele!« meinte Ulrich und zog es ins Lächerliche.
»Man kann nicht einen Augenblick, man muß sich grenzenlos schenken!» verbesserte ihn Agathe bedrohlich.
»Ein Park. Ein mächtiges Gitter. Dahinter wir:« stellte Ulrich fest. »Und was dächte er wohl bei unserem Anruf, nachdem er seinen Schritt unwillkürlich verlangsamt hat und ehe er ihn scheu verdoppelt? Daß er sich am Gartengitter einer Privatirrenanstalt befinde!«
Agathe nickte.
»Und wir« fuhr Ulrich fort »brächten es auch gar nicht über uns! Weißt du nicht ganz genau, daß wir es nicht tun werden? Unser innerster Einklang mit der Welt warnt uns, daß man so etwas nicht tun dürfe!«
Agathe sagte: »Wenn wir dem vorbeieilenden Bruder, statt ihn mit ›Guter Freund‹ und ›Liebe Seele‹ anzusprechen, ›Hund‹ oder ›Verbrecher‹ zuriefen, so hielte er uns wahrscheinlich nicht für Irre, sondern bloß für ›Andersdenkende‹, die an ihm Ärgernis nehmen!«
Ulrich lachte und freute sich an seiner Schwester. »Aber du siehst, wie es ist« erklärte er. »Die allgemeine Rohheit ist heute unerträglich. Aber weil sie es ist, muß auch die Güte falsch sein! Die beiden hängen ja nicht wie auf einer Waage zusammen, wo ein Zuviel auf der einen Seite einem Zuwenig auf der andern gleich ist, sondern hängen zusammen wie zwei Teile eines Körpers, die miteinander krank und gesund sind. Nichts ist also irriger,« fuhr er fort »als sich einzubilden, wie es allgemein geschieht, daß an dem Überhandnehmen böser Gesinnung ein Mangel an guter schuld sei: im Gegenteil, das Böse wächst offenbar durch das Wachsen einer falschen Güte!«
»Das haben wir schon oft gehört« erwiderte Agathe mit angenehm trockenem Spott. »Aber es ist scheinbar nicht einfach, auf die gute Weise gut zu sein!«
»Nein, es ist nicht einfach zu lieben!« wiederholte Ulrich lachend.
Sie lagen und sahen in die blaue Sonnenhöhe; dann wieder durch das Gitter auf die Straße, die sich vor den vom Sommerhimmel geblendeten Augen in einem dunstig erregten Grau wälzte. Stille senkte sich herab. Langsam wandelte sich das im Gespräch gehoben gewesene Selbstgefühl in Entmächtigung, ja Entführung des Ich. Ulrich erzählte leise: »Ich habe das großartig flunkernde Begriffspaar ›egozentrisch und allozentrisch‹ erfunden. Die Welt der Liebe wird entweder egozentrisch oder allozentrisch erlebt; die gewöhnliche Welt kennt aber nur Egoismus und Altruismus, ein im Vergleich damit zanksüchtig-vernünftiges Bruderpaar. Egozentrisch sein heißt fühlen, als trüge man im Mittelpunkt seiner Person den Mittelpunkt der Welt. Allozentrisch sein heißt, überhaupt keinen Mittelpunkt mehr haben. Restlos an der Welt teilnehmen und nichts für sich zurücklegen. Im höchsten Grad, einfach aufhören zu sein. Ich könnte auch Hereinwendung der Welt und Hinauswendung des Ich sagen. Es sind die Ekstasen der Selbstsucht und Selbstlosigkeit. Und obwohl die Ekstase scheinbar ein Auswuchs des gesunden Lebens ist, darf man scheinbar auch sagen, daß die moralischen Begriffe des gesunden Lebens eine Verkümmerung ursprünglich ekstatischer sind.«
Agathe dachte: »Mondnacht … Zwei Meilen …« Auch vieles andere schwebte ihr durch den Kopf. Was ihr Ulrich erzählte, war eine Fassung mehr von alledem; sie hatte nicht den Eindruck, daß sie etwas verliere, wenn sie nicht ganz scharf aufpasse, obwohl sie gerne zuhörte. Dann dachte sie daran, daß Lindner behaupte, man müsse für irgendetwas leben und dürfe nicht an sich denken, und sie fragte sich, ob das auch »Allozentrik« wäre. In einer Aufgabe aufzugehn, wie er es verlangte? Sie bezweifelte es. Fromme Menschen haben ihre Lippen begeistert auf die Wunden von Aussätzigen gedrückt: eine abscheuliche Vorstellung, eine »lebensfremde Übertreibung«, wie Lindner gerne sagte! Aber was er schon für das Gottgefällige hielt, ein Spital zu errichten, das ließ sie kalt. So geschah es, daß sie ihren Bruder nun am Ärmel zupfte und mit den Worten: »Da ist inzwischen unser Mann eingetroffen!« unterbrach. Sie hatten sich nämlich teils im Scherz, teils durch Gewöhnung, einen besonders unangenehmen Mann ausgewählt, den sie für ihre Gedankenversuche benutzten, und das war ein Bettler, der täglich für einige Zeit an ihrem Gartengitter sein Geschäft betrieb. Er behandelte den Steinsockel als Bank, die für ihn bereitstand, er breitete jeden Tag zuerst ein durchfettetes Papier mit Speiseresten neben sich aus, an denen er sich gemächlich sättigte, ehe er seine Geschäftsmiene aufsetzte und den Rest wieder einsteckte; er war ein untersetzter Mensch mit kräftigem, eisengrauem Haar, hatte das fahle, tückische Gesicht eines Trinkers und war schon einigemal von großer Roheit in der Behauptung seines Platzes gewesen, als andere Bettler arglos in seine Nähe kamen: Die Geschwister haßten diesen Mitgenießer, der ihr Eigentum – und verfeinert, das ihnen Eigentümliche, ihre Einsamkeit – verletzte, mit einem urwüchsigen Besitzinstinkt, über den sie lachen mußten, weil er ihnen gänzlich unstatthaft erschien; und gerade darum verwandten sie auch den häßlichen, bösartigen Gast bei den kühnsten und zweifelhaftesten Beschwörungen der Nächstenliebe.
Kaum hatten sie ihn ins Auge gefaßt, sagte Ulrich lächelnd: »Ich wiederhole: Wenn du dich bloß, wie man es nennt, in seine Lage versetzt oder irgendeine ungenaue soziale Mitverantwortung für ihn spürst, ja selbst wenn er dir nur als malerisch zerlumptes Bild erscheint, so sind auch schon darin einige Promille des echten ›sich in einen anderen Versetzens‹ enthalten. Nun mußt du es hundertprozentig versuchen!«
Agathe schüttelte lachend den Kopf.
»Stell dir vor, du wärest mit diesem Menschen in allem so einverstanden, wie du es mit dir selbst bist!« schlug Ulrich vor.
Agathe verwahrte sich: »Ich war nie mit mir einverstanden!«
»Aber du wirst es dann sein« sagte Ulrich. Er faßte ihre Hand.
Agathe ließ es geschehn und sah den Mann an. Sie wurde eigentümlich ernst, und nach einer Weile erklärte sie: »Er ist mir fremder als der Tod.«
Ulrich schloß seine Hand vollständiger um die ihre und forderte noch einmal: »Versuch es nur!«
Nach einer Weile sagte Agathe: »Es ist mir, als hinge ich an dieser Figur; ich selbst, und nicht bloß meine Neugierde!« Ihr Gesicht hatte durch die Anspannung der Aufmerksamkeit und deren Einschränkung auf einen einzigen Gegenstand einen schlafwandlerisch-unwillkürlichen Ausdruck bekommen.
Ulrich half nach: »Es ist ähnlich wie in einem Traum; rauh-süß, fremd-selbst begegnet man sich in der Gestalt eines anderen?«
Agathe wehrte mit einem Lächeln ab. »Nein, so bezaubert sinnlich wie in solchen Träumen ist es wohl nicht« sagte sie.
Ulrichs Augen ruhten auf ihrem Gesicht. »Versuch ihn gleichsam zu träumen!« riet er überredend. »Vorsichtige Sparer, bestehen wir im wachen Zustand meistens aus Hingabe und Zurücknahme; wir nehmen teil, und bewahren uns dabei. Aber im Traum ahnen wir zitternd, wie herrlich eine Welt ist, die ganz aus Verschwendung besteht!«
»Vielleicht ist es so« antwortete Agathe zögernd und abgelenkt. Ihre Augen hafteten fest an dem Mann. »Gott sei Dank,« sagte sie nach einer Zeit langsam »er ist jetzt wieder ein gewöhnliches Scheusal geworden!« Der Mann hatte sich erhoben, suchte seine Sachen zusammen und ging weg. »Es ist ihm unheimlich gewesen!« behauptete Ulrich und lachte. Als er schwieg, hob sich der gleichmäßige Lärm der Straße und mischte sich mit dem Sonnenschein zu einem eigenartigen Gefühl der Stille. Nach einer Weile fragte Ulrich nachdenklich: »Ist es nicht seltsam, daß sich fast jeder einzelne Mensch selbst am wenigsten kennt und am meisten liebt? Aber es ist offenbar eine Schutzeinrichtung. Und auch ›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst‹ heißt auf diese Weise: liebe ihn, ohne daß du ihn kennst, ehe du ihn kennst, obschon du ihn kennst. Ich kann verstehen, daß man dies bloß für einen übermäßigen Ausdruck hält, aber ich bezweifle, daß damit der Forderung genügt wird; denn, ernstlich befolgt, verlangt sie: Liebe ihn ohne Verstand. So geht eben eine scheinbar alltägliche Forderung, wenn man sie genau nimmt, in eine ekstatische über!«
Agathe erwiderte: »Das ›Scheusal‹ ist wahrhaftig dabei schon beinahe schön gewesen!«
Ulrich sagte: »Ich glaube, man liebt nicht nur etwas, weil es schön ist, sondern es wird auch schön, weil man es liebt. Schönheit ist nichts anderes als der Ausdruck davon, daß etwas geliebt worden ist; alle Schönheit der Kunst und der Welt hat ihren Ursprung in der Kraft, eine Liebe verständlich zu machen …«
Agathe dachte an die Männer, mit denen sie das Leben zusammengebracht hatte. Das Gefühl, von einem fremden Wesen zuerst beschattet zu sein, dann in diesem Schatten die Augen aufzuschlagen, ist seltsam. Sie vergegenwärtigte es sich. Verschmolz da nicht Fremdes, fast Feindseliges im Kuß zweier Leben?! Die Körper bleiben vereint getrennt. Achtet man auf sie, so empfindet man das Abstoßende und Häßliche in unverminderter Stärke. Sogar als Schreck. Man ist auch sicher, geistig nichts miteinander zu tun zu haben. Die Verschiedenheit und Trennung der Personen ist schmerzhaft deutlich. War eine Täuschung darüber vorhanden, daß man geheimnisvoll übereinstimme, gleich oder einander ähnlich sei, so verflüchtigt sie sich in diesem Augenblick wie ein Nebel. Nein, man täusche sich nicht im geringsten, dachte Agathe. Und trotzdem erlischt die Ichhaftigkeit zum Teil, das Ich ist gebrochen, und unter Zeichen, die nicht weniger eine Gewalttat als ein süßes Opfer bedeuten, ergibt es sich in seinen neuen Zustand. All das bewirkt ein »Hautreiz«? Zweifellos vermögen die anderen Liebesarten nicht so viel. Vielleicht hatte Agathe so oft die Neigung gespürt, Männer zu lieben, die ihr mißfielen, weil da die merkwürdige Umbildung am vernunftlosesten stattfindet. Auch die merkwürdige Anziehung, die neuerdings Lindner auf sie ausgeübt hatte, bedeutete nichts anderes, sie zweifelte nicht daran. Sie wußte aber kaum, daß sie darüber nachdachte; auch Ulrich hatte einmal einbekannt, daß er oft das liebe, was ihm mißfalle, und sie glaubte an ihn zu denken. Sie erinnerte sich daran, daß sie zeitlebens in lauter vorbeirinnenden Umgebungen geglaubt hatte, hoffnungslos die gleiche zu bleiben; sie hatte sich nie aus eigenem Vorsatz ändern können, und doch war jetzt als Geschenk ohne jede Bemühung an die Stelle von Verdruß und Ekel ein von Sommerkräften getragenes Schweben getreten. Dankbar sagte sie zu Ulrich: »Mich hast du zu dem gemacht, was ich bin, weil du mich liebst!«
Ihre Hände, die verschlungen gewesen waren, hatten sich gelöst und ruhten nur noch mit den Fingerspitzen aneinander; jetzt erwachten diese Hände wieder zu Bewußtsein, und Ulrich umfaßte mit der seinen die seiner Schwester. »Mich hast du ganz verändert« erwiderte er.
»Ich habe vielleicht Einfluß auf dich, aber dabei bist es doch nur du, die gleichsam durch mich fließt!«
Agathe schmiegte ihre Hand an die umfassende. »Eigentlich kennst du mich gar nicht!« sagte sie.
»An Menschenkenntnis liegt mir nichts« erwiderte Ulrich. »Das einzige, was man von einem Menschen wissen soll, ist es, ob er unsere Gedanken fruchtbar macht. Es sollte keine andere Menschenkenntnis geben als diese!«
Agathe fragte: »Wie bin ich dann aber wirklich?«
»Du bist überhaupt nicht wirklich« erwiderte Ulrich lachend. »Ich sehe dich, wie ich dich brauche, und du machst mich, was ich brauche, sehen. Wer vermöchte da leicht zu sagen, wo das Ursprüngliche und Gründende ist. Wir sind ein in der Luft schwebendes Band.«
Agathe lachte auf und fragte: »Wenn ich dich enttäusche, wirst also du schuld haben?«
»Ohne Zweifel« sagte Ulrich. »Denn es gibt Höhen, wo es keinen Sinn hat zu unterscheiden zwischen: ich habe mich in dir geirrt, und: ich habe mich in mir selbst geirrt. Zum Beispiel die des Glaubens, die der Liebe, die der Großmut. Wer aus Großmut handelt, oder, wie man auch sagt, aus Größe, der fragt nicht nach Täuschung, noch nach Sicherheit. Er darf sogar manches nicht wissen wollen, er wagt den Sprung über die Unwahrheit …«
»Könntest du nicht auch gegen Professor Lindner großmütig sein?« fragte Agathe ziemlich überraschend; denn sie sprach sonst nie von Lindner, wenn nicht ihr Bruder damit anfing. Ulrich wußte, daß sie ihm etwas verschweige. Sie verheimlichte nicht gerade, daß sie zu Lindner in irgendeiner Beziehung stehe, aber sie erzählte auch nicht, in welcher. Er erriet diese ungefähr und fügte sich mit Mißbehagen in die Notwendigkeit, Agathe ihren eigenen Umweg gehen zu lassen. Diese hatte nun in dem Augenblick, wo ihr aus Gott weiß welchen Gründen eine solche Frage über die Lippen sprang, sofort wieder festgestellt, wie schlecht doch das Wort Professor Lindner mit dem Worte Großmut zusammenpasse. Sie fühlte sowohl, daß Großmut auf irgendwelche Weise berufslos sei, als auch, daß Lindner in einer unangenehmen Art gut sei. Ulrich war verstummt. Sie suchte ihm ins Gesicht zu blicken, und als er dieses, wie er nur vermochte, abwandte, zupfte sie ihn am Ärmel. Sie benutzte so lange den Ärmel als Klingelzug, bis Ulrichs lachendes Gesicht wieder im Torrahmen des Kummers erschien und er ihr warnend eine kleine Rede darüber hielt, daß derjenige leicht ins Lächerliche verfalle, welcher in seinem Großmut den Boden des Wirklichen zu früh verlasse. Es bezog sich das aber nicht nur auf Agathes Großmutbereitschaft gegenüber dem verdächtigen Manne Lindner, sondern richtete einen Zweifel auch auf jene nicht zu betrügende wahre Empfindsamkeit, darin Wahrheit und Irrtum bei weitem weniger Bedeutung haben als das dauernde Strahlen des Gefühls und seine Kraft, alles sich anzuwandeln.


49.
Nachdenken


Seit diesem Auftritt meinte Ulrich, daß er vorwärts getragen würde; eigentlich wäre nur zu sagen gewesen, daß etwas Unverständliches neu hinzugekommen sei, er nahm es aber als Zuwachs an Wirklichkeit auf. Er handelte dabei vielleicht ein wenig wie einer, der seine Meinungen gedruckt gelesen hat und seither von ihrer Unumstößlichkeit überzeugt ist; aber er mochte das belächeln, zu ändern vermochte er es nicht. Und Agathe hatte ihm, gerade als er seine Schlüsse aus dem tausendjährigen Buch ziehen, vielleicht aber auch nur sein Erstaunen nochmals ausdrücken wollte, erwidert und mit dem Ausruf das Wort abgeschnitten: »Das haben wir ja schon lange besprochen!« Daß sie immer recht behielte, auch dann, wenn sie es nicht hätte, fühlte Ulrich! Denn ob es zwar nichts weniger als richtig sein konnte, daß zwischen ihnen schon genug gesagt worden wäre, – geschweige denn das Wahre oder Entscheidende! – ja gerade ein solches erlösendes Geschehen oder Zauberwort ausgeblieben war, auf das man anfangs noch hatte hoffen mögen: so wußte er doch auch, daß die Fragen, die sein Leben schon fast seit einem Jahr beherrschten, nun sehr eng und dicht, und nicht in einer verständigen, sondern in einer lebendigen Weise, um ihn zusammengerückt seien. Gerade so, als wäre nun bald doch genug über sie gesprochen worden, wenn sich auch die Antwort nicht eben in Worten ausdrückte.
Er konnte sich nicht einmal vollständig erinnern, was er darüber im Lauf der Zeit gesagt und gedacht hatte, ja bei weitem vermochte er das nicht. Er war wohl offenbar ausgezogen, um mit allen Menschen davon zu sprechen; aber es lag ja auch an dem Vorwurf selbst, daß sich nichts, was man über ihn zu sagen vermochte, in einer fortschreitenden Art aneinander fügte, sondern daß sich alles ebenso vielfältig zerstreute wie berührte. Es entstand immer wieder die gleiche Bewegung des Geistes, die sich von der gewöhnlichen deutlich unterschied, und der Reichtum des in sie Einbezogenen wuchs; aber Ulrich mochte sich erinnern, woran er wollte, so war es von einer solchen Eingebung zur andern immer ebenso weit, wie es zu einer dritten gewesen wäre, und nirgends hob sich eine Behauptung durch ihre beherrschende Stellung hervor.
Auf diese Weise erinnerte er sich jetzt auch daran, daß einstmals ein dem ähnliches »Gleichweit«, wie es hier zwischen den Gedanken beinahe läs tig und entmutigend wirkte, auf das beglückendste zwischen ihm und der ganzen Welt, die um ihn war, bestanden hatte; scheinbar oder wirklich, eine Aufhebung des Geistes der Trennung, ja beinahe des Raums. Das war damals, in seinen allerersten Mannesjahren, auf der Insel geschehn, wohin er sich vor der Frau Major, mit ihrem Bilde im Herzen, geflüchtet hatte. Er hatte es wohl auch fast mit den gleichen Worten beschrieben. Alles war auf unverständlich sichtbare Weise durch einen Zustand der Liebesfülle verändert, als hätte er ehedem nur einen Zustand der Armut gekannt. Selbst der Schmerz war Glück. Beinahe auch sein Glück ein Schmerz. Alles war ihm hangend zugeneigt. Es schien, daß alle Dinge von ihm wüßten und er von ihnen; daß alle Wesen von einander wüßten, und daß es doch ein Wissen überhaupt nicht gäbe, sondern daß Liebe mit ihren Attributen der schwellenden Fülle und des reifenden Werdens als das einzige und vollkommene Gesetz diese Insel beherrschte. Er hatte das später, mit geringfügigen Änderungen, oft genug als Vorlage benutzt, und mehr oder minder hätte er auch in den letzten Wochen diese Beschreibung erneuern können; es war durchaus nicht schwer, in ihr fortzufahren, und je bedenkenloser man es tat, desto fruchtbarer geschah es. Aber gerade diese Unbestimmtheit war das, woran ihm jetzt am meisten lag. Denn hingen seine Gedanken so zusammen, daß sich ihnen nichts Wesentliches hinzufügen ließ, das sie nicht aufgenommen hätten wie einen Hinzukommenden, der in einer Versammlung verschwindet, so bewiesen sie damit doch bloß ihre Ähnlichkeit mit den Empfindungen, durch die sie zum ersten Mal in Ulrichs Leben gerufen worden waren; und diese Übereinstimmung einer, nun durch Agathe, zum zweitenmal erlebten Veränderung der Sinnessphäre, von der die Welt ergriffen zu werden schien, mit einem veränderten Denken – von dem man auch hätte sagen können, daß es sich in unendlichen Träumen auf seinem Platz winde; und schon einmal war es schließlich daran ermattet! – Diese merkwürdige Übereinstimmung, die Ulrich heute erst ganz beachtete, gab ihm Mut und Befürchtungen ein. Er wußte noch, daß er damals den Ausdruck, ins Herz der Welt geraten zu sein, gebraucht hatte. Gab es das? War es wirklich mehr als eine Umschreibung? Er war dem Anspruch der Mystik, daß man sich selbst aufgeben müsse, nur mit Ausschluß des Kopfes geneigt: aber mußte er sich nicht gerade darum eingestehn, daß er heute nicht viel mehr davon wisse als ehedem?!
Er ging weiter diese Breiten entlang, die scheinbar nirgends in ihre Tiefen einließen. Ein andermal hatte er alles dies »das rechte Leben« genannt; wohl noch vor kurzem, wenn er nicht irrte; und erst recht, wenn man ihn früher gefragt hätte, was er treibe, so hätte er auch während seiner exaktesten Beschäftigungen gewöhnlich keine andere Antwort darauf gehabt als die, daß sie Vorarbeiten für das rechte Leben seien. Daran nicht zu denken, war überhaupt unmöglich. Zwar ließ sich nicht sagen, wie es aussehen müßte, ja nicht einmal, ob es wirklich eines gebe, und es war vielleicht nur eine jener Ideen, die mehr ein Wahrzeichen als eine Wahrheit sind; aber ein Leben ohne Sinn, eines, das nur den sogenannten Erfordernissen gehorchte und ihrem als Notwendigkeit verkleideten Zufall, somit ein Leben der ewigen Augenblicklichkeit – und da fiel ihm wieder ein Ausdruck ein, den er einmal gebildet hatte: die Vergeblichkeit der Jahrhunderte! –: ein solches Leben war ihm einfach eine unerträgliche Vorstellung! Nicht weniger aber auch ein Leben »für etwas«, diese von Meilensteinen beschattete Landstraßendürre inmitten undurchmessener Breiten. Das alles mochte er ein Leben vor der Entdeckung der Moral heißen. Denn auch das war eine seiner Ansichten, daß die Moral nicht von den Menschen geschaffen wird und mit ihnen wechselt, sondern daß sie geoffenbart wird, daß sie in Zeiten und Zonen entfaltet wird, daß sie geradezu entdeckt werden könne. In diesem Gedanken, der so unzeitgemäß wie zeitgemäß war, drückte sich vielleicht nichts als die Forderung aus, daß auch die Moral eine Moral haben müsse, oder die Erwartung, daß sie sie im Verborgenen habe, und nicht bloß eine sich um sich selbst drehende Klatschgeschichte auf einem bis zum Zusammenbruch kreisenden Planeten sei. Er hatte natürlich niemals geglaubt, daß der Inhalt solcher Forderung mit einem Schlag entdeckt werden könnte; es kam ihm bloß wünschenswert vor, beizeiten daran zu denken, das heißt, in einem Zeitpunkt, der nach etlichen Jahrhunderttausenden zwecklosen Drehens verhältnismäßig günstig und geeignet für die Frage zu sein schien, ob sich nicht eine Erfahrung daraus gewinnen lasse. Aber, freilich, was wußte er nun auch von dem wirklich? Es war im ganzen nicht mehr, als daß auch dieser Kreis von Fragen im Verlauf seines Lebens dem gleichen Gesetz oder Schicksal unterworfen gewesen sei wie die anderen Kreise, die sich nach allen Seiten aneinanderschlossen, ohne eine Mitte zu bilden.
Er wußte natürlich mehr davon! Zum Beispiel, daß so zu philosophieren, wie er es da tat, für schrecklich unernst gelte, und er wünschte in diesem Augenblick auf das lebhafteste, diesen Irrtum widerlegen zu können. Er wußte auch, wie man so etwas beginnt: er kannte einigermaßen die Geschichte des Denkens; er hätte darin ähnliche Bemühgungen finden können und ihre erbitterte oder spöttische oder ruhige Bestreitung; er hätte sein Material ordnen, einordnen können; er hätte Fuß fassen und über sich hinausgreifen können. Für eine Weile erinnerte er sich schmerzlich seiner früheren Tüchtigkeit und namentlich jener Gesinnung, die ihm so natürlich war, daß sie ihm einmal sogar den Spottnamen eines »Aktivisten« eingetragen hat te. War er denn nicht mehr der, den beständig die Vorstellung begleitete, daß man sich um die »Ordnung des Ganzen« bemühen müsse; hatte nicht er mit einer gewissen Hartnäckigkeit die Welt einem »Laboratorium«, einer »Experimentalgemeinschaft« verglichen; – hatte er nie von einem »fahrlässigen Bewußtseinszustand der Menschheit« gesprochen, der in einen Willen zu verwandeln wäre; gefordert, daß man Geschichte »machen« müsse; hatte er nicht schließlich wirklich, wenn es auch nur spöttisch geschah, ein »Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele« verlangt? Das war nicht vergessen, denn darin kann man sich nicht plötzlich ändern; das war bloß augenblicklich außer Wirksamkeit gesetzt! Es ließ sich auch nicht verkennen, woran das liege. Ulrich hatte nie über seine Gedanken Buch geführt; aber selbst wenn er sich aller auf einmal hätte entsinnen können, so wäre es ihm, das wußte er, nicht möglich gewesen, sie einfach vorzunehmen, zu vergleichen, an möglichen Erklärungen zu prüfen und schließlich das reine, ach so dünne Blättchen des Metalls der Wahrheit aus den Dämpfen zum Vorschein zu führen. Es war ja eine Eigentümlichkeit dieser Art von Gedanken, daß sie keinen Fortschritt zur Wahrheit besaß; und obwohl Ulrich im Grunde voraussetzte, daß sich ein solcher Fortschritt durch einen unendlichen und langsamen Vorgang in der Gesamtheit einmal doch einstellen werde, so war es ihm kein Trost, denn er besaß nicht mehr die Geduld des Sich-ÜberlebenLassens von dem, wozu man bloß wie eine Ameise etwas beiträgt. Seine Gedanken standen mit der Wahrheit längst nicht mehr auf dem besten Fuß, und nun kam ihm wieder das als die Frage vor, die am dringendsten der Aufklärung bedurft hätte.
Er war aber damit nochmals auf den Gegensatz von Wahrheit und Liebe zurückgekommen, der ihm kein neuer war. Es fiel ihm ein, wie oft in den letzten Wochen Agathe über seine, für ihren Geschmack noch viel zu pedantische, Wahrheitsliebe gelacht habe; und manchmal mochte sie davon auch Kummer gehabt haben! Und plötzlich fand er sich bei dem Gedanken, daß es eigentlich kein widerspruchsvolleres Wort gebe als Wahrheitsliebe.
»Denn man kann die Wahrheit auf Gott weiß wieviel Weisen hochstellen, bloß lieben darf man sie nicht, weil sie sich ja in der Liebe auflöst« dachte er. Und diese Behauptung, – keineswegs das gleiche wie die kleinmütige, daß die Liebe keine Wahrheit vertrage – war für ihn ebenso vertraut-unvollendbar wie alles übrige.
Sobald einem Menschen die Liebe nicht als ein Erlebnis begegnet, sondern als das Leben selbst, mindestens als eine Art des Lebens, kennt er mehrere Wahrheiten. Der ohne Liebende Urteilende nennt das Ansichten, persönliche Auffassungen, Subjektivität, Willkür; aber der Liebe weiß, er ist nicht unempfindlich für die Wahrheit, er ist überempfindlich. Er befindet sich in einer Art Enthusiasmus des Denkens, wo sich die Worte bis zum Grund öffnen. Das kann natürlich eine Täuschung sein, und Ulrich berücksichtigte es, die natürliche Folge allzu lebhaft beteiligten Gefühls. Wahrheit entsteht bei kaltem Blut; das Gefühl ist ihr abträglich, und sie dort zu erwarten, wo etwas ›Sache des Gefühls‹ ist, gilt nach aller Erfahrung für ebenso verkehrt, wie Gerechtigkeit vom Zorn zu fordern. Trotzdem war es unbezweifelbar ein allgemeiner Gehalt, ein Teilhaben an Sein und Wahrheit, was die ›Liebe als das Leben selbst‹ von der Liebe als Erlebnis der Person unterschied. Und Ulrich überlegte nun, wie deutlich doch die Schwierigkeiten, die ihm die Ordnung seines Lebens darbot, immer mit diesem Begriff einer übermächtigen, sozusagen ihre Zuständigkeit überschreitenden, Liebe zusammengehangen seien. Von dem Leutnant, der ins Herz der Welt versank, bis zu dem Ulrich des letzten Jahrs mit seiner mehr oder weniger überzeugten Behauptung, daß es zwei grundlegend verschiedene und schlecht verschmolzene Lebenszustände, Ichzustände, ja vielleicht sogar Weltzustände gebe, waren die Bruchstücke der Erinnerung, soweit er sie sich zu vergegenwärtigen vermochte, alle in irgendeiner Form mit dem Verlangen nach Liebe, Zärtlichkeit und gartenhaft-kampflosen Seelengefilden verbunden. In diesen Breiten lag auch die Vorstellung des »rechten Lebens«; so leer sie im hellen Verstandeslicht sein mochte, so reich wurde sie vom Gefühl mit halb geborenen Schatten erfüllt.
Es war ihm gar nicht angenehm, diese Bevorzugung der Liebe in seinem Denken so eindeutig anzutreffen; er hatte eigentlich erwartet, daß darin mehr und noch anderes zu gewahren sein müßte und daß Erschütterungen wie die des letzten Jahres ihre Bewegung nach verschiedenen Richtungen getragen hätten; ja, es kam ihm wirklich wunderlich vor, daß der Eroberer, dann der Moralingenieur, als die er sich in seinen Kraftjahren erwartet hatte, schließlich zu einem Minnenden und Minnesüchtigen ausreifen sollten.