MoE 5 | Zweites Buch | 1933-1936 | Zweite Fortsetzungsreihe

CLARISSE

 
Band 5 (mit Seitensiglen und einfachem HTML-Code

Frühspaziergang


Zu Clarisse war Ulrich seit der Ankunft seiner Schwester selten hinausgekommen. Agathe mochte Clarisse nicht; sie behauptete, daß diese einen Mund wie eine Eidechse habe und daß Ulrich unrecht tue, zu wissen, daß sie geistesgestört sei, und sich zu verhalten, als wüßte er es nicht. Auch Clarisse mochte Agathe nicht, aber sie war zu großmütig, Böses von ihr zu sagen. Sie dachte ja auch wenig an Ulrich, und Eifersucht kannte sie nicht. Es war Walter, der Agathe von früher kannte und darum darauf drang, daß sie sich wiedersähen.
Übrigens bedeutete, daß Clarisse ihre Gefühle für Ulrich vergessen hatte, nicht, daß sie gar nicht vorhanden gewesen wären. Ihre Seele hatte die Eigenschaft, immer scharf durch einen Spalt zu leuchten. Neben dem, worauf das Licht fiel, stand dann vieles im Dunkel. Es war zu dieser Zeit ziemlich still in dem Gemüsegärtnerhaus am Stadtrand. Der Prophet lebte für sich – sofern er nicht heimlich Besuche empfing? was Clarisse vermutete – und wenn er einen der Hausbewohner ins Gespräch zog, so war es eher Walter als dessen Frau. Ulrich hatte ihn den Propheten genannt, und Clarisse fand das daneben gegriffen: denn ein Prophet blickt bloß in die Zukunft, doch Meingast hingegen gestaltete sie! Ulrich sagte aber so: »Was ist ein Prophet? Ein Geist, der körperlichen Eindruck zu machen versteht!« Clarisse fand es beschränkt, daß Ulrich darüber lachte, denn es kam ihr nicht das mindeste in den Sinn, dessen die Verbindung des Imposanten mit dem Geistigen verdächtigt werden könnte, und sie meinte, so wie Ulrich spräche nur der Neid. Der Unterschied Meingasts gegen alle anderen war noch immer sehr groß. Manchmal kamen Bekannte von Walter zu Besuch; Schulfreunde, Bürofreunde: Clarisse nannte sie Ersatzfreunde. Walter hatte im Büro eine kleine Aufbesserung erfahren, er war jetzt Beamter im Hauptmannsrang. Es schien, daß es ihn freue. Da es ein kunsthütendes Amt war, wo er angestellt war, hatte er dienstlich mit Kunst zu tun; aber als er ernannt wurde, erzählte er Clarisse, daß er gezwungen sei, sich eine Uniform anzuschaffen, und ließ sich leger in ihr photographieren. Sie bestand aus einem langschössigen Rock, ähnlich dem der Marineoffiziere, und einer hohen Kappe, wie sie die Offiziere des Landheeres trugen. Der Rock trug zwei Reihen goldener Knöpfe und auf einer goldenen Achselschnur drei Sterne; ein Schoß war zurückgeschlagen und ließ den Korb eines Säbels ohne Portepee sehn, dessen Griff Walters Hand mit einer schüchternen Gebärde umspannte. Seither hatte in seinem Verhältnis zu Ulrich die Abneigung nachgelassen und die alte Anhänglichkeit hatte sich wie niedergetretenes Gras ein wenig aufgerichtet. Als aber Clarisse dieses Bild zum ersten Mal sah, scheute sie vor Lachen und sprach etwas von Wagners großmutterhaftem Barett und Mackarts kindischen Samthosen.
Als Clarisse aber einmal einen Sonntag bei ihren Eltern verbrachte, zog er die Uniform heimlich an und versuchte darin zu malen und zu komponieren, und es schien ihm, daß es, wenn auch nicht gut, so doch mit kraftvollem Ansatz von statten gehe.
Diese fortschreitende Verwandlung Walters in einen »Bourgeois« befand sich in der empfindlichsten Helle von Clarissens Aufmerksamkeit. – Zwar gehört es zur Entwicklung der meisten Menschen, daß sie mit künstlerischen Neigungen beginnen und mit bürgerlichen enden; aber sie wollte sich für Walter nicht darein fügen. Und sie war nicht ganz im Unrecht damit. Denn, daß dieser Beginn ebenso natürlich sein soll wie dieses Ende, und obendrein sich nicht einmal der Übergang auffällig hervorhebt, es ist nicht das klarste, zumal wenn man es nicht bloß als ein persönliches Ergrauen hinnimmt, sondern als eine Erscheinung im ganzen ansieht. Künstler und Bürger! Wie haben sie nicht schon versucht, die verschiedensten Verbindungen miteinander einzugehen, aber im Grunde bleiben sie doch so verschieden wie Jenseits und Diesseits! Walter behauptete: Es sollte einer so viel wie möglich vom andern einschließen, der Künstler aus dem Bürger hervorgehen und der Bürger verständig an der Kunst teilhaben: ach, Gott, Clarisse erinnerte sich, das noch in ihrem Vaterhaus gehört zu haben. Wenn Hans-Sachs-Stimmung herrschte und der Vorstand eines Theaterbau-Ausschusses zu Gast war oder ein Industrieller, der sein Haus in der Provinz im Tudor-Stil haben wollte; geradeso, wie sie es später an Staatsfeiertagen in der Zeitung las. Sie wußte auch, daß die Wirklichkeit anders aussehe. Da hatte nämlich der Bürgerstand einen Künstlerstand aus sich hervorgebracht und mit der Zeit so weit von sich fortgebracht, daß sie nur noch so wenig zusammenhingen wie etwa Uhrmacher und Seeleute. Diese schlimme Endung war damals schon deutlich zu spüren, als Walter mit einem Säbel und Sternscheiben auf den Achseln die Kunst hütete. In den Begriff der Kunst wurde sowohl heute von denen, die sie bezahlten, als auch von denen, die an ihr verdienen wollten, immer mehr aufgenommen, was bloß äußerlich mit ihr Ähnlichkeit hatte, seinem Wesen nach aber dem Geschäft und Vergnügen diente, wodurch es der Bürger unwillkürlich erlernte, sich nicht nur als den Auftrag-, sondern als den Maßgebenden zu fühlen; bis er schließlich das Verhältnis von Geben und Empfangen bekanntermaßen umgekehrt hat. Außerstande, in der Kunst noch das Anbetungswürdige zu finden, hat er ihr befohlen, daß sie ihn anbete, damit sie ein gesundes Vorbild habe, wie es seither in allen Fällen geschehen ist, wo die Kunst zur Staatsmagd ernannt wurde.
Der Bürger heißt in diesem Fall – allgemeiner als in der gewöhnlichen Bedeutung, die eine bestimmte, politisch und wirtschaftlich gekennzeichnete Lebensform meint – bloß der Mann im üblichen Geiste, mit dem üblichen Handeln und kräftig dem Diesseits zugewandten Trieben; oder einfach der Mann des Lebens, im Gegensatz zum Künstler, der im tiefsten Wesen der Spielball jener religiösen Kräfte ist, die das Leben ständig ausatmet, ohne daß sie gerade die Form der Religion annehmen mußten. Der Bürger ist als jener Mann des »Habenwollens« des eigenen Lebens zu verstehen, dem Clarisse und Ulrich einstens in einem Gespräch darüber, daß die Menschheit eine Ideengeschichte statt der Weltgeschichte leben sollte, die Behauptung entgegengestellt hatten, daß man seine eigenen Erlebnisse nicht »haben wollen« dürfte, sondern wie »gesungen« oder »gemalt« hinnehmen und den Sinn nicht sich, sondern ihrer Bedeutung zuwenden müßte. Ulrich hatte da auch behauptet, wem, wo und wann es geschehe, weshalb die Wirklichkeit bloß einem schlechten Kassenstück am Theater ähnle. Walter wurde übel, wenn er daran dachte Aber erinnerte sich Clarisse noch daran? Nein. Denn sie nahm ihm doch übel, daß er sich über den eindrucksvollen Propheten, über Meingast, lustig gemacht hatte, mit dem sie wetteiferte, von dem man aber doch zu jeder Zeit und an jedem Ort sagen konnte: »Das ist wer!«
Aber um zu einem Abschluß zu bringen, was ein Mann und Bürger sei, ehe von Clarisse gesprochen wird, bleibt noch zu erwähnen, daß es ein Zeichen des Übergangs zu den Manneseigenschaften gibt, das deutlich und verläßlich ist; es läßt sich nämlich sagen, daß einer in dem Augenblick Mann und Bürger wird, wo er seine Knabeninstinkte, die ihm bis dahin nur Unannehmlichkeiten bereitet haben, außer sich unterbringt und anwurzelt. So hat, aufs einfachste, jeder Knabe Freude an seiner körperlichen Geschicklichkeit und wahrscheinlich bildet sich auch jeder ein, »furchtbar stark« zu sein, wenn er einmal zornig würde; aber natürlich fordern Turnen und Athletik so viel Selbstüberwindung, daß es Sache der wenigsten ist, sich ihnen wirklich und dauernd zu widmen, und Walter zum Beispiel hatte sich immer viel zu lieb gehabt, um sich so zu bemühen, und schon gar davor, mit den Fäusten seinen Mann – oder richtiger: Knaben! – zu stellen, hatte er immer gezittert. Für den Mann löst sich das dadurch, daß es Sportvereine, öffentliche Wettkämpfe, Polizei und Militär gibt, wo andere das tun, was er vielleicht tun, vielleicht aber auch nicht tun möchte; er geht manchmal als Zuschauer hin und öfter bleibt er zu Hause, er zahlt dafür Eintrittsgelder oder Steuern, weigert sich aber auch manchmal, das zu tun, weil es ihm zu teuer vorkommt. Manchmal dilettiert er auch selbst, und auf solche Art befriedigt es nachträglich seine Knabenwünsche in viel größerem Umfang, als es ihm in der Kinderzeit beschieden war, wahrt ihnen gegenüber aber auch eine letzte Unentschiedenheit des geistigen Verhaltens, worin sich ein verkümmerter Ansatz überlegener Urteilsfähigkeit verbirgt, der ihm obendrein noch schmeichelt.
Auf die gleiche dezentralisierende Weise werden aber auch die geistigen und künstlerischen Neigungen behandelt, die den Heranreifenden erfüllen und die der Herangereifte außer sich verlegt und durch die große Schar von Fachleuten verwirklicht, die für ihn denkt, zeigt, fühlt und schreibt, malt, baut. An ihnen besitzt der Mann nun den höheren Teil seiner Seele, und es ist eine recht lebhafte, zusammenhanglose, nach allen Seiten übertreibende Seele, die er nicht versteht, die sich selbst unaufhörlich schreiend widerspricht, die ihm viel zu groß ist und die ihn mehr plagt als befriedigt. Hier ist das Ergebnis des im Leben so bewährten und darum unwillkürlich auch auf das Leben selbst angewandten Grundsatzes der »Arbeitsteilung« also ein schlechtes, was nicht wenig dazu beiträgt, daß ein ausgewachsener Mann gewöhnlich von den Jünglingstätigkeiten seiner Zeit weit mehr den Eindruck der Unreife hat als von ihren knabenhaften.
Um Clarissens Mund kämpften Lachen und Schwierigkeiten; bald öffnete er sich, bald preßte er sich schmal zusammen. Sie war vor der Zeit aufgestanden, Walter schlief noch, sie hatte rasch ein leichtes Kleid übergeworfen und war ins Freie getreten. Die Vögel sangen vom Wald herüber durch die leere Morgenstille. Die Halbkugel des Himmels war noch nicht mit Wärme ausgefüllt. Selbst das Licht war noch seicht verteilt. »Es geht mir nur bis an die Knöchel,« dachte Clarisse »der Hahn des Morgens ist eben erst aufgedreht worden!« Alles war vor der Zeit. Sie wanderte vor der Zeit durch die Welt. Clarisse war sehr stark berührt davon. Sie hätte beinahe geweint.
Clarisse war ein zweites Mal, ohne Walter oder Ulrich etwas davon zu sagen, im Irrenhaus gewesen. Seither war sie besonders leicht erregbar. Sie bezog alles, was sie gesehen und gehört hatte, persönlich auf sich. Aber namentlich beschäftigten sie drei Vorkommnisse. Das erste war, daß man sie als kaiserlichen Sohn und Mann angesprochen und begrüßt hatte. Bei der Wiederholung dieser Behauptung hatte sie ganz deutlich ihren Widerstand dagegen nachgeben gefühlt, so als ob etwas Gewöhnliches, das sonst dem Fürstlichen im Wege stand, verschwände. Das zweite, was sie erregte, war, daß sich auch Meingast verwandelte, und dazu offenbar ihre und Walters Nähe benützte. Seit sie ihn – es mochte nun wohl schon einige Wochen her sein! – im Gemüsegarten gestellt und durch den wahrhaft seherischen Zuruf in Schrecken versetzt hatte, daß auch sie sich verwandeln und ein Mann sein könne, mied er ihre Gesellschaft. Sie hatte ihn von da an nicht einmal mehr bei den Mahlzeiten oft gesehn; er sperrte sich mit seiner Arbeit ein oder blieb tagsüber außer Hause, und wenn er Hunger hatte, holte er sich heimlich etwas aus der Speisekammer. Erst ganz vor kurzem war es ihr gelungen, ihn wieder allein anzureden. Sie hatte ihm gesagt: »Walter hat uns verboten, davon zu sprechen, daß du dich bei uns verwandelst!« und sie hatte mit den Augen gezwinkert. Meingast verhehlte sich jedoch auch da und tat überrascht, ja sogar ärgerlich. Er wollte sie nicht an dem Geheimnis teilhaben lassen, an dem er emsig arbeitete. So schien es zusammenzuhängen. Clarisse aber hatte ihm gesagt: »Ich werde dir vielleicht zuvorkommen!« Und sie brachte das mit dem ersten Vorkommnis in Zusammenhang. Deutlich war darin das wollüstige Hervordrängen eines anderen Wesens aus dem Grunde des ihren zu fühlen gewesen.
Clarisse war nun überzeugt, die Irren hätten sie erraten. Und sie hatte seither noch ein Geheimnis: Als weder durch den heimlich widerstrebenden General von Stumm noch durch Ulrich eine Einladung kam, den unterbrochenen Besuch zu wiederholen, hatte sie nach langem Zögern Dr. Friedenthal selbst angerufen und ihm angekündigt, daß sie ihn im Krankenhaus aufsuchen werde. Und der Doktor hatte alsbald für Clarisse Zeit gehabt. Als sie ihn gleich bei ihrem Kommen fragte, ob die Irren nicht vieles wüßten, was die Gesunden nicht errieten, hatte er lächelnd den Kopf geschüttelt, aber tief in ihre Augen geschaut und mit wohlgefälliger Betonung geantwortet: »Die Ärzte der Irren wissen viel, was die Gesunden nicht ahnen!« Und als er seinen Rundgang antreten mußte, hatte er sich erboten, Clarisse zu Moosbrugger mitzunehmen und dort zu beginnen, wo sie das letztemal aufgehört hätten. Clarisse war wieder in den weißen Mantel geschlüpft, den ihr Friedenthal hinhielt, als wäre das schon ganz natürlich.
Aber – und dies wäre das dritte Vorkommnis, das Clarisse noch nachträglich erregte und noch mehr als die übrigen – es war wieder nicht dazugekommen, daß sie Moosbrugger sah. Denn es war etwas Merkwürdiges geschehn. Als sie den letzten Pavillon verlassen hatten und im Gehen die freie würzige Luft des Parks einatmeten, wobei Friedenthal unternehmungslustig sagte: »Nun kommt aber Moorbrugger an die Reihe!« war wieder ein Wärter dahergelaufen gekommen und hatte eine Meldung hinterbracht. Friedenthal zuckte die Schultern und sagte: »Sonderbar! Es geht wieder nicht! Bei Moosbrugger ist im Augenblick der Chef mit einer Kommission. Ich kann Sie nicht mitnehmen!« Und nachdem er ihr aus eigenem versprochen hatte, sie sobald es möglich sei zur Fortsetzung einzuladen, war er mit großen Schritten weggegangen, indes Clarisse durch den Wärter zurück auf die Straße gebracht worden war.
Clarisse fand dieses zweimalige Leerausgehn ihres Besuchs auffällig und ungewöhnlich und vermutete eine Ursache dahinter. Sie hatte den Eindruck, daß man sie geflissentlich nicht zu Moosbrugger lasse und jedesmal eine andere Ausrede ersänne, ja vielleicht die Absicht habe, Moosbrugger verschwinden zu machen, ehe sie ihn erreiche.
Als sich Clarisse das jetzt wieder überlegte, hätte sie beinahe geweint. Sie hatte sich überlisten lassen und fühlte sich sehr beschämt; denn von Friedenthal war wieder keine Nachricht gekommen. Aber während sie sich so aufregte, beruhigte sie sich auch wieder. Es fiel ihr ein Gedanke ein, der sie jetzt oft beschäftigte, daß im Verlauf der menschlichen Geschichte viele große Männer von ihren Zeitgenossen verheimlicht und gemartert worden und viele sogar im Irrenhaus verschwunden seien.
»Sie haben sich nicht wehren, noch erklären können, weil sie nur Verachtung für ihre Zeit empfanden!« dachte sie. Und sie erinnerte sich an Nietzsche, den sie vergötterte, mit dem großen traurigen Lippenbart, und ganz stumm geworden dahinter.
Es wurde ihr dabei aber unheimlich zumute. Ihre Augen suchten die Richtung, in der das Irrenhaus lag, und sie wußte, daß sie diese Richtung immer als etwas Besonderes fühlte, auch wenn sie nicht daran dachte. Wieder traten ihr die Tränen in die Augen; sie empfand ein Heimatsgefühl, oder das Gefühl eines Liebenden, der seinen Blick auf die Stelle am Horizont richtet, hinter der das Haus der Geliebten liegen muß. Was sie soeben noch beleidigt oder gekränkt hätte, ihre Niederlage durch den listigen Arzt, leuchtete ihr plötzlich als ein Zeichen davon ein, daß auch ihr das Schicksal eines solchen großen Menschen vorbestimmt sein könnte. Es war ungemein bedrückend, sich so mit Irren eins zu fühlen, aber »sich mit dem Unheimlichen gleichzustellen, ist die Entscheidung zum Genie!« sagte sie sich.
Inzwischen war die Sonne aufgegangen, und die Landschaft wirkte dadurch noch leerer; sie war grün und kühl mit blutigen Streifen; die Welt war noch immer niedrig und reichte Clarisse, die auf einer kleinen Anhöhe stand, nur bis an die Knöchel. Da und dort schrie eine Vogelstimme auf wie eine arme Seele. Ihr schmaler Mund breitete sich aus und lächelte der Morgenrunde zu. Sie stand, von ihrem Lächeln umgürtet, wie die Muttergottes auf der von der Mondsichel umschlungenen Erde. Sie überlegte, was sie zu tun habe. Eine eigentümliche Opferstimmung beherrschte sie: Allzuviel war ihr in der letzten Zeit durch den Kopf gegangen. Wiederholt hatte sie geglaubt, jetzt begänne es mit ihr. Aber sie wußte nicht, was.
Sie fühlte nur, es stand. Und es war ein Leid. Sie fürchtete sich davor, und es verlangte sie nach dem Furchtbaren. In der Leere des Morgens schwebte es wie ein Kreuz über ihre Schultern. Aber eigentlich war es doch mehr ein tätiges Leid. Eine große Tat.
Eine Verwandlung. Da war nur wieder diese beziehungsvolle Vorstellung! Aber gleichsam leer wie ein aufgehender weißer Leuchtball. Die Gedanken daran und die Versuche, es sich vorzustellen, fuhren ihr kreuz und quer durch den Kopf. Auch die Schwalben hatten inzwischen begonnen, durch die Luft hin und her zu fahren.
Clarisse wurde plötzlich wieder heiter, ohne dass jedoch das Unheimliche ganz von ihr wich. Es kam ihr vor, daß sie sich sehr weit von ihrem Zuhause entfernt habe, obwohl es nicht wahr war, kehrte sie um. Unterwegs begann sie zu tanzen. Sie streckte die Arme waagrecht aus und hob die Knie. So legte sie den ganzen letzten Teil des Wegs zurück.
Aber ehe sie zuhause anlangte, traf sie bei einer Biegung des Pfads auf General von Stumm.
»Guten Morgen, Gnädigste! Wie gehts denn?« rief er schon auf fünfzehn Schritt Entfernung.
»Sehr gut« erwiderte Clarisse mit strengem Gesicht und tonlos weicher Stimme.
Stumm war in Uniform, und seine runden Beinchen staken in Stiefeln und in feldfarbenen Reithosen mit roten Generalsstreifen. Im Ministerium gab er jetzt kriegerisch vor, daß er zuweilen vor dem Dienst große Morgenritte unternehme; in Wahrheit lustwandelte er aber dann in Clarisses Gesellschaft auf den Feldrainen und Wiesen, die ihr Haus umgaben. Walter schlief um diese Stunde noch oder mußte sich in freudloser Eile um seine Kleider und das Frühstück kümmern, damit er nicht zu spät ins Büro komme; und wenn Walter durch die Fenster spähte, sah er voll Eifersucht die Sonne auf den Knöpfen und Farben einer Uniform blitzen, neben der gewöhnlich ein rotes oder blaues Sommerkleid vom Wind entfaltet wurde, wie es auf alten Bildern den Engelsgewändern vom Überschwang des Herabfahrens geschieht.
»Wollen wir zur Sprungschanze gehn?« frag te Stumm fröhlich. Die »Sprungschanze« war ein kleiner Steinbruch zwischen Hügeln, der mit seinem Namen nicht das Geringste zu tun hatte. Aber Stumm fand diese von Clarisse gewählte Bezeichnung »charmant und dynamisch«. »Als ob es Winter wäre!« rief er aus. »Jedesmal lache ich darüber. Und eine Schneeschanze möchten Gnädigste gewiß ›Sommerhügel‹ nennen?«
Clarisse war gleich einverstanden, mit ihm umzukehren, hatte es gern, daß er sie Gnädigste nannte, denn als sie sich erst einmal daran gewöhnt hatte, war ihr die Gesellschaft des Generals sehr angenehm. Zunächst, weil er immerhin ein General war; nicht »nichts« wie Ulrich und Meingast und Walter. Sodann, weil sie daraufgekommen war, daß es ein ganz eigentümlicher Zustand sei, immer einen Säbel bei sich zu haben, ein eigentümliches Verhältnis zur Welt, das den großen und furchtbaren Gefühlen entsprach, die sie oft beschäftigten. Ferner schätzte sie den gesprächigen Stumm, weil sie unbewußt erkannte, daß er sie nicht, wie die anderen, in einer Weise begehrte, durch die sie, wenn sie nicht selbst dazu Lust hatte, entwürdigt wurde.
»Es ist etwas seltsam Reines in ihm!« hatte sie darüber zu ihrem eifersüchtigen Gatten gesagt. Aber endlich brauchte sie auch einen Menschen, um sich auszusprechen, denn sie war von lauter Eingebungen bedrängt, die sie für sich behalten mußte. Und sie fühlte, daß alles, was sie sagte und tat, gut war, wenn ihr der General zuhörte. »Gnädigste haben etwas, das Sie über alle Frauen hinaushebt, die ich näher zu kennen die Ehre hatte« pflegte er zu versichern. »Ich lerne geradezu bei Ihnen Energie, Soldatenmut und Überwindung der österreichischen Nachlässigkeit!« Er lächelte dazu, wie zu einem Spaß, aber sie merkte wohl, daß er etwas davon ernst meinte.
Ihren Hauptgesprächsstoff bildeten aber, wie es auch in der Liebe die Regel ist, ihre Erinnerungen an ihr gemeinsames großes Erlebnis, den Irrenhausbesuch, und so begann denn auch Clarisse diesmal dem General anzuvertraun, daß sie seither noch einmal dort gewesen sei.
»Mit wem denn?« fragte dieser, der es schon begrüßte, einer schrecklichen Aufgabe entronnen zu sein.
»Allein« sagte Clarisse.
»Sapristi!« rief Stumm aus und blieb stehn, obwohl sie erst wenige Schritte gegangen waren: »Wirklich allein? Sie lassen sich aber auch durch nichts gruseln! Und haben Sie noch etwas Besonderes gesehn?« fragte er neugierig.
»Das Mörderhaus« erwiderte Clarisse lächelnd.
Diese Bezeichnung hatte Dr. Friedenthal, der ein guter Regisseur war, gebraucht, als sie über das lautlose Moos unter den Bäumen des alten Parks auf eine Gruppe kleiner Gebäude zugegangen waren, aus denen ihnen merkwürdig regelmäßige fürchterliche Schreie entgegentönten. Und auch Friedenthal hatte gelächelt und hatte Clarisse erzählt, was Clarisse jetzt dem General erzählte, daß jeder Bewohner dieser Häusergruppe mindestens einen Menschen getötet habe, manchmal aber deren mehrere.
»Und jetzt schreien sie, wo es zu spät ist!« sagte Stumm im Ton vorwurfsvoller Schickung in den Lauf der Welt.
Aber Clarisse würdigte seine Erwiderung nicht.
Sie erinnerte sich, daß auch sie gefragt hatte, was die Schreie bedeuteten. Und Friedenthal hatte ihr zur Antwort gegeben, daß es Tobsuchtsanfälle seien; aber ganz leise und vorsichtig, als dürfe man nicht stören. Und zur gleichen Zeit waren auch rings um sie wieder die riesenhaften Wärter aufgetaucht, von denen die Panzertüren geöffnet wurden; und Clarisse wiederholte das, in die Stimmung zurück geratend wie ein aufregendes Theaterstück, indem auch sie das Wort »Tobsuchtsanfälle!« leise flüsterte und dem General bedeutsam in die Augen sah.
Sie wandte sich ab und ging einige Schritte voran, so daß Stumm beinahe laufen mußte, um sie einzuholen. Als er wieder an ihrer Seite war, fragte sie ihn, wie er über die neue Malerei denke, und ehe er noch seine Eindrücke sammeln konnte, überraschte sie ihn durch die Mitteilung, daß dieser Malerei ganz merkwürdig eine aus dem Geiste des Irrenhauses geborene Architektur entspreche: »Die Gebäude sind Würfel, und die Kranken wohnen also in ausgehöhlten Betonwürfeln« erläuterte sie.
»Da ist ein Mittelgang, und links und rechts sind solche Zellen, und in jeder Zelle ist nichts als ein Mensch und um ihn der Raum. Sogar die Bank, worauf er sitzt, ist mit der Wand aus einem Stück gegossen. Allerdings sind alle Kanten sorgfältig abgerundet, damit er sich nicht wehtun kann« fügte sie genau hinzu, denn sie hatte alles das mit größter Aufmerksamkeit beobachtet.
Sie fand keine Worte für das, was sie eigentlich sagen mochte. Da sie ihr ganzes Leben lang von Kunst umgeben gewesen war und die Sorgen angehört hatte, die man sich um die Kunst macht, war diese Insel verhältnismäßig widerstandsfähig gegen die in ihrem Denken sonst herangewachsenen Veränderungen geblieben; und zumal weil ihre eigene künstlerische Betätigung nicht unmittelbarer Leidenschaft entsprang, sondern bloß ein Anhängsel ihres Ehrgeizes und eine Folge der Verhältnisse war, in denen sie lebte, hatte sich auf diesem Gebiet ihr Urteil trotz der Erkrankung ihrer Person, die in der letzten Zeit neue Fortschritte gemacht hatte, nicht mehr verschroben, als es in der Entwicklung der Kunst ohnehin von Zeit zu Zeit üblich ist. Darum konnte sie auch mit einer Vorstellung wie »Zweckarchitektur« oder »Aus der Aufgabe eines Irrenhauses hervorgegangene Bauweise« sehr wohl umgehen, und nur die Bevölkerung dieser gegenwartsnahen Wohnbauten mit Irren überraschte sie als ein neuer Begriff und kitzelte sie wie anbrennendes Räucherwerk in der Nase.
Aber Stumm von Bordwehr unterbrach sie mit der bescheidenen Bemerkung, er habe sich immer eingebildet, daß Tobsuchtszellen gepolstert sein müßten.
Clarisse wurde unsicher, denn vielleicht hatten die Zellen aus hellem Gummi bestanden, und so schnitt sie den Einwand ab. »Früher vielleicht« sagte sie entschlossen. »Vor der Zeit der Polstermöbel und Quastenvorhänge mögen auch die Tobsuchtszellen gepolstert gewesen sein. Aber heute, wo man sachlich und räumlich denkt, ist das ganz unmöglich. Die geistige Entwicklung macht eben auch vor Irrenhäusern nicht halt!«
Stumm wollte aber lieber etwas von den Tobsüchtigen erfahren als sich bei der Frage aufzuhalten, welche Zusammenhänge zwischen ihnen und der Malerei und Architektur beständen, und so erwiderte er: »Hochinteressant! Aber jetzt bin ich wirklich gespannt, wie es in diesen modernen Räumen zugegangen ist?!«
»Sie werden überrascht sein« erzählte Clarisse: »So still wie auf einem Friedhof!«
»Interessant! Ich erinnere mich, daß es auch auf dem Hof mit den Mördern, die wir gemeinsam gesehen haben, einige Augenblicke so still gewesen ist!«
»Diesmal hat aber nur ein einziger Mann einen gestreiften Leinenkittel angehabt« fuhr Clarisse fort. »Ein schwacher, kleiner, alter Mann mit blinzelnden Augen.« Und plötzlich lachte sie laut auf.
»Er hat geträumt, daß ihn seine Frau betrügt und hat sie nach dem Aufwachen am Morgen mit dem Stiefelknecht erschlagen!«
Auch Stumm lachte. »Gleich wie er aufgewacht ist? Das ist ausgezeichnet!« pflichtete er bei. »Der hat es offenbar eilig gehabt! Und die andern? Warum sagen Sie, daß gerade er einen Kittel angehabt hat?«
»Weil die andern schwarz waren. Sie sind stil ler als die Toten gewesen« erwiderte Clarisse, von Ernst ergriffen.
»Mörder scheinen überhaupt keine lustigen Menschen zu sein!« meinte Stumm.
»Oh, erinnern Sie sich an den Nußknacker!« wandte Clarisse ein.
Der General wußte im Augenblick nicht, wen sie meine.
»An den mit den Nußknackerzähnen, der zu mir gesagt hat, daß Wien eine schöne Stadt sei!«
»Und was haben die Diesmaligen zu Ihnen gesagt?« fragte der General lächelnd.
»Ich habe doch schon erzählt, daß sie gespensterstill waren.«
»Aber Gnädigste,« entschuldigte sich Stumm »das nennt man doch nicht Tobsucht!?«
»Sie haben eben erst auf ihre Anfälle gewartet!«
»Wieso gewartet?! Es ist sonderbar, daß man auf einen Tobsuchtsanfall wartet wie auf einen inspizierenden Korpskommandanten. Und Sie sagen noch dazu, daß sie schwarz angezogen waren: also sozusagen eine Paradeadjustierung? Ich fürchte, Gnädigste, daß Sie da in diesem Augenblick falsch beobachtet haben müssen. Ich bitte untertänigst um Entschuldigung, aber ich pflege mir solche Dinge ganz genau vorzustellen!«
Clarisse, der es gar nicht unangenehm war, daß Stumm auf Genauigkeit bestand, denn irgendetwas beschwerte auch sie durch eine Unverständlichkeit, gab zur Antwort: »Doktor Friedenthal hat es mir so erklärt, und ich kann Ihnen nur wiederholen, General, es war so. Drei Herren haben dort gewartet; und alle drei haben schwarze Anzüge angehabt, und ihre Haare und Bärte sind schwarz gewesen. Der eine war ein Arzt, der andere ein Rechtsanwalt, und der dritte ein reicher Kaufmann. Sie haben ausgesehn wie politische Märtyrer, die erschossen werden sollen.«
»Warum haben sie so ausgesehn?« fragte der ungläubige Stumm.
»Weil sie weder eine Krawatte noch einen Kragen umgebunden hatten.«
»Vielleicht waren die Herrn gerade erst eingeliefert worden?«
»Aber nein! Friedenthal hat doch gesagt, daß sie schon lange in der Anstalt sind« versicherte Clarisse, sich ereifernd. »Und trotzdem haben sie so ausgesehn, als könnten sie jeden Augenblick aufstehn und ins Büro gehn oder zu einem Patienten. Das ist ja gerade so sonderbar gewesen!«
»Nun, mir kann es ja einerlei sein, gnädige Frau«
erwiderte Stumm einlenkend, und doch mit einer Großartigkeit, die neu an ihm war, wobei er seine Stiefel unternehmend mit dem Reitstöckchen klopfte. »Ich habe schon Narren in Uniform gesehen und halte mehr Leute für verrückt, als man von mir annimmt. Aber gerade ›Toben‹ habe ich mir – lebhafter vorgestellt, auch wenn ich einräume, daß man von niemandem verlangen kann, daß er ununterbrochen tobt. Und daß gleich alle drei so still gewesen sind –: es tut mir leid, daß ich nicht selbst dabei gewesen bin, denn diesen Doktor Friedenthal halte ich schon für fähig, daß er einem etwas vorschwindelt!«
»Sie haben, wenn er gesprochen hat, ganz stumm aufgehorcht« berichtete Clarisse. »Man hätte überhaupt nicht bemerkt, daß sie krank sind, wenn man sie nicht gerade dort angetroffen hätte. Und denken Sie, als wir weggegangen sind, ist der, der Arzt war, aufgestanden und hat mir mit einer wirklich ritterlichen Gebärde den Vortritt angeboten und hat zu Friedenthal gesagt: ›Doktor, Sie bringen so oft Besuch. Immer führen Sie Gäste herum. Heute komme auch ich einmal mit!‹«
»Und da haben sich natürlich diese Fleischerhunde, diese Lackel von Aufsehern sofort –!« begann der General heftig, wenn er auch vielleicht mehr von der Tragödin als von der Tragödie gerührt war.
»Nein, man hat ihn nicht angepackt« unterbrach Clarisse. »Man hat ihn wirklich mit Respekt daran gehindert, mir zu folgen. Und ich versichere Ihnen, gerade auf solche höfliche und schweigende Art ist alles erschütternd gewesen. So wie mit kostbarem schwerem Tuch verhangen ist dort die Welt, und die Worte, die man sagen möchte, haben keinen Klang. Man kann sie schwer verstehn, diese Menschen! Man müßte selbst lange Zeit im Irrenhaus leben, um in ihre Welt eindringen zu können –!«
»Gott behüte uns davor!« erwiderte Stumm schnell. »Gnädigste wissen, daß ich Ihnen ein ziemliches Verständnis für den Wert einer Auflockerung des bürgerlichen Geistes durch Mord und Krankheit verdanke: aber gewisse Schranken müssen eingehalten werden!«
Sie waren unter diesen Worten an den Hügel herangekommen, dem sie zustrebten, und der General schöpfte Atem, ehe er den pfadlosen Anstieg unternahm. Clarisse musterte ihn mit einem Ausdruck dankbarer Sorgfalt und etwas zärtlichem Spott, wie es an ihr selten vorkam. »Einer hat doch getobt!« teilte sie ihm schelmisch mit, wie man ein bis dahin verborgen gehaltenes Geschenk hervorholt.
»Also, also! Nun sehen Sie!« rief Stumm aus, und etwas anderes fiel ihm nicht ein. Aber sein Mund blieb offen und suchte ohne seinen Geist nach einem Wort, und plötzlich klopfte Stumm wieder mit dem Stöckchen gegen die Stiefel. »Aber natürlich, der Schrei!« fügte er hinzu. »Gnädige Frau haben doch gleich im Anfang von Schreien gesprochen, die man gehört hat, und das hat mir bei der Totenstille gefehlt! Aber Sie erzählen so großartig, daß man alles vergißt!«
»Wie wir vor der Türe gestanden sind, aus der bald ein furchtbarer Schrei, bald ein eigentümliches Ächzen gedrungen ist,« begann Clarisse »hat mich Friedenthal noch einmal gefragt, ob ich wirklich eintreten wolle. Ich habe vor Aufregung kaum antworten können, aber die Wärter haben sich nicht darum gekümmert, sondern haben mit dem Aufschließen begonnen. Sie können sich denken, Herr General, daß ich mich in diesem Augenblick heftig gefürchtet habe, denn schließlich bin ich ja nur eine Frau. Ich hatte das Gefühl: wenn die Tür aufgeht, wird sich der Tobsüchtige auf mich stürzen –!«
»Man hört ja auch immer, daß solche Geisteskranke furchtbare Kräfte besitzen sollen!« half der General mit.
»Ja; aber als die Tür offen war, und wir sind alle auf der Schwelle gestanden: da hat er sich überhaupt nicht um uns gekümmert!«
»Nicht gekümmert?!« fragte Stumm.
»Nicht im geringsten! Er war fast so groß wie Ulrich und vielleicht so alt wie ich. Er ist in der Mitte der Zelle gestanden, mit vorgeneigtem Kopf und auf auseinandergespreizten Beinen. So!« Clarisse machte es nach. »In seinem braunblonden Jungmännerbart ist dicker Speichelschaum gesessen, die Muskeln sind aus seiner Magerkeit förmlich hervorgesprungen, er war nackt und seine Haare, ich meine bestimmte Haare –«
»Gnädigste erzählen so plastisch, daß man alles versteht!« schaltete Stumm beruhigend zum Zeichen ein, daß er verstehe.
»Die sind glanzlos hell gewesen, unverschämt hell; er hat uns damit fixiert wie mit einem Auge, das einen ansieht und zugleich nichts von einem bemerkt!«
Clarisse war oben angelangt, der General saß zu ihren Füßen. Man sah von der »Sprungschanze« auf abfallende Wiesen und Weingärten, auf kleine und große Häuser, die ohne Ordnung von unten ein Stück den Hang emporzogen, und an einer Stelle entwich der Blick in die reizvolle Tiefe des Hügellands, das weit hinten an hohe Berge grenzte. Wenn man aber, so wie Stumm, auf einem niedrigen Baumstumpf saß, sah man bloß irgendwelche Waldbuckel, die sich gegen den Himmel krümmten, weiße Wolken in den bekannten, dick dahinschwimmenden Ballen und Clarisse. Diese stand mit gespreizten Beinen vor dem General und machte ihm den Tobsuchtsanfall vor. Sie hielt einen Arm rechtwinkelig abgebogen und steif an den Körper geschlossen, hatte den Kopf vorgeneigt und führte mit dem Oberkörper in regelmäßiger Folge eine flach vorwärtskreisende, ruckartige Bewegung aus, wobei sie einen Finger nach dem andern abbog, als ob sie zählte. Und jede dieser Bewegungen ließ sie von einem keuchend ausgestoßenen Schrei begleitet sein, dessen Stärke sie aber rücksichtsvoll dämpfte.
»Das Eigentliche kann man aber doch nicht nachmachen« erläuterte sie. »Das ist die ungeheuerliche Anstrengung bei jedem Wurf, die einen Eindruck macht, als müßte der Mensch jedesmal seinen Leib aus einem Schraubstock reißen …«
»Aber das ist ja Mora!« rief der General aus.
»Kennen Sie nicht dieses Glücksspiel? Wer die richtige Fingerzahl errät, gewinnt. Aber Sie dürfen nicht einen Finger nach dem andern abbiegen, sondern müssen so viele zeigen, wie Ihnen gerade einfällt! An der italienischen Grenze spielen es alle unsere Bauern.«
»Es ist wirklich Mora!« sagte Clarisse, die das schon auf Reisen gesehen hatte. »Und er hat es auch so gemacht, wie Sie es beschreiben!«
»Also Mora« wiederholte Stumm befriedigt.
»Aber wie diese Irrsinnigen nur auf ihre Ideen kommen, möchte ich wissen!« fügte er hinzu, und damit begann erst der anstrengende Teil der Unterredung. Clarisse setzte sich neben den General auf den Baumstumpf, ein wenig abgerückt von ihm, so daß sie ihn, wenn es sein mußte, »ins Auge fassen«
konnte, wobei er jedesmal ein lächerlich schreckliches Gefühl hatte, als ob ihn ein Hirschkäfer zwicke. Sie war bereit, ihm das Geistesleben der Irren zu erklären, so wie sie es selbst durch vieles Nachdenken verstand. Einen der wichtigsten Plätze nahm darin – weil sie alles auf sich bezog – die Vorstellung ein, daß die sogenannten Geisteskrankheiten eine Art genialer Wesen seien, die man verschwinden lasse und um ihr Recht bringe, wogegen sie sich aus irgendwelchen Gründen, die Clarisse noch nicht herausgefunden hatte, nicht wehren könnten. Es war nur natürlich, daß der General dieser Auffassung nicht beipflichten konnte, und wunderte weder sie noch ihn. »Ich will schon zugeben, Gnädigste, daß so ein Narr einmal etwas erraten kann, was unsereiner nicht weiß« verwahrte er sich. »Derartig stellt man sie sich ja auch vor, sie haben so einen gewissen Nimbus; aber daß sie geradezu mehr denken sollten als wir Gesunde: nein, da darf ich wohl bitten!« Clarisse beharrte jedoch ernsthaft dabei, daß die geistig Gesunden weniger dächten als die geistig Nichtgesunden. »Sind Sie schon einmal vom Hundertsten ins Tausendste gekommen, General?« fragte sie Stumm, und das mußte er bejahen. »Sind Sie dann auch ein andermal umgekehrt, vom Tausendsten ins Hundertste gekommen?« fragte sie weiter, und das wollte Stumm, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht habe, was es heiße, natürlich noch weniger verneinen, denn es ist ja der Stolz des Mannes, sich sogar bis an das Eine durchzudenken, das man die Wahrheit heißt. Aber Clarisse folgerte: »Sehen Sie, und das ist nichts als Feigheit, dieses immer ordentliche und überlegte Nachdenken!
Die Männer werden es wegen ihrer Feigheit nie zu etwas bringen!«
Das habe ich noch nie gehört!« versicherte Stumm ablehnend.
Clarisse rückte mit den Augen an ihn heran. »Sicher hat Ihnen schon eine Frau zugeflüstert: Du Gott-Mensch?!«
Stumm erinnerte sich nicht daran, aber das wollte er nicht zugeben, darum vollführte er bloß eine Gebärde, die sowohl heißen könnte: Leider nein, als auch: Das hört man bis zum Überdruß! Und in Worten antwortete er: »Manche Frauen sind ja sehr exaltiert! Aber wie soll das eigentlich mit unserem Gespräch zusammenhängen? So etwas ist einfach ein übertriebenes Kompliment!«
»Sie erinnern sich an den Maler, dessen Zeichnungen uns der Doktor gezeigt hat?« fragte Clarisse.
«Ja natürlich. Das war ganz hervorragend, was der gemalt hat!«
»Er war unzufrieden mit Friedenthal, weil dieser von Kunst nichts versteht. ›Zeig es diesem Herrn!‹ hat er gesagt und dabei auf mich gewiesen« fuhr Clarisse fort und faßte den General plötzlich wieder ins Auge. »Glauben Sie denn, daß es auch bloß ein Kompliment gewesen sei, daß er mich als einen Mann angesprochen hat?«
»Das ist eben so eine von diesen Ideen« meinte Stumm. »Darüber habe ich wirklich nicht nachgedacht. Ich möchte vielleicht annehmen, daß es das ist, was man eine Assoziation nennt, oder eine Analogie, oder so etwas. Er hat halt irgend eine Ursache gehabt, Sie für einen Mann zu halten!«
Obwohl Stumm überzeugt war, Clarisse mit diesen letzten Worten etwas erklärt zu haben, wurde er doch durch die Wärme überrascht, mit der sie ausrief: »Ausgezeichnet! Dann brauche ich Ihnen ja bloß zu sagen, daß es die gleiche Ursache hat, wenn in der Liebe von Gott-Mensch geflüstert wird! Die Welt ist nämlich voll Doppelwesen!«
Man darf natürlich nicht glauben, daß es Stumm angenehm war, wenn Clarisse so sprach und dabei aus den zusammengekniffenen Augen einen gespaltenen Blick hervorschoß; er überlegte dann vielmehr, ob es nicht doch richtiger wäre, solche Gespräche nicht in Uniform zu führen und zum nächsten Spaziergang in Zivil zu erscheinen. Aber anderseits hatte der gute Stumm, der Clarisse mit großer Vorsicht, wenn nicht verheimlichtem Schrecken bewunderte, den ehrgeizigen Wunsch, diese so leidenschaftliche junge Frau zu verstehn und von ihr verstanden zu werden, weshalb er ihrer Behauptung rasch eine gute Seite abgewann. Er legte sie sich so zurecht, daß am Menschen und in der Welt eben das meiste zweideutig sei, was sich recht gut seinem neuen Pessimismus anschloß, und beruhigte sich des weiteren mit der Annahme, daß dann auch mit Gott-Mensch und Mann-Frau nichts anderes gemeint sein werde als was man von jedem behaupten könne, daß er ein bißel ein edler Mensch und ein bißel ein Schuft sei. Immerhin zog er es vor, das Gespräch zu der natürlicheren Auffassung zurück zu wenden und begann seine Kenntnisse von Analogien, Vergleichen, symbolischen Ausdrucksweisen und ähnlichem zu entwickeln.
»Verzeihen und erlauben, gnädige Frau, daß ich für einen Augenblick Ihre Anregung aufnehme und mich in den Gedanken versetze, daß Sie wirklich ein Mann wären« so fing der vom Schutzengel der Intuition Beratene das an und fuhr in der gleichen Weise fort: »Denn dann könnten Sie sich vorstellen, was es bedeutet, wenn eine Dame einen dichten Schleier trägt und nur ganz wenig von ihrem Gesicht zeigt; oder, was beinahe das gleiche ist, wenn sich eine Balltoilette beim Tanzen ein wenig vom Boden hebt und den Beinansatz zeigt: So ist es ja noch vor ein paar Jahren gewesen, ungefähr bis zu meiner Majorszeit; und solche Andeutungen treffen einen nämlich viel stärker, ich möchte beinahe sagen: leidenschaftlicher, als wenn man die Dame bis zum Knie sieht oder sozusagen ohne Hindernisse – ja, gerade Hindernisse ist das richtige Wort! Denn so möchte ich auch das beschreiben, worin eine Analogie oder ein Vergleich oder ein Symbol besteht: sie bereiten dem Denken Hindernisse und erregen es dadurch stärker als es gewöhnlich der Fall ist. Ich glaube, das meinen Sie, wenn Sie sagen, daß das gewöhnliche Nachdenken etwas Feiges hat!«
Aber Clarisse meinte das ganz und gar nicht.
»Der Mensch hat die Pflicht, über die bloßen Andeutungen hinauszugelangen!« forderte sie.
»Überaus merkwürdig!« rief Stumm nun aus, ehrlich berührt. »Der alte Graf Leinsdorf sagt ganz das gleiche wie Sie! Ich habe mich erst unlängst mit dem erlauchtigen Herrn auf das eingehendste über Gleichnisse und Symbole unterhalten, und da hat er in bezug auf die Patriotische Aktion genau das gleiche geäußert wie gnädige Frau, daß wir alle die Verpflichtung hätten, über den Zustand des Gleichnisses hinaus zur Wirklichkeit zu gelangen!«
»Ich habe ihm einmal einen Brief geschrieben und ihn darin gebeten, sich für die Freilassung des Moosbrugger einzusetzen« erzählte Clarisse.
»Und was hat er Ihnen geantwortet? Das könnte er nämlich gar nicht; ich meine: selbst wenn er könnte, könnte er es nicht, weil er ein viel zu konservativer und legaler Herr ist!«
»Sie könnten es aber?« fragte Clarisse.
»Aber nein; was im Irrenhaus ist, soll schon dort bleiben. Da mag es noch so vieldeutig sein: Wissen Sie, Vorsicht ist die Mutter der Weisheit!«
»Und was ist das?« fragte Clarisse lächelnd, denn sie hatte am Portepee des Generals den eingewebten Doppeladler entdeckt, das Wahrzeichen der kaiserlichen und königlichen Monarchie. »Was ist dieser Doppeladler?«
»Ich verstehe nicht. Was soll der Doppeladler sein? Es ist eben der Doppeladler!«
»Aber was ist ein Doppeladler? Ein Adler mit zwei Köpfen? In der Welt fliegen doch nur einköpfige Adler herum?! Ich mache Sie also darauf aufmerksam, daß Sie an Ihrem Säbel das Symbol eines Doppelwesens tragen?! Ich wiederhole Ihnen, Herr General, die bezaubernden Dinge ruhen wahrscheinlich alle auf uraltem Irrsinn!«
General: »Pst! Das darf ich nicht anhören!« (lächelnd)


Laubumkränzter Waffenstillstand zwischen Walter und Clarisse


Während sie sich ihrer Wohnung wieder näherte, wurde sie von der theatralischen Vorstellung begleitet, ein Mensch zu sein, der von weit her zurückkehrt. Sie hatte ihren Tanz aufgegeben, aber aus irgend einem Grund summte in ihrem Kopf das Lied: »Mein Vater Parsifal trug seine Krone, sein Ritter ich, bin Lohengrin genannt.« Als sie die Türe durchschritt und sich mit jähem Wechsel aus der schon hart und warm gewordenen Helle des jungen Morgens in die schlafende Dämmerung des Treppenhauses eintreten fühlte, meinte sie, von einer Falle gefangen zu sein. Die Stufen, die sie hinanstieg, gaben unter ihrem leichten Gewicht einen ganz leisen Laut von sich, der wie ein gehauchter Seufzer klang und dem nichts im ganzen Hause antwortete.
Clarisse drückte vorsichtig die Klinke des Schlafzimmers nieder: Walter schlief noch! Milchkaffeefarbenes, durch die groben Leinenvorhänge eingedrungenes Licht und der Kinderstubengeruch der endenden Nacht begrüßten sie. Walters Lippen sahen knabenhaft trotzig und warm aus; doch war das Gesicht jetzt einfach, ja verarmt. Es war darin weit weniger zu finden, als es gewöhnlich den Anschein hatte. Bloß ein wollüstiges Machtbedürfnis, das sich sonst nicht zeigte, war jetzt zu beobachten. Clarisse betrachtete, reglos an seinem Lager stehend, ihren Gatten; und er ahnte sich durch ihren Eintritt im Schlaf gestört und wälzte sich zur anderen Seite. Sie genoß zögernd die Überlegenheit des wachenden über den schlafenden Menschen; sie bekam Lust, ihn zu küssen oder zu streicheln oder auch zu erschrecken, konnte sich aber nicht entscheiden. Sie wollte sich auch nicht der Gefährdung aussetzen, die mit dem Schlafzimmer verbunden war, und offenbar traf es sie unvorbereitet, Walter noch schlafend zu finden. Sie riß von einem Stück Tütenpapier, das von einem Einkauf auf dem Tisch liegengeblieben war, eine Ecke ab und schrieb mit ihren großen Buchstaben darauf: »Ich habe bei dem Schläfer Besuch gemacht und erwarte ihn im Wald.«
Als Walter bald darauf erwachte und das leere Bett neben dem seinen gewahrte, entsann er sich dumpf, daß während des Schlafes etwas im Zimmer vor sich gegangen sei, sah nach der Uhr, entdeckte den Zettel und streifte rasch die Nachtbefangenheit ab, denn er hatte sich vorgenommen, an diesem Tag besonders früh aufzustehen und zu arbeiten. Da dies nun aber nicht mehr möglich war, erwies es sich nach einiger Betrachtung auch als richtig, die Arbeit noch hinauszuschieben, und obwohl er sich gezwungen sah, sein Frühstück mühsam selbst zusammenzutragen, stand er bald in bester Laune unter den Strahlen der Vormittagssonne. Er setzte voraus, daß Clarisse in einem Hinterhalt stecken und sich in der Form eines Überfalls melden werde, sobald er den Wald betrete; und er zog die gewöhnliche Straße dahin, einen breiten, erdigen Karrenweg, zu dessen Bewältigung es ungefähr einer halben Stunde bedurfte.
Es war Halbfeiertag, das heißt einer der Tage, die zwar Feiertage sind, aber amtlich nicht dafür gelten, weshalb merkwürdigerweise an ihnen gerade die Ämter und die sich ihnen anschließenden vornehmen Berufe ganz feierten, während die weniger verantwortlichen Leute und Geschäfte den halben Tag arbeiteten. Es hatte zur Folge, daß Walter, einem Privatmann gleich, in einer beinahe privaten Natur spazierengehen durfte, in der außer ihm bloß einige unbeaufsichtigte Hühner herumliefen. Er streckte seinen Hals, ob er nicht am Waldrand oder vielleicht gar noch unterwegs ein farbiges Kleid entdeckte, aber nichts war zu sehen, und obwohl der Weg anfangs schön war, sank mit der steigenden Wärme bald des Wanderers Lust an der Bewegung. Das rasche Gehen erweichte seinen Kragen und die Poren seines Gesichtes, bis sich jenes unangenehme Gefühl feuchter Wärme einstellte, das den menschlichen Körper zu einem Wäschestück erniedrigt. Walter nahm sich vor, sich wieder besser an die Natur zu gewöhnen; räumte sich die Entschuldigung ein, daß er vielleicht bloß zu warm gekleidet sei; ängstigte sich wohl auch darüber, daß ein Unwohlsein in ihm stecken möchte: und seine Gedanken, die anfangs sehr lebendig gewesen waren, wurden auf diese Weise allmählich unzusammenhängend und schwappten schließlich in den Schuhen, indes der Weg nicht enden wollte.
Irgendwann dachte er: »Man denkt wahrscheinlich als sogenannter normaler Mensch kaum weniger unzusammenhängend als ein Wahnsinniger!« und dann fiel ihm ein: »Man sagt übrigens auch: es ist wahnsinnig heiß!« Und er lächelte schwach darüber, dass man offenbar nicht ganz ohne Grund so spreche, da doch beispielsweise die Veränderung, die eine Fieberhitze im Kopf anrichte, wirklich etwas Mittleres zwischen den Symptomen der gewöhnlichen Hitze und denen einer Geistesstörung darstelle. Und so, ohne es völlig ernst zu nehmen, ließ sich vielleicht auch von Clarisse sagen, daß sie immer das gewesen sei, was man einen verrückten Menschen nennt, ohne daß es ein kranker sein müsse. Auf diese Frage hätte Walter gerne die Antwort besessen. Der Bruder und Arzt sagte, es bestünde nicht die mindeste Gefahr. Aber Walter glaubte seit langem zu wissen, daß sich Clarisse bereits jenseits einer gewissen Grenze befinde. Es war ihm manchmal zumute, sie umschwebe ihn bloß noch wie ein Abgeschiedener, von denen doch auch gesagt wird, daß sie sich nicht gleich von dem trennen könnten, was sie geliebt hätten.
Diese Vorstellung war nicht ungeeignet, seinen Stolz zu heben, denn wenig andere Menschen wären solchem – wie er es nun nannte: schaurig schönen – Ringen der Liebe mit dem Ungeheuerlichen gewachsen gewesen! Freilich fühlte er sich manchmal auch zaghaft. Ein plötzlicher Stoß oder Zusammenbruch konnte seine Frau ins völlig Abstoßende und Häßliche entrücken, und das wäre noch das mindeste gewesen, denn wie, wenn sie ihn dann nicht abstieße?! Nein, Walter nahm an, daß sie ihn abstoßen müßte, denn der entartete Geist sei häßlich! Und Clarisse müßte dann wohl auch in eine Anstalt gebracht werden, wofür es an Geld fehlte. All das war sehr niederdrückend. Dennoch hatte er sich manchmal, wenn ihre Seele gleichsam schon vor den Fensterscheiben flatterte, so kühn gefühlt, daß er nicht wissen wollte, ob er sie noch zu sich hereinziehen oder sich lieber zu ihr hinausstürzen solle.
Über solchen Gedanken vergaß er den sonniganstrengenden Weg, unterließ schließlich aber auch zu denken, so daß er wohl lebhaft bewegt verblieb, aber eigentlich ohne Inhalt, oder von schrecklich gewöhnlichen Inhalten erfüllt wur de, die er pathetisch aufnahm; er wanderte wie ein Rhythmus ohne Töne, und als er mit Claris se zusammenstieß, wäre er beinahe über sie gestolpert. Auch sie war zuerst dem breiten Weg gefolgt, und sie hatte am Waldrand eine kleine Einbuchtung gefunden, wo das ausgegossene Sonnenlicht bei jedem Windhauch den Schatten beleckte wie eine Göttin ein Tier. Der Boden stieg dort sacht an, und da sie am Rücken lag, sah sie die Welt in einem wunderlichen Zwickel. Durch irgend eine gestaltliche Verwandtschaft bemächtigte sich dabei ihres Gemüts auch die unheimliche Stimmung wieder, die sich an diesem Tag besonders leicht in ihre Heiterkeit mengte, und sie begann bei diesem lange dauernden Blick in die waagrecht verschrobene Landschaft Trauer zu empfinden, als ob sie ein Leid oder eine Sünde oder ein Schicksal auf sich nehmen sollte. Eine große Verlassenheit, Verfrühtheit und Opfergewärtigkeit war in der Welt, ähnlich wie sie es bei ihrem ersten Ausgang vorgefunden hatte, als ihr der Tag erst »bis an die Knöchel reichte«.
Unwillkürlich suchten ihre Augen die Stelle, wo hinter entfernteren Hängen, und ihr nicht sichtbar, die ausgedehnten Gebäude des Irrenhauses liegen mussten; und als sie sie gefunden zu haben glaubte, beruhigte sie das, wie es den Liebenden beruhigt, die Richtung zu wissen, in der seine Gedanken die Geliebte finden. Ihre Gedanken »flogen« aber nicht hin. »Sie hocken jetzt, ganz stumm geworden, wie große schwarze Vögel neben mir in der Sonne« dachte sie, und das damit verbundene großund schwermütige Gefühl dauerte an, bis Claris se von ferne Walters ansichtig wurde. Da hatte sie plötzlich von ihrem Leid genug, versteckte sich hinter den Bäumen, hielt die Hände wie einen Trichter vor den Mund und rief, so laut sie konnte: »Kuckuck!« Dann richtete sie sich auf und lief weiter ins Innere des Waldes hinein, änderte aber alsbald ihre Absicht von neuem und warf sich in der Nähe des Weges, den Walter benutzen musste, in die warmen Waldkräuter. Dessen Gesicht kam denn auch im Glauben, unbeobachtet zu sein, daher, drückte nichts aus als die leicht bewegte, unbewußte Achtsamkeit auf die Hindernisse des Weges und war dadurch sehr sonderbar, ja, eigentlich männlich entschlossen anzusehen. Als er ahnungslos nahe war, streckte Clarisse den Arm aus und griff nach seinem Fuß, und das war dieser Augenblick, wo Walter fast gefallen wäre und nun, beinahe unter seinem Auge liegend und den Blick lächelnd zu ihm emporgehoben, seine Frau gewahrte, die unerachtet einiger seiner Befürchtungen nicht im mindesten häßlich aussah.
Clarisse lachte, Walter setzte sich neben sie auf einen Baumstumpf und trocknete den Hals mit dem Sacktuch. »Ach du …!« begann er, und dann sagte er erst nach einer Weile: »Ich habe heute eigentlich arbeiten wollen …«
«Wollen!?« spottete Clarisse. Aber es verletzte diesmal nicht. Das Wort schwirrte von ihrer Zunge und mengte sich in das muntere Geschwirre der Waldfliegen, das wie kleine Metallpfeile durch die Sonne und am Ohr vorbeisauste.
Walter erwiderte: »Ich gebe zu, daß ich es in letzter Zeit nicht für richtig gehalten habe zu malen. Es scheint mir eine Einseitigkeit zu sein, wo man ebensogut Klavier spielen, seine Gedanken aufschreiben oder einfach die frischen Blumen riechen könnte. Es geht offenbar gegen die Pflicht zur Vollkommenheit. Ich weiß aber natürlich auch, was man dagegen sagen kann.«
Da er eine kurze Pause machte, warf Clarisse einen kleinen Zapfen, der ihr in die Hand geraten war, mehrmals hoch und fing ihn wieder auf.
»Und ich habe mich überzeugt, daß ich trotzdem im Unrecht war« fuhr Walter fort.
Clarisse ließ den Zapfen zu Boden fallen und fragte lebhaft: »Du wirst also doch wieder zu arbeiten beginnen? Man braucht heute eine Kunst mit so großen Pinselstrichen und Tonsprüngen!« Sie machte eine Armbewegung von einem Meter Spanne.
»Ich brauche ja damit nicht schon im Augenblick anzufangen« wandte Walter ein. »So einfach und schnell ist das Richtige gerade auch nicht zu finden. Und überhaupt,« rief er heftig aus »diese ganze Problematik des Einzelkünstlers! Was soll sie schon! Ich sage dir, ich fühle, daß sie unzeitgemäß ist! Sie wird allmählich von einer Problematik der Gesamtheit verdrängt und überwunden; das fühle ich in den Fingerspitzen, obwohl es die Großköpfe der Kunst noch nicht ahnen!« Kaum hatte er aber das Wort »Problematik« gesprochen, kam ihm das in der Stille des Waldes ganz überreizt vor. Er fügte darum etwas Neues hinzu: »Im Grunde ist es aber überhaupt eine lebenswidrige Forderung, daß ein Mensch etwas, das er liebt, malen soll; im Falle des Landschaftsmalers die Natur!«
»Aber ein Maler malt doch auch seine Geliebte« warf Clarisse ein. »Teils liebt ein Maler, teils malt er.« Walter sah seinen schönen letzten Gedanken zusammenschrumpfen. Er war nicht gelaunt, ihm neuen Atem einzuhauchen; immerhin blieb er überzeugt, daß der Gedanke bedeutend gewesen sei und bloß der aufmerksamen Bearbeitung bedurft hätte. Und Finkenschlag, Klopfen des Spechts, Summen der kleinen Kerbtiere: es zog nicht zur Arbeit, sondern eher hinab in eine unendliche Tiefe der Trägheit.
»Wir sind einander ja doch sehr ähnlich, du und ich,« sagte er genußvoll »wie nicht bald ein zwei tes Paar! Andere malen, musizieren oder schreiben, und ich verweigere es mir: es ist im Grunde ebenso radikal, wie wenn du durchaus das Irrenhaus selbst sehen willst!«
Clarisse drehte sich auf die Seite und stützte den Ellbogen auf. »Ich werde dich schon noch ganz befrein!« sagte sie rasch.
Walter blickte zärtlich zu ihr hinab. »Was meinst du eigentlich, wenn du sagst, daß wir von unserer Sündengestalt erlöst werden müßten?« fragte er sie begierig.
Clarisse antwortete diesmal nicht. Sie hatte den Eindruck, wenn sie jetzt spräche, ginge es zu schnell auf und davon, und obwohl sie die Absicht hatte zu sprechen, fühlte sie sich durch den Wald verwirrt; denn der Wald war auf ihrer Seite, so etwas läßt sich nicht recht ausdrücken, wohl aber deutlich bemerken. Walter bohrte in der süßen Wunde herum.
»Hast du mit Meingast wirklich wieder darüber gesprochen?« fragte er ansinnend, aber doch zögernd, ja geängstigt davon, daß sie es getan haben könnte, obwohl er es ihr verboten hätte.
Clarisse log, denn sie schüttelte den Kopf; aber sie lächelte dazu.
»Kannst du dich noch an die Zeit erinnern, als wir Meingasts ›Sünden‹ auf uns genommen haben?« forschte er weiter. Er nahm ihre Hand. Clarisse ließ ihm aber nur einen Finger. Es ist ein merkwürdiger Zustand, wenn sich ein Mann ebenso widerstrebend wie bereitwillig selbst daran erinnern muß, daß beinahe alles, was seine Geliebte ihm schenkt, schon vorher einem andern gehört hat; es ist vielleicht das Zeichen einer allzustarken Liebe, vielleicht das einer schwächlichen Seele und Walter suchte manchmal geradezu diesen Zustand. Er liebte die fünfzehnbis siebzehnjährige Clarisse, die niemals von ihm ganz und restlos eingenommen war, beinahe mehr als die gegenwärtige, und die Erinnerung an ihre Zärtlichkeiten, die vielleicht der Widerschein von Meingasts Unanständigkeit gewesen waren, erregte ihn eigentümlich tiefer als die im Vergleich damit kühle Unangefochtenheit der Ehe. Es war ihm beinahe angenehm zu wissen, daß Clarisse für Ulrich und vollends nun wieder für den großartig veränderten Meingast gern einen Seitenblick übrig hatte, und die Art, wie diese Männer ungünstig auf ihre Phantasie wirkten, vergrößerte sein Verlangen nach seiner Frau so, wie die Schatten von Ausschweifung und Lust unter einem Auge dieses größer erscheinen lassen. Gewiß, Männer, in denen die Eifersucht nichts anderes neben sich duldet, Vollmänner, werden das nicht erleben, aber seine Eifersucht war voll Liebe, und wenn das so ist, dann wird die Qual so genau, so deutlich, so lebendig, daß sie beinahe eine miterlebte Lust ist. Wenn sich Walter seine Frau in der Hingabe an einen anderen vorstellte, so empfand er stärker, als wenn er sie in seinen eigenen Armen hielt, und er dachte etwas betroffen zu seiner Entschuldigung: »Wenn ich als Maler ein Gesicht mit den feinsten Biegungen seiner Linien sehen soll, so blicke ich es auch nicht unmittelbar, sondern in einem Spiegel an …!« Es stachelte ihn erst recht, daß er sich solchen Gedanken im Wald, in der gesunden Natur hingebe, und die Hände, die Clarissens Finger hielten, begannen zu zittern. Er mußte etwas sagen, aber das, was er dachte, konnte es nicht sein. Etwas gepreßt scherzte er: »Nun willst du also meine Sünden auf dich nehmen, doch wie wirst du das tun?« Er lächelte; aber Clarisse bemerkte, daß sich ein leichtes Zittern auf seinen Lippen ausbreitete. Das paßte ihr jetzt nicht; obwohl es immer zum Lachen wunderbar ist, dieses Bild, wie ein Mann, einen viel zu großen Ballen unnützer Gedanken mitschleppend, jene kleine Pforte durchschreiten will, zu der es ihn hinzieht. Sie setzte sich jetzt vollends auf, sah Walter mit einem spöttisch ernsten Blick an, schüttelte abermals den Kopf und begann nachdenklich: »Glaubst du nicht, daß in der Welt Zeiten der Manie mit Zeiten der Depression wechseln? Drängende, aufgeregte, fruchtbare Aufschwungszeiten, die das Neue bringen, mit Sündenzeiten, mutlosen, niedergeschlagenen, schlechten Jahrhunderten oder Jahrzehnten, Zeiten, in denen sich die Welt ihrer Lichtgestalt nähert, und Zeiten, wo sie in die Sündengestalt sinkt?« Walter sah sie beunruhigt an. »So ist es doch, und ich kann dir bloß nicht die Jahreszahlen sagen« fuhr sie fort und ergänzte: »Der Aufschwung muß nicht schön sein, er muß sogar vieles abschütteln, was immerhin schön sein mag, er kann wie eine Krankheit aussehn: Ich bin überzeugt, daß die Menschheit von Zeit zu Zeit geisteskrank werden muß, um die Synthese zu einer neuen und höheren Gesundheit zu vollziehen!«
Walter wollte nicht verstehen.
Clarisse sprach weiter: »Menschen mit deiner und meiner Empfindlichkeit spüren das! Wir leben jetzt in einer Niedergangszeit und darum kannst du auch nicht arbeiten. Noch dazu gibt es sinnliche Jahrhunderte und Jahrhunderte, die sich von der Sinnlichkeit abwenden. Du mußt dich darauf vorbereiten, daß du leiden wirst …«
Merkwürdig berührte es Walter, daß Clarisse »Ich und Du« sagte. Das hatte sie lange nicht gesagt.
»Und natürlich gibt es Übergangszeiten« trug Clarisse nach. «Und Johannes-Menschen, Vorläufer; vielleicht sind wir zwei Vorläufer.«
Nun antwortete Walter. »Aber nun hast du doch schon deinen Willen gehabt und bist im Irrenhaus gewesen, nun sollten wir eigentlich wieder einer Meinung sein!«
»Du willst sagen, daß ich nicht wieder hingehn soll?« warf Clarisse ein und lächelte.
»Geh nicht wieder hin!« bat Walter. Aber er bat ohne Überzeugungskraft, das fühlte er selbst, seine Bitte sollte ihn bloß decken.
Clarisse gab zur Antwort: »Alle ›Vorläufer‹ klagen über die Unentschiedenheit des Geistes, denn sie haben noch nicht den ganzen Glauben, aber keiner getraut sich, der Unentschiedenheit ein Ende zu bereiten! Auch Meingast traut sich nicht« fügte sie hinzu.
Walter fragte: »Was müßte man sich denn getrauen?«
»Verstehst du, ein Volk kann nicht wahnsinnig sein« sagte Clarisse mit noch leiserer Stimme. »Es gibt nur persönlichen Wahnsinn. Wenn alle wahnsinnig sind, sind sie eben die Gesunden. Ist das nicht richtig? Also ist das Volk der Irren das gesündeste Volk; man muß es nur als Volk behandeln, und nicht als Kranke. Und ich sage dir, die Wahnsinnigen denken mehr als die Gesunden, und sie führen ein entschlossenes Leben, wozu wir niemals den Mut haben! Freilich zwingt man sie, es in einer Sündengestalt zu leben, oder sie können noch nicht anders.«
Walter schluckte und fragte: »Aber was ist Sündengestalt? Du sprichst so oft davon, und eben so oft von Verwandlung, von Sünde-auf-sich-nehmen, von Doppelwesen und vielem anderem, das ich halb verstehe und halb nicht verstehe! Das dreht sich im Kreis!«
»Natürlich dreht es sich im Kreis!« Clarisse lächelte, und es war ihr verlegenes und etwas aufgeregtes Lächeln. »Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen« erwiderte sie. »Die Kranken sind eben Doppelwesen.«
»Nun ja, das hast du schon gesagt. Aber was bedeutet es denn?« Walter bohrte, er wollte wissen, wie sie empfände; ohne Rücksicht auf sie.
Clarisse dachte nach. »Apollo ist in manchen Darstellungen Mann und Frau. Anderseits war der Apollo mit dem Pfeil nicht der Apollo mit der Leier, und die Diana von Ephesus war nicht die von Athen. Die griechischen Götter waren Doppelwesen, und wir haben das verlernt, aber wir sind auch Doppelwesen.«
Nach einer Weile sagte Walter: »Du übertreibst doch. Natürlich ist der Gott, wenn er Männer tötet, ein anderer als wenn er musiziert –«
»Das ist gar nicht natürlich« versetzte ihm Clarisse. »Du wärst der gleiche! Du wärst nur verschieden erregt. Ein wenig bist du auch hier im Wald und dort im Zimmer verschieden, aber du bist kein anderer. Ich könnte sagen, du verwandelst dich niemals vollständig in das, was du tust; aber ich möchte nicht zuviel sagen. Wir haben die Begriffe für diese Vorgänge verloren. Die Alten hatten sie noch, die Griechen, das Volk Nietzsches!«
»Ja,« sagte Walter »vielleicht; vielleicht könnte man ganz anders sein, als wir sind.« Und dann schwieg er. Knickte ein Zweiglein. Sie lagen jetzt beide auf dem Boden, mit den Köpfen einander zugewandt. Schließlich fragte Walter von neuem: »Was für ein Doppelwesen bin ich denn?« Clarisse lachte.
Er nahm seinen Zweig und kitzelte sie am Gesicht.
»Du bist Bock und Adler« sagte sie und lachte wieder.
»Ich bin doch nie ein Bock!« verwahrte sich Walter schmollend.
»Du bist ein Bock mit Adlerflügeln!« ergänzte Clarisse ihre Behauptung.
»Hast du das jetzt im Augenblick erfunden?« fragte Walter.
Es war ihr erst im Augenblick eingefallen, aber sie durfte etwas hinzufügen, was sie schon lange wußte: »Jeder Mensch hat ein Tier, in dem er sein Schicksal erkennen kann. Nietzsche hatte den Adler.«
»Du meinst vielleicht, was man Totem nennt. Weißt du, daß noch bei den Griechen die Götter bestimmte Begleittiere hatten: den Wolf, den Stier, die Gans, den Schwan, den Hund …«
»Siehst du!« sagte Clarisse. »Das habe ich gar nicht gewußt, aber es ist wahr.« Und plötzlich fügte sie hinzu: »Weißt du, daß die Kranken Schweinereien machen? Ebensolche wie damals der Mann, der unter mein Fenster gekommen war!« Und sie erzählte ihm die Geschichte von dem Alten im Krankensaal, der ihr entgegengewinkt und sich dann so unanständig betragen hatte.
»Eine schöne Geschichte, das, und noch dazu vor dem General!« wandte Walter mit Eifer ein. »Du darfst wirklich nicht wieder hingehn!«
»Aber ich bitte dich, der General hat doch bloß Angst vor mir!« verteidigte sich Clarisse.
»Warum sollte er denn Angst haben?!«
»Das weiß ich nicht. Aber du hast ja auch Angst, und Vater hatte Angst, und Meingast hat auch Angst vor mir« sagte Clarisse. »Wahrscheinlich besitze ich eine verdammte Kraft, so daß sich Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung ist, mir anbieten müssen. Und kurz und gut, ich sage dir, die Kranken sind Doppelwesen aus Gott und Bock!«
»Ich habe Angst um dich!« flüsterte Walter mehr, leise und zärtlich, als daß er es sagte.
»Die Kranken sind aber nicht nur Doppelwesen aus Gott und Bock, sondern auch aus Kind und Mann und aus Trauer und Heiterkeit« fuhr Clarisse fort, ohne sich darum zu kümmern.
Walter schüttelte den Kopf. »Alle Männer hängen bei dir mit Bock zusammen!?«
»Gott, das ist schon so.« Clarisse verteidigte es ruhig. »Ich selbst trage doch auch die Figur des Bocks in mir!«
»Die Figur!« höhnte Walter ein wenig, aber unwillkürlich; denn das dauernde Wechseln der Vorstellungen machte ihn müde.
»Das Bild, das Vorbild, den Dämon – nenn es, wie du willst!«
Walter bedurfte einer Rast, er wünschte einen Abschnitt zu machen, er erwiderte: »Übrigens gebe ich zu, daß man in vieler Hinsicht wirklich ein Doppelwesen ist. Die neuere Psychologie –.«
Clarisse unterbrach ihn heftig: »Nicht Psychologie! Ihr alle denkt viel zuviel!«
»Aber du hast doch behauptet, daß die Irren noch mehr denken als wir Gesunde?!« fragte Walter unwillkürlich.
»Dann habe ich es falsch gesagt. Sie denken anders. Energischer!« erwiderte sie und fuhr fort: »Es ist doch überhaupt gleichgültig, was man sich denkt; sobald man handelt, wird es gleichgültig, was man zuvor gedacht hat. Darum finde ich es richtig, nicht mehr zu reden, sondern zu den Irren in ihr Haus zu gehn.«
»Einen Augenblick!« bat Walter. »Welches Doppelwesen ist das deine?«
»Ich bin in erster Linie Mann und Frau.«
»Soeben hast du aber noch Bock gesagt?«
»Auch. Auch! Das läßt sich nicht mit Zirkel und Lineal bestimmen.«
»Nein, so geht das nicht!« stöhnte Walter nun plötzlich auf, bedeckte die Augen mit den Händen und ballte die Hände zu Fäusten. Als er verstummt so liegen blieb, kroch Clarisse an ihn heran, schlang die Arme um seine Schultern und küßte ihn von Zeit zu Zeit.
Walter lag, ohne sich zu rühren.
Clarisse flüsterte und murmelte etwas an seinem Ohr. Sie erklärte ihm, daß ihr vom Bock jener Mann unter das Fenster geschickt worden sei, und daß der Bock die Sinnlichkeit bedeute, die sich allenthalben vom übrigen Menschen getrennt habe. Alle Menschen kriechen abends zueinander ins Bett, und die Welt lassen sie stehn: diese niedere Lösung der großen im Menschen steckenden Lustkräfte müsse endlich einmal verhindert werden, dann wachse der Bock zum Gott! So hörte Walter sie reden. Und hatte sie denn nicht recht? Wie kam es doch, daß es ihm Freude bereitete? Wie kam es, daß ihm schon lange nichts anderes Freude bereitet hatte? Die Bilder nicht, die er früher bewundert hatte; die Meister der Musik, die er geliebt hatte, nicht; die großen Verse nicht, und nicht die mächtigen Gedanken? Und daß es ihm nun Freude bereitete, Clarisse zuzuhören, wenn sie etwas erzählte, daß jeder andere für Einbildungen hielte? So fragte sich Walter. Solange sein Leben vor ihm gelegen war, hatte er es voll großer Lust und Phantasie empfunden; seither hatte sich wahrhaftig der Eros davon getrennt. Tat er noch etwas mit ganzer Seele? War nicht alles, was er berührte, unwesentlich? Wahrhaftig, von seinen Fingerspitzen, seiner Zungenspitze, seinen Eingeweiden, Augen und Ohren hatte sich die Liebe getrennt, und was übrigblieb, war bloß Asche in Lebensform oder, wie er es nun etwas großartig ausdrückte, »Jauche in geschliffenem Glas«, war der »Bock«! Und neben ihm, an seinem Ohr, war Clarisse: ein kleiner Vogel, der plötzlich im Wald das zu weissagen begonnen hatte! Er brachte den suggestiven, den Befehlston nicht auf, ihr vorzuhalten, wo sie in ihren Ideen zu weit gehe und wo nicht. Sie war voll durcheinander geschüttelter Bilder; und so voller Bilder wäre auch er einst gewesen, redete er sich ein. Und auch von diesen großen Bildern weiß man doch nicht, welche sich verwirklichen lassen werden und welche nicht. Jeder Mensch trage also eine Lichtgestalt in sich, behauptete jetzt Clarisse, die meisten beschieden sich aber, in der Sündengestalt zu leben, und Walter fand, daß man von ihm wohl sagen könne, er trage eine Lichtgestalt in sich, obwohl er, vielleicht sogar selbstbüßerisch, jedenfalls freiwillig, in Asche lebe. Auch eine Lichtgestalt der Welt gibt es. Er fand dieses Bild großartig. Zwar erklärte es nichts, aber wozu erklären?! Der aus allen Niederlagen immer wieder aufstrebende Hochwille der Menschheit drückte sich eben darin aus. Und jetzt erst fiel Walter mit einemmal auf, daß ihn Clarisse mindestens ein Jahr lang nicht freiwillig geküßt hatte und es jetzt zum ersten Male täte.


Hermaphrodit


Der blaue Schirm des Himmels spannte sich über den grünen Schirm der Kiefern; der grüne Schirm der Kiefern spannte sich über die roten Korallenstämme; am Fuß eines Korallenstamms saß Clarisse und spürte an ihrem Rücken die großen, gürteltierartigen Schuppen der Rinde. Meingast stand seitlich von ihr in der Wiese. Der Wind spielte um seine Magerkeit wie um die Gitter eines stählernen Turms; Clarisse dachte: wenn man das Ohr hinhalten dürfte, müßte man seine Gelenke singen hören. Ihr Herz fühlte: »Ich bin sein jüngerer Bruder.«
Wenn der Wind vom Haus her stand, trug er Klavierspiel herüber: Immerhin ist dieser Fall, daß ein Mensch für nichts zu leben beginnt und als der Apostel einer, wenn auch kleinen, so doch von ihm selbst hervorgerufenen Bewegung endet, der seltenere. Viel häufiger geschieht es, daß ein Mensch anfangs ein Genie werden will und später für irgend etwas mit großer Zufriedenheit lebt, das wesentlich bescheidener ist. In dieser Lage befand sich Walter.
Wenn Walter – denn er fühlte doch irgendetwas sich entgleiten – sich prüfte, um das sonderbare Gefühl wieder zu erwecken, das er früher oft empfand, als er noch an seine Sendung glaubte, so war es keine Leistung, auf deren Gewißheit es sich bezog, sondern ein Zustand für sich, ein Leuchten, Schwingen und Spannen. Genie ist eine besondere Form von Glück mit doppelt großem I im Ich, welchen sich die Jugend vorstellt. Walter glaubte sich zu erinnern, daß ihm damals beinahe ohne Pausen neue Gedanken einfielen und so heftig ergriffen, daß er sich ganz umgestaltet fühlte; und zugleich schwang jeder die Welt herum wie eine Drehbühne, so daß sie, zitterndes Geheimnis des Entdeckers und Schöpfers, als seine Kulisse um ihn stand, von den magischen Flammen der geistigen Anstrengung bestrahlt. Man kommt aber im Lauf des Lebens – namentlich wenn man so scharf wie Walter den Unfug sieht, der getrieben wird – darauf, daß nur durch besondre Umstände besondre Leistungen entstehn; und dann aber auch unter besondren Umständen eben nicht entstehn, wie es Walters Fall war, den die Verkommenheit dessen, was für Genie gilt, hinderte, eins zu werden. Aber wenn er sich immer fester in seinen neuen Anschauungen werden fühlte, so fühlte er sich doch auch immer starrer und lebloser werden, und es war ein qualvoller Kampf wie gegen den von den Füßen aufsteigenden Tod.
Die Kämpfe mit Walter, diese versuchten Umarmungen, aus denen sie sich fortstemmen mußte – herausmeißeln, nannte sie es –, obgleich sie selbst nicht aus Stein bestand, hatten eine Erregung in ihr hinterlassen, die zuweilen wie ein Rudel Wölfe über ihre Haut jagte, im Nu, sie wußte nicht, wo es ausgebrochen war und wohin es verschwand. Wie sie aber dasaß, die Knie hochgezogen, Meingast zuhörte, der von den Männerbünden sprach, und die Höschen unter dem dünnen Kleid straff wie Knabenhosen an ihren Schenkeln lagen, fühlte sie sich beruhigt.
»Ein Männerbund« sagte Meingast »ist die Liebe in Waffen, die man heute nirgends mehr findet. Man kennt heute nur die Weiberliebe. Ein Männerbund fordert Treue, Gehorsam, Einstehn eines für alle und aller für einen: Man hat heute aus den Männertugenden das Zerrbild einer allgemeinen Wehrpflicht gemacht, aber bei den Griechen waren sie noch lebendiger Eros. Die männliche Erotik ist nicht auf das Geschlecht beschränkt; ihre ursprüngliche Form ist Krieg, Bund, vereinte Kraft. Überwindung des Todesschrecks …!« Er stand und sprach in die Luft. Es ist ein großes Gefühl, ein Stein, von der Seele gewälzt, eine unvergleichliche Befreiung, wenn man seine Genossen als Brüder fühlt, bereit ist, auch das Leben für sie aufzuopfern. Das ist eine Urtatsache der Seele, eine heidnische Urtiefe, die der christliche Opferbegriff verseichtet hat: in dem Augenblick, wo man sein und seiner Freunde Leben hingibt, und im Angesicht des Todes lebt, wird eine ungeheure Angst von der Seele genommen: die Angst vor dem Tode, die man nicht gewußt, sondern nur stumm geahnt hat. Clarisse war natürlich begeistert. Denn dieser heidnischmännliche Opferbegriff schien ihr der ihre zu sein und bestätigte ihre heidnisch männliche Natur.
»Wenn ein Mann eine Frau liebt, tritt er in seine Sündengestalt ein« ergänzte es Clarisse überzeugt.
»Sag, darf man überhaupt in einer Zeit wie heute ein Kind wünschen?!«
»Ach was, Kind!« wehrte Meingast ab. »Übrigens ja; nur Kinder! Du sollst dir ein Kind wünschen. Dieser Bourgeoisie-Eros, den man heute einzig und allein kennt, hat mit einem Kind die einzige Möglichkeit, zu Leiden und Opfern zu führen. Überhaupt ist Gebären noch eine der wenigen großen Angelegenheiten. Eine gewisse Rehabilitation.«
Clarisse schüttelte langsam den Kopf. Sie sagten sich in der letzten Zeit wieder Du und hatten die alte Freundschaft erinnert, aber nicht in der sinnlichen Form von damals. »Wenn es doch ein Kind von dir wäre!« sagte Clarisse lächelnd. »Aber Walter taugt nicht dazu.«
»Ich?! Das ist mir ja ganz neu. Ich reise übrigens in wenigen Tagen in die Schweiz zurück. Ich bin mit meinem Buch fertig.«
»Ich komme mit Dir« sagte Clarisse.
»Das ist ausgeschlossen! Meine Freunde erwarten mich. Es gibt Schwieriges zu tun. Wir laufen sogar mancherlei Gefahren und müssen zusammenhalten wie eine Phalanx.« Meingast sagte es mit einem nach innen gerichteten Lächeln. Das ist keine Sache für Frauen!«
»Ich bin keine Frau!« rief Clarisse aus. Der Philosoph lächelte.
Clarisse stand auf und trat zu ihm hin. »Du glaubst, daß ich nur eine Frau bin!« sagte sie vorwurfsvoll.
»Was soll ich sonst glauben?« verteidigte sich Meingast. »Hast du doch eben sogar gesagt, daß du dir ein Kind wünschest!?«
Clarisse schüttelte traurig den Kopf. »So wenig kennst selbst du mich! Das war natürlich nur ein Irrtum, eine augenblickliche Schwäche von mir. Ich bin auch zu Walter nicht die Frau, zu niemandem! Ich vergehe nicht in der Umarmung, in der blöden Weiberzerschmelzung, sondern im Kampf! Ist dir dieser Gedanke wahrhaftig noch nie gekommen?« Welche Bestätigung wäre es gewesen, wenn Walter gerade jetzt das Walküremotiv gespielt hätte; aber es sprang das Siegfrieds herüber.
»Die Liebe kann in verschiedenen Beziehungen offenbar werden« erwiderte der Philosoph gelassen und teils philosophisch, teils diplomatisch: »Sie kann sich in der Beziehung des Weibes zum Gatten offenbaren, aber auch in der Beziehung Diener zu Herr, Kind zu Eltern, Seele zu Gott, Freund zu Freund…«
»Namentlich Freund zu Freund!« versetzte Clarisse sehr entschlossen.
Meingast sah sie zweifelnd an.
»Meingast, Meingast, warum verleugnest du dich vor mir?!« rief Clarisse ebenso steif und etwas künstlich aus, wie sie den Text formte, aber sie lächelte dazu, als bemerkte sie das. »Ich bin dir ja und deinem Männerbund schon zuvorgekommen!«
»Ich weiß nicht, was du meinst« sagte Meingast abweisend.
»Du weißt nicht?« versetzte Clarisse spöttisch, als hätte er einen guten Scherz gemacht. Sie kam wieder darauf zu sprechen: »Hörst du ihn? Hörst du, wie er wimmert und klagt? Das ist alles ganz privat bei ihm. Aber er fühlt, daß es öffentlich sein müßte. Ich kann von dem Haus fortgehen, so weit ich will, ich höre ihn immer klagen. Und weil er klagt, will er ein Kind von mir. Das ist immer so. Auch die Frauen bringen viel leichter Kinder als Lichtgestalten hervor; die Frauen suchen die Lichtgestalt zu gebären, in ihren Babys.«
Clarisse hatte sich wieder gesetzt. Der Prophet stand jetzt an einem Baum. Er nickte, und es wäre schwer zu sagen gewesen, ob es geschähe, weil er einverstanden sei oder weil er nicht zuhöre.
»Aber alles das ist privat, davon will ich gar nicht sprechen. Du weißt, daß ich etwas anderes meine« fuhr Clarisse fort. »Du hast dich doch schon zweimal verwandelt. Aber weißt du auch, daß wir es damals gewesen sind, wie du in die Schweiz gegangen bist und dich zum Führer verwandelt hast, die deine Sünden auf sich genommen haben? Frag Walter. Vielleicht ist deine Sündengestalt zu schwer für ihn; seitdem leiden wir daran –«
»Aber es ist doch unsinnig, was du jetzt erzählst,« wandte Meingast ein »was soll man sich dabei denken!«
»Ist ja auch gleichgültig« sagte Clarisse mit einem überlegenen und heiteren Lächeln. »Aber alles Persönliche ist gleichgültig, führt ins Enge.« Und dann, plötzlich: »Schau einen Schmetterling an, wenn er tot zur Erde fällt und ein häßlicher Wurm mit reglosen Flügeln wird, wie er vor seiner Schmetterlingszeit ein Wurm ohne Flügel war. Das ist Sünden- und Lichtgestalt.« Und dann wieder: »Ist aber auch gleichgültig. Du weißt es ohnehin, und wir wollen doch nicht über das Private sprechen. Alles Persönliche führt nur ins Enge. Ich weiß, daß du die Revolte der Lichtgestalt der Welt vorbereitest!«
»Was willst du davon wissen!« erwiderte Meingast abweisend.
»Oh, mein Lieber, mehr als du ahnst! Ich bereite sie auch vor!«
»Sprich!« verlangte der Meister.
»Ich werde zuerst den Zimmermann befrein.« Meingast erinnerte sich kaum noch an den »Zimmermann«, aber Clarisse befand sich in einer Stimmung, gegen die Enttäuschungen nicht aufkamen. Sie zog irgendwo aus ihrem Kleid eine kleine Zeitschrift und zwang Meingast zu lesen. Die Zeitschrift hieß »Schrei des Erwachens« und darin war die Erklärung zu lesen: »Vollsinnige Würgerklaue will sinnberaubten Totschläger morden. Brustschrei zerreiße sogenanntes Recht! Toter Abel stand auf, Kain des Herrn Gerechtigkeit zu entreißen. Brustschrei aller in Erbsünde Verdammten erhebe sich wider die Überhebung erbsündigen Geschlechts gegen einen Bruder! Die Unterzeichneten legen feierlichste Verwahrung gegen die gesetzliche Tötung des Mädchenmörders ein. Blutbeladen, aber schuldlos steht er vor ihnen, jüngerer Bruder Gottes, der das anvertraute Gefäß fallen gelassen hat.« Das war damals der Stil der Avantgarde. »Wertlos!« sagte der Meister. Clarisse kicherte und wies auf einen Nachsatz hinter den unbekannten Namen berühmter junger Männer, die den Aufruf gezeichnet hatten; er lautete: »An diesem Pranger stehen die Unterschriften derer, die hier fehlen« und vor ihm war weißer Raum ausgespart. »Das geht auf Ulrich!« erläuterte Clarisse vergnügt.
Jener niedergeschlagene Beschluß, daß man niemand für fremde Ideen sterben lassen dürfe und für seine eigenen jeder sterben solle, ein Beschluß, der vor nicht langer Zeit gegen den Willen Diotimas in ihrem Hause zustande gekommen war und das Entsetzen des Generals Stumm erregt hatte, hatte außerhalb, wie es schon geht, allerhand Gegenbeschlüsse nach sich gezogen, und darunter diesen; Clarisse aber kannte irgendwie ebensowohl die Gruppe »erwachender« junger Menschen als sie auch von den Herrn Feuermaul und Hans Sepp wußte, und von Ulrich war gefordert worden, daß er beide Proteste unterschreibe, was er beidemal verweigerte. »Sie haben nun geschrieben, daß er ein ›Geistfeigling‹ ist« erläuterte Clarisse und lachte.
»Und was soll das mir?!« fragte Meingast. Clarisse wurde ernst und erwiderte: »Die Vaterländische Aktion will die Lichtgestalt der Welt hervorbringen. Du siehst, daß sie auf Moosbrugger gekommen ist.«
»Und auch ich soll –? Ich soll die Lichtgestalt der Welt hervorbringen wollen? Aber das ist doch Unsinn, meine Liebe!«
»Man muß mit irgendeiner Idee ernstmachen, das zieht alles andere nach sich!«
»Ja, ja; gut.«
»Das hast du selbst gesagt.«
»Gut, ich habe es selbst gesagt. Aber –«
»Kein ›Aber‹!« unterbrach sie ihn. »Wenn man die Lichtgestalt der Welt hervorbringen will, muß man die Irren ins Volk lassen.«
»Grenzenloser Unsinn!« tadelte Meingast angeödet.
»Man muß etwas tun, damit die Welt wieder irrsinnig wird: es sind beinahe deine eigenen Worte!«
»Nicht, dass ich wüßte; da hast du etwas mißverstanden.«
»Also auch das hast du nicht gesagt?« fragte Clarisse und lächelte.
»Und du solltest dich mehr auf deine Pflichten als Frau konzentrieren« fügte Meingast hinzu. Damit ging er langsam, mit seinen hochgehobenen Schritten durch die Wiesen auf dem kürzesten Wege dem Haus zu. Clarisse lief ihm nicht nach und ließ kein Wort ihm nachlaufen. Sie wußte, er reist ab. Sie wollte warten, ihm den Abschied ersparen. Sie war sicher, daß er Zeit brauchte, mit ihrem Vorschlag fertig zu werden, und daß sie bald ein Brief rufen würde. Ihre Lippen murmelten noch Worte, wie zwei kleine Geschwister, die ein erregendes Ereignis besprechen; sie verwies es ihnen und verschloß sie.


Vergewaltigung


Sie traf Walter im »Atelier« an; kahler, fröstelnder Raum. Er war halb angezogen und hatte einen Schlafrock darüber. Die Pinsel waren trocken, er saß vor Entwürfen. Eigentlich hätte er aber schon im Amt sein sollen.
Er war gereizt davon, daß Meingast ohne Abschied abgereist und Clarisse geheimnisvoll aufgeregt war. Schon in der Tür rief ihm Clarisse zu: »Komm, komm! Wir gehen zu Dr. Friedenthal und bitten ihn, daß er uns Moosbrugger zur Pflege überläßt.«
Walter konnte den Kopf nicht von ihr abwenden und sah sie an.
»Frag nicht!« befahl Clarisse. Konnte Walter in diesem Augenblick noch daran zweifeln, daß ihr Geist verstört sei? Die Antwort darauf wird immer sehr von den Umständen abhängig sein. Clarisse sah heftig und schön aus. In ihren Augen lebte ein Feuer, das gerade so aussah wie das Feuer eines gesunden Willens. Und so gewann in Walter Raum, was ihr Bruder Siegmund über sie gesagt und erst vor kurzem wiederholt hatte, als ihn Walter abermals befragte. Siegmund hatte gesagt: »Sie ist übernervös, du mußt sie einmal kräftig anfassen.« Vorderhand faßte aber Clarisse kräftig zu: Sie hüpfte unausgesetzt um Walter herum und wiederholte: »Komm, komm, komm! Laß dich nicht so bitten!« Die Worte schienen Walter ums Ohr zu fliegen, sie verwirrten ihn. Man hätte sagen können, er lege die Ohren zurück und stemme die Füße in den Boden, wie es ein Pferd, ein Esel, ein Kalb tut, mit dem Eigensinn, der die Willensstärke eines schwachen Geschöpfs ist: aber ihm stellte es sich in der Form dar: du wirst ihr jetzt den Herrn zeigen!
»Komm erst mit« sagte Clarisse. »Dann wirst du schon merken warum!«
»Nein« rief Walter aus. »Du wirst mir jetzt sofort sagen, was du vorhast!«
»Was ich vorhabe? Ich habe etwas Unheimliches vor.« Sie hatte inzwischen begonnen, was sie zum Ausgehen brauchte, im Nebenzimmer zusammenzutragen, nun zog sie die Gartenschuhe aus, hielt sie einen Augenblick in der Hand und schleuderte sie nun mit plötzlichem Schwung zwischen die Farb- und Pinseltöpfe ihres Gatten. Etwas stürzte um, etwas rollte, etwas klirrte. Clarisse beobachtete die Wirkung auf Walter und brach in Lachen aus. Walter bekam einen roten Kopf; er hatte nicht Lust, sie zu schlagen, aber er schämte sich dessen, daß er diese Lust nicht habe. Clarisse lachte weiter und sagte: »Da hockst du nun Jahr und Tag bei diesen Töpfen und bringst nichts hervor. Ich werde dir zeigen, wie man es macht. Ich habe dir gesagt, daß ich dein Genie hervorholen werde. Ich werde dich unruhig, unduldsam, gewagt machen!« Und plötzlich war sie aber ruhig und sagte ernst: »Es ist unheimlich, sich den Irren gleichzustellen, aber es ist die Entscheidung zum Genialen! Glaubst du denn, daß wir so wie bisher zu etwas kommen werden? Zwischen diesen Töpfen, die alle so brav rund sind, und Bilderrahmen, die brav rechteckig sind? Und mit Musik nach dem Abendbrot! Warum sind denn alle Götter und Gottähnlichen antisozial gewesen?«
»Antisozial?« fragte Walter erstaunt.
»Wenn du genau sein mußt: Unverbrecherisch antisozial. Denn Mörder oder Diebe waren sie ja nicht. Aber Demut, freiwillige Armut und Keuschheit sind auch ein Ausdruck antisozialer Gesinnung. Und wie hätten sie sonst die Menschen lehren können, wie die Welt zu verbessern wäre, für ihre Person aber die Welt verneint?!«
Nun war es um Walter aber so bestellt, daß er trotz seines anfänglichen Staunens fähig war, diese Behauptung richtig zu finden. Sie erinnerte ihn an die Frage »Kannst du dir Jesus als Bergwerksdirektor vorstellen?«, eine Frage, die so einfach und natürlich mit einem Nein zu beantworten gewesen wäre, hätte sich nicht für Bergwerksdirektor auch Beamter des Denkmalamtes setzen lassen und fühlte man sich nicht dabei von einem lächerlich heißen Ehrgeizfunken durchzuckt. Offenbar bestand nicht nur ein Widerspruch, sondern eine tiefere, eine zwei Weltsysteme trennende Unverträglichkeit zwischen der Pflege des Bürgerlichen und der des Göttlichen, aber Walter, unerachtet seiner schon längst vollzogenen Hinneigung zum Bürgerlichen, wollte beides oder wollte, was noch schlimmer ist, auf keines verzichten, und Clarisse besaß das, was er einmal schon als »Gott anrufen« empfunden hatte, die Entschlossenheit der Entscheidung, die auf nichts Rücksicht nimmt. So kam es, daß er sich, nachdem sie gesprochen hatte, gerade so fühlte, wie sie es gesagt hatte, als wäre er in das Leben, das er sich schuf, bis zu den Knien eingeklemmt wie in einen gespaltenen Holzblock, während sie vor ihm als das Unruhige, Unduldsame, Gewagte und mit ihm Experimentierende gaukelte. Der Vielbegabte, der er war, wußte, daß das Geniale nicht so sehr in der Begabung liege als in den Willenskräften. Dem Erstarrenden, als den er sich ahnend begriff, erschien es verwandt mit dem Gärenden, dem Unausgegorenen, ja selbst mit dem bloßen Schaum. Er erkannte in ihr neidvoll das Unwahrscheinliche, die um den Mittelwert zuckende Variation der Art, das Geschöpf, das am Rand der Menge halb ihr voran mitgeht und halb verloren, wie es im Begriff des Genialen liegt. Clarisse war der einzige Mensch, an dem er dieses liebte, der ihn damit noch verband, und weil ihre Verbindung mit dem Genialen eine krankhafte war, war seine Angst um sie auch eine Angst um sich. So entstand aus der Zustimmung zu den Worten, mit denen sie ihn überredete und ihre Absicht begründete, und aus dem Reiz des Gefallens, den sie auf ihn ausübte, auf scheinbar natürliche Weise und ohne Bewußtsein des Widerspruchs der Wunsch, nicht auf sie zu hören, ja ihr »den Mann« zu zeigen, wie Siegmund, der Bruder und Arzt, es ihm geraten hatte.
So sagte Walter nach einer kurzen Pause ziemlich rauh: »Jetzt aber sei vernünftig, Clarisse, laß das Gerede und komm her!« Clarisse hatte sich inzwischen ihrer Kleider entledigt und war eben dabei, sich ein kaltes Bad zu bereiten. Sie sah in ihren kurzen Höschen und mit den mageren Armen wie ein Knabe aus. Sie fühlte die faule Wärme von Walters Körper nahe hinter sich und verstand sofort, worauf er aus war. Sie wandte sich um und setzte ihm die Hand vor die Brust. Aber Walter griff nach ihr. Er umklammerte mit der einen Hand ihren Arm und suchte sie mit der anderen am Kreuz zu umfassen und an sich zu ziehen. Clarisse riß an der Umklammerung, und als das nichts half, stemmte sie ihre freie Hand in Walters Gesicht, vor Nase und Mund. Er wurde rot im Gesicht, und das Blut zitterte in den Augen, während er mit Clarisse rang und sie nicht merken lassen wollte, daß ihm ihr Griff weh tat. Und als ihn die Atemnot zu betäuben drohte, mußte er ihre Hand aus seinem Gesicht schlagen. Blitzschnell fuhr sie wieder hin, und diesmal rissen die Nägel zwei blutende Furchen in seine Haut. Clarisse war frei.
So standen sie nun einander gegenüber. Keiner von beiden wollte sprechen. Clarisse erschrak über ihre Roheit, aber sie war außer sich. Ein Zugriff von oben hatte sie außer sich gerissen; sie war ganz nach außen gewendet, ein Busch voll Dornen. Sie befand sich in Ekstase. Keiner der Gedanken, die sie wochenlang beschäftigt hatten, fand sich jetzt in ihr vor, sie hatte sogar das Nächste vergessen, und das, was sie wollte. Ihre ganze Person war weg, mit Ausnahme dessen, was sie zur Abwehr brauchte. Sie fühlte sich ungeheuer stark. In diesem Augenblick haschte Walter von neuem nach ihr. Diesmal mit ganzer Kraft. Er war zornig geworden und fürchtete auf der ganzen Welt nichts so sehr, als wieder vernünftig zu werden. Clarisse schlug nach ihm. Sie war sogleich wieder bereit, aufs neue zu kratzen, zu beißen, ihm das Knie in den Bauch, den Ellbogen in den Mund zu stemmen, und es waltete nicht einmal Zorn oder Abneigung dabei vor, geschweige denn eine Überlegung, eher hatte sie ihn bei diesem Kampf in einer wilden Weise lieb, obwohl sie sich imstande fühlte, ihn zu töten. Sie hätte in seinem Blut baden mögen. Sie tat es mit ihren Nägeln und mit den kurzen Blicken, die entgeistert seinen Anstrengungen und den kleinen roten Rinnsalen folgten, die dabei in seinem Gesicht und auf seinen Händen aufsprangen. Walter schimpfte. Er beschimpfte sie. Gemeine Worte kamen aus seinem Mund, die mit seinem gewöhnlichen Wesen gar nichts zu tun hatten. Ihre lautere, unverdünnte Männlichkeit roch wie Branntwein, und es zeigte sich das Bedürfnis nach gemeinen, beleidigenden Reden plötzlich als ebenso ursprünglich wie das nach Zärtlichkeit. Wahrscheinlich kam darin nichts als eine Mißgunst gegen allen geistigen Ehrgeiz hervor, der ihn Jahrzehnte lang gequält und gedemütigt hatte und sich zuletzt in Clarisse nun noch einmal wider ihn aufrichtete. Natürlich hatte er keine Zeit, daran zu denken. Aber er fühlte doch deutlich, daß er nicht bloß deshalb im Begriff stand, ihren Willen zu brechen, weil Siegmund es so geraten hatte, sondern daß er es auch wegen des Brechens und Knickens tat. Auf irgendeine Weise kamen ihm die lächerlich schönen Bewegungen eines Flamingos in den Sinn. »Es wird sich schon zeigen, was davon übrig bleibt, wenn ihn ein Bulldozz erwischt!« dachte er vom Flamingogeist, aber halblaut stieß er zwischen den Zähnen »Dumme Gans!« hervor.
Und auch Clarisse war nur von dem Gedanken beseelt: »Er darf nicht seinen Willen haben!« Sie fühlte ihre Kräfte noch immer wachsen. Ihre Kleidung zerriß, Walter griff in die Fetzen, sie pack te den Hals an, den sie vor sich hatte. Halbnackt, schlüpfrig wie ein zappelnder Fisch kämpfte sie in den Armen ihres Gatten. Walter, dessen Kraft nicht ausreichte, sie ruhig zu überwältigen, schleuderte sie hin und her und suchte ihre Angriffe schmerzhaft zu blocken. Sie hatte den Schuh verloren und trat mit dem nackten Fuß nach ihm. Sie kam zu Fall. Sie hatten das Ziel ihres Kampfes und seinen geschlechtlichen Ursprung beide scheinbar vergessen und kämpften nur, um ihren Willen durchzusetzen. In dieser höchsten, krampfartigen Zusammennahme ihrer Person verschwanden sie eigentlich. Ihre Wahrnehmungen und Gedanken nahmen allmählich eine völlig unbestimmbare Beschaffenheit an wie in blendendem Licht. Sie empfanden fast Verwunderung darüber, daß ihre Personen noch vorhanden waren.
Namentlich Clarisse war in ein solches Fie ber geraten, daß sie sich gegen die ihr zugefügten Schmerzen unempfindlich fühlte, und wenn sie wieder zu sich kam, berauschte sie das durch die Überzeugung, die gleichen Geister, die sie in letzter Zeit erleuchtet hätten, stünden ihr nun bei ihrer Aufgabe bei und kämpften auf ihrer Seite. Mehr entsetzte es sie, als sie aber mit der Zeit bemerken mußte, daß sie ermüdete. Walter war stärker und schwerer als sie; ihre Muskeln wurden taub und locker. Es kamen Pausen, wo sie von seinem Gewicht an die Erde gedrückt wurde und sich nicht wehren konnte, und die Abfolgen von Abwehrbewegungen und rücksichtslosen Angriffen gegen empfindliche Körper- und Gesichtsstellen, in denen sie sich Luft schaffte, wurden immer öfter von Ohnmacht und erstickendem Herzklopfen abgelöst. So trat das ein, was Walter erwartet hatte: die Natur siegte, Clarissens Körper ließ ihren Geist im Stich und verteidigte nicht mehr seinen Willen. Ihr kam das vor, als hörte sie in sich die Hahnenschreie am Ölberg: ungeheuerlich, Gott verließ ihre Welt, es bereitete sich etwas vor, das sie nicht absehen konnte. Und Walter schämte sich zuweilen schon. Wie ein Lichtstrahl traf ihn dann die Reue. Es kam ihm auch vor, daß Clarisse gräßlich verzerrt aussehe. Aber er hatte schon so viel gewagt, daß er nicht mehr ablassen wollte. Er benützte die Ausrede, daß die Brutalität, die er begehe, sein Recht als Gatte sei, um sich weiter zu betäuben. Plötzlich schrie Clarisse. Sie bemühte sich, einen langen, schrillen, eintönigen Schrei auszustoßen, als sie ihren Willen entweichen sah, und bei dieser letzten, verzweifelten Abwehr lag ihr im Sinn, sie könnte vielleicht mit diesem Schrei und dem Rest ihres Willens selbst ihrem Körper entfahren. Aber sie hatte nicht mehr viel Atem; der Schrei dauerte nicht lange und niemand wurde von ihm herbeigezogen. Sie war alleingelassen. Walter war über den Schrei erschrocken, verschärfte dann aber zornig seine Bemühungen. Sie fühlte nichts. Sie verachtete ihn. Schließlich verfiel sie noch auf ein Auskunftsmittel: sie zählte so schnell und so laut sie konnte »Eins, zwei, drei, vier, fünf. Eins, zwei, drei, vier, fünf«, immer wieder. Es war Walter schrecklich. Aber es hielt ihn nicht auf. Und als sie sich verstört aufrichteten, sagte sie: »Warte, ich werde mich rächen!«


Besuch


Walter erschrak, und in dem Augenblick, wo das wochen-, monate-, ja jahrelang Erwartete geschehen war, schlug die Beschämung über ihn zusammen. Die Nichtigkeit alles Wollens. Wertlosigkeit alles Strebens. Er war gutartig. Abgesehn von seinen geistigen Ressentiments mochte er niemand etwas Böses tun. Seine Roheit brachte ihn zur Verzweiflung und alles, was ihn zu ihr veranlaßt hatte, war in nichts zusammengesunken.
Clarisse hatte nach dem Auftritt mit ihrem Mann sich am ganzen Körper gewaschen und war ans Fenster getreten. Die blaue Linie des Waldrandes zog sie an; sie wollte sich verkriechen. Aber während sie so im Sonnenschein stand und ihre Haut in seiner Wärme dampfte, fühlte sie das Blinkende, Glitzernde, Tropfensprühende des weißen Wassers um sich wie einen Stachelpanzer mit auswärts gerichteten Spitzen. Eine äußerste Gereiztheit des Reinlichkeitsbedürfnisses verfolgte sie, und sie faßte plötzlich einen Entschluß. Sie wollte nicht warten, bis man ihr die Erlaubnis brächte, sondern gleich und allein die Klinik aufsuchen. Sie zog sich schön und sorgfältig an, mit Staatskleid und Seidenwäsche, und begab sich ins Freie, wo sie sich aber nicht entschließen konnte, den nächsten Weg einzuschlagen, der zur Straßenbahn führte, sondern auf den Wald zuging, dessen Rand sie in der Richtung des Stadtteils führen mußte, wo das Irrenhaus lag.
Als sie diesen Waldrand erreicht hatte und sich umblickte, sah sie geradewegs in die kleinen, dunklen, wie Nasenlöcher offenen Fenster ihres Hauses, und vieles war damit schon vorbei. Kräuterduft brannte in der Vormittagssonne; Gewächse kitzelten sie. Das Stechende, Harte, Heiße, Rücksichtslose der Natur tat ihr wohl. Sie fühlte sich der Enge des persönlichen Verhältnisses entrückt. Sie konnte denken. Denken ist großmütig! Nach der ihr zugefügten Demütigung schnellte sie auf, schier ohne Ende. Ihr Wille entfuhr in dem Schrei. Also mußte sie einen neuen Willen suchen. Sie ist nicht Privatperson; sie kann so wenig verzeihen wie ein Kaiser, der die Verantwortung für ein Reich trägt: mit Walters Bitte um Verzeihung ist es also nicht getan, ihr Selbstbewußtsein braucht diesen positiveren Ausweg. Es war ihr klar, daß Walter durch ihre Anziehung zugrunde gerichtet wird, tiefer konnte er kaum noch sinken, und es ist an ihr, das Opfer zu bringen. Was ist das: das Opfer?
Merkwürdigerweise sah sie bei diesem Wort wieder die Vorstellung vor sich, wie sie über die Mauer steigen und dann zwischen den weit auseinander stehenden düsteren Bäumen des Irrenhausgartens vorwärts schreiten werde, und so oft sie sich diesen Vorgang ausmalte, endete er grauenhafterweise damit, daß sie einem Irren in die Arme lief. Gegen diesen Ablauf ihrer Vorstellungen war scheinbar nichts zu unternehmen; es fragte sich aber, was sich aus ihm lernen ließe, und nicht lange, da hatte Clarisse einen weiter weisenden Gedanken: Gleiches wird von Gleichem angezogen. Das ist ein uralter Gedanke, älter als die Alchimie, und Gott allein weiß, woher sie ihn hatte; vielleicht aus der Zeitschrift Der Wiener Frauen Bazar, die sie manchmal las, oder aus dem Schrei des Erwachens; jedenfalls erklärte dieser Gedanke alles. Geh und wandere! dachte Clarisse. In einer geheimnisvollen Weise begann Clarisse zu verstehen; aber gleichzeitig mit dem Erkennen, daß sie die Seele eines Bockes in sich trage, begann auch der Schreck zu schmelzen, der wie ein Eisblock in sie gerollt war, und die vom Körper verursachte, von der Seele verhinderte Erregung taute in ihren Gliedern auf. Es war ein wundervoller Zustand. Die Berührung der Büsche drang durch die Haut tief in ihre Nerven ein, das Schwellen des Mooses unter ihren Sohlen, das Zwitschern der Vögel wurde sinnlich und überzog das Weltinnere wie mit dem Fleisch einer Frucht.
»Ihr werdet mich verleugnen, wenn Ihr mich erkennt!« dachte Clarisse. Sobald das gedacht war, zeigte sich auch schon, daß Walter sie wirklich verleugnen lernen müsse, denn nur so konnte er von ihr befreit werden. Eine große Trauer befiel sie bei diesem Gedanken. »Alle werden mich verleugnen« sagte sie sich noch einmal. »Und erst, wenn Ihr mich alle verleugnet habt, werdet Ihr mündig sein. Erst wenn ihr alle mündig geworden seid, will ich euch wiederkehren!« fügte sie hinzu. Wie Ansätze von herrlichen Gedichten war das, deren zweite Zeile sich bereits in einem Übermaß von Erregung und Schönheit verlor. »Golgathalied« nannte sie es. Eine Spannung, als müßte sie im nächsten Augenblick in einen Tränenstrom ausbrechen, begleitete diese ungeheure Leistung. Was sie am tiefsten verwunderte, war die ungeheure Unfreiwilligkeit in diesem Sturm von Freiheit. »Wäre ich nur ein wenig abergläubisch und nicht von so harter Gesundheit,« dachte sie »so würde ich mich jetzt vor mir fürchten müssen!« Ihre Gedanken waren bald so, als wäre sie nur ein Instrument, auf dem ein fremdes und höheres Wesen spielte, ihre Lichtgestalt, das ihr Antworten gab, ehe sie noch recht gefragt hatte, und Gedanken aufbaute, die wie die Umrisse ganzer Städte auf sie zukamen, so daß sie erstaunt stehen blieb; bald waren sie so, daß Clarisse selbst ganz leer zu sein schien, ein Federleichtes, das mit Mühe seine Schritte zurückhalten mußte, denn jedes Ding, worauf ihr Auge fiel, oder jede Erinnerung, die der Strahl des Gedächtnisses beleuchtete, führte sie hastig und gab sie an das nächste Ding und den nächsten Einfall weiter, so daß Clarisses Gedanken zuweilen neben ihr herzulaufen schienen und ein stürmischer Wettlauf mit ihrem Körper begann.
Daß sie trotzdem ordnungsgemäß in die Elektrische steigt.
Sie hat Glück und trifft Friedenthal in seinem Zimmer, als sie anklopft: er ist guter Laune. Er hat gerade seinen Rundgang beendet. Aber er ist erfreut, Clarisse wiederzusehen und nicht einmal erstaunt, daß sie ihren Besuch nicht angekündigt hat. Bloß hat er wenig Zeit.
Dr. Friedenthal, erster Assistent der Klinik und Privatdozent, war ein Künstler in seinem Fach; das ist etwas, das es in jedem Beruf gibt, wo Künst ler nicht hingehören, und hat also eine Bedeutung, über die sehr viel zu sagen wäre, namentlich heute. Um aber bei Friedenthal zu bleiben, so genügt eine kürzere Bemerkung: Denn je weniger nachweisbare Erfolge eine Wissenschaft hat, desto mehr hält sie sich für eine Kunst; und es ist noch gar nicht lange her, daß die Psychiatrie die künstlerischste aller Wissenschaften gewesen ist, mit einer fast ebenso scharfsinnigen Literatur wie die Theologie und einem Heilerfolg, der ebensowenig im Diesseits wahrzunehmen war wie der ihre. Wenn man Dr. Friedenthal deshalb nach einer Heilaussicht befragte, lehnte er solche Frage mit einer weit entfernenden, schwermütigen Gebärde ab; dagegen befand sich auf seinem Tisch jederzeit ein sauber zwischen Glas präparierter und bunt gefärbter Hirnschnitt, neben dem ein Mikroskop stand, durch das man in die unverständliche Sternwelt des Zellengewebes schauen konnte. Auf dem Antlitz des in solcher Umgebung lebenden Doktors war der dazu gehörende Ausdruck eines Mannes zu sehen, der eine schwarze Kunst treibt, ein verrufenes und bestauntes Handwerk, das ihn täglich in Berührung mit dem Schauerlichen bringt. Seine schwarzen Haare waren dämonisch glatt gestrichen, als ob sie sich sonst sträuben müßten; seine Bewegungen waren weich und müd, wie es sich bei einem Mann versteht, dem die gräßlichsten menschlichen Gelüste etwas Alltägliches sind; und seine Augen waren die eines Hypnotiseurs, Kartenkünstlers, Meisterdetektivs, Totengräbers oder Henkers.
Dieser interessante Nicht-nur-Fach-Mensch führte Clarisse mit einem sphinxlichem Lächeln auf dem kürzesten Weg in den Raum, wo sich Moosbrugger aufhielt.
Die zufällige Kürze dieses Wegs wurde bedeutsam durch die unvorbereitete Entladung der Spannung, in der sich Clarisse befand. Sie wurde von Friedenthal durch einige Zimmer geführt, wo Patienten mit Erkältungen und andern gewöhnlichen Krankheiten lagen, die augenblicklich wichtiger waren als ihre geistige Zerstörung, oder auch besondere stille Kranke, die man zu Untersuchungszwecken abgesondert hatte. Es begleiteten keine Wärter, man begegnete jungen Ärzten, die in weißen Kitteln in der Nähe der Fenster schrieben oder mit Präparaten hantierten. Ein Zimmer, das sie durchschritten, war leer, in einem zweiten standen zusammengeklappte Betten in der Ecke, und als sie einen dritten, großen, fast einrichtungslosen Raum betraten, saßen in seiner Mitte vier Menschen um einen Tisch; der Arzt, der vorangegangen war, verlangsamte seinen Schritt, und als Clarisse aufsah, zog der Rücken einer breiten ruhigen Gestalt ihren Blick an, und Friedenthal neben ihr stehend flüsterte ihr zu, daß sie am Ziel ihrer Wünsche wäre.
Dieser Weg hatte nicht nur kurz gedauert, sondern sie waren ihn auch so schnell gegangen, daß ihn Clarisse eigentlich unachtsam, vertraulich und gedankenlos zurückgelegt hatte; desto unerwarteter traf sie nun sein Ende.
Was sie erblickte, war allerdings seltsam genug: eine Kartenpartie. Moosbrugger saß, in dunkler, alltäglicher Kleidung, mit drei Männern am Tisch, von denen einer den weißen Kittel des Arztes, der zweite einen Straßenanzug und der dritte die etwas abgenützte Sutane eines Priesters trug; und außer diesen vier Figuren um den Tisch und ihren Holzstühlen war das Zimmer leer bis an die drei hohen Fenster, die auf den Garten sahen. Die vier Männer blickten auf, als sich Clarisse näherte, und Friedenthal stellte vor; Clarisse lernte einen jungen Assistenten der Klinik kennen, deren Seelsorger und einen zu Besuch gekommenen Arzt, von dem sie erfuhr, daß er einer der Sachverständigen sei, die bei der Verhandlung vor dem Schwurgericht Moosbrugger für gesund erklärt hätten: die vier Männer spielten Karten zu dritt, so daß immer einer aussetzte und den anderen zusah. Dieser Anblick eines gemütlichen bürgerlichen Kartenspiels schlug für den Augenblick alle Gedanken in Clarisse zu Boden. Sie war auf etwas Erschreckendes vorbereitet gewesen, sei es selbst nur, daß man sie ohne Ende weiter durch solche halbleere Zimmer geführt hätte, um ihr schließlich geheimnisvoll zu erklären, daß Moosbrugger doch wieder nicht zu sehen sei; und nach allem, was sie in den vergangenen Wochen und besonders an diesem letzten Tag erlebt hatte, fühlte sie nun nichts als eine merkwürdige Beklemmung. Sie begriff nicht, daß dieses Kartenspiel von Dr. Friedenthal mit den andren verabredet war, um Moosbrugger unbefangen beobachten zu können, es kam ihr wie ein würdeloses Spiel von Teufeln mit einer Seele vor, und sie glaubte in eisig leeren Gefilden der Hölle zu sein. Zu ihrem Entsetzen stand Moosbrugger stramm und galant auf und kam auf sie zu; Friedenthal stellte auch ihn vor, und Moosbrugger nahm mit seiner Tatze ihre unsichere Hand und machte eine stumme, schnelle Verbeugung wie ein großer Junge.
Als das geschehen war, bat Friedenthal, daß man sich nicht stören lassen möge, und erläuterte, daß die gnädige Frau aus Chicago gekommen sei, um die Einrichtungen der Klinik zu studieren und sich überzeugen werde, daß deren Gäste so gut aufgehoben seien wie nirgends auf der Welt.
»Pick war ausgespielt, nicht Karo, Herr Moosbrugger!« sagte der Anstaltsarzt, der seinen Schützling nachdenklich beobachtet hatte. In Wahrheit, Moosbrugger war es angenehm gewesen, daß Friedenthal in Gegenwart der Fremden von ihm als einem Gast der Klinik und nicht als einem Kranken gesprochen hatte; er würdigte das, irrte sich deshalb in den Karten, steckte aber den Tadel wegen des Ausspielens mit einem großmütigen Lächeln ein. Gewöhnlich spielte er achtsamer als ein Falke. Er hielt mit Ehrgeiz darauf, seinen gelehrten Gegnern nur durch das Glück der Karten und niemals durch schlechteres Spiel zu unterliegen. Diesmal gestattete er sich nach einer Weile aber auch noch, daß er seine Stiche englisch zu zählen begann, denn dazu war er bis dreißig imstande, wenn es ihn auch beim Spielen störte, und er hatte verstanden, daß Clarisse aus Amerika gekommen sei. Ja, etwas später legte er sogar seine Karten ganz hin, stemmte die Fäuste gegen den Tisch und lehnte seinen mächtigen Rücken so breit zurück, daß es ringsum im Holz knackte, und begann eine umständliche Erzählung aus seiner Gefängniszeit. »Sie können es mir glauben, meine Herrn –« fing er sie an, denn er hatte Erfahrung: will man auf Frauen Eindruck machen, so muß man so tun, als ob man sie gar nicht wahrnähme, zumindest im Anfang; das hatte ihm noch jedesmal bei ihnen Erfolg eingetragen.
Der junge Anstaltsarzt begleitete Moosbruggers breitspurige Erzählung mit Lächeln, in dem Gesicht des Pfarrers kämpfte Bedauern mit Heiterkeit, und der mitspielende fremde Arzt, der Moosbrugger beinahe schon an den Galgen gebracht hatte, munterte ihn von Zeit zu Zeit durch beizende Zwischenrufe auf. Der Riese war ihnen allen durch seine protzige und doch gewöhnlich grundanständige Art sich zu geben angenehm geworden; was er sagte, hatte Hand und Fuß, wenn auch nicht gerade immer an den rechten Stellen, und namentlich der geistliche Herr hatte ihn sündhaft lieb gewonnen. Wenn er sich an die tierischen Verbrechen erinnerte, deren dieser lammfromme Mann fähig war, so schlug er erschrocken in Gedanken ein Kreuz, als ob er sich auf einer verwerflichen Lässigkeit ertappte, demütigte sich vor der Unerforschlichkeit Gottes und sagte sich, daß man eine so verwickelte Angelegenheit dem Willen des Herrn überlassen müsse. Daß sich dieser Wille als Werkzeug wie zweier gegeneinander wirkender Hebel, von denen sich vorläufig nicht wissen ließ, welcher stärker sein werde, der beiden mitspielenden Ärzte bediente, war dem geistlichen Herrn bekannt.
Zwischen den beiden Medizinern bestand eine fröhliche Gegnerschaft. Als Moosbrugger einen Augenblick den Faden seiner Erzählung verlor, unterbrach ihn Dr. Pfeifer, der zu Besuch gekommene ältere von ihnen, denn auch mit den Worten: »Genug geredet, Moosbrugger, und an die Karten, sonst hat der Herr Assistent zu früh seine Diagnose fertig!« Moosbrugger erwiderte sofort dienstfertig: »Wenn der Herr Doktor spielen wollen, können wir ja wieder spielen!« Clarisse hörte es mit Staunen. Der jüngere der beiden Ärzte lächelte aber ungerührt dazu. Es war ein offenes Geheimnis, daß er sich bemühte, ein unantastbares klinisches Bild von Moosbruggers Unzurechnungsfähigkeit zu gewinnen. Er sah blond, gewöhnlich und unsentimental aus, und sein Gesicht war durch die Spuren einiger Studentenmensuren nicht gerade geistvoller geworden; aber das Selbstbewußtsein der Jugend hieß ihn in der Frage von Moosbruggers Schuld und Straffähigkeit die ärztliche Auffassung mit einem Eifer vertreten, der die übliche Halbheit verabscheute. Er hätte nicht genau sagen können, worin die ärztliche Auffassung bestehe. Sie ist eben anders. Eine gewöhnliche Trunkenheit ist zum Beispiel für sie eine echte Geisteskrankheit, die von selbst ausheilt, und daß Moosbrugger teils ein Ehrenmann, teils ein Lustmörder war, bedeutete nach ihren Begriffen einen Triebwettstreit, bei dem es sich von selbst verstand, daß er sich jeweils im Sinne des stärkeren oder nachhaltigeren Triebs entscheiden mußte. Wenn andere das nun einen freien Willen und eine gute oder böse sittliche Entscheidung nennen mögen, so ist es ihre Sache. »Wer gibt?« fragte er.
Es zeigte sich, daß er selbst die Karten zu mischen und auszuteilen hatte. Während er es tat, wand te sich Dr. Pfeifer mit der Frage an Clarisse, welches Interesse die »Frau Kollega« herführe. Dr. Friedenthal hob vorbeugend die Hand und riet: »Sagen Sie, um Gottes willen, nichts von Heilkunde; die deutsche Sprache hat kein zweites Wort, das dieser Arzt so wenig hören möchte!« Es war die Wahrheit und bot den Vorteil, daß es die unberechtigte Besucherin vor den andern als Ärztin erscheinen ließ, ohne daß Friedenthal das ausdrücklich behaupten mußte. Er lächelte zufrieden. Dr. Pfeifer quittierte die Neckerei mit einem geschmeichelten Grinsen. Er war ein schon älterer kleiner Mann, an dessen oben abgeplatteten, nach hinten in die Tiefe gewölbten Schädel ungepflegte Bart- und Haarstummel hingen; die Nägel an seinen Fingern waren ölig von Zigaretten und Zigarren und hielten am Rand einen schmalen Schmutzstreifen fest, obwohl sie in ärztlicher Weise ganz kurz geschnitten erschienen. Man sah es jetzt deutlich, weil die Spieler inzwischen ihre Karten aufgenommen hatten und sie sorgsam ordneten. »Ich passe« erklärte Moosbrugger, »ich spiele« Dr. Pfeifer, »gut« der junge Arzt, der Geistliche sah dieses Mal zu. Das Spiel war matt und nahm ohne Aufregungen seinen Lauf.
Clarisse, die neben Friedenthal abseits stand, versteckte sich ein wenig hinter ihm, hob ihren Mund an sein Ohr und flüsterte, mit dem Blick auf Moosbrugger weisend: »Er hat immer nur Ersatz-Weiber gehabt!«
»Pst! Um Himmels willen…!« flüsterte Friedenthal flehend zurück und fragte, nahe an den Tisch tretend, laut: »Wer gewinnt?«, um die Unvorsichtigkeit zu vertuschen. »Ich verliere« erklärte Pfeifer. »Moosbrugger hat hinterlistig gepaßt! Unser junger Kollege will von mir keinen Rat annehmen: es ist mir unmöglich, ihn zu überzeugen, daß es ein verhängnisvoller Irrtum ist, wenn Ärzte glauben, daß kranke Verbrecher in ihre Krankenanstalten gehören.« Moosbrugger grinste. Pfeifer scherzte und setzte das zuvor begonnene Geplänkel mit Friedenthal fort; das Spiel war ohnehin nicht zu retten.
»Sie selbst müßten einem solchen jungen Medikus bei Gelegenheit sagen,« bat er ironisch »daß es eine Utopie ist, böse Menschen medizinisch heilen zu wollen, und überdies ein Nonsens, denn das Böse ist nicht nur in der Welt vorhanden, sondern auch unentbehrlich für ihren Fortbestand. Wir brauchen böse Menschen, wir dürfen sie nicht alle für krank erklären –«
»Sie haben keinen Stich mehr« sagte der ruhige junge Arzt und legte die Karten hin. Diesmal lächelte der Geistliche, der zugesehn hatte. Clarisse hatte etwas zu verstehen geglaubt.
Es wurde ihr warm. Aber Pfeifer sah abscheulich aus. »Es ist eine nonsenistische Utopie« witzelte er. Sie kannte sich nicht aus. Es war vermutlich doch nur das würdelose Spiel von Teufeln um eine Seele. Pfeifer hatte sich eine neue Zigarre angezündet und Moosbrugger teilte die Karten aus. Er sah zum erstenmal für einen Augenblick zu Clarisse hinüber, und dann wurde er gefragt, was er auf die Spielansagen der andern zu erwidern habe.
Bei diesem Spiel setzte der Assistent aus. Er schien darauf gewartet zu haben und seine Gedanken ganz langsam zu Worten zusammenzuziehn. »Für einen Naturwissenschaftler« sagte er »gibt es nichts, was seinen Grund nicht in einem Gesetz der Natur hätte. Wenn ein Mensch also ohne vernünftigen äußeren Grund ein Verbrechen begeht, so muß er einen inneren dafür haben. Und den muß ich suchen. Für Doktor Pfeifer ist das aber nicht fein genug.« Mehr sagte er nicht, er war rot geworden und sah freundlich verdrossen drein. Der Geistliche und Dr. Friedenthal lachten, Moosbrugger lachte ähnlich wie sie und sah blitzschnell Clarisse an. Clarisse sag te plötzlich: »Es kann einer ja auch ungewöhnliche vernünftige Gründe haben!« Der Assistent sah sie an. Pfeifer bekräftigte: »Die Frau Kollegin hat vollkommen recht. Und eigentlich verraten sie schon eine Verbrechernatur, wenn sie nur voraussetzen, daß es auch vernünftige Gründe für ein Verbrechen gibt!« »Ach, Unsinn!« erwiderte der Jüngere.
»Sie wissen genau, wie ich es meine.« Und wieder zu Clarisse: »Ich rede als Arzt. Wortspaltereien, die vielleicht in der Philosophie oder sonstwo am Platz sein mögen, sind mir widerwärtig!«
Es war bekannt, daß er sich jedesmal, wenn er mit der Vorbereitung eines Fakultätgutachtens betraut war, wütend über die Zugeständnisse ärgerte, die er einer unmedizinischen Denkart machen, und die unnatürlichen Fragen, die er ihr beantworten sollte. Die Gerechtigkeit ist kein naturwissenschaftlicher Begriff, sowenig wie die aus ihr folgenden Begriffe, und mit Straffähigkeit, freiem Willen, Vernunftgebrauch, Sinnesverrückung und allem ähnlichen, was über das Schicksal unzähliger Menschen entscheidet, verbindet der Arzt ganz andere Vorstellungen als der Jurist.
Da der Jurist ihn weder entbehren will, aus irgendwelchen Gründen, noch vor ihm abdanken will, was begreiflich ist, nehmen sich dann die ärztlichen Sachverständigen vor Gericht nicht selten wie kleine Geschwister aus, denen eine ältere Schwester nicht erlaubt, so zu reden, wie es ihnen natürlich ist, obwohl sie doch befiehlt und darauf wartet, daß aus dem Kindermunde die Wahrheit komme. Also nicht aus Gefühlsweichheit, sondern aus blankem Ehrgeiz und schneidigem Eifer für seine Wissenschaft neigte der junge Forscher mit den Narben dazu, die Personen seiner Gutachten dem Gehirn der Gerichte möglichst zu entziehn, und da es nur dann Aussicht auf Erfolg darbot, wenn sie sich sehr deutlich und bestimmt einem bekannten Krankheitsbild einordnen ließen, sammelte er auch bei Moosbrugger alles, was für ein solches sprach. Genau das Gegenteil davon tat aber Dr. Pfeifer, obwohl er nur gelegentlich auf die Klinik kam, um sich nach Moosbrugger zu erkundigen, so wie sich ein Sportsmann, der sein eigenes Match schon gekämpft hat, auf die Tribüne setzt und den anderen zusieht. Er galt als ein besonderer Kenner der Natur geisteskranker Verbrecher, wenn auch als ein etwas wunderlicher. Als Arzt übte er höchstens eine Gefälligkeitspraxis aus, und die nur unter unehrerbietigen Reden gegen den Wert seiner Wissenschaft; er lebte in der Hauptsache von den bescheidenen, aber regelmäßigen Einkünften aus seiner Gutachtertätigkeit, denn er war bei Gericht sehr beliebt wegen seines Verständnisses für die Aufgaben der Justiz. Er war so sehr Kenner, was ihm auch Friedenthals Wohlwollen eintrug, daß er vor lauter Wissenschaftlichkeit seine Wissenschaft leugnete, ja das menschliche Wissen überhaupt geringschätzte; im Grunde tat er es vielleicht nur, weil er sich auf diese Weise ungezügelt seinen persönlichen Neigungen überließ, die ihn dazu anstachelten, jeden Verbrecher, dessen geistige Gesundheit in Frage stand, mit großer Geschicklichkeit wie eine Kugel zu behandeln, die man durch die Löcher der Wissenschaft hindurch zum Ziel der Bestrafung treiben müsse. Man erzählte allerhand Geschichten von ihm, und Friedenthal, der wohl befürchtete, daß die übliche Unterhaltung zwischen den beiden Gegnern eine Auseinandersetzung zutage fördern könnte, die diesmal besser ungehört bliebe, nahm rasch das Wort, indem er sich gleich nach dem jungen Arzt an Clarisse wandte und ihr erläuterte, was dieser unter »Wortspaltereien« verstehe. »Nach der Meinung unseres geschätzten Gastes Doktor Pfeifer ist nämlich niemand fähig, über die Schuld eines Menschen zu entscheiden« sagte er mit besänftigendem Blick und Lächeln: »Wir Ärzte nicht, weil Schuld, Zurechnungsfähigkeit und all das durchaus keine medizinischen Begriffe sind, und die Richter nicht, weil man ohne Kenntnis der wichtigen Beziehungen zwischen Körper und Geist doch auch wieder nicht über solche Fragen urteilen kann. Bloß die Religion verlangt eindeutig die persönliche Verantwortung einer jeden Sünde vor Gott, und so laufen solche Fragen schließlich immer auf religiöse Überzeugungsfragen hinaus –« Er hatte mit seinen letzten Worten sein Lächeln dem Pfarrer zugewandt und hoffte, dem Gespräch durch diese Neckerei eine harmlose Wendung zu geben. Der Pfarrer wurde denn auch etwas rot und lächelte verlegen zurück, und Moosbrugger drückte seine volle Billigung der Theorie, daß er vor das Forum Gottes und nicht vor die Psychiatrie gehöre, durch einen unmißverständlichen Brummlaut aus.
Aber plötzlich sagte Clarisse: »Vielleicht ist der Kranke hier, weil er einen andern vertritt.«
Sie sagte es so schnell und unerwartet, daß es verloren ging; einige erstaunte Blicke streiften sie, aus deren Gesicht die Farbe bis auf zwei rote Flecken gewichen war, und dann lief das Gespräch in seiner eigenen Richtung weiter.
»Doch nicht ganz!« gab Dr. Pfeifer Friedenthal zur Antwort und legte die Karten nieder. »Wir können ja einmal deutlich darüber reden, was es bedeutet, dieses: ›Ich rede als Arzt‹, von dem unser Kollege so große Stücke hält: Man legt uns einen aus dem Leben entstandenen ›Fall‹ auf die Klinik; wir vergleichen ihn mit dem, was wir wissen, und den Rest, einfach das, was wir nicht wissen, einfach unsere Unwissenheit, muß der Delinquent verantworten. Ist es so oder nicht?«
Friedenthal zuckte staatsmännisch die Achseln und schwieg.
»Es ist so« wiederholte Pfeifer. »Trotz allen Pomps der Gerechtigkeit wie der Wissenschaft, trotz allen Haarspaltens, trotz unserer Perücken von gespaltenen Haaren läuft das Ganze zum Schluß doch nur darauf hinaus, daß der Richter sagt: ›Ich hätte das nicht getan‹, und daß wir Psychiater hinzufügen: ›Unsere Geisteskranken hätten sich auch nicht so benommen!‹ Aber darunter, dass wir mit unseren Begriffen nicht besser in Ordnung sind, darf nicht die menschliche Gesellschaft zu Schaden kommen. Ob der Wille eines einzelnen Menschen frei oder unfrei ist, der Wille der Gesellschaft ist in dem, was sie als gut und bös behandelt, frei. Und ich für meine Person wünsche nicht im Sinn meiner Privatgefühle, sondern im Sinn der Gesellschaft gut zu sein!« Er zündete seine ausgegangene Zigarre von neuem an und strich sich die Barthaare vom feucht gewordenen Mund. Auch Moosbrugger strich seinen Schnurrbart und klopfte mit dem Rand seines zusammengefalteten Kartenpakets rhythmisch auf die Tischplatte.
»Also wollen wir weiterspielen oder nicht?« fragte der Assistent geduldig.
»Natürlich wollen wir weiterspielen« entgegnete Pfeifer und nahm seine Karten auf. Sein Auge begegnete dem Moosbruggers. »Moosbrugger und ich sind übrigens der gleichen Meinung« fuhr er fort, mit sorgenvoller Miene sein Blatt betrachtend. »Wie war es, Moosbrugger? Der Herr Rat bei Gericht hat Sie doch verschiedentlich gefragt, warum Sie sich Sonntagskleider angezogen haben und ins Wirtshaus gegangen sind –?«
»Und rasieren lassen« verbesserte Moosbrugger; Moosbrugger konnte jederzeit darüber sprechen wie über eine Staatshandlung.
»In Ruhe rasieren lassen« wiederholte Pfeifer. »Er hätte das nicht getan, hat er Ihnen vorgeworfen. Na also.« Er wandte sich an alle. »Ganz das gleiche tun wir, wenn wir sagen: unsere Kranken hätten das nicht getan. Beweist man auf diese Art?« Seine Worte waren diesmal brummend und gemütlich und nur ein Echo seiner vorangegangenen leidenschaftlicheren Verwahrung, denn das Spiel hatte nun wieder angefangen, in der Runde zu kreisen. Auf Moosbruggers Gesicht war noch lange Zeit ein gönnerhaftes Lächeln wahrzunehmen, das sich erst im Spieleifer auflöste, wie die Falten in einem steifen Stoff mit der Dauer des Gebrauchs weichen. So hatte Clarisse nicht ganz unrecht, wenn sie den Kampf mehrerer Teufel um eine Seele zu sehen glaubte, aber die dabei herrschende Gemütlichkeit täuschte sie, und besonders wurde sie doch durch die Art verwirrt, in der sich Moosbrugger benahm.
Er mochte anscheinend den jüngeren Arzt, der ihm helfen wollte, nicht gut leiden, duldete nur ungerne seine Bemühungen und wurde unruhig, wenn er sie spürte. Vielleicht handelte er dabei nicht anders als jeder einfache Mensch, der es als frech empfindet, wenn sich einer zu angelegentlich um ihn bekümmert, jedoch war er jedesmal entzückt, wenn Dr. Pfeifer sprach. Vermutlich war auch Entzückung nicht ganz das, was er in diesem Fall äußerte, denn ein solcher Zustand kam an Moosbruggers auf Würde und Geltung abgetönter Gestalt nicht vor und viel von dem, was die Ärzte untereinander redeten, blieb ihm auch unverständlich; aber wenn schon geredet werden mußte, dann so, wie es von Dr. Pfeifer geschah: Das war im ganzen unbezweifelbar als seine Meinung zu sehen. Der Zusammenstoß der beiden Ärzte hatte ihn aufgemuntert, er begann seine Stiche wieder laut und englisch zu zählen und streute in auffälliger Wiederholung von Zeit zu Zeit die Bemerkung: »Wenn es sein muß, muß es eben sein!« ins Gespräch oder ins Schweigen. Sogar der gute Pfarrer, der schon manches gesehen hatte, schüttelte zuweilen den Kopf. Aber der Spott auf die irdische Gerechtigkeit hatte ihm nicht übel gefallen, und er freute sich darüber, daß sich die Gelehrten der weltlichen Wissenschaft nicht einigen konnten. Er erinnerte sich nicht mehr, wie alle diese Fragen nach kanonischem Recht zu entscheiden gewesen wären, von denen die Rede war, aber er dachte sanft: »Laßt sie gewähren, das letzte Wort spricht Gott«; und da er sich dieser Überzeugung wegen wenig an dem Wortgefecht beteiligte, gewann er im Tarock.
So bestand zwischen diesen vier Männern ein recht herzliches Einvernehmen. Wohl war Moosbruggers Kopf dabei als Preis ausgesetzt, aber das stört nicht im geringsten, solange jeder vollauf mit dem beschäftigt ist, was er vorher zu tun hat; denken doch auch die Männer, die mit dem Schmieden, Schleifen und Verkaufen von Messern beschäftigt sind, nicht unausgesetzt an das, was daraus werden kann. Überdies fand Moosbrugger, als der einzige, der die Tötung eines anderen Menschen selbst und unmittelbar kennen gelernt hatte und dem sie auch bevorstand, daß sie nicht das Schlimmste sei, was einem Ehrenmann widerfahren könne. Das Leben ist der Güter höchstes nicht, sagt Schiller: das hatte Moosbrugger von Dr. Pfeifer gehört, und es hatte ihm recht gut gefallen; und so, wie er, je nachdem sein Wesen angerufen und gewendet würde, rührend und eine Bestie sein konnte, waren eben auch die anderen als Freunde und Henker in zwei verschiedene Wirkungskreise gespannt, die miteinander kaum eine Berührung hatten. Aber Clarisse beunruhigte das sehr.
Im ersten Augenblick hatte sie schon gesehn, daß hier unter dem Schutz der Fröhlichkeit etwas Verheimlichtes vor sich gehe; aber sie hatte das nur in unklarem Bild erfaßt und, verwirrt von dem Inhalt der Reden, begriff sie erst jetzt, aber begriff jetzt nicht nur, sondern sah es auch mit warnender Eindringlichkeit, ja in seiner vollen Unheimlichkeit beständig vor sich, daß diese Männer Moosbrugger verstohlen beobachteten. Moosbrugger, der Ahnungslose, aber beobachtete sie, Clarisse. Von Zeit zu Zeit kam er heimlich mit seinen Augen daher und trachtete ihren Blick zu überraschen und zu fangen. Der Besuch dieser schönen und weithergereisten Frau – ein wenig zu unbedeutend kamen ihm bloß die Magerkeit und Kleinheit Clarissens vor – schmeichelte ihm sehr trotz allen Ehrungen, die ihm ohnehin widerfuhren. Er bezweifelte, wenn er ihren merkwürdigen Blick auf sich gerichtet fand, nicht einen Augenblick, daß seine buschbärtige Männlichkeit sie verliebt gemacht habe, und zuweilen entstand ein Lächeln unter seinem Schnurrbart, das diesen Sieg bestätigen sollte und mit seiner an Dienstmädchen erprobten Überlegenheit auf Clarisse ganz eigentümlich wirkte. Eine unaussprechliche Ohnmacht preßte ihr Herz zusammen. Sie hatte den Eindruck, Moosbrugger befinde sich in einer Falle, und ihr Fleisch am Leibe kam ihr wie ein ihm vorgeworfener Köder vor, während umher die Jäger lauerten.
Kurz entschlossen legte sie die Hand auf Friedenthals Arm und erklärte ihm, daß sie genug gesehen habe und sich ermüdet fühle.
»Was haben Sie denn eigentlich damit gemeint, daß Sie sagten, er habe stets nur ›Ersatzweiber‹ gehabt?« fragte Friedenthal, nachdem sie das Zimmer verlassen hatten.
»Nichts!« erwiderte Clarisse, die von dem Erlebten noch verstört war, mit einer abweisenden Gebärde.
Friedenthal wurde schwermütig und meinte, daß er die verwunderliche Darbietung rechtfertigen müsse. »Im Grunde sind wir natürlich alle unzurechnungsfähig« seufzte er. Clarisse erwiderte: »Er am wenigsten!«
Friedenthal lächelte über den »Scherz«. »Haben Sie sich sehr gewundert?« fuhr er scheinbar erstaunt fort. »Es sind immerhin einzelne Züge an Moosbrugger recht schön zutage getreten.«
Clarisse blieb stehen. »Sie dürfen das nicht gewähren lassen!« forderte sie entschieden.
Ihr Begleiter lachte und befleißigte sich, seinen Geist in Szene zu setzen. »Was wollen Sie!« rief er aus. »Dem Mediziner ist alles Medizin, und dem Juristen alles Jus! Das Gerichtswesen geht letzten Endes von dem Begriff ›Zwang‹ aus, der dem gesunden Leben angehört, aber ohne Bedenken meist auch auf Kranke anzuwenden ist. Ebenso ist aber der Begriff ›Krankheit‹ mit seinen Konsequenzen, von dem wir Ärzte ausgehen, auf das gesunde Leben anwendbar. Das wird niemals unter einen Hut gebracht werden!«
»Das gibt es doch nicht!« rief Clarisse aus.
»Doch, das gibt es!« beschwerte sich sanft der Arzt. »Die menschlichen Wissenschaften haben sich zu verschiedenen Zeiten und zu Zwecken entwickelt, die miteinander nichts zu tun haben. So haben wir von der gleichen Sache die verschiedensten Begriffe. Zusammengefaßt ist das höchstens im Konversationslexikon. Und ich wette, daß nicht nur ich und der Pfarrer, sondern auch Sie und beispielsweise Ihr Herr Bruder oder Ihr Gatte und ich von jedem Wort, das wir dort aufschlügen, jeder nur eine Ecke des Inhalts und natürlich jeder eine andere kennten. Besser hat die Welt das nicht zustande gebracht!« – Friedenthal hatte sich über Clarisse gelehnt, die in einer Fensternische stand, und stützte seinen Arm gegen das Fensterkreuz. Etwas echtes Empfinden klang aus seinen Worten. Er war ein Zweifler. Die Unsicherheit seiner Wissenschaft hatte ihm die Augen geöffnet für die Unsicherheit alles Wissens. Er wäre gern eine Persönlichkeit gewesen und ahnte in seinen besten Stunden, daß ihm das lähmende Durcheinander dessen, worüber es Wahrheit gebe, noch nicht gebe oder niemals geben werde, nicht mehr gestatte als eine unfruchtbare und eitle Subjektivität. Er seufzte und fügte hinzu: »Manchmal ist mir zumute, die Fenster dieses Hauses seien nichts als Vergrößerungsgläser …!«
Clarisse fragte ernst: »Können wir noch ein wenig zu Ihnen gehen? Hier vermag ich nicht zu sprechen.« Unter dem Schild ihrer Wimpern schossen zwei Pfeile hervor. Friedenthal löste langsam die Hand vom Fenster und den Blick von ihrem Auge. Dann löste er auch seine Gedanken aus ihrer geoffenbarten Versunkenheit und sagte, während sie den Fliesengang entlang weiterschritten: »Dieser Pfeifer ist eine sehr merkwürdige Figur. Er führt ein Leben ohne Freunde und Geliebte, aber er hat die größte Sammlung von Bildern, Andenken, Prozeßberichten und allem, was mit den Todesurteilen der letzten zwanzig oder dreißig Jahre zusammenhängt. Ich habe sie einmal gesehen. Merkwürdig. Laden voll seiner ›Opfer‹: geputzte und rohe, vom Verbrechen gezeichnete und ganz alltägliche Gesichter von Männern und Frauen lächeln einem aus vergilbtem Zeitungspapier und verblaßten Lichtbildern entgegen oder blicken in ihre unbekannte Zukunft. Dazu Kleiderreste, Strickenden – richtige ›Galgenstricke‹, Spazierstöcke, Giftflaschen: Kennen Sie das Museum in Zermatt, wo das aufbewahrt wird, was von denen, die ringsum von den Bergen abstürzen, übrigbleibt? Einen ähnlichen Eindruck macht es. Er hat offenbar ein zärtliches Verhältnis dazu. Man kann es auch merken, wenn er von den ›Opfern‹ erzählt, zu deren gesetzlicher Ermordung, oder wie Sie es nennen wollen, er selbst beigetragen hat. Ein guter Beobachter gewahrt da vielleicht etwas wie eine Rivalität, Gehirntriumph, Geschlechtslust …Alles natürlich gänzlich innerhalb der Grenzen des Erlaubten und wissenschaftlich Zulässigen. Aber man kann wohl sagen, daß die Beschäftigung mit der Gefahr gefährlich macht –«
»Er jagt sie?« fragte Clarisse gepreßt.
»Ja; man kann fast sagen, er ist ein Jäger, der sein Wild liebt.«
Clarisse erstarrte; sie wußte nicht, wie ihr geschah. Friedenthal hatte sie auf einem teilweis anderen Weg zurückgeführt und öffnete bei seinen Worten die Türe des Saals, den sie durchschrei ten mußten und der das Herrlichste zu enthalten schien, was sie je gesehen hatte. Es war ein gro ßer Saal und sie glaubte in ein lebendes Blumenbeet zu blicken. Es war der Saal der hysterischen Frauen, den sie durchschritten. Sie standen einzeln und in kleinen Gruppen umher und lagen ringsum in den Betten. Sie schienen alle blütenweiße Kleider zu tragen und aufgelöstes nachtschwarzes Haar zu haben. Clarisse konnte keine Einzelheiten erfassen, das Ganze glich etwas unsagbar Schönem und dramatisch Bewegtem. »Schwestern!« fühlte Clarisse gewaltig und weich in dem Augenblick, wo ihr und Friedenthal Aufmerksamkeit in unregelmäßigen Zügen zuströmte; sie hatte das Empfinden, mit einem Schwarm wundervoller Liebesvögel höher auffliegen zu können, als es alle Erregungen des Lebens und der Kunst gewähren. Ihr Begleiter kam mit ihr nur langsam vorwärts, denn allerhand demütig Verliebte näherten sich ihm oder strichen ihm in den Weg mit einer Stärke der erotischen Sanftheit, wie sie Clarisse noch nie erlebt hatte. Friedenthal richtete begütigende oder strenge Worte an diese und schob sie mit weichen Bewegungen von sich, und in den Betten lagen währenddessen andere Frauen in ihren weißen Jacken und hatten das Haar dunkel über die Polster gebreitet, Frauen, die mit Bauch und Beinen unter ihrer dünnen Decke das Drama der Liebe aufführten. Sündengestalten. Mit einem Mitspieler gepaart, der unsichtbar blieb, aber fühlbar da war, gegen den sie in übertriebener Abwehr die Arme stemmten, der übertrieben die Wogen ihres Busens aufwühlte, dem sich der Mund mit übermenschlicher Anstrengung entzog und der Bauch mit übermenschlichem Verlangen entgegenwölbte, während die Augen inmitten dieses obszönen Schauspiels unschuldig mit der bezaubernden leblosen Schönheit großer dunkler Blumen leuchteten.
Clarisse war noch tief verwirrt von diesem Blumenbeet der Liebe und der Leiden, von seinem krankhaften und doch berauschenden Duft, seinem Schimmer, dem Hindurchgleiten und Nichtstehenbleiben-dürfen, als sie schon in Friedenthals Zimmer saß und von ihm mit einem unermüdlichen Lächeln betrachtet wurde. Aus ihrer fast räumlich tiefen Abwesenheit zurückkehrend und sich sammelnd, klammerte sie sich an etwas, das sie mit rauher, fast mechanischer Stimme vorbrachte: »Erklären Sie ihn für unzurechnungsfähig!« Friedenthal sah sie erstaunt an. »Meine Gnädige,« fragte er scherzhaft betont »welches Interesse haben Sie daran?«
Clarisse erschrak, weil ihr keine Antwort einfiel. Aber da ihr nichts einfiel, hatte sie plötzlich schlicht gesagt: »Weil er nichts dafür kann!«
Dr. Friedenthal musterte sie jetzt schärfer: »Woher wissen Sie das so sicher?«
Clarisse hielt seinem Blick kraftvoll stand und antwortete hochmütig, als wäre sie nicht sicher, ob sie ihn einer solchen Mitteilung würdigen dürfe: »Er ist ja doch nur hier, weil er einen anderen vertritt!« Sie zuckte belästigt die Schultern, sprang auf und sah zum Fenster hinaus. Als sie aber nach einer kleinen Weile keine Wirkung davon verspürte, drehte sie sich wieder um und gab klein bei.
»Sie können mich nicht verstehen: er erinnert mich an jemand!« bemerkte sie, die Wahrheit halb abschwächend. Sie wollte nicht zu viel sagen und hielt sich zurück.
»Aber das ist doch kein Grund für die Wissenschaft!« erwiderte Friedenthal gedehnt.
»Ich habe gedacht, Sie werden es tun, wenn ich Sie darum bitte!« sagte sie jetzt einfach.
»Sie nehmen das zu leicht« entgegnete der Arzt vorwurfsvoll. Er lehnte sich faustisch in seinen Sessel zurück und fuhr mit einem Blick auf sein Studio fort: »Haben Sie sich überhaupt überlegt, ob Sie dem Mann etwas Gutes erweisen, wenn Sie ihm statt einer Bestrafung die Internierung wünschen?! Der Aufenthalt in diesen Mauern ist kein Vergnügen …!« Er schüttelte schwermütig das Haupt.
Seine Besucherin erwiderte klar: »Zuerst muß der Henker weg von ihm!«
»Sehen Sie,« meinte Friedenthal »meiner Ansicht nach ist Moosbrugger ja wohl Epileptiker. Er weist aber auch Züge von Paraphrenia systematica und vielleicht von Dementia paranoides auf. Er ist eben in jeder Hinsicht ein Grenzfall. Seine Anfälle, bei denen qualvoll beängstigende Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen gewiß eine Rolle spielen, können Minuten bis Wochen dauern, aber sie übergehen oft unmerklich in volle Geistesklarheit, wie sie auch ohne feste Grenze aus ihr zu entstehen vermögen, und außerdem ist selbst im paroxysmalen Stadium das Bewußtsein nie ganz aufgehoben, sondern nur in verschiedenen Graden vermindert.
Man könnte also wohl etwas für ihn tun; aber der Fall ist durchaus nicht so, daß man als Arzt seine Verantwortlichkeit ausschließen müßte
»Also werden Sie etwas für ihn tun?!« drängte Clarisse.
Friedenthal lächelte. »Ich weiß es noch nicht.«
»Sie müssen!«
»Sie sind sonderbar« erwiderte Friedenthal gedehnt. »Aber – man könnte schwach werden.«
»Sie sind ja keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß der Mann krank ist!« versicherte die junge Frau mit Nachdruck.
»Das natürlich nicht. Aber ich habe doch gar nicht darüber zu urteilen« verteidigte sich der Arzt.
»Sie haben es doch schon gehört: Ich soll beurteilen, ob sein freier Wille bei der Tat ausgeschlossen war, ob sein Bewußtsein während der Tat anwesend war, ob er Einsicht in sein Unrecht besaß: lauter metaphysische Fragen, die für mich als Arzt gar nicht so zu stellen sind, bei denen ich aber doch auch auf den Richter Rücksicht nehmen muß!«
Clarisse ging in ihrer Aufregung wie ein Mann im Zimmer auf und ab. »Dann dürfen Sie sich nicht dazu hergeben!« rief sie hart aus. »Dann muß es eben anders versucht werden, wenn Sie gegen den Richter nicht aufkommen können!«
Friedenthal versuchte es auf neue Weise, seine Besucherin von ihren lästigen Ideen abzubringen.
»Haben Sie sich eigentlich schon einmal vorgestellt, welche grausame Bestie dieser augenblicklich ruhige Halbkranke sein kann?« fragte er.
»Das kümmert uns jetzt nicht!« gab Clarisse zur Antwort, diesen Versuch kurz abschneidend. »Sie fragen auch bei einer Lungenentzündung nicht, ob Sie einem guten Menschen zum Weiterleben verhelfen! Jetzt haben Sie nur zu verhindern, daß Sie nicht selbst Gehilfe eines Mordes werden!«
Friedenthal hob wehmütig die Hände. »Sie sind ja verrückt!« sagte er betrübt und unhöflich.
»Man muß den Mut dazu haben, wenn die Welt wieder recht werden soll! Es muß von Zeit zu Zeit Menschen geben, die nicht mitlügen!« versicherte Clarisse lebhaft.
Er hielt es für einen geistvollen Scherz, den er in der Eile nicht ganz verstanden habe. Diese kleine Person hatte von Anfang an Eindruck auf ihn gemacht, zumal da er, geblendet durch General von Stumm, ihre gesellschaftliche Stellung überschätzte; und einen etwas verwirrten Eindruck machen ja heutzutage viele junge Menschen. Er fand, daß sie etwas Besonderes sei, und fühlte sich von ihrem unbefangenen Eifer unruhig berührt als von etwas rücksichtslos, ja vornehm Strahlendem. Allerdings hätte er diese Ausstrahlung vielleicht nicht nur als die eines Diamanten ansehen sollen, denn sie hatte auch etwas von einem überheizten Ofen: etwas durchaus Ungemütliches, das heiß und frostig machte. Er prüfte unauffällig seine Besucherin: Stigmata erhöhter Nervosität ließen sich zweifellos an ihr wahrnehmen. Aber wer hätte heutzutage solche Stigmata nicht! Friedenthal erging es nicht anders als es üblich ist – denn bei unsicheren Vorstellungen von dem, was wirklich bedeutend sei, hat das Verwirrte immer die gleiche Chance, es zu übertreffen, die der Hochstapler in einer unsicheren Gesellschaft hat – und obwohl er ein recht guter Beobachter war, hatte er sich stets wieder beruhigt, was immer auch Clarisse mit Reden anstellte. Schließlich kann man doch einen jeden Menschen als das verkleinerte Probestück eines Geisteskranken auffassen; das ist geradeso Sache der Theorie wie man ihn einmal psychologisch betrachtet und ein andermal chemisch: und da seit Clarissens letzten Worten ein Schweigen klaffte, suchte er wieder »Kontakt« und trachtete zur gleichen Zeit abermals, sie von ihren unbequemen Forderungen abzulenken. »Haben Ihnen eigentlich die Frauen, bei denen wir gewesen sind, gefallen?« fragte er.
»Oh, wunderbar!« rief Clarisse aus. Sie stand vor ihm still, und die Härte war plötzlich aus ihrem Gesicht gewichen. »Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll« fügte sie sanft hinzu. »Dieser Saal ist wie ein ungeheures Vergrößerungsglas, über Triumph und Leiden einer Frau gehalten!«
Friedenthal lächelte befriedigt. »Nun sehen Sie es« sagte er. »Nun werden Sie mir wohl auch zubilligen, daß mir die Anziehung, die das Kranke ausübt, nicht fremd ist. Aber ich muß Grenzen einhalten, muß trennen. Dagegen wollte ich Sie fragen, gnädige Frau, ob Sie schon einmal bedacht haben, daß auch die Liebe eine Störung des Geistes ist? Es gibt doch kaum einen Menschen, der nicht in seinem geheimsten und aufrichtigsten Liebesleben etwas verbärge, das er nur dem Mitschuldigen zeigt, Tollheiten, Schwächen: sagen wir ruhig Perversität und Wahn. In der Öffentlichkeit muß man dagegen einschreiten, im inneren Leben kann man sich aber nicht immer mit der gleichen Strenge gegen etwas Derartiges wappnen. Und Nervenärzte – schließlich ist die Heilkunde doch auch eine Kunst –, werden ihren größten Erfolg dann haben, wenn sie zu dem Material, in dem sie arbeiten, in einem gewissen Sympathieverhältnis und Rapport stehen –.« Er hatte die Hand seiner Besucherin ergriffen, und Clarisse überließ ihm deren äußerste Fingerglieder, die sie zwischen seinen Fingern so weich und ohnmächtig liegen fühlte, als wären sie von ihr gefallen wie die Blätter, die eine Blüte verliert. Sie war plötzlich völlig Frau, voll dieser zarten Willkür gegenüber den Bitten eines Mannes, und was sie am Morgen erlebt hatte, war vergessen. Ein lautloser Seufzer öffnete ihre Lippen. Es kam ihr vor, daß sie noch nie oder zuletzt vor ungeheuer langer Zeit so empfunden hätte, und offenbar kam Friedenthal, der ihr selbst keineswegs ungewöhnlich gefiel, in diesem Augenblick etwas von dem Zauber seines Reichs zugute. Aber sie nahm sich zusammen und fragte hart: »Wozu haben Sie sich also entschlossen?«
»Ich muß jetzt meinen Rundgang antreten« antwortete der Arzt »und möchte Sie gerne wiedersehen; aber nicht hier: Können wir uns nicht irgendwo treffen?«
»Vielleicht!« entgegnete Clarisse. »Wenn Sie meine Bitte erfüllt haben!«
Ihre Lippen verschmälerten sich, aus ihrer Haut wich das Blut, und die Wangen sahen dadurch rund wie zwei kleine Lederbälle aus, in ihren Augen war zu viel Druck. Friedenthal fühlte sich plötzlich ausgenützt. Es ist merkwürdig, aber wenn ein Mensch in einem andern bloß ein Mittel zu einem Zweck sieht, gewinnt er desto leichter das zugangslose Aussehen eines Geisteskranken, je natürlicher es ihm erscheint, daß man ihn berücksichtigen müsse.
»Wir sehen hier stündlich Seelen leiden, aber wir müssen uns innerhalb unserer Grenzen halten!« wehrte Friedenthal ab. Er wurde behutsam.
Clarisse sagte: »Gut, Sie wollen nicht. Ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag.« Sie stand klein vor ihm, die Beine gespreizt, die Hände hinter sich, und sah ihn mit einem verlegen-spöttischen, drängenden Lächeln an: »Ich werde als Schwester in die Klinik eintreten!«
Der Arzt erhob sich und bat sie, mit ihrem Bruder darüber zu sprechen, der ihr erklären werde, wieviele dazu nötige Bedingungen sie nicht erfülle. Bei seinen Worten wich der hineingepreßte Spott aus ihren Augen und sie füllten sich mit Tränen.
»Dann wünsche ich,« sagte sie, beinahe tonlos vor Aufregung »daß ich als Kranke aufgenommen werde! Ich habe eine Aufgabe!« Weil sie sich fürchtete, ihre Sache zu verderben, wenn sie den Arzt ansehe, blickte sie zur Seite, und ein wenig zur Höhe, und vielleicht irrten ihre Augen auch etwas umher. Ein Schauer erhitzte ihre Haut, die jetzt rot aufblühte. Sie sah nun schön und zärtlichkeitsbedürftig aus, aber es war zu spät; der Ärger über ihre Zudringlichkeit hatte den Arzt ernüchtert und zur Zurückhaltung bestimmt. Er fragte sie nicht einmal mehr aus, denn es erschien ihm ebenso mit Rücksicht auf den General und Ulrich, die sie hergebracht hatten, wie darauf, daß er selbst ihr seither nahezu unzulässige Begünstigungen eingeräumt habe, als das klügste, nicht zu viel von ihr zu wissen. Und nur aus alter ärztlicher Gewohnheit wurde seine Sprache von diesem Augenblick an noch sanfter und nachdrücklicher, während er Clarisse sein Bedauern darüber ausdrückte, ihren zweiten Wunsch erst recht nicht erfüllen zu können, und ihr riet, sich auch mit diesem Wunsch ihrem Bruder anzuvertrauen. Er teilte ihr sogar mit, daß er, ehe das geschehen sei, eine Fortsetzung ihrer Besuche der Klinik nicht zulassen könne, so sehr er sich damit selbst beraube.
Clarisse setzte seinen Reden eigentlich gar keinen Widerstand entgegen. Sie hatte Friedenthal ja schon Schlimmeres zugetraut. »Er ist ein tadelloser medizinischer Bürokrat« sagte sie sich, das erleichterte den Abschied; sie reichte dem Arzt unbefangen die Hand, und ihre Augen lachten verschmitzt. Sie war ganz und gar nicht niedergeschlagen und überlegte sich, die Treppe hinabsteigend, schon andere Möglichkeiten.

Von da ab Entschluß, Moosbrugger gewaltsam zu befreien. Weiß nicht, wie. Ulrich, der so etwas vielleicht wüßte und dadurch wieder in Interessensphäre kommt, nicht da. Sie zieht aus wie ein Ritter, das oder den zu finden, der es ermöglichen wird. Damit beginnen ihre Abenteuer und Sanatorium. Ist für sie in erster Linie Selbständigkeit, Trennung von Gewohntem und von Walter.


Insel


Insel I
Clarisse trifft ein, während Agathe und Ulrich noch beisammen sind. Bleibt ein-drei Tage Hotel, in welcher Zeit sie ihre Insel sucht und findet. Erzählt während dieser Zeit die Moosbrugger-Geschichte. Lädt Ulrich auf die Insel ein (oder Ulrich und Agathe) und Ulrich fährt hinüber. Verbringt einen halben Tag mit ihr. Ihre Hütte, usw. Es kommt also wahrscheinlich nicht zu Koitus, sondern nur zur Bereitschaft Clarisses. Das Material der alten Koitus-Szene ist aber so zu verwerten.
Insel II
I) Agathe hat nur ein paar Zeilen auf einem Zettel hinterlassen. Inhalt?
II) Walter trifft kurz danach ein, gegen Abend. – Ulrich unwillkürlich: Hast du Agathe getroffen? Das ist nicht geschehn. Aber daß Agathe bis zuletzt da war, beruhigt seine Eifersucht. Walter etwas dicker Bauch. Ulrich führt ihn zu Clarisse. Clarisse sitzt irgendwo am Strand. Ulrich hat sich nicht um sie gekümmert. Walter fühlt tiefe Zusammengehörigkeit mit der Kranken und Verlassenen. Sie gehen in die Fischerhütte. Es sieht so aus, als ob sie zu dritt hier gewohnt hätten. Sie richten sich zu dritt ein. Walter sagt nichts darüber; tut, als verstünde es sich – wegen Aufsicht – von selbst.
III) Wie nimmt Clarisse das hin? – Das hängt auch vom Vorangegangenen (Insel I) ab, das noch unbestimmt ist.
Einfall: Sie beichtet. Wenn zwischen ihr und Ulich Koitus, so das; aber wahrscheinlicher (wegen Agathes Nähe) ist Koitus nur auf Andeutungen zu reduzieren, eine halbe Verführung Ulrichs durch Clarisse. Es ist also nichts vorgefallen, und es ist auch szenisch stärker, wenn sie Erfindungen beichtet und Ulrich zuhört. Als Gipfel brauchbar: Plötzlich oder stufenweise übergeht die heftige sexuelle Erregung in das mystische Gefühl der verklärten Gottvereinigung, die fast vorstellungslos ist.
Walter glaubt wohl nicht, Ulrich gibt ihm auch ein Zeichen, aber etwas Glaubhaftes ist doch daran, gleichsam eine bloß zufällige Nichtwahrheit.
IV) Um Clarisse beim Auskleiden allein zu lassen, gehen sie vor die Tür, dann gegen den Strand. Walter sagt, weil er eifersüchtig ist: Es ist Wahnsinn, an der Treue eines Menschen zu Es gibt Lagen, wo man mit Recht ungewiß ist. Er sieht im Halblicht Ulrich von der Seite an. Aber man muß den Mut haben, sich täuschen zu lassen. Das ist so, wie eine Kugel manchmal einheilen muß. Es kann aus dieser Täuschung, die man in sich schließt, etwas Großes entstehn. Es kommt nicht nur auf Treue zwischen Mann und Frau an, sondern auch auf andere Werte.
Er sagte nicht: Größe, aber er dachte es wohl. Er kam sich bedeutend, und vor allem männlich, vor, weil er keine Szene machte und nicht in Ulrich drang, die Wahrheit zu bekennen. Er war irgendwie dem Schicksal dankbar für diese große Prüfung. Übergehend oder zusammengezogen mit:
V) Am Rand der Melancholie der abendlichen See setzen sie sich. Sie ist der Stern meines Lebens gewesen! sagte Ulrich zuckt aber bei der Berührung des Namens Treue zusammen. Er ist gar nicht so großartig wie Walter.
VI) Walter knüpft nun an Stern meines Lebens an, führt es fort. Nun geht sie in Nacht unter, was wird aus mir werden? (Eigentlich muß hier Walter schon erzählen, daß er eine neue Beziehung angeknüpft ) Er hat in diesem Augenblick diese Wichtignehmerei seiner selbst, die sie in der Jugend hatten. Er geht aus sich heraus: Ich bin an einem kritischen Punkt. Du kannst dir nicht vorstellen, was ich in dem letzten Jahr gekämpft und gelitten habe. Schließlich ist doch mein ganzes Leben ein Kampf gewesen. Man hat sich Tag und Nacht mit dem Degen in der Faust geschlagen. Aber hat es einen Zweck? Ich glaube, daß ich jetzt so weit gekommen wäre, wirklich der sein zu können, der ich sein wollte; aber hat es einen Sinn? Glaubst du denn, daß wir in der heutigen Zeit irgendetwas von dem rein verwirklichen könnten, was wir als junge Leute gewollt haben?
Ulrich saß da, in einem dunkelblauen Fischerwollsweater, er war abgemagert, und die Breite seiner Schultern trat dadurch noch mehr hervor und die sehnige Kraft seiner Arme, die er vorgebeugt auf die Knie gelegt hatte, – und er hätte am liebsten geheult bei dieser abendlichen Kameradschaft. Finster erwiderte er: Erzähl mir nichts von deinen Siegen. Du bist unterlegen und willst dich endlich ohne Scham übergeben. Du bist jetzt Anfang dreißig. Und mit vierzig Jahren ist jeder erledigt. Und mit fünfzig sieht er sich in einem befriedigenden Leben und wird noch dazu bald alle Plagen hinter sich haben. Es geht nur denen gut, die unterkriechen und sich anpassen! Das ist alle Weisheit des Lebens! Denen, die unterliegen, ist das bessere Teil beschieden! Und nichts ist schlimmer als Alleinsein! Er war niedergeschlagen. Seine Grobheit behinderte Walter nicht, es zu bemerken.
VII) Die eigentümliche Stimmung: ein schwacher und ein starker Mensch. Walter erzählt von der Bekanntschaft mit dem in seiner Nähe wohnenden Ministerialrat und seiner Aussicht auf eine Ministerialkarriere. (Er hat einen letzten gefunden, dem er Eindruck macht. Der Ministerialrat erzählt ihm, daß er ihn schon lange beobachtet habe, usw.)

Zu I) Ulrich ist verzweifelt. Es ist nur eine Schwäche von ihm gewesen, daß er sich mit Clarisse abgegeben hat. Sie wäre vorbeigegangen, vielleicht schon in einem Tag, und es wäre noch alles möglich gewesen. Aber er fühlt, daß Agathe die richtige Entscheidung gewählt und dem Unvermeidlichen vorgegriffen hat.
Agathes Zettel fängt an: Gel – Sie hat es nicht zu Ende geschrieben. Inhalt vielleicht: Südseeinsel. Unwillkürlich angeknüpft an Insel.
Zu VI oder VII) Ulrich hat den Impuls, Walter den Hals abzudrehen. Aber es gibt einsamere Inseln, wo man das nicht tun kann, ohne entdeckt zu werden. In die gedehnte Süße der letzten Zeit strömt dieser Hang zur Gewalt und rohen Tat wie die Natur ein.
Zu II) und eventuell das dazu: Walter bittet ihn, ihm behilflich zu sein, Clarisse in ein Sanatorium zu bringen. Ulrich lehnt brüsk ab. Er will noch einen Tag allein an der Stelle zubringen, wo er und Agathe…Läßt Walter an Siegmund telegrafieren, fährt aber nicht selbst mit dem Telegramm ins Hotel; Walter muß es tun, oder sie schicken einen Boten.
Zum Ganzen: Es ist noch zu suchen der Hauptvorwurf Walters gegen Ulrich.
Zu IV) ist beizuziehn: Was Walter über negative Empfindungen sagt, kann Ulrich erinnern und reizen. Dann spricht Walter von Eifersucht. Das knüpft ans Gegebene an, ist aber – retrospektiv – zugleich eine Abrechnung. Auch: Warum erlaubst du Clarisse dann nicht, mich zu lieben? Weil du mich nicht magst! Ist eine mögliche Einkleidung zur Abrechnung. Diese aber?
(Ich könnte Clarisse nicht verbieten, Meingast oder dich zu lieben. – Vielleicht doch! – Eventuell: Leibdichter.) (Den Unterschied zwischen gesund und krank findet man nicht am Wesensgrund.)
Zu VII) Wenn Walter erzählt: Ich werde jetzt das und das tun, so rinnen ihm doch von Zeit zu Zeit die Tränen herunter.
Das Dazugehörige. Worauf und warum ist man denn eigentlich eifersüchtig?! Fällt im Ton aus der hier geplanten Szene heraus. Es ließe aber zwei Anknüpfungen zu: I) Ulrich macht sich Gedanken wegen Agathes Zukunft. Es wird ihn auch noch weiterhin Eifersucht plagen, und was er sagt, ist höhere Einsicht, die er sich gleichsam vorsagt. Aber dieser Gedanke findet seine Vollendung ja doch im anderer-Zustand-Kreis und ist also im Augenblick schmerzlich halbwahr und untersagt. 2) Eifersucht ist auch die Abneigung der Menschen gegeneinander und der Nationen. Dem stellt es eine zur Verträglichkeit führende Überlegung entgegen. Dem Sinn nach ungefähr: Wetteifer statt Eifersucht auf die albernen Zufälle, die uns aufbaun. Mit dem Gipfel: Wir sind alle nichts! – Das wäre ungefähr der Stimmungsschluß, mit dem er ins Leben zurückkehrt. Ist an den Hauptproblemen zu prüfen.
Daraus zwei Fragen gezogen: I) Worin besteht die Abrechnung Walters mit Ulrich? 2) Soll das Gespräch über Eifersucht allgemeine Bedeutung haben?
Vorderhand beantwortet: Das ergibt eine in IV)ff einzuarbeitende Ergänzung der Gesprächsführung, und zwar als Hauptproblem. Mündet in die Fragen: Selbstmord oder Werk. Werk und Menschheitszuversicht. Theoretiker im Verhältnis zur Gegenwart. Das bestimmt Ulrichs Schicksal, und er entscheidet später für Selbstmord – Krieg.
Das hängt nun aber aufs engste zusammen mit den Kapiteln: Museum, Krisis, Aussprache mit Arnheim, eventuell letzte Aussprache mit Walter und mit General. Ferners mit den Problemen Ahnen – Glauben und Mann ohne Eigenschaften – Tat.
Nachtrag zur Aussprache: Ulrich zieht das Fazit seiner Entwicklung. Band I hat Ulrich zu Diotima gesagt: Es ist schwer in der Welt das Richtige zu fühlen; ganz entgegen dem allgemeinen Vorurteil gehört beinahe Pedanterie dazu. Wären die Menschen sachlich, so wären sie unpersönlich und dann wären sie auch ganz Liebe: Von hier ließe sich die Eifersuchtsfrage anfassen!