1.
Ein grauenvolles Kapitel
Um zwölf Uhr, ohne Unterschied der Nacht, wurde das schwere Holztor der Einfahrt geschlossen, und zwei armbreite Eisenstangen wurden dahintergelegt; bis dahin erwartete eine verschlafene, bäurisch aussehende Magd verspätete Gäste. Nach einer Viertelstunde führte sein langsamer, weiter Rundgang einen Schutzmann vorbei, der die Sperrstunde der Wirtschaften überwachte. Um ein Uhr tauchte aus dem Nebel der aufschwellende Dreischritt einer Patrouille auf, die von der nahegelegenen Trosskaserne kam, hallte vorbei und wurde wieder kleiner. Dann gab es lange Zeit nichts als das kalte, feuchte Schweigen der Novembernächte; erst um drei Uhr kamen die ersten Wagen vom Land herein. Mit schwerem Lärm brachen sie über das Pflaster; in ihre Tücher gewickelt, taub von Geprassel und Morgenkälte schwankten die Leichname der Kutscher hinter den Pferden.
War das so gewesen, oder nicht, als in dieser Nacht kurz vor der Sperrstunde das Paar ein Zimmer verlangte. Die Magd schloß vorerst ohne alle Eile das hohe Tor, legte die Riegel vor, und ging dann ohne zu fragen voraus. Es kam erst eine steinerne Treppe, dann ein langer, fensterloser Gang, kurz und unerwartet zwei Ecken, eine Treppe mit fünf, von vielen Füßen ausgemuldeten Steinstufen, und wieder ein Gang, dessen gelockerte Fliesen unter den Sohlen schwankten. An seinem Ende führte, ohne daß dies die Besucher befremdete, eine
Steige von wenigen Sprossen zu einer kleinen Diele empor, in welche drei Türen mündeten; sie standen nieder und braun um das Loch im Boden.
»Sind die andren besetzt?«
Die Alte schüttelte verneinend den Kopf, während sie, sich mit der Kerze leuchtend, eines der Zimmer aufschloß; dann stand sie mit hochgehobenem Licht und ließ die Gäste eintreten. Es mochte ihr noch nicht oft vorgekommen sein, hier Seide rauschen zu hören, und das Trippeln der hohen Absätze, die erschreckt jedem Schatten auf den Fliesen auswichen, erschien ihr dumm; störrisch und stumpf sah sie der Dame, die jetzt an ihr vorbeimußte, geradaus ins Gesicht. Die nickte ihr in der Verlegenheit herablassend zu und konnte wohl vierzig Jahre alt sein oder einiges darüber. Die Magd nahm das Geld für das Zimmer, löschte im Hausflur das letzte Licht aus und legte sich in ihre Kammer.
Danach war im ganzen Haus kein Laut. Das Licht der Kerze hatte noch nicht Zeit gefunden, in alle Winkel des elenden Zimmers zu kriechen. Der fremde Herr stand wie ein flacher Schatten am Fenster, und die Dame hatte sich, das Ungewisse erwartend, auf dem Bettrand niedergelassen. Sie mußte quälend lange warten; der Fremde rührte sich nicht auf seinem Platz. War es bis dahin so schnell gegangen, wie ein Traum anhebt, so stak jetzt jede Bewegung in zähem Widerstand, der kein Glied losließ. Er fühlte, diese Frau erwartete etwas von ihm. Ihr Mieder öffnen: das wäre, wie man die Tür eines Zimmers aufschließt. Da stand in der Mitte ein Tisch. Um den saßen der Mann, der Sohn. Er beobachtete es geheimnisvoll, feindselig, ängstlich und voll Überhebung. Er hätte eine
Granate hineinwerfen mögen oder die Tapete in Fetzen herunterreißen. Mit äußerster Anstrengung gelang es ihm endlich, dem zähen Widerstand wenigstens einen Satz abzuringen.
»Hattest Du mich denn gleich bemerkt, als ich Dich ansah?«
Ach, es gelang. Sie konnte ihre Ungeduld nicht mehr bemeistern. Sie hatte sich verleiten lassen, man sollte aber nicht glauben, daß sie schlecht sei. So mußte sie ihn, zur Rettung ihrer Ehre, noch immer zauberhaft finden. Das Blut, das sich ihr vor Angst und Unwillen in den Hals hob, stürzte nun kopfüber in die Hüften.
Er fühlte in diesem Augenblick, daß es ganz unmöglich sei, einen Vogel in die Hand zu nehmen, und diese nackte Haut sollte sich an seine nackte und ungeschützte Haut pressen? Seine Brust sich aus ihrer mit Wärme füllen? Er suchte es mit Witzen zu verzögern. Sie waren gequält und ängstlich. Er sagte: »Nicht wahr, starke Frauen schnüren ihre Füße? Mit den Schuhen. Und oben am Bund quillt dann das Fleisch etwas über, und dort sitzt ein kleiner unnachahmlicher Geruch. Ein kleiner Geruch, den es sonst nirgends in der Welt gibt?«
Sie antwortete sich: er muß ein Dichter sein, nun verstehe ich das sonderbare Benehmen. Später werde ich die Wirkung der distinguierten Frau auf ihn ausüben. Sie begann sich entschlossen auszukleiden, sie war es ihrer Ehre schuldig.
Nun bekam er Angst; er wußte jetzt sicher: niemals kann ich diesen Sprung in einen andren Menschen hinüber machen, mich in sein wildfremdes Leben einlassen. Auch in ihr stieg Mißmut auf; auch in ihr Angst. Wie, wenn sie einem Unverschämten zum Opfer gefallen wäre? Sie kannte ihn
nicht. Die Dame, die ihren Namen verschwiegen hatte, begann zu bereun. Sie hielt inne mit den Kleidern, da er sich noch immer nicht regte. Aber eine Mahnung sagte ihr, es wird besser werden, wenn wir erst weiter sind.
Das fühlte er alles. Ihn quälte die Vorstellung: Aufmachen! Wie ein Kinderspielzeug. Da steht immer wieder eine neue fensterlose Mauer der Enttäuschung, bis man erzürnt das Ganze zerschlägt. Und die zweite Qual war: Sie verfolgt mich. Sie rollt so aus sich heraus. Immerzu knapp vor mir her. Was redet sie unaufhörlich? Ich muß mich wie ein Hund auf den runden rollenden Ball ihres Lebens stürzen. Seine Augen gingen wie Hunde an einer Kette hin und her.
Und sie fühlte, daß sie ihm Unrecht tat; mußte er ihr nicht mißtrauen, da er sonst nichts von ihr wußte, als daß sie ihm gefolgt war? Sie wollte ihm sagen, daß eine plötzliche übermütige Laune – oder daß Leopold zwar ein guter Mensch sei … Da hörte er sich den sinnlosen Satz sagen: jung ist, wer liebt. Im gleichen Augenblick hingen ihre Arme um seinen Hals.
»Geliebter, Geliebter! Laß Deine Augen, Du siehst so leidend und edel aus!«
Da hob er mit der Kraft der Verzweiflung die Last hoch und hörte sich fragen: »Willst Du Musil? Musil-musil? Oder magst Du lieber Walzel … ?« (Ein wenig bekannter Dichter und ein bekannter Literarhistoriker.) Sie hielt das für Fachausdrücke aus einer Herrengesellschaft. Sie wollte sich keine Blöße geben. Sie heimelten sie an. Seine Zungenspitze berührte ihre Lippen. Dieses alte Menschenverständigungsmittel, welche Stirnen immer über solchen Lippen sitzen, war ihr bekannt. Sie machte
langsam ihre Zunge breit und schob sie vor. Dann zog sie sich rasch zurück und lächelte schalkhaft; ihr schalkhaftes Lächeln, wußte er da, war schon berühmt, als sie noch ein Kind war. Und sie sagte aufs Geratewohl, vielleicht von irgend einer Klangverknüpfung bestimmt: »… Lieber walzeln. Mein Mann bleibt acht Tage verreist.«
In diesem Augenblick biß er ihr die Zunge ab. Es schien ihm lange zu dauern, bis die Zähne ganz durch kamen. Dann fühlte er sie dick im Munde. Der Sturm einer großen Tat wirbelte ihn empor; die unglückliche arme Frau war derweilen eine weiße, blutende, in einer Zimmerecke um sich schlagende, um einen hohen, heiser kreischenden Ton, um den taumelnden Rumpf eines Lauts kreiselnde Masse.
Es ist wohl nicht nötig zu sagen, daß dies kein wahres Erlebnis ist, sondern ein Traum, denn in wachem Zustand denkt so etwas kein anständiger Mensch.
Der Ort dieses Traums lag an einer der radial vom Kern ausstrahlenden Hauptverkehrsadern Wiens. Trotzdem Wien, seit der Zeit, wo Weltstädte voll ganz großer Raserei entstanden, nur noch eine Großstadt blieb, füllte der Verkehr diesen Straßenschlauch in den Stunden des Anschwellens mit jenem berauschenden Lebensstrom, den man nicht ohne Vorteil für die Lebendigkeit des Denkens mit einem Schweinetrank vergleicht. In einer nicht mehr durchsichtigen Flüssigkeit von Stimmen der Menschen, Metalle, Luft, Steine, Hölzer, in einem angenehm säuerlichen Geruch der Eile, durch das stehende Gewimmel bei tausend Geschäftsöffnungen ein- und auslaufender Interessen schob sich der schwere Brei der
Fußgänger und schossen die dunklen Brocken der Autos dahin. Etwa fünfzig Autos mit dreißig Kilometer Stundengeschwindigkeit kamen an dem Ort dieses Traums in der Minute vorbei, und vielleicht sechshundert Fußgänger. Der Blick läuft auf einem Streifen von vielleicht zwanzig Metern Breite unaufhörlich, bald mit der Geschwindigkeit eines Kraftwagens, bald mit der doppelten – um den nächsten festzustellen und den ersten noch einzuholen – hin und her, und muß außerdem inzwischen noch ungefähr zehn Fußgänger in der Sekunde beachten. Man rechne Geruch, Gehör, gereizte Erinnerungen, Begehren, Unbehagen und alle andren seelischen Vorgänge hinzu, die sich an diese fliegenden Eindrücke hängen, so hat man den tollen Universalfilm, in dem ein an dieser Straße wohnender Mensch hauste.
Der Ort lag aber nicht selbst an diesem Film, sondern nur sein Gartengitter. Wenn man an diesem Gitter vorbeitrieb, so lag dahinter ein gepflegter Garten, man sah zwischen Bäumen eine geschorene Wiese; und an ihrem Ende durch die offenen Fenster eines weißen, breitflügeligen kleinen Hauses in die vornehme Stille der Bücherwände einer Gelehrtenwohnung. Zwischen ihr und der Natur vor dem Gitter war die Unnatur von Bäumen, Schalldämpfung und reiner Luft eingeschaltet; wie ja auch zwischen dem Leben und dem Denken eines Gelehrten die Unnatur verschiedener Ideale und Antiquitäten liegt (und nur ein sehr komplizierter Zusammenhang ermöglicht, daß sich das Leben die Gelehrten leistet.«
Der Gelehrte, welcher leider so geträumt hatte, besaß sehr viele Freunde unter Männern und Frauen und war ein sehr angenehmer, schöner und wohlhabender junger Mann. Um ihn nicht
bloßzustellen und aus verschiedenen Gründen sei angenommen, daß er einfach Anders hieß.
Ein weiblicher seiner Freunde befand sich augenblicklich bei ihm und hieß Leontine, von ihm Leona genannt. Sie war Liedersängerin, Variété. Groß, schlank, voll; junonisch, aber nicht in dem gebräuchlichen Sinn, der unter Juno eine hochgewachsene Amme meint. Sie war ihm aufgefallen durch das feuchte Dunkel ihrer Augen. Durch einen schmerzlich leidenschaftlichen Ausdruck ihres regelmäßigen, schönen, langen Gesichts. Sie sah aus wie eine große schmachtende Frau aus dem Jahre siebzig.
Sie sah aus wie eine Frau nach den Bildern Makarts; wie das Mädchen mit den großen aufgerissenen Augen auf einer Radierung jener Zeit, die seine Mutter sehr geliebt hatte; wie Scheffels Herzogin in der Seele des Lesers, als sie Ekkehard über die Schwelle des Klosters trug.
Ihm fiel sogleich eine ganze Wohnung ein. Rotblau-braune Teppiche und Portièren, ein wie mit Mehl angerührtes Licht, Wedel aus Pfauenfedern und Schilfkolben, Möbel mit tausend gedrehten Säulchen und Zacken. Das war eine Spießbürgersinnlichkeit, die auf dem Maskenball Sultan und Suleika spielte. Durch und durch feig und verlogen. Aber –: das ganze Leben lang.
Wie soll man das bewerten.
Anders lag auf dem Diwan und dachte an die schöne Leona. Wie eine Löwin war sie – vom Kürschner ausgestopft. So war auch die Zeit seiner Mutter. Die Zeit also, der er selbst entsprang.
Warum sollte man eigentlich feig und verlogen sein, wenn man über der Sehnsucht ein Kostüm trägt und sich sonst benimmt wie ein Mensch der Gegenwart? Kann man überhaupt mehr tun? Er
begriff die Dezenz jener Zeit, die sich türkische Hosen anzog, ohne zuzulassen, daß man daraus Konsequenzen ableite.
Auch bei Leona stand auf dem Zettel: Dezentes Familienprogramm.
Es ist geradezu unheimlich, wie wenig entfernt man von Zeiten ist, die man tief verachtet. Damals zog man seine Sinnlichkeit an, heute denkt man sie; und glaubt wesentlich mehr Kraft und Aufrichtigkeit zu beweisen.
Wenn Anders sich in Leonas Gesicht hineindachte, so bemerkte er darin eine Menge kleiner Züge, die gar nicht wirklich sein konnten und doch dieses Gesicht ausmachten. Er witterte die Bedeutung solcher anachronistischer Gesichter: Es gibt natürlich zu allen Zeiten alle Arten von Antlitzen. Aber je eine wird vom Zeitgeschmack emporgehoben, glücklich gemacht. Schönheit. Alle anderen Gesichter suchen sich ihr anzugleichen und selbst ganz häßlichen gelingt das zuweilen mit Hilfe von Frisur und Kleidern. Nur jenen unglücklichen nicht, in denen sich ausdrücklich ein anderes Schönheitsideal ausprägt, ein abgesetztes, unterworfenes und in die Sklaverei verschlepptes.
Solche Gesichter zur Unzeit sind so hilflos und pervers! Bevor Anders darauf kam, hatte er es abstoßend gefunden, wie Leona allein auf der Bühne stand, groß und verlassen bis in die Knochen, und mit einer unpassenden Stimme unpassende Lieder sang, richtige Lieder voll bürgerlicher Sentimentalität nämlich, als hätte man eine beliebige Frau und Mutter vom Sonntagsnachmittagsspaziergang weg und da herauf geholt. Seltsamerweise findet sich diese Programmnummer in allen Variétés. Leona sang die ihre mit unendlicher
Leidenschaftslosigkeit in ein Publikum hinein, das für sie nicht zu existieren schien; sie las sie aus einem unsichtbaren Buch ab, aber mit falscher Empfindung.
Nach der Bedeutung seines abscheulichen Traums näher zu fragen, wäre unpassend, hingegen läßt sich nicht vermeiden, Christian Moosbrugger zu erwähnen, denn Moosbrugger war zweifellos am Zustandekommen beteiligt. Wer war Christian Moosbrugger? Das, was ihn von anderen gutmütigen und rechtlich denkenden Zimmerleuten unterschied, war lediglich, daß er wegen mehrerer Lustmorde hingerichtet werden sollte.
In einem der Zeitungsberichte, deren Sammlung vor Anders lag, während seine Hand einen uneröffneten Brief hielt, hieß es von ihm: gutmütig. So ähnlich beschrieben ihn auch alle andren Berichte, aber das mit dem Lächeln stimmte zum Beispiel schon nicht; und überhaupt war die Sache mit seinem eitlen Lächeln, seiner Gutmütigkeit und seinen ungeheuerlichen Taten gar nicht einfach.
Er war zweifelsohne ein zuweilen geisteskranker Mensch. Aber da die bestialischen Schandtaten, die er in diesem Zustand beging, in den Zeitungen mit äußerster Ausführlichkeit geschildert und von ihren Lesern durstig aufgesogen wurden, mußte seine Geisteskrankheit etwas von der allgemeinen Geistesgesundheit an sich haben. Er hatte eine Frauensperson, eine Prostituierte niedersten Ranges, in grauenerregendster Weise mit dem Messer zerschnitten und die Zeitungen verzeichneten voll eines nun allerdings unverständlichen Genusses erbarmungslos eine vom hintern Teil des Halses bis zur Mitte des Vorderhalses reichende Wunde, weiters zwei Stichwunden in die Brust, welche das
Herz durchbohrten, weiters zwei in die linke Seite des Rückens und das Abschneiden der Brüste; ihre Berichterstatter und Redakteure konnten auch trotz ihres Abscheus nicht wegsehn, bevor sie nicht 35 Stichwunden im Bauch gezählt hatten, der von einer bis zum Kreuzbein laufenden Wunde überdies aufgeschlitzt war, die sich in einer Unzahl von Wunden den Rücken hinauf fortsetzte, während der Hals Würgspuren trug.
Vielleicht darf man das gar nicht wiederholen, denn es ist fraglich, ob man dem Dichter dabei den Schutz der Berufspflicht zubilligen wird, den die Zeitungen genießen, welche wie die nächtlichen Männer mit vergitterten Laternen und Schifferstiefeln in alles hineinsteigen müssen, wofür die Menschheit nach dem Aufwachen Interesse zu bekunden pflegt. Aber es kann schließlich nirgends anders als nur an einem weniger seriösen Ort, als es die Zeitungen sind, gesagt werden, wie bemerkenswert es sei, daß die schändlichen Ausschreitungen Moosbruggers, kaum daß sie bekannt gemacht wurden, von tausenden Menschen, welche durchaus die Sensationslust des Publikums tadeln, sofort als »endlich einmal wieder etwas Interessantes« empfunden wurden; von tüchtigen Beamten, die schon Eile hatten, ins Büro zu kommen, wie von ihren 14-jährigen Söhnen und den von Haussorgen umwölkten Gattinen. Man seufzte zwar über eine solche Ausgeburt, aber man wurde von ihr innerlicher beschäftigt als von seinem Beruf. Ja, es mochte sich ereignen, daß beim Zubettgehn der korrekte Herr Sektionschef Tuzzi oder der zweite Obmann des Naturheilvereins seiner schläfrigen Gattin sagte: »Was würdest du anfangen, wenn ich jetzt ein Moosbrugger wäre?«
Anders blätterte in den Zeitungsausschnitten, die er über den Fall gesammelt hatte, vor und zurück, dachte nach, blickte zuweilen durch Fenster, Bäume und fernes Gitter in den bräunlichen Kanal der Straße mit den dunkel hindurch schießenden Fleischstücken und hielt noch immer in der andren Hand den Brief. Anders hatte dieses Schreiben erst gar nicht öffnen wollen. Es lag aber da wie ein Block, der den Weg in den Tag hinaus versperrt. Er nahm eine scharfe kleine Klinge und schnitt ihn auf. In der Hälfte des Wegs fiel ihm auf, wie respektvoll dies geschah, mit einem sich unter der unwillkürlichen Nachwirkung jahrelanger Abhängigkeit matt abkühlenden Selbstvertrauen, er fuhr mit dem Finger hinein und riß den Umschlag roh auf. Nachdem er gelesen hatte, warf er den wütend zusammengeknüllten Brief unter den Tisch. Dieser Brief, Zeugnis einer festen, sozial eingeordneten, von sicheren Gefühlen gelenkten Gesinnung, erschien Anders nicht einmal zu jener Opposition geeignet, in der die Jugend geistig zu ihren Vätern steht. Aber er mußte ihn vom Boden wieder aufnehmen und glätten, damit ihn der Diener nicht finde.
Anders schämte sich des Samens, der ihn gezeugt hatte. Aber eine gewisse bittere Sympathie war dem beigemengt. Er fühlte empfindlich die bedientenhafte Unterwerfung eines immerhin noch zum Geist gehörigen Menschen unter die Besitzer von Pferden, Äckern und Traditionen; er kannte genau, durch seine Dienstzeit beim Militär, den präzis wägenden Takt, der ein kleines, gerade ausreichendes Maß Liebenswürdigkeit in die hochmütige Überraschung mengt, mit der sie entgegengenommen wird. Aber wie ein von einer Kloake
verunreinigtes Wasser im weiteren Lauf wieder der reizendste Bach wird, blieb in einiger Entfernung von solchem Geschehn, in den bürgerlich wissenschaftlichen Kreisen, in welchen sein Vater lebte, nur die Tatsache, daß er in Beziehung zu hohen Familien stand, was ihm den Ruf des aristokratischen, vornehmen Professors eintrug und ihn nicht wenig förderte. Und da sein Vater in seinen Gesprächen niemals herausfordernden Gebrauch von diesen Beziehungen machte, kam er überdies in den Ruf vornehmer Bescheidenheit; seine Bescheidenheit hätte aber niemals als vornehm gegolten, wenn sie in ihrem Oberlauf nicht würdelos gewesen wäre.
Das überblickte Anders, aber er war weit davon entfernt, solchen Feststellungen, auf die sich die Lebensweisheit des gereiften Mannes etwas zugutehält, sein Interesse zu schenken: er schämte sich eigentlich dieser Weisheit, die sein Vater in ihm erregte, selbst wenn er ihn nur betrachtete. Er war jung genug, um zu durchschaun, daß man sich eine Freude an den Daseinsschnörkeln einredet, wenn nichts mehr ans wollende Herz greift.
Näher als die Lebenshaltung ging ihm die Denkart seines Vaters. Ihm fiel plötzlich ein, daß ihre Philisterhaftigkeit auf die Romantik einer Vorgeneration gefolgt war, und daß nun wieder auf sie selbst eine Romantik folgte, welche die Wiederkehr des Philisters schon in sich trug. Der hier Anders heißt, beging die Unvorsichtigkeit, seine eigene Generation zu hassen.
Sie befand sich gleich ihm in Gegensatz zu ihren Vätern. Aber in ihrem gläubigen Willen, wieder zu einer Inbrunst des Denkens zu gelangen, in ihrer Abneigung gegen die Verstandesarbeit, in ihrem Verlangen nach großen, einfachen Gefühlen, in
ihrer Hoffnung, wenn man den Kopf ausschalte, durch Nervenschwingung und von Herz zu Herz mit jedem Menschen sprechen zu können – es ist hier natürlich nur von den Verantwortlichen die Rede, die in Gedichtbänden, Dramen, als Leiter christlicher oder sozialistischer Bildungsbestrebungen, in Schriften über das Theater oder den Gemeingeist einen schweren Kampf um die Seele der Zeit ringen, während die seelisch Unmündigen ihre Zeit mit der Ausbildung von Ultramikroskopen, Schnellbahnen, Kinos und Flugmaschinen verbringen – in dieser Blüte höchst schwingender Geistigkeit vermochte Anders nichts zu sehn als die feurige Vorbereitung einer ungeheuren Talentlosigkeit. Er vermochte zu behaupten, daß sie alsbald in seinem Vater ihr Ideal erblicken werde, denn da stand schon die Reflexion unter der Leitung großer allgemeingültiger Gefühle und das Gefühl hatte Vernunft als natürlich in sich.
Er liebte natürlich auch seinen Vater nicht. Aber da er beinahe lieber seinem Vater folgen und zum Grafen Stallburg gehn wollte, als heute ein geistiger Mensch sein, vergrub er sich mißmutig wieder in die Berichte, welche ihn über Moosbrugger nachdenken machten.
Und nun passierte es ihm, daß ihn ein aufgelegter und noch dazu schrecklicher Narr ergriff. Anders konnte Moosbrugger unheimlich gut verstehn. Er war in seiner Jugend ein Hüterbub und armer Teufel gewesen. In der kleinen, aus zerstreuten Häusern bestehenden Gemeinde gab es keine »Straße«, wo man sich fand und aussprechen konnte, bis man voneinander und sich selbst genug hatte. So konnte er Mädel immer nur sehen. Auch später in der Lehre und dann gar auf den Wanderungen als
Zimmermann. Man hat nicht gelernt, natürlich mit den Menschen zu verkehren, man war zu viel allein; man weiß nicht, wie leicht es ist, ihnen zu gefallen, und weil man sich nicht traut, so dumm gewinnend zu ihnen zu sein, wird man unaufhörlich von ihnen gekränkt und in der eignen Würde beleidigt.
Es ist nicht zu leugnen, daß Anders die Taktik Moosbruggers stärkeren Eindruck machte. Er dachte zwar viel zu wissenschaftlich, um nicht die allgemeine Erfahrung anzuerkennen, welche die Richter leitete, jedoch in Moosbruggers Entgegnungen waren jene seltsamen Schattengründe stärker, und besonders dort, wo sie unmittelbar aus dem verwirrt Einsamen von Moosbruggers Leben kamen.
Da war das Ende einer teilnahmslos durchzechten Nacht, einer Nacht mit viel Lärm zur Beschwichtigung der inneren Unruhe. Es kann, ohne daß man betrunken ist, die Welt unsicher sein. Die Straßenwände wanken wie Kulissen, hinter denen etwas auf das Stichwort wartet, um herauszutreten. Am Rand der Stadt wird es ruhiger, wo man ins freie, vom Mond erhellte Feld kommt. Dort mußte Moosbrugger umkehren, um in einem Bogen nach Haus zu finden, und da, bei der eisernen Brücke, sprach ihn das Mädchen an. Es war so ein Mädchen, wie sie sich unten in den Auen an Männer vermieten, ein stellungsloses, davongelaufenes Dienstmädchen, eine kleine Person, von der man nur zwei lockende Mausaugen unter dem Kopftuch sah. Moosbrugger wies sie ab und beschleunigte seinen Gang; aber sie bettelte, daß er sie mit nach Haus nehmen möge. Moosbrugger ging; gradaus, um die Ecke, schließlich hilflos hin und her; er machte große Schritte, und sie lief neben ihm; er
blieb stehn, und sie stand wie sein Schatten. Er zog sie hinter sich drein, das war es. Er drehte sich um und spuckte ihr zweimal ins Gesicht. Es half nicht, sie war unverwundbar.
Das geschah in dem stundenweiten Park, den sie an seiner schmalsten Stelle durchqueren mußten. Da wurde es Moosbrugger gewiß, daß ein Beschützer des Mädchens in der Nähe sein müsse; woher hätte sie sonst den Mut genommen, ihm trotz seines Unwillens zu folgen? Überhaupt kam sie ihm wie ein verkleideter Mann vor. Er griff nach dem Steckmesser in der Hosentasche. Man wollte ihn zum besten haben; über ihn herfallen; immer steckt hinter den Weibern der andere Mann, der einen verhöhnt. Er sah Schatten sich bewegen und hörte das Holz knacken, während die Schleicherin demütig neben ihm wie eine ganz weit ausschwingende Uhr immer wieder nach einer Weile ihre Bitte wiederholte, aber es war nichts da, worauf sich seine Riesenkraft hätte stürzen können, und er begann sich von diesem unheimlichen Nichtgeschehen zu fürchten. Als sie in die erste, noch sehr düstere Straße kamen, stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und er zitterte. Er sah nicht zur Seite und wandte sich in ein Kaffeehaus, das noch offen stand.
Anders träumte vor sich hin. Er fühlte: Die Welt, Richter, Staatsanwalt, Arzt, alle Gewalten der Ordnung und Wahrheit waren gegen diesen Menschen; – müßte nicht er auf seine Seite treten, müßte er nicht endlich ernst machen und den Menschen den Spiegel der wahren Verhältnisse vorhalten? Schließlich rief er ungeduldig nach Leona, die im Nebenzimmer wohl eingeschlafen war. Oder hatte er gerufen, weil das auch eine aus einer Prozession
von Frauen war? War nicht sein Traum der eines Logikers? Ekel vor dem Rationalen, Sehnsucht nach dem sinnlos-sinnlich Tatsächlichen? Sich in das ekelhafte, blöde, träge Leben zu verbeißen.
Zweierlei stand in diesem Augenblick fest. Anders mußte sich der Entscheidung seines Vaters unterwerfen, von dessen Geld er abhing; denn wie er ihn kannte, hätte er sonst mit ihm brechen und für die eine Idee der moralischen Unabhängigkeit alle andren Ideen opfern müssen, die er zu verwirklichen hoffte. Das Zweite war, daß Moosbrugger damit in einer Weise zusammenhing, die ihn vorläufig noch beunruhigte, weil er sie nicht erkannte.
Was hätte ein moralischer Mensch in Anders’ Fall getan? Er hätte entweder Moosbrugger verabscheut und über seine Verurteilung Genugtuung empfunden; oder er hätte empfunden, daß hier die Begriffe des Rechts auf einen Kranken angewendet wurden, und hätte im Namen Gottes, der Psychiatrie oder der Humanität dagegen protestiert. In beiden Fällen würde er sich mit Vergnügen in die ihm vorgeschlagene große patriotische Aktion gestürzt haben; entweder um, das Vorkommen der Moosbruggers verwindend, mit dem Weltplan wieder ausgesöhnt zu werden, oder weil sie eine prächtige Möglichkeit bot, für die kreatürliche Unschuld der Moosbruggers zu agitieren und die Bewegung zur Abänderung der Zurechnungsfähigkeitsparagraphen des Strafgesetzbuches neu zu entfachen. Es muß gesagt werden, daß beide Vorstellungen Anders wie ungeheure Magnete der Langweile abstießen, während es noch durchaus unklar war, was ihn eigentlich anzog. Er sah zum Fenster hinaus und zerstreute sich durch Beobachtung der Straße. Das heißt, er zerrieb in einem Augenblick, von dem er das Gefühl hatte, daß
er über sein Leben entscheide, alles zu kleinsten Teilchen, was sich ihm hätte als fertiger Entschluß, als moralischer Grundsatz oder fester Charakterzug zur Hilfe anbieten können, und vertraute sich dem dunklen Ungefähr einer Phantasie an, die den rechten Einfall im Augenblick der Gefahr oder der höchsten Spannung aus den Tiefen eines starken Menschen aufsteigen läßt.
Er kannte diese seelische Taktik sich selbst gegenüber aus den psychologischen wissenschaftlichen Laboratorien, wo man zuweilen die Aufmerksamkeit durch künstliche Mittel ablenken muß, damit eine Versuchsperson sich wirklich so entscheidet, wie sie ist, sie war ihm aber auch vom Fechten, Boxen und allerhand Abenteuern her wohl vertraut, wo man erst dann fürchterlich sicher wird, wenn der Körper selbst die Führung übernimmt und das Ich wie von fern zusieht, wenn auch mit gespannter und beflügelnder Teilnahme. Die Dichter pflegen heute aus solchen Erlebnissen zu schließen, was sie auch sonst gerne aus allem schließen, daß die Menschen Denkschärfe, Überlegung und Wissen, kurz die Eigenschaften, mit deren Hilfe sie aus der Welt ein so merkwürdig raffiniertes Hotel gemacht haben, überhaupt nicht brauchen und besser täten, sich wie die Wilden oder die Dienstmädchen dem Rauschen des Bluts, den grundlosen Entscheidungen der Seele und der mythenbildenden Kraft der Unwissenheit anzuvertrauen. Anders schätzte diese Dichter nicht sehr. So wie er wußte, welches Training in einem Körper angehäuft sein muß, bevor seine in tausendstel Sekunden blind ausgeführten Eingebungen etwas wert sind, wußte er auch, wie viel man durchdacht haben muß, bevor man seine Gedanken dem
inneren Zufall anvertrauen darf; er liebte es mehr, mit einem Strolch zu boxen, als sich von einem zeitgenössischen Dichter über die Seele und was ihr not tut belehren zu lassen.
Aber wenn er sich auch der meisten Dichter bloß erfreute wie des zarten Fleisches fern von den Manneskräften der Zeit lebender würdiger Mastochsen oder Kapaune, mochte er doch auch seinen Vater nicht, trotzdem dessen auskristallisierter Juristenverstand gewiß ihr Gegenteil war. Er liebte überhaupt die Menschen nicht. Ihre Neuigkeiten, Geschäfte, Vergnügungen und Wichtigkeiten, ihre privaten und politischen Entscheidungen blieben ihm von irgendwo an vollkommen fremd. Trotzdem machte er sie bis zu diesem Grad gerne mit; an der Universität war er geschätzt, weil sein Verstand die Schärfe und Verläßlichkeit eines Dachshundes hatte, der vor den kleinsten und einsamsten Hügel als Aufgabe gestellt, so fanatisch gräbt, als müßte er den Erdball aufreißen, für Sport, Gefahr, Geschwindigkeit, Zusammenstöße hatte er eine so naive und selbstverständliche Neigung wie ein Arbeiterjunge, und von den Frauen wurde er geliebt, weil sie nicht wußten, warum. Aber von irgendwo an langweilten die Gefühle der Menschen seinen Verstand, ihre Verstandesleistungen ließen sein Gemüt unbeschäftigt, und ihre, aus beiden gemischten einfachen Lebensäußerungen flößten ihm Widerwillen ein, sobald er über sie nachdachte. – Das Gefühl seines Traums dämmerte sacht in Anders empor, während sein Auge der flackernden, eiligen Bewegung draußen vor Garten und Gitter folgte. Er bekam einen eigentümlichen Eindruck von seiner wartenden Existenz hier hinter einem Fenstervorhang.
Leona kam langsam durch die offene Tür, sie trug ein Ausflugskleid aus englischem Stoff und ließ einen eleganten einfachen Hut, wie man ihn am Lande trägt, mißmutig mit ihrem Arm hängen. Sie war von ihren Eltern, die in ehrlichen kleinen Verhältnissen lebten, nie geprügelt worden, wenn sie mit Verehrern ging. Das tat sie oft, aber warum, das war nicht zu begreifen. Daß sie unsinnlich war, könnte man nicht behaupten, aber wenn es erlaubt ist, möchte man sagen, sie war sinnlich unglaublich arbeitsscheu. Anders behauptete, in ihrem ausgedehnten Körper brauche jeder Reiz so lange, bis er das Gehirn erreiche, daß manchmal erst mitten am Tag ihre Augen zu zergehen begannen, während sie in der Nacht unbeweglich auf einen Punkt an der Zimmerdecke gerichtet gewesen waren. Oder sie begann unaufhaltsam über einen Scherz zu lachen, den man am Vortag gemacht hatte, weil sie ihn jetzt erst entdeckte.
Sie war durchaus anständig, die Unanständigkeiten, die ihr Beruf von ihr forderte, löste sie wie eine Schulaufgabe, bei der man im Können genügend und im Fleiß lobenswert erhält.
Sie hatte nur eine Leidenschaft und diese band sie sklavisch an Anders, seit er sie herausbekommen hatte: sie war in einem ungewöhnlichen Maß gefräßig.
Es war die Sehnsucht, die sie als armes kleines Mädchen, das sich nicht zu helfen vermag, nach kostbaren Leckerbissen gelitten hatte; jetzt lebte sie sie aus. Sie tat es mit der ganzen Kraft eines Ideals, das endlich seinen Käfig zerbrochen hat. Selbst jetzt gelang es ja nicht immer ohne Schwierigkeit. Männer erraten schwer und wollen von einer Frau, die sie sich abends aus dem Tingel-Tangel holen,
etwas ganz andres, als ihr essen zusehen; sie aber wollte nicht enden, sie hätte am liebsten die ganze Nacht durchgegessen, wenn man am Morgen rasch die ganze Liebesrechnung in großer Münze hätte bezahlen können, statt in der zeitraubenden Konventionseinheit, worin eine größere Dankbarkeit mehrere Stunden verlangt.
So ging es nicht immer ohne tiefere menschliche Konflikte ab. Sie mußte Ausflüchte suchen und es ist klar, daß der Mann, wenn die Geliebte während der ganzen Nacht nicht vom Tisch aufstehen und heimgehen will, sich verraten und einer Intrigantin zum Opfer gefallen glaubt. Er kann diese weibliche Seele nicht begreifen und ahnt in seiner gewöhnlichen Psychologie einen dritten; einigemale wäre sie sogar beinahe durchgeprügelt worden.
Ihre Dankbarkeit für Anders, der ihr zu essen gab, was sie sich nur erträumen mochte, war grenzenlos. Sie verlängerte ihren Aufenthalt in der Stadt, indem sie unter immer schlechteren Bedingungen von einem Engagement ins nächste überging, wenn sie sich an dem Ort, wo sie war, nicht mehr länger halten konnte, und sie war ihm so treu wie ein Magen, der unmöglich etwas Neues aufnehmen kann, wenn er von einem erfüllt ist, was man sonst von keinem anderen Organ der Liebe zu behaupten vermag.
Er brachte sie zur Vorstellung ins Variété, gab dem Bühnendiener ein Trinkgeld, dem überdies eine Ergreiferprämie versprochen war, damit er verhindere, daß Leona vor der Zeit Nahrung zu sich nehme, und setzte sich in eine Loge. Sie sang nie so süß und leidenschaftlich wie an diesem Hungertage und in die Töne ihrer Sehnsucht nach dem verbotenen Genuß mischte sich echt deutsche Schalkhaftigkeit, weil sie wußte, ihre Prüfung sei nun bald zu Ende.
Zuhause durfte Leona das Mieder ablegen und wurde gefüttert. Dies bestand darin, daß sie eine Viertelstunde lang von allen Speisen gleichzeitig aß, ohne zu reden, bis sie rot im Gesicht wurde und ihre Augen glänzten. War ihre schmerzende Leidenschaft, daß noch irgend etwas Ungekostetes vorhanden sein könnte, danach gestillt, so kam eine Zeit, wo sie gleichzeitig sprach und aß und Anders benützte sie, um die nötigen Mengen Getränke in das Mädchen hineinfließen zu lassen. So kam unvermittelt der dritte Teil, wo sie nicht mehr konnte und nur noch wollte. Durch schwarzen Kaffee oder mit Sekt vermischtes Porterbier wurde künstlich für eine kleine Weile die Aufnahmsfähigkeit wieder hergestellt und Anders, der selbst immer mäßigblieb, reizte sie jetzt mit Überraschungen, die er ihr bis dahin verborgen hatte. Wenn sie ganz voll war mit fremden Sachen, wie eine Schachtel, die kaum mehr zusammenhält, sah sie aus wie eine bloß etwas erhitzte und aufgeregte Bürgersfrau und begann, um sich Luft zu schaffen, ihre sentimentalen Lieder zu singen. Leid, Liebe, Treue, Verlassenheit, Sultan, Suleika, der blasse Sklave, Waldesrauschen und Forellenblinken strömten ihr aus Mund und Augen, wenn sie nicht gerade eine arge Zote von sich gab, die so unanständig war, wie es bloß jemand sein kann, dem die geschlechtlichen Beziehungen weder im Guten, noch im Bösen auch nur das geringste bedeuten. Anders saß da, halb erstickt in der Atmosphäre ihres Lebens und unheimlich angeregt. Ihr Bauch ringelte sich wie eine dicke Katze und die göttliche Schönheit ihres Anblickes kämpfte sich wie ein Regenbogen zuweilen durch den Höllendreck dieses noch möglichen Grades menschlicher Entstellung hindurch.
Aber auch Anders band es an sie, daß die Gefräßigkeit ein so unweibliches Laster ist und daß er in ihrem vergangenen Gesicht, in welchem er das Jahr 1870 besaß, etwas liebte, das er gar nicht liebte, genau so wie seine Zeit heute anders fühlt, als sie lebt. Wenn man aber das eigentlich gar nicht mag, was man liebt, kommt man genau so, wie wenn man alles nur sieht, wonach man verlangt, in ein zu Extremen neigendes Verhältnis. Daß die ersten Opfer von Moosbruggers Lustmorden ihre Virginität nicht eingebüßt hatten, war ungeheuer bezeichnend für den indirekten Charakter seines Begehrens.
In Moosbruggers ganzem Leben fand sich keine Geliebte oder Freundin. Er hatte auch keinen Freund, obgleich er auf den Plätzen, wo er arbeitete, bei den Kameraden überall gern gelitten war. Er war ein ganz einzelner Mensch. Das macht phantastisch. Gegen die Frau hatte es dann schließlich nur der stärkere Trieb herausgepreßt, aber Moosbrugger hätte ebenso gut ein Massenmörder werden können, ein Theaterbrandstifter, in die Luft Sprenger einer sozialistischen Versammlung.
Auch Anders war ungeheuer extrem. Es war dies bei Anders in müden Augenblicken, wo er nichts Eigentliches tat, ein Spiel mit der eingeborenen Herrscherkraft. Man kann ermessen, mit welchem Recht sein greiser Vater Anders vorwarf, daß er als Privatdozent der Philosophie nicht das leiste, was man von ihm verlangen dürfe. In der Tat fragte sich Anders selbst, ob es überhaupt Augenblicke gebe, wo er sein Eigentliches tue, und den Vorwurf seines Vaters, daß er nirgends Fuß fasse, fand er nicht unberechtigt. Es war ihm besonders rührend, in gewissen Zügen Moosbruggers sein Spiegelbild zu sehen.
Anders’ Fäuste waren noch unwillkürlich zusammengeballt, als er Leona mit einer an ihr ungewohnten Gereiztheit sagen hörte: »Wollen wir denn nicht endlich gehen?« In diesem Augenblick fiel in Anders eine Entscheidung. »Nein,« befahl er »laß die Vorhänge herunter!« Leona, gewohnt, ihm zu gehorchen, tat dies gleichwohl unwillig und betroffen. Über die großen Fenster sank Halbdunkel herab, Anders verschloß unterdessen die Türen. Dann ordnete er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ, an: »Du wirst jetzt fressen!« Es war dreiviertel neun Uhr vormittags.
Leona war wohl eigentlich berechtigt, andere Dinge zu erwarten. In jeder Woche vollzog sich am gleichen einen Tag das Gleiche; heute war es durch Anders’ düsteren Einfall gestört. In der Zimmerecke standen zwei große Tragkörbe, gefüllt mit ausgewählten Eßwaren und Leckerbissen, die darin von einem ersten Traiteur zusammengestellt und ins Haus geliefert wurden. Sie waren eigens dafür eingerichtet, mit Porzellan-, aber auch Aluminiumgeschirr, um am elektrischen Apparat wärmen zu können, was nötig war. Leona durfte, wenn sie kam, hineinsehn; hineinzugreifen war ihr verwehrt. Denn dann bekam sie ein ganz kleines Körbchen mit ganz gemeinen belegten Brötchen umgehängt und wurde aus der Wohnung hinausgedrängt.
Unten stand das Auto. Fahrt aus der Stadt. Leona hatte viel zu fragen nach dem Inhalt der Körbe.
Dann kam ein Fußmarsch. Drei, vier, manchmal auch sechs Stunden weit. Anders vor oder hinter Leona, fast nie neben ihr und stets schweigend. Er gab sich hin an Luft, Bewegung, Aussetzen der Gedanken; sein Kopf war wie ein leer laufendes Mühlrad, das Leonas nie endende Rede wie ein
plätschernder Bach trieb. Wenn sie aufhörte, schrak er auf und antwortete irgend etwas; wenn sie wieder sprach, wußte er nach einer halben Minute nicht mehr, was.
Leona liebte diese Ausflüge, weil sie ihr Teint und Figur erhielten; dann auch, weil sie die süße Qual eines Opfers hatten, das sie ihrer Eßlust brachte. Am Abend war ihr Appetit wie neugeboren und ihr Körper glich dort, wo seine Wollust saß, dem einer Jungfrau.
Anders schämte sich, wenn sie so dahinzogen, daß es sein Feiertagsvergnügen sein sollte, mit dieser seelisch verunreinigten Person sich zu zeigen. Er ging durch Gottes Natur und führte ein Schwein an der Leine. Gab es nicht andere Frauen? Dieser junge Idealist traute dem nicht, was er darüber wußte.
Was er darüber wußte, war, daß es wunderbare Menschen geben müsse, die Frauen waren. Daß es Erlebnisse geben müsse wie Beethovensche Musik. Mit riesigen Pinseln in einem flammend dünnen Material entworfen; die Entzauberung von Stein und Bein. Er behauptete aber, die Sehnsucht sei eine Sache für sich und die Wirklichkeit eine andere. Die Ideale seien nicht ein unerreichbar vollkommener Grad der Wirklichkeit, dem man zustreben oder den man mit der Erbsünde verloren haben könne, sondern ganz etwas anderes. Das Leben ist eine ungewöhnlich lange Straße, welche durch die einander fremdesten Gegenden und Zonen führt. Die Tiere, welche auf ihr ziehen, haben im Süden mit ihrer Nahrung tropischen Samen gefressen und setzen ihn im Norden mit ihrem Kot ab oder umgekehrt und plötzlich blüht irgendwo fremde Pracht auf, eine wunderbare, vom Himmel gefallene
Vegetation. Er war hartnäckig darin, daß Wunder, Sehnsucht, Ideale, Begeisterung, Größe irgendwie auf eine solche Weise entstehen müssen; indirekt; so wie ein Schafsdarm immer ein Schafsdarm bleibt, auch wenn er präpariert ist und mit einem Bogen gekratzt wird, dennoch ist er dann eine Beethovensche Violinmelodie und eine Quelle der Seligkeit. Er vermochte es bloß noch nicht treffend auszudrücken, aber er war sicher, daß mit seiner Auffassung ein neuer Idealismus anbrechen müsse, der das zwischen falsche Gegensätze eingespannte menschliche Leben grad biegen werde. Er wiederholte sich trotzdem, daß er Leona nie mehr versprochen habe als wenige Wochen, daß sie dann ein Geschenk bekommen würde und die Stadt verlassen müsse.
Leona öffnete seufzend Rock, Bluse und Mieder.
Anders saß dann da, sah und hörte bloß zu.
Man wird bemerkt haben, daß Anders eigentlich das nicht war, was man gewöhnlich einen moralischen Menschen nennt. In einem andern Sinn war er es freilich sogar in einem ihn selbst vernichtenden Grade. Er besaß den Tatsachensinn, der die Naturwissenschaft unserer Zeit groß gemacht hat, und liebte seinetwegen die Hartgeldseele eines Kaufmanns eigentlich mehr als die des großen zeitgenössischen Lyrikers Friedel Feuermaul. Er besaß auch den Sinn für die ungehemmte, chirurgisch kalte Logik mathematischen Denkens. Das hatte ihn vorwärts getrieben. Aber er wußte, daß dies alles nur Vorübung war. Als Knabe hatte er eine Religion gründen wollen, und eigentlich wollte er das noch heute. Er haßte die Pflichten wie jemand, der neue Pflichten schaffen will. Er liebte die intellektuelle Tätigkeit nur, um innerlich den Menschen
Greifzwang und Messerschneiden anzuzüchten, aber dieser Mensch sollte dann auf nichts achten als auf die Beziehungen zu den menschlichen und den unbegreiflichen Dingen. Ist das schlecht gesagt, er wußte es nicht besser; alles sei Ethik, war ihm zu einer inneren Formel geworden, aber die Beziehung zu den Menschen war daraus abhanden gekommen, er hatte nur die intellektuellen Vorbereitungen getan und die moralischen versäumt.
Das lag in diesem Augenblick wie ein Berg auf ihm. Anders erinnerte sich langsam, daß er schon in dem Traum, den er gehabt hatte, so auf ihm gelegen war.
Man erlebt sich meistens nur von außen. Pferde, welche mit ihrem Wagen warten müssen, während sie die Fliegen umschwärmen, stehn ganz ruhig auf ihren vier Beinen, und nur der Schweif geht automatisch hin und her wie ein Pendel. Hautzuckungen laufen über ihren Leib ebenso hin wie die Wellen eines Sees, und zeitweilig schlägt ein Bein gegen einen Bauch und beide gehören kaum ihnen. So vollzieht sich auch in meinem Leben alles so, daß es fast mehr zu einander gehört als zu mir; auf eine Beleidigung folgt die Entrüstung, auf eine Frau die Absicht, auf eine Reizung des Ehrgeizes die Tüchtigkeit der Leistung. Bei anderen Menschen mag es wohl etwas verschieden sein, und auf eine Beleidigung Feigheit folgen, und auf den Ehrgeiz vielleicht ein Schlich, aber das eine wie das andre geschieht so, als gehörte es nicht zu uns. Eine ungeheure, aber lange vorbereitete Enttäuschung über sein Leben befiel ihn. Er sagte sich, daß er begabt, willenskräftig, vorurteilslos, mutig, ausdauernd, ehrgeizig, kalt und zuinnerst warm, ein Draufgänger und
besonnen sei, aber über alle diese Eigenschaften hatte er noch nie nachgedacht, und da er es nun tat, bemerkte er, daß sie mit ihm nichts eigentlich mehr zu tun hatten als mit anderen Menschen. Warum, wozu hatte er sie; isoliert betrachtet, erschienen sie ihm als ihm selbst fremder als an anderen Menschen, die sie auch haben mochten. Und doch war der Verlauf seines Lebens ganz ersichtlich durch sie bestimmt worden. Sehr selten greift ein Erlebnis durch diese Pferdemuskeln und -nerven tragende Haut der Seele hindurch und erschüttert so, daß man aus den Allerweltseigenschaften, aus denen jeder besteht, herausfällt und nackt vor der Frage liegt: Als wer lebe ich? Was wollte ich doch? Werde ich nun nie –«
Wie man sieht, lehnte sich Anders in diesem Augenblick gegen den höchst segensreichen Krebspanzer auf, welchen wir als festen Charakter benennen. Denn man kann Berge versetzen mit dem, was man ist, mit dem moralischen Charakter, dessen harte Scheren vom Gebrauch geformt sind; jenes andere aber rührt sich während dieser Zeit kaum um Fingersbreite, und zum Glück für den Bestand der Ordnung sind die Erlebnisse, welche uns zu einem neuen Menschen machen oder auch nur mit dem Veränderlichen, pflanzenartig Erneuerbaren in uns zu tun haben, sehr selten. Wie man sich zu sich selbst verhalten soll, auf diese Frage aller jungen Menschen, bleibt die Welt mit gutem Grund die Antwort schuldig.
Nun kam die Zeit, wo Leona gleichzeitig sprach und aß. Anders macht sie betrunken.
Leona sagt: »Du hast eine andre Flamme!«
»Ja,« sagt Anders »willst du sie sehn?« Er war
sonst vollkommen diskret, aber er war rasend und hätte am liebsten die beiden in Natur konfrontiert, um seine Verachtung auszulassen.
»Ah,« sagt Leona »schön, schön, eine Dame!«
»Sie … viel besser als du!« Er zeigt ihr halbbekleidete und nackte Aufnahmen. Er weiß, sie behält keine Physiognomie. Und wenn: was liegt daran, daß ein Mensch uns kennt!?
Dann schickt er sie fort samt den Körben, wirft die Bilder auf die Erde, stampft darauf, schießt darauf und tobt sich zuletzt, statt zu weinen, an einem Boxball aus.
In diesem Zustande suchte er Walther und Clarisse auf; er kam nach vier Uhr, kurz nachdem Walther vom Büro nach Hause gekehrt war, trank mit ihnen den Tee und wußte, daß er als alter Freund auch ungeladen zum späten Abend bleiben konnte.
Walther und Clarisse wohnten am Rand der Stadt in einem Gebäude, das halb wie ein Zinshaus und halb wie eine Villa aussah. Ein Gemüsegarten gehörte dazu, der von einer Holzplanke umschlossen war, ein Brunnen mit eisernem Schwungrad, Hühner und ein Kaninchenstall, denn der Hausmeister betrieb eine Gärtnerei, der sie zusehn und auch ein wenig helfen durften. Weiter hinten stiegen die Weinberge mit Gruppen alter Bäume und schiefen Häuschen zu den geschwungenen Wäldern an, in der Nähe war aber alles unordentlich, kahl, vereinzelt und verätzt, wie es ringsum ist, wo sich die Ränder großer Städte ins Land vorschieben. Zwischen diesen beiden Welten den Bogen spannte das Klavier; schwarz schimmernd beherrschte es die kleinen Zimmer, unterordnete sich die Bilder Beethovens und Wagners an der Wand, die
spindeldürren Ideen in Möbel und Geschirr, die nach Künstlerentwürfen in der Fabrik gebaut worden waren, und selbst die Tatsache, daß es kein Dienstmädchen in diesem Reisehaushalt gab, sondern nur eine Zugeherin, welche wusch und fegte. Sie reisten aber nirgends hin außer in die Erwartung, daß eines Tags doch das Große, der Sinn ihres Lebens beginnen würde.
Walther hatte inzwischen eine Stellung angenommen, er war Bibliothekar an der Universität, wo Anders Dozent war. Sein Vater hatte sie ihm aufgenötigt, der ein Jugendfreund von Anders’ Vater war; auch Walther und Anders waren Jugendfreunde. Es bestand zwischen ihnen der gewiß sehr bekannte, aber doch sehr merkwürdige Zustand einer gelockerten Jugendfreundschaft. Die Zeit lag gar nicht weit zurück, wo sie jeden Einfall gemeinsam gehabt hatten und beide das Höchste voneinander glaubten. Dann waren wenige Jahre des ersten Versuchs gekommen; bei Anders einstweilen das enorme Training im reinen Verstandesbetrieb, bei Walther ein weiches Tasten in die Kapellmeisterlaufbahn, die ihn mit ihren unheiligen Zugeständnissen an die Geschäftsnotwendigkeiten rasch abstieß; der kurze Versuch, sich allein als schaffender Musiker durchzuschlagen, aufgegeben, bevor es sich noch entschieden hatte, ob das Selbstvertrauen ungerechtfertigt war oder der Wille zu heiraten zu einem bloß vorübergehenden Opfer zwang; ein bürgerlicher Versuch mit erneutem Ausbruch in die Kunst, und schließlich ein schwankendes Bleiben im Jetzt.
Zwischen den beiden Männern stand Clarisse. Die Tochter eines viel bewunderten Theatermalers, der sich ein Atelier für Bühnendekorationen geschaffen hatte, nach denen selbst das Ausland
begehrte, war sie in einem Reich von Bühnenluft, Farbengeruch, Samt, Teppichen, Genie, Pantherfellen, zwei verschiedenen Kunstjargons – dem des Theaters und dem des Malerateliers –, Fahnen, Bändern, Bibliots, Lauten und Lorbeerkränzen aufgewachsen. Sie verachtete daher aus ganzer Jugendkraft das üppige Festzugsarrangement, in dem ihr Vater mit den Genossen seiner Generation den künstlerischen Sinn des Lebens sah, und fühlte sich von allem Mager-Strengen angezogen und hatte amerikanische Gebärden wie ein helles Bürohaus. In der Musik war es der gespannte Wille klassisch dürrer Formen, den sie, ohne absonderlich begabt zu sein, mit einer wilden Energie am Klavier sich anzueignen suchte. Wagner haßte sie schon seiner Samtjacke wie seines Baretts wegen und gewann dadurch großen Einfluß auf Walther, der ihm den Rücken drehen wollte, ohne es recht zu können. Anders hatte einmal behauptet, Wagners Gefühl stamme aus der gleichen Gegend wie Leonas Schönheit, und seither ließ ihn Clarisse fühlen, daß sie in ihm ihren Verbündeten sehe; er erzählte ihr gerne, wenn auch nur in Andeutungen von seinen frivolen Erlebnissen, denn das macht auf befreundete junge Frauen immer Eindruck. Er wußte wohl, daß er diesen beiden als Verstandesmensch galt und daher etwas als Barbar, ohne sich klar darüber werden zu wollen, wie sehr, – aber er fühlte auch, daß eine Spannung zwischen ihnen bestand, die an ihn anknüpfte. Er galt bei Clarisse als der Mann, was nicht besonders hohe Anerkennung bedeutet, aber stets eine sehr reelle Chance. Diese junge Frau, die ihren Mann beherrschte, hatte in einem andren Teil ihres Wesens auch das frauenhafte Bedürfnis nach einem Stärkeren. Sie traute Anders zu, daß er erreichen werde,
was er wolle; was, war zwischen ihnen nicht klar, es war eine Art Blankovollmacht. In den Zeiten, wo ihr Vertrauen in Walther sank, fühlte Anders ihres zu ihm stärker werden. Er wieder war nicht der Mann, um seine Freunde zu betrügen, und er war auch durchaus nicht in Clarisse verliebt. So entstand ein Verhältnis, das ebensoviel vom Willen wie vom Gefühl enthielt und die drei Menschen mit elastischen, bald mehr, bald weniger gespannten Saiten verband.
Aber weder Clarisse war ein wunderbarer Mensch, noch – Gott behüte, Anders lachte – seine sentimentale Geliebte, jene tränenreiche Frau, die er so nannte. Anders hatte sie zur Belohnung für seine Habilitation erworben. Er hatte sich bewiesen, daß er wissenschaftlich zu arbeiten vermochte; die Habilitation war nun erreicht, sein Sportsinn erschöpft. Denn es war für ihn Sport, einen Rekord um ein paar Zentimeter höher zu schrauben oder einen Gedanken noch um etwas tiefer einzuschneiden. Er hatte die Liebe zur Mathematik als einem Vorbild des Fühlens und nicht bloß einer Spezialität des Denkens von Nietzsche, dem großen, vieldeutigen Lehrmeister seiner Generation empfangen. Mathematik des Fühlens hieß bei ihm wie hoffentlich bei manchem jungen Mann jene Dialektik, die sofort bereit ist, im Bösen nur einen extremen, irregeführten Fall des Guten aufzufinden. Und da es, seit die Welt besteht, nicht gelungen ist, das Böse durch das Gute zu verdrängen, vielmehr das Böse seit den Zeiten Christi oder des Naturmenschen eher unter den Menschen gewachsen ist, so müßte dies eigentlich den Gedanken nahelegen, daß in einer großen Mißbildung eine ähnliche
Zeugungskraft steckt wie in einer Wohlbildung und daß es durch Änderung von Nebenumständen gelingen müßte, diese Kraft zu befrein. Anders sah zum Beispiel in Moosbruggers Angst vor dem kleinen Dienstmädchen mit den flinken Mausaugen, – eine Ausrede, die bei den Richtern nur spöttischen Unglauben erregt hatte – etwas durchaus Wahres, er sah in seiner Eitelkeit, die mit falsch ausgesprochenen wissenschaftlichen Vokabeln um sich warf und an Staatsanwalt wie Verteidiger Zensuren austeilte, das Gleiche. Moosbrugger bereitete seinem Verteidiger die unvorhergesehensten Schwierigkeiten, rief seinem Ankläger Bravo zu, wenn er ein gegen ihn vorgebrachtes Argument für seiner würdig hielt, und stand zitternd wie ein abgehetzter Stier still, wenn der Vorsitzende von Zeit zu Zeit die Schlingen seiner Feststellungen zusammenzog und er an den Gesichtern der Umhersitzenden merkte, was er selbst nicht verstand, daß wieder ein Stück von seiner Verteidigung, die anscheinend auf Totschlag statt Mord hinauswollte, abgebrochen war. Es war ein ungeheurer Selbstbehauptungsdrang und Ehrgeiz in ihm, der unter andren Umständen ihn ganz gewiß zu ungewöhnlichen Leistungen befähigt hätte. Andrerseits sah Anders natürlich auch das Verbrecherische und Lächerliche an Moosbrugger, das sofort überfließen würde, wenn er frei gesprochen und sein kleiner, abgelegener Fall von Güte verallgemeinert wäre. Er ging soweit, in den Richtern die vor Urzeiten freigesprochenen Moosbruggers zu sehn. »Warum haben Sie sich die blutigen Hände abgewischt? Warum haben Sie das Messer weggeworfen? Warum haben Sie frische Kleider und Wäsche angezogen? Weil es Sonntag war? Nicht, weil Sie blutig waren? Warum sind Sie sich
unterhalten gegangen? Die Tat hat Sie nicht geniert, das zu tun? Haben Sie Reue über die Tat empfunden? …« Anders hatte einen vielleicht zu scharfen Blick für das Falsche, Verbrecherische am verallgemeinerten Guten. Und gerade dieses bedeutete ihm auch Valerie, die sentimentale Geliebte.
Sie war nämlich eine wohlanständige Frau und vorzügliche Mutter, die Gattin eines Obergerichtsrates. Sie hatte nur einen Fehler: daß sie sinnlich war. Nicht lüstern, sie war sinnlich wie andre Menschen leicht schwitzen, es war ihr physiologisch angeboren; sie war die sittliche Weltordnung mit dem eingeborenen Laster. Schön und stattlich, mit einem gütigen Gesicht und vornehm ausgewählten Bewegungen, hatte sie eine ausgesprochene Vorliebe für das Gute, Wahre, Schöne und eine stille ideale Lebensführung im Kreise von Gatten und Kindern; es hinderte sie bloß ihre schreckliche Natur daran, welche ihr das Wasser bis in die Augen trieb, sobald sie ein Mann ansah, zu dem sie inklinierte, und man kann sich denken, was Anders, der in solchen Fragen zumindest die Grausamkeit der Jugend hatte, aus ihr machte, sobald er sie in die Hand bekam; er ließ sie wie die Teufelchen in der Flasche ohne Rast die Höhe zwischen Tugend und Verdammnis auf- und absteigen.
Er sagte sich, daß er ein ganz ohnmächtiger Mensch sei. Mit welcher Anmaßung hatte er diesen Tag begonnen! Wie war er noch zu Graf Stallburg gefahren, mit dem Hochmut des Geistes, welcher sich einbildet, die Zukunft in sich zu tragen, und einmal nachsehen kommt, wie es gegenwärtig aussieht: Und wie hatte er sich an der höflich unnachgiebigen Masse dieses grauen Hauses den Kopf
angerannt! Dazwischen lag sein Benehmen gegen Bonadea und Leona, welches schwankend und unmoralisch wie das eines degenerierten Menschen war, wenn es nicht das eines Geistes ausdrückte, dem das, was er mit solchen Menschen erlebte, weit im Rücken lag. »Ich bin doch nur ein zersetzter Mensch!« sagte Anders und war gedemütigt, wie es jeder einmal ist, der den Gewichtsunterschied zwischen Gedanken und Wirklichkeit zum erstenmal zu fühlen bekommt.
Nachdem er lange Zeit gelehnt hatte, die Arme schlaff mit den Knöcheln der Finger auf die Bank gestützt und den Blick durch die Gesichter der Vorübergehenden durch in die Bäume tauchend, nahm er, um nicht länger an sich zu denken, verzweifelt eine Zeitung auf, die jemand neben ihm hatte liegen lassen. Es war ein Morgenblatt, dick und mit frischen Wichtigkeiten gefüllt, die in den wenigen Stunden seither schon abgewelkt waren. Nach einer Weile zählte Anders, und sein Gesicht war wieder belebt. Er schlug die Zeitung noch einmal auf und begann planmäßig zu zählen, wie man einen Überschlag macht. Anders zählte die Forderungen, die dieses Zeitungsblatt an das Wissen seiner Mitmenschen stellte. Nun ist es ja wohl niemand unbekannt, daß da von der Relativitätstheorie die Rede ist und von der Chemie der Stärke im Pflanzenblatt, von einem prähistorischen Fund und vom Kopfregister einer Sängerin, von den Getreidepreisen und politischen Spannungen, daß für irgend eine Person gesammelt wird, daß eine Vereinigung von Menschen einlädt, ihre Bestrebungen zu fördern, und daß eine andre als ein Ausbund von Narren hingestellt wird, oder daß sich ein Kirchenkonzert ankündigt: man lächelt über die
Ungenauigkeit, mit welcher die Zeitungen gewöhnlich über all das berichten, aber den wenigsten wird es bewußt, daß wir in einer unermeßlichen Undurchsichtigkeit leben, welche sich darin bloß ausdrückt. Und gerade dies erlebte Anders. Jede kleinste Notiz war ja voll moralischer Verantwortlichkeiten, denen niemand gewachsen ist. Denn dem armen Mann kann man nur etwas geben, oder es ihm verweigern, indem man seine Erwähnung gar nicht beachtet, zu der Versammlung kann man nur hingehn oder nicht, und wenn sie von noch so großen Dummköpfen einberufen ist, besteht ihre Dummheit doch gewöhnlich aus dem verwirrten Inhalt mehrerer guter Jahrhunderte, gar die Berichte aber über die Wandlungen in Wissenschaft und Kunst darf man nicht bloß verstehn, sondern man müßte sie solange balancieren wie ein übervolles Brett mit Gläsern, bis man Zeit findet, sie in sich einzuräumen. Jedes solche Zeitungsblatt zwingt hunderte von moralischen Entscheidungen auf, deren eine einzelne bloß an Wissen schon die Universalität eines Leibniz fordern würde, um sie mit reinem Mut beantworten zu können.
Die Zeitung fiel unter die Bank, Anders eilte nach Hause. Kein Vorübergehender konnte wirklich etwas von dem andren Vorübergehenden wissen, der in der gleichen Minute den gleichen Platz kreuzte, alle diese Menschen lebten aneinandergelehnt wie Kartenblätter, in einer ganz unwahrscheinlichen Ordnung, die ein Windhauch zu einer ungeheuren Katastrophe niederblasen konnte. Zuhause drehte er in allen Zimmern alle Lichter auf, als hätte er große Gesellschaft; ein unbestimmtes Vorgefühl von irgend etwas Schrecklichem oder Großem erfüllte ihn; er war so voll Spannung, daß
er die Nachmittagspost kaum ansah, die inzwischen gekommen war, das Glück lebhafter Gedanken trieb ihn unruhig hin und her. Er fühlte sich bedeutend sein durch das, was geschah; er hatte einen Blick ins Leben getan und sein Gesicht darin wiedergesehn; sein ungewisses Erlebnis mit Moosbrugger, sein beschämendes Verhalten zu seinen Geliebten, sein zynisches Eingehn auf die patriotische Aktion seines Vaters und die gerechte Demütigung, die er dafür erlitt: dies kam nicht, wie sonst Handlungen kommen, sondern unmittelbar aus ihm, dies geschah nicht, sondern bedeutete etwas, er war außer sich vor Insichsein und in sich mit allem, was außen geschah, berührte die Welt von innen.
Es war ein großer, vielleicht grundloser geistiger Rausch, wie ihn zuweilen ein junger Mensch erlebt, und es muß daher hier die Wahrheit in Erinnerung gebracht werden, daß Anders eigentlich Philosoph geworden war nur aus Abneigung gegen die Philosophie. Diese großen Gedankengebäude, eines neben dem andern wie eine tote Stadt, hatten stets nicht so sehr seine Ehrfurcht wie seine Überhebung angeregt. Sie hatten nicht einmal die Ehrwürde großer Stadtruinen, sondern erinnerten ihn an riesige Barackenstädte, wie sie, von einem Wirtschaftsstrom gespeist, aufschießen, und wenigeJahre später Verfall sind, wenn seine Bahn gewechselt hat. Es hat in den letzten x Jahren, wenn man von den letzten Dezennien ganz absieht, oberflächlich gerechnet nicht weniger als x solcher Bauten der Wahrheit gegeben, ein kalter Feuilletonismus und Beweis dafür, daß die Blätter der Menschheitsgeschichte, wo die Jahre wie ein Tag sind, bloß von einer langsameren Art Journalisten geschrieben werden als die Tagesblätter. Anders hatte die
sarkastische Abneigung des Naturforschers dagegen, zugleich aber ein tief in seiner Seele ruhendes Bedürfnis nach dem Begreifen des Lebens. So glaubte er einstweilen an den höheren Wert der Unordnung, einer täglich reicher wachsenden Unordnung von neu entdeckten Tatsachen gegenüber den faltigen Frühgeburten von Gedankensystemen. Noch etwas diesen Tatsachenhaufen höher geschichtet, und wir werden die ersten Ausblicke auf die Fragen des Menschseins gewinnen, und bis dahin heißt es, die männliche Tugend der Enthaltsamkeit üben, statt zu schwätzen. Das war ungefähr Anders’ Philosophie, welche ihm in Fragen der Moral jene bedauerliche Willkür ließ, die bereits festgestellt werden konnte. Aber ein so vereinsamter Mensch ist manchesmal nicht sicher, ob er nicht einfach unmoralisch sei, und deswegen bedeutete der Augenblick eine ungeheure Bestätigung für Anders, wo er sich zu erkennen vermaß, daß durch Notwendigkeit jeder Mensch anders handelt, als er denkt oder es seine Überzeugung ist. Die wahre Beschaffenheit der Welt läßt ihre Bildung gar nicht zu und isoliert die Menschen ärger als Drähte voneinander. Die sich immer mehr und durchaus nicht geordnet häufenden Tatsachen, die immer größer werdende Zahl aus allen Zonen und Zeiten erschlossener Auffassungen und Meinungen müssen sich gegenseitig zersetzen, und die Welt ist ganz von selbst in diesem fortschreitenden Prozeß der Zersetzung begriffen. Ist das Verfall? Wenn ein Mensch es erkennt und die Kraft begreift, die darin liegt, sagte sich Anders, ist es die Schwelle einer neuen Zukunft; ich will das zu seinem Bewußtsein erwachte Geschöpf dieser Zeit werden.
Erst als der Rausch schon etwas ausgetobt war,
und Anders die Post aufnahm, um nach dieser Auskühlung erst recht seine Magie zu fühlen, bemerkte er obenauf ein Telegramm, das er in seiner merkwürdigen Abfassung anfangs kaum verstehen konnte. Dieses Telegramm lautete: »Setze Dich von meinem Ableben in Kenntnis. Weiland Dein Vater.« – Anders mußte unwillkürlich lächeln; er konnte sich vorstellen, welche Wichtigkeit es für seinen Vater bedeutet haben mochte, ob es logisch und rechtlich richtiger sei, wenn man noch selbst den Text aufgesetzt hat, »Dein Vater« zu unterschreiben oder »weiland Dein Vater«, und ob weiland sein Vater es ihm mitteilen ließ oder selbst mitteilte, sofern es sich doch bloß um die Auswirkung eines einmal gesetzten – dann allerdings noch vor dem Weiland-Zustand gesetzten – Willensaktes handelte. Er hatte die Anordnungen für die Abreise zu treffen. Er mußte noch in der Nacht fort. Er war eigentlich durchaus nicht in einer Begräbnisstimmung.
2.
Im Totenhaus
Anders trat aus dem Bahnhof heraus. Ein weiter, seichter, länglicher Platz lag vor ihm, der an den Enden in Straßen ausfloß.
»Aber über alles geht mir die Oper« hörte er jemand sagen.
»Das ist wohl ein Sport von Ihnen?«
»Nein, eine Leidenschaft.«
Diese Stimmen kamen aus seinem Ohr. Da war auch schon eine andere: »Ich versichere Ihnen, die
Einkommen sind um 20% geringer geworden, und das Leben um 20% teurer, das macht 40%!«
Er hatte unwillkürlich aufgesehn. Ein Reisender lächelte gottzufrieden, und ein andrer Reisender fuhr sich mit dem Zahnstocher aufgeregt zwischen die Zähne. Anders bog unwillkürlich den Kopf, wie man Wasser aus den Ohren schüttelt, da lief die Dame zusammen, die aus der Fremde nach Wien zurückreiste. Der ganze Speisewagen erfuhr, daß sie den Rhein hinunter, dann von Köln nach Hannover, Berlin und Dresden gefahren war, und daß die deutschen Frauen zwar nicht so germanisch tugendhaft »san«, dagegen »keinen Chic« haben und »Füß, na, ich sag Ihnen … ich bitt’ Sie, ›Füß‹?: Haxen!«
Das klang so deutlich wie das Leben. Unheimliche Fetzen von Gesprächen, die er im Wagenabteil gehört hatte, wucherten nach und hingen ihm im Ohr. In der plötzlichen Stille dieses Bahnhofplatzes einer Provinzstadt marterten ihn diese Stimmen wie gespenstische Grammophone. Aber zugleich fiel ihm eine ungewohnte Stille vor den Augen auf. Dann das stärkere Relief, mit dem sich alles Leise in dieser Umgebung heraushob. Etwas Gedehntes, Geweitetes. Gewöhnliche Fensterkreuze standen schwarz auf bleichem Glasglanz wie die Kreuze auf Golgatha. Bewegungen gewöhnlicher Menschen lösten sich aus dem Straßenfluß los, was sie in großen Städten nie tun. In dem Augenblick, wo er in dieses Leben ohne Gefälle sich hineingleiten ließ, war ihm, als beginne ihn eine Welt der Symbole zu umfangen, worin alles außer den gewöhnlichen Beziehungen untereinander und zu ihm noch eine zweite unmittelbare Beziehung zu seinem Gefühl hatte.
Er hatte mitten in der widerlichen Ankunftsfröhlichkeit und Hast, die das Tor des Bahnhofs
wie die Mündung eines Kanalrohrs in die Stille des Platzes spie, gewartet, bis sie nur noch tropfenweise rann; nun stand er im Saugraum der Ruhe hinter dem Lärm. Warum hatte er eigentlich Zeit seines Lebens falsche Dinge gearbeitet? Dabei sah er plötzlich ein Buch vor sich, es war das Heft einer Zeitschrift? Aufgeschlagen, halb überwachsen von Manuskriptblättern und anderen Büchern, war es auf seinem Schreibtisch liegen geblieben? Wann? Wo? Das war in diesem Augenblick ungewöhnlich peinlich, schmerzte geradezu; es streckte die Hand in ihm aus, zu diesem Schreibtisch tretend das Buch hervorzuholen oder wenigstens zu schließen. Und er fühlte, daß acht Stunden Eilzugsfahrt zwischen ihm und seiner Existenz lagen. Da fielen ihm Tage ein, die um Jahre zurücklagen. Das war, als er sich entschlossen hatte, den Ingenieurberuf aufzugeben und nur für die Philosophie zu leben; von welchem ungeheuren Glück gewölbt erschien damals die Zukunft! Und nun erinnerte er sich eines Satzes aus jenem Buch, dessen Fortsetzung spurlos verloren gegangen war: »diese Menschen haben später vielleicht die ganze Welt gewonnen, vielleicht auch verloren, aber auf jeden Fall fiel die Entscheidung außerhalb ihrer Seele.« Und dann dachte er daran, ohne daß es eigentlich damit in Zusammenhang stand, daß er mit sechzehn Jahren zum ersten und einzigen Mal in seinem Leben geliebt hatte; es war hier, in dieser Stadt gewesen. Anders ging langsam in diese beziehungsreiche Stadt hinein. Der alte Diener und ein Wagen mit dem Gepäck folgten.
Als er aber schließlich in eine schmale, von zwei Gartenmauern gebildete Gasse eingebogen war, und mehrere Schritte hinter ihm der Diener und mehrere Schritte hinter diesem der Wagen folgte, in
welchem nichts als zwei große Koffer saßen, in die er in der Eile der Abreise alle sechzig Bücher gepackt hatte, welche er hier lesen wollte, um sich wegen Moosbrugger zu wappnen, mußte er plötzlich über diesen Aufzug lachen, der ihn wie einen neuen Don Quichotte in seine Vaterstadt zurückführte.
Schräg zur Gartenmauer stand das einstöckige Haus mit dem höheren Mittelbau und dem leeren Pferdestall zur Seite, und noch immer an die Mauer gedrückt das kleine Häuschen für das alte Dienerehepaar, welches in den vielen Jahren der Witwerschaft allein die Wirtschaft besorgte; es sah aus, als hätte sie der ganz Alte möglichst weit von sich fort-geschoben. Bevor noch der Diener mit dem Schlüssel sich in Erinnerung brachte, hatte Anders den schweren Klopfring, der statt einer Glocke an der niederen, geschwärzten Gartentür hing, aufschlagen lassen, in Vergangenes versenkt.
Er hatte sich überlegt, dass er nicht gleich den Toten sehn wolle. Es widerstrebte ihm, dies zerknittert und verstaubt zu tun, wie er nach der langen Reise aussah; es war nach allem Gewesenen unwahr, einfach hinzustürzen, als ob er ungeheuer betroffen sei; er ließ sich auf sein Zimmer führen. Auffallend war ihm, daß er seine Schwester nicht traf. Stand sie hinter einem der hohen Fenster, vom Vorhang gedeckt, und musterte den Bruder? War sie überhaupt zu Hause? Er erfuhr, daß man mit einer Verspätung gerechnet hatte. Trotzdem, sie war zu Hause und hatte ihn hören müssen. Sie kannten einander kaum; als der Vater Anders aus dem Hause tat, war Agathe noch klein gewesen und seither hatten sie sich nur ein einziges Mal flüchtig getroffen, bei Agathes Trauung mit Professor Lindner, und schrieben sich auch nie. Dennoch dachten sie
aneinander mit einem unbegrenzten Vertrauen, das sich fast auch auf die Geschwisterlichkeit der Körper erstreckte; warum, hätten sie kaum anzugeben vermocht. Es gefiel ihm, daß sie ihn nicht empfing wie einen Gast; es leitete sie beide offenbar die gleiche Empfindung.
Er ließ sagen, daß er in einer Viertelstunde hinunterkommen würde, und als er sich umkleidete, kam ihm der Einfall, daß es eine Aufmerksamkeit bedeuten müßte, wenn er ihr bei der ersten Begegnung gleich so gegenüberträte, als seien sie nicht die fremden Menschen, die sie doch eigentlich waren; er beschloß, den Hausanzug zu wählen, den er bei sich hatte. Es war ein seidener pyjamaartiger Überwurf, und er sah darin aus wie ein riesiger schwarzweißer Pierrot.
Als Anders den Salon betrat, wo ihn seine Schwester empfing, stand er einem großen blonden, in zarte graue und rostbraune Streifen und Würfel gehüllten Pierrot gegenüber! – Agathe war zweiundzwanzig Jahre alt und um sechs Jahre jünger als er, groß und von ähnlichem Wuchs. Auch sie hatte sein trocken duftendes Haar und seine breite, zum Ringen und Laufen geeignete Brust, die nicht schwer, sondern wie ein schlank gefülltes Segel an federndem Mast war. Ihre Glieder mußten die gleiche Spindelform haben wie seine. Auch in ihrem Gesicht fehlte alles Exotische, Häßliche, das die Phantasie verdirbt oder auf eine verderbte Phantasie schließen läßt. Wie sie groß und ruhig vor ihm aufgerichtet stand, war sie eine fremde Frau, aber hatte in einer geheimnisvollen Weise von allem Anfang an Teil an seinem Wesen.
Agathe wurde verlegen, als Anders sie betrachtete, und war wieder ungewiß, wie weit sie sich an ihn
vertrauen dürfe. Sie hatte ihn um diese Stunde tatsächlich noch nicht erwartet, dann – als sie überrascht wurde – weigerte sich etwas in ihr, sich in ihrem Pierrot durch ihn ertappt zu fühlen. Anders merkte, daß auch sie des Vaters Tod nicht erschüttert hatte, und das berührte ihn mit neuer neugieriger Vertrautheit. »Sie ist eigentlich hart,« dachte Anders »sie konnte als Kind ungeheuer eigensinnig sein und doch war sie auch weich.« Er suchte nach einem Vergleich, der sie ihm wieder lebendig machen sollte. Hart im Anprall wie anschlagendes Wasser, und dann auch wieder so zerstäubt wie Wasser. Aber auch umgekehrt; vielleicht ihr eigentümlicher, umgekehrt: Weich wie Schneestaub, aber plötzlich ist solch eine Wolke von Schneestaub nicht mehr aufzuhalten und reißt Wälder mit sich!? Oder wie Musik; gestaltlos, weich, aber plötzlich entrückt.
»Ist auch dein Mann schon hier?« fragte Anders.
»Professor Lindner kommt erst zum Begräbnis.« – Sie schien froh über die Gelegenheit zu sein, den Namen wie etwas Fremdes auszusprechen und von sich wegzustellen. Sie standen jetzt in dem Zimmer, wo der Tote lag. Es war erst Nachmittag, aber das Zimmer war künstlich verfinstert. Blumen und brennende Kerzen leuchteten und rochen. Die zwei Pierrots standen groß vor ihm und sahen ihm zu. »Ich werde nicht mehr zu Lindner zurückkehren« sagte Agathe, damit es nur dastehe.
Der Tote lag da, wie er es angeordnet hatte, im Frack, das Bahrtuch bis zur halben Höhe der Brust, die Hände darüber gefaltet, die Orden angelegt. Klein. Harte Augenbögen, eingefallene Wangen und Lippen. In die schauerliche, augenlose Totenhaut eingenäht, die zugleich ein Teil dieses Wesens ist und der Reisesack des Lebens. Anders fühlte sich
an der Wurzel seines Daseins erschüttert; nirgends sonst. Ein lästiges Verhältnis ohne Liebe hatte geendigt. So wie eine schlechte Ehe die Menschen schlecht macht, die sich nicht von ihr befreien können, tut es jedes schwer aufliegende Band, das für die Ewigkeit berechnet ist, nachdem einmal die Zeitlichkeit darunter weggeschrumpft ist.
»Ich hatte mit dir darüber sprechen wollen,« fuhr Agathe fort »aber Papa ließ nicht zu, dich vorher zu rufen. Er ordnete alles selbst. Ich glaube, er fürchtete oder schämte sich, unter deinen Augen zu sterben. Ich bin schon fünf Tage hier; es war entsetzlich.«
»Man ist doch irgendwie mit ihm verbunden,« sagte Anders »und das reißt sich los, so wie sich das Kind bei der Geburt losreißt.«
»Ich habe es zum Schluß nicht mehr ausgehalten. Er hatte schon alles geordnet und nickerte bestimmungslos dahin. Aber alle Viertelstunden wachte sein Blick wieder auf und suchte mich, anfangs am ersten Tag. Später wurden halbe Stunden und ganze Stunden daraus und während des schrecklichen letzten Tags geschah es überhaupt nur zwei- oder dreimal. Gesprochen hat er überhaupt kein Wort; zärtlich sah er mich nicht an; ich weiß nicht, was er von mir wollte. Ich bin fortgegangen, weil ich mich davor fürchtete, und während ich in meinem Zimmer war, ist er gestorben. Eine halbe Stunde nach seinem Tod wurde die Depesche an dich aufgegeben, wie er es befohlen hatte; der alte Franz saß bei ihm und achtete genau auf die Zeit als ein Vermächtnis.«
»Komm« sagte Anders und zog die Tür zu. »Er wollte, daß du ihm die Stirn streichelst oder neben seinem Lager niederkniest, so wie er es immer gelesen hat, daß es sein müsse; er misstraute dir;
eigentlich ist es entsetzlich.« Und dann sah Anders sie voll an und fragte: »Hat Lindner sich etwas zuschulden kommen lassen?«
»Ich gehe unter keinen Umständen zurück« war die Antwort. Anders mußte lächeln: sie war heftig aus Angst, daß sich der Bruder nicht auf ihre Seite stellen könnte, und zur Verteidigung entschlossen wie eine Katze.
»Ist er einverstanden?« fragte Anders.
»Er weiß nichts. Aber er wird nicht einverstanden sein.«
Sie waren ins Speisezimmer getreten und gaben den Auftrag, Tee zu bringen; Agathe ging selbst, nach einer guten Anordnung zu sehn, da sie sich erst jetzt erinnerten, daß Anders nach der Reise einer Erfrischung bedurfte. Anders füllte die Zeit mit Mutmaßungen aus. Er kannte Professor Lindner nur flüchtig und versuchte, sich an ihn zu erinnern. Der mittelgroße Mann mit dem eingezogenen Kreuz, den runden, in derben Hosen steckenden Beinen, den etwas wulstigen Lippen unter borstigem Schnurrbart stand bald vor ihm. Er fragte sich vorsichtig, ob dieser Mensch geheime Abscheulichkeiten haben könnte, von denen Agathe vielleicht nicht zu sprechen vermochte, aber es erschien ihm als ausgeschlossen, wenn er sich an das offene Leuchten erinnerte, das um Stirn und Augen Gottlieb Lindners war. Das ist doch einfach, sagte er sich, der aufgeklärte, tüchtige Mensch, der Brave, welcher die Menschheit auf seinem Felde fördert, ohne sich in Dinge zu mischen, die ihm fern liegen.
Nun kann man solche Menschen am leichtesten in ihrer Schülerzeit charakterisieren. Sie lernen ohne Schwierigkeiten, aber – wie man es ganz falsch benennt – gewissenhaft.
So war er ein Neuerer; und weil er ohne Übereilung vorging, begann ihm sogar schon die Anerkennung solcher zuzufallen, welche ursprünglich seine Gegner gewesen waren. Auch Anders mußte zugeben, daß Lindners Wirken ein solider kleiner Fortschritt war, und dem entsprach der äußere Anstieg; während es ursprünglich wie eine Laune des alten Herrenhausmitglieds ausgesehn hatte, seine Tochter einem Mittelschullehrer zur Frau zu geben, der lange Zeit nichts blieb als dies, war eines Tags Lindner Leiter einer Schule geworden, und während Anders noch spottete, daß die ungewöhnliche Begabung etwas Relatives sei und es könne ein Mittelschullehrer um soviel leichter ein Genie sein als der Angehörige eines an sich schon genialen Berufs, hatte eines andern Tags Lindner eine Geschichte der Pädagogik geschrieben und war an einer Universität habilitiert, ja, Anders war eigentlich sicher, daß Lindner früher Professor sein werde als er und daß gar nichts dagegen einzuwenden wäre, denn er fühlte bei diesem Gedanken die gleiche Ohnmacht wie einst vor dem tadellosen Schüler.
Er erkannte, daß Agathens Angelegenheit, wenn er sie auch noch nicht kannte, auch seine sein müsse, und als seine Schwester zurückkehrte, fragte er sie tastend nach ihrem Verhältnis zu Lindner aus.
Es war aber nichts zu merken. Diese Ehe war unerwartet in Ordnung. Kein Streit. Kaum Meinungsverschiedenheiten, weil Agathe die ihre über nichts je gesagt hatte. Selbstverständlich keine Exzesse, nicht Trunk, noch Spiel. Nicht einmal Junggesellengewohnheiten. Gerechte Verteilung der Einkommen. Geordnete Wirtschaft. Ein ruhiger Ablauf von Geselligkeit und zu zweit bei einer Lampe sitzen.
Anders stellte die letzte Frage: »Bist Du in jemand andren verliebt?«
»Ich wüßte wahrhaftig nicht, in wen!« Der Ton dieser Antwort gefiel Anders. »Das Wenige, was ich von meinen Sachen liebe, habe ich mitgenommen; alles andere will ich nie mehr sehn.«
»Wenn du ihn aber einfach verläßt, wird die Ehe auf dein Verschulden geschieden werden, und er wird Ansprüche auf dein Vermögen haben« sagte Anders.
»Er soll nichts bekommen!« rief Agathe heftig, und darin zeigte sich Wildheit. »Er soll nicht den kleinsten Grund zur Zufriedenheit darüber haben, daß ich bei ihm gewesen bin!« Auch diese Antwort gefiel Anders; er hatte auch das Gefühl, daß dieser Mann bestraft werden müsse. Er begriff noch garnichts, aber solche Art, ein Schicksal wie einen Sack geduldig zu tragen und dann mit einemmal wegzuwerfen und zu fühlen, daß man ihn nie wieder aufnehmen wird, war ein geheimnisvolles Schwestergebilde. Seine Erfindungsgabe, seine Wildheit vor Schwierigkeiten waren zu jeder Hilfe bereit. Vielleicht konnte man Lindner zur Einwilligung bestimmen? Wann sollte er eintreffen? »Zum Begräbnis; mehr Zeit hat er nicht. – Er soll nicht hier wohnen!« fügte Agathe hinzu.
»Nein« ergänzte Anders; »ich werde ihn abholen und vor einem Hotel absetzen. Dort werde ich ihm sagen: Das Zimmer für Sie ist hier reserviert.«
»Das wird ihn ärgern, weil es Geld kostet« freute sich Agathe wie über einen Kinderstreich.
»Wie ist das übrigens geregelt? Gehört dieses Haus dir, mir oder uns beiden? Ist ein Testament da?«
»Papa hat mir ein ganzes Paket mit Aufzeichnungen für dich übergeben, worin alles steht, was du
wissen mußt.« Sie gingen in das Arbeitszimmer, das zur andren Seite des Toten lag. Sie glitten durch Kerzenglanz, Blumenduft, durch den Kreis dieser zwei Augen, die nicht mehr sahen. Agathe war wunderschön. Ein Testament war da, aber man konnte es auch später lesen.
Sie kehrten wieder zu ihrem Tee zurück, aber sie vermieden diesmal das dazwischenliegende Zimmer. Nur das eine gestand Agathe, die Stirne schon eine Weile vorher von unwilliger Verlegenheit gekräuselt, daß sie das gemeinsame Schlafzimmer seit einem Jahr nicht mehr betrete. Dieses Geständnis, das alle verheirateten Frauen den Männern machen, von denen sie fühlen, daß sie ihre Geliebten werden könnten, diese Reinwaschung, etwas verschämt, verstockt hervorgebracht und doch bedurft, gab dem Augenblick etwas Ungeschwisterliches.
Anders fragte unwillkürlich weiter.
Agathe gestand nur, daß es Abneigung sei.
Aber wie hatte sie sich dann überhaupt entschließen können, ihn zu heiraten?«
Der Vater hatte es gewollt. Was sollte sie machen.
Studieren. Selbständig leben.
Sie hatte keine Lust dazu.
Wie kann man dazu keine Lust haben?«
»Ich weiß es nicht.«
Anders merkte, daß er vor einem Gegensatz angelangt war, einem Gegensatz, der einen Widerspruch gegen ihn selbst enthielt.
»Sollte ich beim Vater bleiben und eine alte Jungfer werden? Ich hatte Angst; das ist unter allen Umständen eine Schande, nicht nur vor den Leuten.«
Er mußte sie ansehn. Er gestand sich ein, daß sie recht habe; die Gesellschaft, indem sie über ein
gewisses Alter hinaus Jungfrauen zieht, bekundet die gleiche Gefräßigkeit moralisch, die sie für ihren leiblichen Geschmack Kapaune und Schöpsen ziehen läßt. Er kam sich in seinem brüderlichen Stolz bei diesem Zugeständnis sehr selbstlos vor. »Und dann bist du ihm also nach den … nach den ersten Nächten davongelaufen?«
»Nein,« sagte Agathe »ich bin ihm nicht gleich davongelaufen. Im Gegenteil, ich habe es auch später nur ungern getan.« Man konnte merken, daß sie diese Geständnisse Überwindung kosteten. Sie schien es aber gleich beim ersten Mal auf Verständnis oder Unverständnis ankommen lassen zu wollen. Dieser junge Mensch war ausgehungert nach Vertrauen und entschlossen, sich den Bruder zu erobern, nie hatte sich Agathe einem Menschen so gleichgestimmt gefühlt.
Anders nahm es in der gleichen Weise auf, aber mehr an Denken in großen Zusammenhängen gewöhnt und daher unbestimmter in seinen eigenen Angelegenheiten als Agathe, vermochte er nicht gleich mit anerzogenen Vorurteilen fertig zu werden. Es schien ihm, daß Agathe eine Demütigung erlitten hatte, indem sie sich einem Mann hingeben mußte, den sie nicht liebte.
Gleich danach fiel ihm aber ein, daß es doch geradezu nervenschwach wirken würde, wenn sie im ersten Schock davongelaufen wäre. Ein gesunder Mensch ist Lebenslagen gegenüber nicht so empfindlich. Was liegt schließlich an einer Brautnacht? Das ist erstens ein körperliches Erlebnis, das zur Klasse der Hautreize gehört, und zweitens ein seelisches Erlebnis, das an sich gar nichts damit zu tun hat. Wenn drittens diese beiden Bestandteile zur Liebe zusammenschmelzen, so ist das ein besondrer
Fall, ein dritter Fall, der keineswegs das Beispiel für alle drei abgeben soll.
Was liegt dann aber an einer Vergewaltigung? Diesem tiefsten geschlechtlichen Schreck? Liegt mehr daran, als wenn der Amtsarzt eine Witwe, die früher als drei Monate nach dem Tod ihres Gatten heiratet, aus Gründen des Eherechts und im Auftrag des Staats an der Gebärmutter untersucht, ob sie nicht schwanger sei? Und darüber kommt doch jede hinweg.
Um gewisse Vorstellungen liegt ein luftleerer Raum des Grauens, trotzdem sie im Leben schließlich so vorbeigehn wie Regen und Sonnenschein. Aber war die Ruhe, mit der Agathe diese Fragen behandelte, bloß Stumpfheit des Gefühls? Ausgeschlossen. Ruhe einer Medizinerin? Auch ausgeschlossen. Einfaches frauenhaftes Ertragen? Er kannte das nur vom Hörensagen und von der Ostentation, mit der schwangere Frauen ihren Bauch vor aller Welt spazierenführen. Das verursachte ihm einen Augenblick lang Unbehagen. Aber es konnte ja auch seine eigne Fähigkeit sein, Vorstellungen in ihre Teile zu spalten, Gefühle in Teilen zu fühlen; es war vielleicht etwas von ihm selbst in Agathe. Und sie stand vor ihm und umschloß mit ihrem Leben diese Fragen.
»Man kann machen, was man will,« entschied Anders »nicht in dem, was man tut, liegt das, was man ist, sondern darin, daß man sich danach wieder einfängt.« Es war aber etwas viel weniger Weises dabei. Daß Agathe verheiratet war, gab ihr einen dunklen und weichen Klang; es war nicht dieses hell Grasgrüne der Mädchenseelen. Man war viel unbehinderter und stieß nicht immer an das unbekannte und deshalb namenlos überschätzte
Geschlechtliche, das den Verkehr mit Mädchen so komisch macht. Und doch gingen die Gedanken, wie die Lage nun war, immer durch einen Atem davon. Eine erzwungene Entsagung, von der sie beide noch nicht gesprochen hatten.
Aber im Grunde verwehrte ihm etwas überhaupt, sie so anzusehn; es war ein Druck aus unbekannter Richtung, der von ihr ausging, ein beseligender Ernst, eine unbestimmte Musik, die sie umkreiste, das unsinnige Gefühl, daß etwas geschehen werde; sie stand vor ihm und umschloß mit ihrem Leben eine Frage, er sah in ihr Gesicht und fühlte es dem seinen ähnlich.
An dem Abend schlief Agathe lange nicht ein. Ihr Leben war bisher ein aufgelöstes Dahinziehn wie ein Bach in vielen Rinnsalen gewesen; alle Mädchen heiraten: gut, man tut es auch; man läßt mit sich geschehn, was dazu gehört: es ist nicht übermäßig unangenehm und nicht schön. Daß sie sich dem langsam entzog, hatte sie kaum gemerkt, aber auf einmal war die verspätete Reaktion des Menschen gekommen, mit dem die Natur etwas anderes vorhat; und in dem Augenblick, wo sie sich für wenige Tage von ihrem Leben trennte, schnellten das Vergangene und dieser Augenblick so weit auseinander, als hätten sie nie zusammengehört. In einer Minute kaum überlegter Entscheidung lag ihr Leben mit Lindner hinter ihr, aber da begann sie sich erst zu schämen, und ihr Bewußtsein war unruhig wie ein Herz, das sich einer Gefahr ahnungslos entronnen sieht. Niemals hatte sich Agathe eine Idee gebildet, nach der ihr Leben aussehn sollte, und auch jetzt vermochte sie sich die Zukunft weder im Größten, noch im Kleinsten vorzustellen.
In der Unsicherheit der Nacht erschien ihr, daß sie wirklich schlecht sei. Denn entweder war sie schlecht, weil sie Lindner verließ, oder sie war schlecht, weil sie ihn geheiratet hatte, den Übergang einer Erkenntnis und Erkaltung gab es da nicht. Und Lindner hatte wahrscheinlich nicht unrecht, sie moralisch träge zu schelten, – was er zuweilen mit der beherrschten Sanftmut eines guten Lehrers tat. Es tat ihr leid, Lindner zu kränken; Lindner war ein guter Mensch; das heißt, einer jener Menschen, die immer gut handeln, aber nicht mehr die Güte fühlen, denn es scheint, daß die Güte in dem Maße, als sie zu gutem Willen wird, aus dem Herzen verschwindet, wie der Überschwang eines Bachs, der Fabriken treibt; in der Unsicherheit der Nacht schien ihr sogar, daß ihre ganze Güte sich bewahren eigentlich nur Menschen können, die wenig Gutes tun. »Ich beneide dich« hatte Anders zu ihr gesagt. »Über deinem Leben steht ein Stern!« Und diese Schmeichelei – das ist es, worin in der Jugend die Liebe besteht – erfüllte ihre Seele mit Kraft und Hoffnung; die trüben Zweifel waren gewichen, ohne daß sie selbst sie eigentlich zerstreut hatte, bloß als ob unter seinen Decken ihr Leib in der Kraft sanfter Strahlen ruhte, so daß er bei allem, was sie nun dachte, wie eine Wolke am Morgenhimmel lag.
Agathe hatte in der Schule schwer gelernt; sie begriff sehr gut, aber sie wußte nicht, wozu sie es tun sollte. Nach den ersten Jahren verfiel sie in eine Krankheit, die nie ganz aufgeklärt worden war. Die Dienstboten erzählten, sie sei von einer Bettlerin verhext worden, die zweimal wöchentlich im Haus ihr Essen bekam und sich für einen Tadel rächen wollte, den man ihr auf Grund einer Verleumdung
erteilt hatte. Agathe litt über ein Jahr lang an einem leichten Fieber, das weder stieg, noch wich, und magerte zu Besorgnis erregender Zartheit ab. Die Ärzte fanden keine Ursache; sie selbst erinnerte sich nur, daß sie einem Zwang zu leben entrückt war, vielleicht war das Gefühl im Bett ähnlich dem, das sie heute hatte. Und wirklich schlug eines Tags der Vater auf die Bettlerin los und traf mehrmals mit der flachen Hand ihre Wange, der kleine Mann sah dabei so verändert aus, wie ihn Agathe nie zuvor noch später gesehn hatte, und sie wurde wenige Tage nach diesem Vorfall gesund oder wenigstens von Ungeduld aus dem Bett gehoben. Man konnte nie Genaueres darüber erfahren. Wieviel daran Legende war, ließ sich nicht mehr absondern; Tatsache war, daß die Krankheit nie aufgeklärt wurde, und solange Agathe und Anders Kinder waren, sprachen die Dienstboten davon, ließen sich aber auf genauere Erklärungen nicht ein, da sie strengen Gegenbefehl hatten, während später die Dienstleute – bis auf den alten Diener, aus dem kein Wort heraus zu bringen war – durch andre ersetzt waren. Seither hatte Agathe ein eingeschüchtertes Gefühl vor der Macht ihres Vaters. Sie ging wieder in die Schule und lernte alles, aber mit einer tief geheimnisvollen Gleichgültigkeit, die sie davor schützte. Sie nahm, was man ihr vorsagte, willig hin als eine unverständliche Väterlichkeit der Welt, eine hoffnungslose Männerangelegenheit, wie so vieles später, das sich mit Logik oder Notwendigkeit brüstete, und es mit sich geschehen zu lassen, während doch alles von einem unsichtbaren Prinzip abhing, erschien ihr als das Wesen ihrer eigenen Aktivität. Sie gedieh heiter und gut, aber sprach nie mit jemand darüber, auch nicht mit Freundinnen; sie
hatte das Gefühl: Worte dienen nur ganz unwesentlichen, ja unwirklichen Mitteilungen. Als Lindner sich um sie bewarb, und der Vater es mit vernünftigen Gründen stützte, ja selbst als Lindner mit seiner Güte und sanften Lehrereitelkeit ihr zum Ekel wurde, geschah es in jener Welt, wo die Seele dem sichtbaren Menschen völlige Willkür läßt. Sie hatte die Ahnung, ein Blick wird entscheiden, ein vorherbestimmtes Wort, das nicht so wie andere war, oder eine unmittelbare Gewißheit, die auf einem Weg kommen würde, den man noch nicht sah. Als sie mit Anders zusammentraf und an einigen Sätzen, ja schon am Klang der Stimme und der Astrologie der Gebärden erkannte, daß dieser ja eigentlich fremde Mann, den sie tagelang erwartet hatte, ihr Bruder war, fühlte sie nicht Schwesterliebe oder was sonst im Schoß einer Familie gedeiht, sondern es war eher eine Übergegenwart und ungeahnte Heftigkeit, mit der er vor ihr stand. Ein Mensch, ein Wesen kann ganz natürlich zum Mittelpunkt werden, zu dem man immer wieder und von allem her zurückkehrt, und es kann ganz übernatürlich dazu werden. Man weiß dann nicht, warum; es ist dann nur eine große Freude um dieses Wesen, keine Freude darüber, sondern eine Freude davon her, oder nicht einmal etwas so Bekanntes wie Freude, sondern eine unsagbare Zuversicht, daß alles, was im Zusammenhang mit diesem Wesen geschehen werde, nur gut sein kann. Agathe war noch nie so wach gewesen wie in dieser Nacht.
Anders’ Vater hatte im Lauf des Lebens drei oder vier Feinde gehabt und zwei von ihnen im Professorenkollegium. Der Tod war unerwartet gekommen, und was Anders jetzt in der Hand hielt, waren
Entwürfe und Anweisungen für zu schreibende Briefe, die er ausführen sollte, in denen der Alte seinen Feinden verzieh und auch sie um ihre Verzeihung bat. Jeder hätte sich wohl wie Anders gefragt, warum er die Briefe nicht schon vorher schreiben und bereitlegen konnte? Aber dann hätte er ebensogut ja auch schon vorher verzeihen können, und Anders hatte sie schon gestern gelesen und er mußte lächeln, weil er seinen Vater darin so ganz erkannte. Wenn man sehr leidet, schon bei lebendigem Leib, so verzeiht man seinen Feinden. Wenn es einem dann aber wieder besser geht, so nimmt man es zurück; der gesunde Körper ist unversöhnlich. In den Wechselfällen des Befindens vor dem Tode hatte er offenbar beides kennengelernt, und eins mußte ihm so berechtigt erscheinen wie das andre, welcher Zustand für einen alten Juristen unerträglich ist. Er beschloß daher logischerweise, seinen Willen zu hinterlassen, wo er ohne nachträgliche Einflüsterungen des Gemüts als letzter Wille ungemindert zur Geltung kam.
Er war ein verbogener Mensch, dieser kleine Alte, der so altmodisch vom Leben Abschied nahm und mit allen Orden begraben sein wollte, weil sein Staub, wie er schrieb, nach tausend Jahren gefunden, dann vielleicht für den eines Großen der Erde gehalten werden würde; eigentlich ein Kauz, bloß gebändigt durch Unterordnung gegen Höhere und Juristik, und ein unbehagliches Gefühl der Verwandtschaft verknüpfte Anders mit ihm.
Er wurde darin durch die Unternehmungen der Leichenbestattung unterbrochen. Es kam ein Herr mit schwarzem Flor auf der Trauerkleidung, die ein Mittelding zwischen Bedauern und Büroanzug war. Er blieb an der Türe stehn und schien zu
erwarten, daß er oder Anders in Schluchzen ausbrechen müsse. Nach ein bis zwei Sekunden, während deren Anders und er einander aufmerksam angeschaut hatten, schien ihm Genüge geschehen zu sein, denn er trat vollends ins Zimmer und auf Anders zu, wie es jeder andre Geschäftsmann auch getan hätte.
Er war der Geschäftsführer der Leichenbestattungsanstalt »Pietas« und erkundigte sich diskret, ob Anders mit der Durchführung bisher zufrieden gewesen sei, und versicherte, daß alles Weitere in einer Weise ausgeführt werden würde, mit der selbst der selige Herr Papa unbedingt zufrieden sein müßte. Eine kleine Formalität sei noch zu erfüllen, die er der gnädigen Frau Schwester naturgemäß nicht zugemutet hätte, übrigens reine Formsache, er wies einen Vertrag vor, den Anders’ Vater noch bei Lebzeiten über sein eigenes Leichenbegängnis abgeschlossen hatte, und bat Anders mitzuunterschreiben, damit auch geschäftlich alles in Ordnung sei.
Es war ein großer Vordruck mit vielen Rechtecken und Überschriften, und Anders las: Leichenwagen, 6-spännig, 3 Kranzwagen, 2-spännig; Bespannung à la Toqueville mit Vorreiter, silberplattiert; Livrée à la Conrobert; Fackeln getragen nach Marienburger Weise; Zahl der Begleiter; Gefolgwagen;zweispännig á la …; Aufbahrung samt Beistellung aller dazu nötigen Requisiten; Beleuchtung, 12 Kerzen von 6 Stunden Brenndauer 12mal; Pflanzenarrangement; Leichenwache; Todesanzeige; Sarg; Name, Geburt, Geschlecht, Beruf des Verstorbenen; Bestätigung des Leichenbeschauers über den rechtmäßg erfolgten Tod; Tag und Stunde der Bestattung; Ablehnung jeder unvorhersehbaren Haftung, und solcherlei mehr.
Anders brach beinahe in Tränen aus. Diese Bespannungen und Vorreiter à la, à la erschütterten ihn. Man konnte nicht sterben auf eigene Weise; Geschichte, bis zurück zum Mittelalter, spielte hinein, dummen Geschäftsleuten anvertraut, die damit wie mit Warenbezeichnungen schalteten, während man sich ihnen einfach anvertrauen mußte, ohne die unübersehbaren Zusammenhänge überblicken zu können. Ringsum wimmelte es inzwischen wie aus der Erde herauf von fremden Leuten, die der Tod zum erstenmal in dieses fremde Haus brachte, darin sie sich sofort zurechtfanden. Da waren die Angestellten der Leichenbestattung, welche wie in Ritterszeiten die Wache hielten; mit Gesichtern von Radfahrern oder Fabriksarbeitern. Kam ein Herr von der Lebensversicherung mit einer langen Auseinandersetzung. Bewarb sich eine Druckerei, die nicht auf dem Posten gewesen war, verspätet um die Todesanzeige. Kam ein Immobilienagent, gab seine Karte ab für den Fall, daß man das Haus zu verkaufen wünsche. Schickte das Sekretariat der Universität, sich wegen der offiziellen Beteiligung des Kollegiums nach der Begräbnisordnung zu erkundigen. Zündeten Menschen frische Kerzen an und ließen Räucherwerk brennen. Kam schüchtern ein Trödler und fragte nach Kleidern, die man nicht brauche. Suchte jemand billig ein Klavier. Entschuldigte sich vielmals ein Antiquar, aber eine große Berliner Firma verlange dringend von ihm, daß er nach einigen seltenen juridischen Werken frage, die sich in der Bibliothek des Verblichenen befinden sollten, und brachte ein Preisangebot mit. Bot sich ein armer Beamter an zum Schreiben von Dankbriefen. Fragte, kam, ging, wollte es unaufhörlich schriftlich und mündlich, forderte sein Recht, war sachlich und
beruflich, und man macht sich keine Vorstellung davon, von wieviel Menschen man im Buch geführt wird, die auf den Tod andrer Menschen warten, und wieviele Räder man in dem Augenblick in Bewegung setzt, da man ein kalter Mann wird. Alle diese zielsicheren Interessen setzten vor Anders ein Minuszeichen, ein Nichtfolgenkönnen, Nichtdazugehören, selbst im Tod nicht, während der Vater das alles ganz gewiß richtig gefunden und kommandiert hätte.
In diesem Gewimmel nahm einer ein Interview mit Anders auf; es war der Vertreter einer kleinen Zeitung, der um Informationen für den Nekrolog bat.
»Wir sind natürlich auch nicht unvorbereitet,« führte er sein Anliegen ein »aber da jedenfalls andre Blätter Würdigungen aus Universitätskreisen bringen werden, würden wir es als eine besondre Gunst ansehn, wenn der Sohn des verstorbenen Gelehrten, der ja selbst, wie wir wissen – …« Der junge Journalist stand starr wie ein Hühnerhund vor Spannung bis ans hinterste Ende des Rückgrats; es war sein Einfall, sein Plan, sein geistiger Triumph, was er durchführte. Und Anders versagte gleich bei der ersten Frage, ob der Tod des Herrn Hofrats unerwartet gekommen sei oder erwartet. »Ich wollte nur fragen,starb der Herr Hofrat vielleicht an einem Leiden, das wir bringen könnten?« half der Schriftsteller bescheiden nach. Anders fühlte das heimatlos Schweifende seines Denkens; sein Vater war also den normalen Alterstod durch das plötzliche Versagen irgend eines Organs gestorben, er hatte bis zum letzten Tag sein Kolleg abgehalten. »In voller Arbeitsrüstigkeit und Frische« formte der Journalist, und Anders war zumut wie bei Erschaffung einer Welt.
Er sah im Fortgang das Leben seines Vaters aufwachsen und vergehn. Geboren in Protiwin im Jahre 1836, die und die Schulen besucht, ernannt zum … am … Ernannt, ernannt, ernannt: mit fünf Ernennungen ist solch ein Leben fast schon erschöpft. Eine Heirat dazwischen. Ein paar Bücher. Einmal beinahe Justizminister geworden, es scheiterte am Einspruch der klerikalen Partei, welche dem Liberalen alten Schlags in ihm nicht traute. Indem Anders gezwungen war, dem Wissensbedürfnis des Journalisten zu folgen, sah er, an wie wenig Punkten das Leben eines Menschen mit dem der Allgemeinheit verknüpft ist. Er sah es aufwachsen und vergehn wie einen hundertjährigen Baum in die eine Minute eines Kinogramms gepreßt; von nichts wahrhaft gehalten. Von irgendwo an war Anders selbst an diesem Leben beteiligt; lief auf einem Nebengeleis parallel damit. Während der in die kleine Totenhaut eingenähte Mann im Ausschuß zur Ausarbeitung des neuen Gesetzbuches saß und eben vom Kaiser zum Mitglied des Herrenhauses ernannt worden war, war Anders siebzehn Jahre alt und atmete mit seliger Brust die neue literarische Atmosphäre um sich ein. Nun sah er, daß sein Vater, mit einer Schaufel in der Hand, den Körnerhaufen des menschlichen Wissens nur ein ganz klein wenig umgegraben hatte, so wie einer träg ein, zwei Schaufeln voll an eine andere Stelle trägt; und während die Augen dabei nicken, steigt ein Leben auf und zurück. Das war sein bekanntes Buch über Pufendorf und ein paar Abhandlungen, die sich durch Kenntnis und Vorsicht auszeichneten; ein Umschaufler, sagte sich Anders. Eine wilde Auflehnung packte ihn gegen Ende. Was bürgte dafür, daß er nicht auch bloß solch ein Umschaufler war? Was
würde man einst von ihm sagen? Er forschte in dem Gesicht seines Vaters nach Ähnlichkeit. Vielleicht war sie da. Vielleicht war alles da, die Rasse, die Gebundenheit, das Nichtpersönliche, der Strom des Erbgangs, auf dem man kaum eine Kräuselung ist:alles das, was er im tiefsten Lebenswillen haßte, als eine Einschränkung, eine Verhöhnung, als den Grund aller Religion, aller Kriege, allen Nichtloskommens von der Vergangenheit, als das Hindernis vor dem Abschütteln und Aufsteigen, das er, Anders, vollbringen mußte.
Um zehn Uhr erschien Agathe und unterbrach diesen Gedankensturm; zum erstenmal sah sie Anders als Frau gekleidet.
Sie schien in der magisch erleuchteten Höhle der Phantasie zu stehn, im Begriff, herauszutreten. Krippenglanz, Grottenzauber, Goldbäche flossen um sie. Bloß Rauschgoldbäche, sagte sich Anders; ob man eine Dame zum erstenmal nackt sieht oder eine Hure zum erstenmal im hochgeschlossenen schwarzen Kleid, ist die gleiche Erregung. Panoptikum der Gefühle; der Mensch ist so sonderbar, daß ihn die Wachsfiguren von Frauen mehr erregen als die Frauen selbst. So entsteht die Glut der Ideale; die Entzückung eines perversen Burschen, die er sich im Wachsfigurenkabinett holt, ist nichts als die verkrüppelte Schwester des Idealismus! Von einem einzigen Gedanken aus verbreitete sich ein Sprühregen von Gedankenkügelchen und entglitt. Liebe ist nichts, fühlte Anders, als der gemeinsame Wunsch nach dem Anderssein, dem Un-Anständigen, dem gemeinsamen Minuszeichen. Zwei Menschen werden einander von Gott geschickt, um gemeinsam das Verbotene zu tun; zum Zeichen, daß Gott nicht die Menschheit oder den Staat geschaffen hat,
sondern den einzelnen Menschen, und daß der sich von allen abkehren muß, um sich ihm zuzuwenden. Er fühlte Warnungen und Antriebe; Agathens Nähe machte ihn glücklich. Ihr Gesicht hatte den gleichen regelmäßigen Schnitt wie seines, ihr Haar lag glatter an als gestern, ihr Körper war ähnlich dem seinen, ihr Kleid fiel herab wie an einer Statue, die schlanke steinerne Fülle von einem geheimen Triebwerk belebt. Sie schien verkleidet zu sein, und er fühlte es vom Scheitel bis zwischen die Fußsohlen.
Als er ihr seine Absicht eingestand und die Orden aus der Lade zog, standen sie an diesem Tag zum ersten Mal wieder gemeinsam vor ihrem Vater. Die künstliche Beleuchtung war nicht so allmächtig wie gestern, bei den Fenstern und durch die offene Tür floß Tageslicht herein, das im Gesicht des Toten nur eine zänkische Gewöhnlichkeit übrig ließ, während es die erhabene Theaterwirkung des Sterbens wegspülte. Anders stand an die Türfüllung gelehnt und rauchte, während er Agathe von der sonderbaren Bestimmung erzählte, der sie ihr Gewissen unterwerfen sollten, bevor sie die Erbschaft antraten. Und ein Wort gab das andere; da war zum Beispiel dies: Als Anders noch ein kleiner Junge war, und dieser kleine eingeschrumpfte Leichnam ein großer fast allmächtiger Mann, kam es manchmal vor, daß Anders eine Verfehlung nicht einbekennen wollte oder sich sträubte, sie zu bereun, trotzdem er sie nicht zu leugnen vermochte. So war er einmal beim Spiel mit andren Knaben bis an die Hüften ins Wasser geraten und suchte das zu Hause zu verbergen und nicht um trockene Kleider zu bitten, bis er bei Tisch am Klappern der Zähne entdeckt und fiebernd zu Bett gebracht wurde. Trotzdem es schon durch sein Fieber geboten war,
ihm nichts als Suppe zu essen zu geben, wurde ihm das doch auch »strafweise« verordnet, weil er seinen Fehltritt hatte verbergen wollen und nicht freimütig eingestand und zu verzeihen bat. Anders erinnerte sich jetzt noch an das Fieberlicht, das vom Boden die Wände hinaufkroch, während plötzlich, den Lichtkegel der Tischlampe durchwatend, der Vater kam und sich an sein Bett setzte.
»War deine Fähigkeit, vernunftgemäß zu handeln, zur Zeit der Tat vermindert, war insbesondere dein Bewußtsein der Tragweite der Tat wesentlich beeinträchtigt, so müßte sie ja im milderen Lichte erscheinen. Aber war das der Fall? Besaßest du in deinem Zustand die Kraft, unabhängig von jeder dich zwingenden Notwendigkeit aus dir selbst dich für einen besondren Zweck zu bestimmen? Dann mußt du dir einbekennen, daß du schuldhaft gehandelt hast. War dein Denken gestört oder nicht?! Ein Mittelding ist nicht denkbar; non datur tertium sive medium inter duo contradictoria; wer nicht unfrei ist, der ist frei! Man darf gegen sich selbst nicht von einer ungebührlichen Milde sein! Ich könnte dir ja organisch-pathologisch bedingte Erschwernisse vielleicht zubilligen, aber betrachte den Willen! Er ist es, der sich bei fortschreitender Verstandes- und Vernunftentwicklung das Begehren, beziehungsweise den Trieb in Gestalt der Überlegung und des darauf folgenden Entschlusses unterwirft. Wenn der Mensch aber etwas will, so hat er sich eben bestimmt, einem gewissen Begehren oder Verabscheuen gemäß tätig zu sein. Ein Wollen ist somit ein mit dem Denken verknüpftes, kein instinktmäßiges Handeln! Insoweit der Mensch den Willen zu küren hat, ist er frei; wenn er menschliche Begehrungen hat, das heißt Begehrungen, die ihm
seinem sinnlichen Organismus entsprechen, also sein Denken gestört ist, so daß er eben das tut, wozu ihn das Begehren treibt, so ist er unfrei. Das Wollen ist aber nichts Zufälliges, sondern notwendig aus unsrem Ich folgend und somit Selbstbestimmung. Der Wille ist in dem Denken bestimmt. Ist das Denken gestört, so ist der Wille nicht mehr Wille, sondern der Mensch handelt nur auf Antrieb seines Begehrens!«
Diese fortgesetzten, in immer neuen Sätzen sich wiederholenden Angriffe, nie ganz für den Knaben verständlich, aber weniger gegen seine moralische Verfehlung als gegen sein Denken gerichtet, waren Qualen der Kindheit. »Er hatte ja gar nicht so unrecht,« sagte Anders »und meinte es gut, aber dieser Zwang zu einem bestimmten Denken war die unerträglichste der Strafen, der man fast wehrlos ausgeliefert war.«
»Das ist Gottlieb Lindner!« – sagte Agathe. Sie fühlte ihr Leben.
»Das ist ebenso Moosbrugger« ergänzte Anders, der ihr am Abend vorher sein Erlebnis erzählt hatte.
»Denk dir das jetzt einfach auf alles ausgedehnt.« Sie äffte wie ein Schulkind ihren Mann nach. »Siehst du nicht ein, daß das Lamium album die weiße Taubnessel ist? Und wie willst du anders vorwärtskommen, wenn nicht den gleichen mühevollen Gang der Induktion an der Hand eines treuen Führers zurücklegend, der das Menschengeschlecht in vieltausendjähriger mühevoller Arbeit, voll von Irrtümern, schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis geführt hat?! Du weißt doch auch sicher nicht mehr die Unterarten der Desmidiazeen, die wir neulich besprochen haben, und beruhigst dich, ohne dir einzugestehen, daß das Denken immer
auch eine moralische Aufgabe ist! Eine stete Überwindung der eignen Bequemlichkeit! Sich konzentrieren! Geistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfälle vernunftgemäß – das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlüsse aus dem Zeichen – durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil solange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!« Sie hatte das auswendig gelernt wie eine lange Reihe sinnloser Silben, die nur der Haß einprägen kann.
Anders mußte über diese Karikatur lachen, obwohl sie eigentlich in gar nichts andrem bestand, als daß ein Inhalt von Wahrheit in dem komischen Gefäße Gottlieb Lindners sich darbot.
»Aber das geht ja selbst beim Tennis so« fuhr Agathe, losgelassen, fort. »Wenn ich beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal meinem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung gebe, um dem Ball, von dessen Flug ich bis dahin befriedigt war, nunmehr eine bestimmte Richtung zu geben, greife ich in den Verlauf der Erscheinung ein: ich experimentiere!«
Als sie endlich nach einer langen Reihe von Besuchen wieder allein waren, machten sie sich daran, dem letzten Willen ihres Vaters entgegenzuhandeln.
Hilfloser als ein Kind lag der Alte da; Agathe führte es aus; Anders hatte irgendeine Scheu gehindert, ihn anzurühren, die Berührung mit dem Sache gewordenen Körper war ihm unangenehm.
Vielleicht war es aber auch bloß das größere Krankenpflegegeschick der Frau, weshalb Agathe führte.
Wie er stand und bloß die Orden reichte und übernahm, bewunderte er sie. Dies war nun die Umkehrung des ersten Eindrucks, den sie ihm an diesem Tag gemacht hatte: ihr Gesicht, ihr Blick, ihre Hand erschienen ihm in einem noch nie gesehenen Grad beweglich. Sie waren voll Beziehungen zu ihm und trotz aller Selbständigkeit hatten sie das Rührende des Spiels junger Tiere, die unmerklich einhalten und fragen, ob ihnen der Herr zusieht. Spielten auch ihre Gedanken dabei um den mit ihr Verschworenen, oder glitt ihr Wesen ganz für sich in diesem stockend führenden Rhythmus dahin? Anders konnte es nicht enträtseln, aber er fühlte, daß sie gemeinsam ein von einem Strom gelenktes Boot trug, dessen Ziel er nicht kannte.
Eine unbestimmt schwellende Musik umkreiste ihn; verdichtete sich um Agathe. Traum, Fieber, Bewußtseinsdämpfung; eine unverständliche, auf keine Weise festzustellende Notwendigkeit. Man kannte sich kaum, aber handelte gemeinsam. Er sah in Agathes Gesicht und suchte nach Ähnlichkeit mit seinem Vater. Das war eine fremde Frau, ein Wesen mit einer höheren organischen Temperatur und doch auch schon er.
Da unterbrach sich Agathe und war fertig. Aber irgend etwas, das noch nicht geschehen war, zuckte in den Augen. Sie schämte sich bloß anfangs, es zu sagen. Dann fragte sie: »Wollen wir nicht jeder einen schönen Vers auf einen Zettel schreiben und es ihm in die Taschen stecken?« Da überkamen Anders die gleichen Erinnerungen wie sie.
Sie hatten als Kinder eine seltsame Vorliebe für traurige Verse gehabt und für Geschichten, in denen
einer starb, begraben und vergessen wurde. Es war wohl die Verlassenheit der Kindheit in der Welt der Erwachsenen und ihrer Worte. Manchmal dachten sie sich etwas aus, das sie tun würden, und irgendwann würde jemand daraufstoßen und sich verwundert fragen: wer mag das wohl gewesen sein? So unrecht geschieht den Kindern, man weiß nicht, wieviele Gefühle sie haben, die nicht nur Kindesliebe, Freude und Furcht sind; aber sie verdoppelten in solchen Wachträumen ihre Existenz und gingen nackt im Mutterlichte der Gerechtigkeit, während sie vor Aufregung zitterten, in den Kleidern, die man ihnen für diesen Tag anzuziehen befohlen hatte.
Sie führten jedoch nie das aus, was sie sich dachten, denn der Weg aus der Kinderstube in die Welt führt nicht durch den Raum, sondern durch die Zeit; nur einmal taten sie es. Damals wurde jenes kleine Wohnhaus für die Dienstleute an der Gartenmauer gebaut, und sie hatten es verabredet. Und als sie die wundervollen Verse auf die Zettel schreiben wollten, fiel ihnen nichts ein. Agathe schrieb schließlich einen Satz aus ihrem Rechenbuch hin, und Anders schrieb: Ich bin – und nun folgte der Name dessen, der hier Anders heißt. Dann bekamen sie, als sie im Garten waren, abenteuerliches Herzklopfen, und Agathe warf ihren Zettel einfach in die für eine Grundmauer ausgehobene Grube, Anders jedoch war mutig, schlich sich hinter den Maurer, lüpfte einen schon gelegten Ziegel und schob seinen Namen hinein. Es drehte sich ihm dabei ein Rad mit scharfen Messern in der Brust, aber heute erschien es ihm wie eine sich drehende Sonne und der Augenblick als der glücklichste seines Lebens.
Er dachte daran und hatte Agathe verstanden.
Aber natürlich lächelte er ablehnend zu diesem Opfer, das einen Toten versöhnen wollte.
Da hatte sich jedoch Agathe rasch gebückt, das breitseidene Strumpfband von ihrem Bein gestreift und dem Vater in die Tasche geschoben.
Anders hätte beinahe seinen Augen nicht geglaubt; dann wäre er wohl auch beinahe hingesprungen und hätte es verhindert; einfach aus Schreck. Da aber bemerkte er in Agathens Augen einen feuchten Glanz von solcher frischen, phantastischen, vor den zerbrechlichen Formen der Liebe und Achtung dagewesenen Kindergüte, daß er gar nicht sagen konnte, worüber er eigentlich erschrocken war, und im nächsten Augenblick drehte sich auch ihm das Herz in der Brust wie ein brennendes Rad.
Der Diener hatte schon neue Besucher gemeldet. Diese Besucher erschienen den jungen Leuten einer anderen Generation wie in einem Puppenspiel.
»Verehrter Freund!« Der Graubart schritt wie von einem Schwung ins Zimmer geschleudert bis an die Tür, daraus der Kerzenglanz schlug, und hob dort mit einer weiten Bewegung die Hand vor die Augen, einen Viertelmeter davon entfernt. Anders wußte: im Nebenzimmer lag einer der zurückgehaltenen Verzeihungsbriefe für ihn bereit. Es war eine jener innigen Feindschaften, wie sie nur in Professorenkollegien vorkommen. Seltsam bei einem alten Mann das Bedürfnis nach schauspielerischer Gebärde, das der Jugend natürlich ist; was muß da vom Leben nicht getränkt und gesättigt worden sein? Herrschaft über Frauen? Politische Macht? Ein Bedürfnis nach Kunst? Seltsam überhaupt, diese Endformen zu sehn, die das Leben den Menschen gibt
wie alten Bäumen, wenn man nicht weiß, wie es gekommen sein mag. Anders beunruhigte dieser Tag wie ein tropisch wuchernder Urwald.
Agathe hatte das Wort. »Und welchen Trost, Herr Geheimrat, vermöchte die Philosophie in unserer Lage zu gewähren?« Sie spielte ersichtlich ihrem Bruder zu.
»Die Philosophie, liebe Frau Professor, gewährt leider nicht mehr Trost als der Sternenhimmel. Wir schlagen unser Auge zur Majestät des Firmamentes auf oder senken es zur Majestät des Sittengesetzes in unserer Brust, wir fühlen einen unendlichen Zusammenhang und können ihn vielleicht im Prinzip auch richtig darstellen, aber wir können aus den allgemeinen Gedanken nichts für den Einzelfall ableiten. Außer einem allgemeinen Bewußtsein des das All beherrschenden Idealismus. Das war ja auch das Bedeutende an der Leistung Ihres seligen Herrn Papas, daß er der idealistischen Auffassung in den Grundlagen der Rechtswissenschaft zum Durchbruch verholfen hat.«
Anders hatte sich inzwischen entschlossen, sich seines Auftrags gleich jetzt zu entledigen. Er griff das Stichwort auf. »Herr Geheimrat und mein Vater waren leider trotzdem oftmals Gegner?«
Natürlich war es nicht der Rede wert; Meinungsverschiedenheiten, wie sie immer vorkommen. Agathe verbiß sich das Lachen.
Aber Anders mußte beharren. »Herr Geheimrat müssen verzeihen, aber ich habe mich eines letzten Auftrags zu entledigen.« In diesem Augenblick war die Situation nicht anders als in einer Spelunke, wenn das ganze Lokal weiß, jetzt hat einer, heimlich, das Messer gezogen. Man merkt es der Luft an, dem Schweigen, dem Raum. Was geschieht also,
wenn man jemandem sagt, mein Vater verzeiht Ihnen und bittet auch um Ihre Verzeihung? So eine alte, trocken gewordene Feindschaft ist natürlich längst intellektuell geworden. Wenn nicht irgend etwas zufällig die Gefühle der Feindseligkeit neu aufreizt, so sind sie gar nicht mehr da, sondern es ist nur mehr der kondensierte Inhalt zahlloser vergangener Feindschaftsakte da, die moralische Geringschätzung. Ein solches »Urteil« ist wie eine Wahrheit unabhängig von den Gefühlen, mit denen man es betrachtet. Kindisch, daß ich verzeihen soll, fühlt der Professor. Die eine nachgiebige Regung des Toten kurz vor seinem Ende hat natürlich gegenüber den Erfahrungen jahrelangen Streites gar keine Beweiskraft. Andrerseits ist eine Disposition zu einer Gefühlsszene vorhanden, die wie ein genau ausgearbeiteter Mobilisierungsplan nur des Signals der Ausführung bedarf. Jeder Mensch trägt irgendwo ein Kino in sich; bei den besten ist es bloß eingemauert, sagte sich Anders. Es war deutlich zu merken, wie in dem alten Geheimrat die beiden Antriebe miteinander kämpften. Sein Romantizismus, seine Jugend forderten eine große schöne Gebärde, ein edles Wort. Seine Vernunft wehrte sich gegen dieses Steigern der Temperatur und verlangte von ihm, daß er irgendwie die strenge Unberührbarkeit des Idealismus durch solche Gefühlseinfälle ausdrücke, um so unangreifbar dazustehn wie sein Leben lang. »Was wird er also tun?« fragte sich Anders.
In diesem Augenblick trat unmittelbar hinter dem Diener ein neuer Besucher ein. Der Geheimrat sagte nicht dies noch das, sondern: »Mein lieber Freund, Ihr Papa hat kleinen Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei langem Zusammenwirken manchmal unvermeidlich sind, viel zu großes
Gewicht beigelegt. Ich bin überzeugt, daß er das nur tat, um für alle Fälle sich keinen Vorwurf machen zu müssen. Er war aber einer meiner verehrtesten Freunde und ich hoffe, daß ich Gelegenheit haben werde, es Ihnen zu beweisen.«
Anders verstand. Wenn eine Lehrkanzel für Philosophie frei sein würde, durfte er auf die wärmste Unterstützung dieses einflußreichen Alten rechnen, nur damit ja niemand denken könne, daß die beiden alten Hähne einander nicht über den Todesweg trauten. So kommt man zu Erfolgen, sagte er sich, und es stimmte bereits zu seinem Weltbild.
Der Besucher, welcher Anders eine Studie vereitelt und ihn dafür einen wesentlichen Schritt auf seiner Laufbahn vorwärtsgebracht hatte, war der ewige Extraordinarius der Universität. Ein Mann Ende fünfzig, ging er mit der Formlosigkeit, welche tragische Situationen erlauben, bis an die Schwelle des Aufbahrungsraums und blieb dort mit dem Ausdruck tiefer Betrachtung stehen, ohne durch mehr als ein Augenwinken von den Geschwistern Notiz genommen zu haben. Anzug, Bart, Haar, Gesicht, Hände waren unordentlich. Das Auge so schön, wie man es selten bei Menschen findet, die wirklich Bedeutung haben. Anders Vater hatte ihn als ganz jungen Advokaten an die Universität gezogen, wo er Rechtsphilosophie vortrug. Aus den geplanten Arbeiten wurde wenig oder nichts. Mit der Advokatur ging es nicht nach Wunsch vorwärts und es stellten sich mißliche Vermögensverhältnisse ein, verschärft durch eine Heirat, welche den Mann vom Verkehr in Professorenkreisen schon seit Jahrzehnten ausgeschlossen hatten. Es wurde begreiflich, daß er im Rufe stand zu trinken. Dieser Mann wies mit dem Arm, die Handfläche pathetisch
aufwärts gewendet, auf Anders’ Vater und sagte: »Der Letzte!«
»Herr Dozent, glauben Sie mir, es werden heute viele Professoren von ihm Abschied nehmen, aber kein Mann der Wissenschaft. Er war der letzte. Das gab es nur noch im achtzehnten Jahrhundert. Diese Vereinigung von Gelehrsamkeit und praktischer Bedeutung im Staat. Wie Platon und Comte es forderten, der Gelehrte ein Führer der Welt. Glauben Sie es mir, meine jungen Leute, es ist die sittliche Krisis, die führt, der politische und soziale Verfall folgt nach! Eine Heilung der Verhältnisse ist nur durch eine geistlich platonische Gewalt der Philosophen zu erwarten. Deshalb habe ich Ihren Herrn Papa bewundert, als er die Berufung ins Herrenhaus annahm, und nicht – wie andere! – darob getadelt.«
Die Beziehung auf Geheimrat Sitzer war unverkennbar. »Herr Professor, Sie waren ja der Vertraute meines Vaters,« fragte Anders »können Sie mir sagen, was eigentlich der Gegensatz zwischen ihm und Professor Sitzer war?«
Anders holte aus einem Schrank eine Flasche mit altem Kognak. Agathe warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und war sich klar, daß er sich in diesem Augenblick auf Seite der schmutzig kombinierenden Kausalität stellte entgegen Seele und Geist. Aber der Blick des Extraordinarius bekam sofort einen begehrlichen Glanz und die Lust, mit dem Bösen zu paktieren, riß Anders mit sich. Ein Glas, das ist so wie wenn man beiläufig und scheinbar nur aus Versehen berührt wird; ein unerträglicher Hautreiz, entsetzlich unbestimmt, hinter dem man mit den Nägeln kratzen muß. Das war das zweite bis vierte Glas. Dann aber tat sich schon die
wunderbare großmütige Landschaft der leichten Angetrunkenheit auf. Die Nerven wiegten sich wie die Äste von Bäumen, die in voller Sonne und leichtem Wind stehn. Anders hatte den Extraordinarius zum Schwätzen gebracht. Sie waren ja Freunde und fast in allen Dingen einig. Besonders gemeinsam war ihnen der Idealismus, den sie gegen die modernen Zersetzungsbestrebungen verteidigten, die sich ja leider auch auf wissenschaftlichem Gebiet immer mehr zeigen. Eigentlich haben sie sich nur über einer Spezialfrage verzankt. Und eigentlich über einer, von der sie im Grunde doch die gleiche Meinung hatten. Aber wie das so geht, warfen sie einer dem andren erst Inkonsequenz und bald persönliche Ranküne vor. »Wissen Sie, was wir Juristen unter der Unzurechnungsfähigkeit und der verminderten Zurechnungsfähigkeit verstehen?«
Das spitzte Anders das Gehör zu Nadelschärfe. Bei dieser Gelegenheit geschah es, daß sie sich veruneinigten. »Es steht nämlich schon seit Jahren die Neuredaktion unseres in manchen Punkten veralteten Strafrechts bevor. Ein Komitee, dem beide Herren natürlich angehörten, hat die Entwürfe zu begutachten und Vorschläge zu erstatten. Nun besteht bei uns, was Sie vielleicht manchmal in den Zeitungen gelesen haben werden, in Laien-kreisen und leider vielfach auch in solchen von Juristen, welche den Einflüsterungen einer verworrenen Zeit erliegend die Grundlagen des Rechts nicht mehr mit gehöriger Schärfe im Bewußtsein haben, eine ja ganz gutgläubige, aber höchst gefährliche Bewegung zugunsten einer sogenannten humaneren Behandlung nicht etwa nur der ausgesprochen geisteskranken Verbrecher, sondern auch aller sogenannten Minderwertigen und Neuropathen,
welche sich eines Verbrechens schuldig gemacht haben. Jetzt, im kommenden Jubiläumsjahr, sozusagen unter Ausnützung aller Stimmungen der Großmut, hoffen diese Leute ihre von der Naturwissenschaft kommenden Ideen, die aber, wie ich Ihnen zeigen werde, mit der Idee des Rechtsstaats in einem Widerspruch stehn, durchzusetzen.«
»In der Tat?« fragte Anders.
«Ja. Ich muß das vorausschicken, damit sie den Gegensatz zwischen Ihrem Vater und Professor Sitzer auch in seiner Tragweite verstehn. Sie waren natürlich beide in der Abwehr dieser gänzlich unidealistischen Richtung einig. Sie werden aber wissen, daß Ihr seliger Herr Vater ein großer Verehrer Fichtes war, während Professor Sitzer seine Weltanschauung auf Hegel fundiert. Demzufolge ist Ihr Vater ein Anhänger der Abschreckungstheorie, wogegen Professor Sitzer erfreulicherweise an der Vergeltungstheorie festhielt; Sie kennen den Unterschied?«
Anders nickte und erklärte Agathe mit einigen Sätzen den sich schon in den Namen ausdrückenden Unterschied beider Auffassungen vom Sinn der Strafe.
Als sie endlich allein blieben, trat Anders zum Fenster und prüfte den Himmel. Und auch Agathe sah hinaus. Sie waren beide der gleichen Täuschung unterlegen oder hatten sie einer vom andern übernommen, ohne sie sich mitzuteilen. Es gibt Tage, die mit einem sehr hellen Morgen beginnen und dann gegen Mittag zu, ohne sich zu verdüstern, immer finsterer werden; lange bevor sie erst weiß und dann dunkel werden, hat sich ein unsichtbarer Schleier nach dem andren zwischen das Licht und die Erde gelegt. Die Geschwister hatten in der Tat geglaubt, es sei ein solcher Tag geworden, während
dieser Gespräche. Sie waren in Erstaunen befangen, ohne es sich einzugestehn.
Agathe machte plötzlich eine runde Stirne; so sah es aus, wenn sie über etwas nachdachte, das ihr zu schwer war. Es kam von zwei fast lotrechten Falten, die sich dann zwischen ihren Augenbrauen bildeten.
»Und wenn ich mich jetzt scheiden lasse, so hat Lindner auf einen Teil des Vermögens Anspruch?«
»Wenn nicht seine Schuld angenommen wird, so glaube ich: ja.«
»Das darf nicht geschehn.«
Anders schwieg.
»Das darf nicht geschehn« wiederholte Agathe.
Anders erschien diese Unnachgiebigkeit hinderlich. Er war dafür, ein Opfer zu bringen, um diese Angelegenheit leichter abzuwickeln; sie hatten genug Geld und außerdem: diese beiden jungen Menschen bedurften des Geldes, aber sie schätzten es nicht. Um die Frage zu klären, ob Professor Lindner einen Anspruch habe, wollte er morgen den Notar fragen. Aber Agathe schüttelte den Kopf. Der Notar solle nichts davon wissen. Das war er, der sprach. Obwohl er niemals solche Gedanken hätte haben können. Und so sah er aus. Obwohl er nicht so schön war. Er starrte in das Geheimnis der Verwandtschaft und hörte kaum, was Agathe sprach, erst daß sie noch immer sagte, das dürfe nicht sein, verstand er. »Er darf nicht etwas von mir bei sich zurückbehalten!« schloß sie mit einer Entschlossenheit, die ihm an ihr nicht mehr neu war. Ein angenehmes Gefühl umschloß ihn samt ihr. Da sagte sie: »Wir werden ein Testament machen.«
»Hat sie keine Ahnung, was das heißt?« fragte sich Anders.
Sie hatte diese Ahnung, sie war sich sogar ganz klar über ihren Vorschlag.
Das Unerwartete wirkte stark auf Anders. Er kam sich etwas dumm vor; er konnte nicht rasch genug folgen. Diese schöne Frau? Dieser vollendete Mensch? Seine Schwester? Der Gedanke einer moralischen Minderwertigkeit war so plump und nichtssagend. Plötzlich glaubte er zu bemerken, daß sie dastand wie aus einer anderen Welt herniedergestiegen, der er, der nicht Begreifende, im Augenblick nicht gewachsen war. Er brachte Gründe vor, sein Verstand war der gehorsame Diener dieser entschlossenen Schönheit. Ohne Zweifel ruht ja die Moral eines geistigen jungen Menschen unsrer Zeit nicht auf Überzeugung, sondern auf dem Gebrauch. Es lebt gerade der geistig schärfere Mensch moralisch ohne letzten Halt, dessen Gedanken nicht schon in der schwimmenden Oberflächenschicht von Meinungen wurzeln, die festen Boden bloß vortäuscht. Wenn er nicht durch Erziehung oder besondre Lebensumstände gedankenlose Neigungen oder Hemmungen besitzt, – die seiner eigentlichen Wesenssubstanz gegenüber dann recht zufällig sind, – wird er sich teilnahmslos, bloß um Störungen zu vermeiden und im letzten Grunde, weil im Kampf ums Dasein die höheren Ideen unfertiger und deshalb schwächer sind, nach seiner Umgebung richten. So hatte Anders, der vermeintliche Erlöser der Moral, seiner Schwester keinen Widerstand entgegenzusetzen; sieht man nur auf Handlungen, so sind auf den ersten Blick oft der Vorgeschrittene und der Zurückgebliebene kaum zu unterscheiden, tröstete ihn sein erstauntes Selbstbewußtsein, während es sich durch die Mischung von ersichtlich großer Reinheit in Agathe mit einem Verbrechen fassungslos hingerissen fühlte.
Während des Abendbrots, das sie neben dem Arbeitszimmer ihres Vaters einnahmen, glühte Agathe vor Ungeduld. Weil der alte Diener immerzu mit den Schüsselchen kam und ging, konnten sie nur in Andeutungen sprechen.
»Nimm an, – du weißt, wenn ich meine, – X., die Frau, würde auf den Pflichtteil gesetzt worden sein, etwa, weil sie ohnedies noch eine andre, größere Erbschaft zu erwarten hatte. Tante Malwine hatte ja damals noch nicht ihr Vermögen verloren, das läßt sich also schon glauben! Und ebendeshalb könnte X. geradezu auch noch ihren Pflichtteil ihrem Bruder abgetreten haben! Das ist doch möglich?«
»Das müßte wohl schon vor ihrer Verheiratung geschehen sein, wenn es gelten sollte« half bereits Anders.
»Aber so ist es doch auch!« rief Agathe. »Sie bekam während ihrer Ehe von ihrem Vater ja doch nur eine jährliche Rente: erinnere dich bloß!«
»Wahrscheinlich waren aber Versprechungen des Vaters gegenüber dem Bräutigam da.«
»Schriftliches? Das hätte ich gewußt. Und mündliche können abgestritten werden. Du weißt doch, Vater war sonderbar und so handelte er auch hier. Es muß also bloß das Testament und irgend eine Urkunde über die Abtretung gefunden werden!«
Dann saßen sie wieder in dem kleinen Arbeitszimmer ihres Vaters und Agathe hielt das Testament in der Hand, in dem ihnen das Gesamtvermögen zu gleichen Teilen vermacht war; sie wußte schon zu berichten, daß der Notar nicht mehr lebe, vor dem es der Vater errichtet hatte. Man konnte also seine Unterschrift nachmachen und Anders solle bloß die Stempel beschaffen.
Anders sagte: »Lindner hat auf das Geld keinen Anspruch, den wir anerkennen. Darum habe ich dir bisher nicht lebhafter widersprochen; ich gebe zu, die Tat wäre vielleicht sogar zu rechtfertigen, als eine Entscheidung von höherer Freiheit aus. Aber niemand vermag abzugrenzen, wer sich solche Freiheit nehmen darf und wer nicht und welche Freiheit man sich nehmen darf und welche nicht. Auch wir könnten diese Grenze nicht bestimmen. Deshalb haben auch theoretisch überlegene Menschen sich praktisch an die Gesetze zu halten.«
Aber Agathe sagte: »Wenn Du mir nicht hilfst, so …! Ich schlage dir etwas anderes vor. Du sagst, wir haben ein anderes Gefühl von Moral, ein gleitendes, grenzenloses, während Papa und die alles so geordnet haben wie einen Käferkasten. Das fühle ich auch. Ein wehrloses. Wenn du dir auch nicht zutraust, ein anderes Leben zu finden, gut, ich war, als ich herreiste, entschlossen, nicht lebend zurückzukehren. Töten wir uns gemeinsam, ich habe keine Angst davor …« Anders macht ihr Vorwürfe. Sie schildert die Todesvorstellung. Sie war krank. Wie ich. Man wird gewiegt. Wenn man das einmal erlebt hat, weiß man, es ist nicht so arg. Sondern viel schöner als das Leben. Als sie Anders sah, fühlte sie das eigentlich als ähnlichen Zustand. Wer weiß, was daraus wird?«
Aber Agathe war schon damit beschäftigt, Papiere aus alten Zeiten zusammenzusuchen und die Unterschrift ihres Vaters und des verstorbenen Notars nachzuahmen. Anders geriet in einen eigentümlichen Zustand. Es ist seltsam, eine Handschrift gut nachahmen zu sehn. Wie eine Wachsfigur. Da lagen in Haufen die Blätter, auf denen die Hand seines Vaters gelebt hatte, ihre Bewegungen waren noch
nachzufühlen, und dort zauberte Agathens unheimliche Geschicklichkeit ununterscheidbar das gleiche hervor. – Sie war auch in diesem Augenblick in jedem Teil ihrer Haltung Dame und doch fühlte er das Wildwesen in ihr, das schon im Anblick ihres wohlfrisierten Haares lag und sie von andren Frauen unterschied. Er blickte ihr ins Gesicht und war erstaunt über das Menschliche, das aus einer andren Art von Gesicht blicken kann. Er hatte den Eindruck, hier hat sich einer abgestoßen, zehn Zentimeter über dem Erdboden.
Was beide, vor allem aber Anders reizte, war: dieses unwiderrufliche Abstoßen aus der bürgerlichen Welt. Wenn man das getan hat, besitzt man kein Recht mehr, einem anderen Menschen als fraglos seinesgleichen in die Augen zu sehn. Und es war mit einer ganz kleinen heimlichen Handlung getan. Denn diese Fälschung der Schrift machte man wie für sich allein. In der Tat hatte ja noch niemand gesagt, daß das nun auch wirklich benützt werden solle, niemand traf eine Abrede. Und in seinen vier Mauern kann man wie einen Sport solche Übungen machen, soviel man will; es geht niemanden etwas an, solange man keinen Gebrauch von ihnen macht. Macht man aber von ihnen Gebrauch, so liegt die verbrecherische Handlung schon lang zurück; man braucht sie auch dann nicht zu begehn, sondern muß bloß still sein und sie laufen lassen, soll sie der Teufel holen.
Erst spät in der Nacht standen Agathe und Anders von ihrem Spiel auf und trennten sich. Weil sie die Schwester war, fielen die Widerstände weg, die ihn sonst gegen Menschen so zurückhaltend und in jedem Augenblick eigentlich zum Widerwillen bereit machten. Er gab sich ganz dem Zauber der
Gefolgschaft und des Nachahmens hin, das war wie ein zum erstenmal in seinem Leben durchbrochener Damm! Und Agathe fühlte in diesen verbrecherischen, aber ungeheuren Augenblicken, was nur ein Mensch empfinden kann, der zum erstenmal auf einen andren Menschen stößt, dem er sich mit seinem Wesen hingeben kann. Es gehörte zu den größten und erhabensten Erlebnissen, die sie kannten.
Anders ist wach und weiß nicht, hat er geschlafen oder gewacht. Er hat beunruhigend deutlich das Gefühl, daß nebenan etwas nicht in Ordnung sei. Er lauscht; keines der Geräusche eines nebenan Schlafenden. Ist sie fortgegangen? Irrt umher? Erlebt peinliche Abenteuer? Merkwürdig, wie leicht sich diese Verbindung zwischen ihr und solchen Abenteuern knüpft, als ob er daran schon gedacht hätte. Wie immer kommt die Schreckhaftigkeit der Nacht hinzu, die Panikdisposition der Seele. Er legt das Ohr an die Tür. Er glaubt etwas zu hören. Aber es ist nicht der Atemlaut des Schlafenden. Er drückt leise die Türe auf. Es ist aber nicht nur verwandtschaftliche oder menschliche Sorge, was aus dieser Bewegung in ihn zurückfließt und ihm in undeutlichem Spiegel sein Gefühl zeigt. Er hat schon viele Türen zur Nacht aufgeklinkt und auch das ist es nicht. Er wäre beinahe darüber erschrocken, daß es im Zimmer nicht dunkel war. Der Rolladen war hochgezogen, der schwere Vorhang zur Seite geschoben. Es schien nicht der Mond herein, aber Mondluft füllte das Zimmer bis zur Decke. Agathe stand am Fenster, mit dem Rücken zum Zimmer; sie wandte sich um, als sie Anders hörte, und wieder zurück wie jemand, dem nicht ganz hell ist. Wo das Linnen ihres Hemds ins Licht tauchte, war es halb aufgelöst und gab die dunkel opalisierende mächtige Form ihres herrlichen Körpers frei. Anders schlang den Arm um ihre Hüfte. Er wußte nicht, ob eine Spannung dieses Arms das Zeichen gab oder ob Agathe und er einfach durch ein Geheimnis zur gleichen Zeit das gleiche Gebot empfangen hatten: sie drehte sich zu ihm und sie küßten einander auf die Lippen. Zum Zeichen, daß sie sich verstanden und einander verziehen hatten. Oder war es das Zeichen einer weit geheimnisvolleren Hilfe? Während sie eng aneinandergepreßt standen, berührte der Rand seiner nackten Fußsohle den der ihren.
Am nächsten Tag mußte Anders seinem Herzen Luft schaffen. Agathe kauerte vor einem der großen Öfen und schob Holz hinein; sie liebte es nicht, die Dienerschaft zu rufen. Anders war hinter ihrem Rücken eingetreten. Er sah ihren Hals, er glaubte nur ihren Hals zu sehen. Er war rund und kräftig. Er bog sich zur Seite wie ihr Leib, der auf dem emporgezogenen rechten Knie ruhte, und seine Haut spannte sich zu drei Pfeilen wie ihr Kleid. Anders sprang wie ein Panther neben sie und biß sanft in einen dieser Pfeile. Dann ließen seine Zähne die Überraschte los, aber sein rechter Arm umschlang sie unter dem Knie und während die linke Hand ihren Körper an seinen drückte, riß er auf federnden Beinsehnen sie mit sich hoch. Agathe flog. Von aller Schwere entbunden und statt ihrer von einem sanften Zwange gelenkt. Mit einer unnachahmlichen Wendung ihres Körpers, die das Gleichgewicht anders verteilte, streifte sie auch noch diesen Seidenfaden von Zwang ab und lag wie eine Wolke von Glück niedersinkend in den Armen ihres Bruders. Anders trug sie in die hohe Fensternische und stellte sie neben sich. Trotz dieser ungeheuren Überlegenheit an Kraft war es, als führte er nur ihre Einfälle aus. So sehr fühlten diese beiden jungen Menschen ihre Übereinstimmung. Sie schlangen die Arme umeinander. Den geschwisterlichen Wuchs ihrer Körper teilten sie einander ohne Worte und Gedanken mit. Sie sahen einander neugierig in die Augen, als sähen sie dergleichen zum erstenmal. In Anders waren alle Dämme zerrissen. Weil sie seine Schwester war, fühlte er nicht die Gegenkraft, die ihn sonst doch immer von den Menschen fern gehalten hatte. Er genoß das Glück, sich einmal einem Menschen ganz hingeben zu können, er hatte es seit der Unschuld der Kinderjahre entbehrt. Wie Wasser im Frühling über Wiesen flutet.
Am vierten Tag kommt morgens Lindner an. Hatte es trotz seines späten Kommens seelisch furchtbar dringend, den Vater noch zu sehn. Verzögerte das Schließen des Sargs. Nach 11 Uhr war das Begräbnis. Danach hatte Agathe ein Unwohlsein vorgeschützt. Anders speiste mit Lindner außerhalb. Hatte ihn den ganzen Nachmittag vor sich; ganz nah vor den Augen. Haßte ihn schon deswegen. Suchte ihn schon deswegen fortzubringen. Lindner mußte zu einem Kongreß, wollte aber vorher noch drei Tage hier bleiben. Anders setzte ihm auseinander, daß er unmöglich im Haus wohnen könne; das Hotel war unbequem und teuer; Lindner beschloß, schon am Abend zu reisen (man spart eine Nächtigung) und es blieben nur noch die materiellen Dinge zu erledigen. Ihrethalben und damit er sich von Agathe verabschiede, gingen sie nach Hause. Anders erzählte ihm, daß das Testament erst in vier Tagen geöffnet werden könne, außerdem sei ja Agathe da, um ihre Interessen zu wahren, er bekomme zudem eine legale Verständigung und was die Möbel und dergleichen betreffe, so erhebe er, Anders, als Junggeselle keine Ansprüche, die er nicht den Wünschen Agathens unterordnen würde. Ob er einverstanden sei, daß das Haus in Kommission gegeben werde? Lindner hatte Agathe zum Abschied auf die Lippen geküßt und Anders drehte es den Magen um. Sie sagen sich ziemlich schlapp gute Nacht.
3.
Walther und Clarisse
»Sich etwas Schädliches verbieten können, ist die Probe der Lebenskraft! Den Erschöpften lockt das Schädliche!« sagte sie. Sie wies nach den Fenstern. »Ich wollte Dich etwas fragen« fuhr sie fort. »Nietzsche sagt auch: Beschäftigung mit der Moral ist ein Zeichen von Schwäche: Was bedeutet es, wenn zwei Menschen genau, wie durch einen Zwang, erleben müssen, was ein anderer ihnen vorhergesagt hat?«
Sie hatte sich auf einen kleinen Erdhügel gesetzt. Ihr schlanker Rücken bog sich in zarten schwebenden Linien unter dem Kleid. Sie sagte: »Es ist unheimlich, wie genau das stimmt!«
»Es ist merkwürdig,« antwortete Anders »welchen Einfluß Nietzsche auf euch genommen hat. Wie ein Ehebrecher, der sich in alle Beziehungen eindrängt.« Er selbst war es gewesen, der ihnen zur Hochzeit die Werke dieses größten Zauberers mit geistigem Feuer geschenkt hatte. Aber er veränderte nun das Thema.
»Es sollte eigentlich ein wunderbares Gefühl sein,« meinte er »ein Vorbild zu haben. Ich stelle mir vor: die großen Gewesenen sind einsam über den Sternen, wie wir es hier unten zwischen denen sind, die nach dem Tod ihnen lästig fallen werden. Trotzdem wäre es falsch, wenn wir uns einbilden wollten, daß wir sie besser verstehn. Gott könnte das vielleicht; aber der hat bestimmt anderes mit ihnen vor, so wie zwischen den Zellen in meinem Gehirn und mir etwas viel Innigeres besteht als Verständnis.« Anders hatte den Kopf gesenkt, und das Blut trat in dunklen Wolken darein. »Darum können die Vorbilder auch nicht eifersüchtig sein,« fuhr er fort »das, denke ich mir, ist wichtig. Sie kennen alles und haben alles schon erlebt, was uns bewegt, aber sie lassen Platz neben sich und erlauben eine Fortsetzung, die mehr ist als Schülertum.«
»Würden sie auch erlauben, daß man ihnen widerspricht?« unterbrach Clarisse.
»Weshalb nicht? Es gibt Widersprüche, die Fortsetzungen sind, zum Beispiel die in uns selbst; wir lieben uns samt ihnen. Unter Vorbildern wandeln, stelle ich mir vor wie unter Gestirnen wandeln, von denen man weiß, daß sie unsern Lebenslauf vorherbestimmt haben, ihn aber nicht lenken. So als ob du ein selbständiger Teil von ihnen wärst, und du könntest dennoch das wenigste von dem tun, was du heute tust, weil der Tag lang ist. Wenn ich nach einem Namen für dieses Gefühl suche, könnte ich sagen, es ist mädchen- und heldenhaft zugleich.«
Das Wort mädchen- und heldenhaft bohrte sich tief in Clarisse hinein. Sie verweigerte sich Walther, ihrem Mann schon seit Wochen, wenn er Wagner spielte. Trotzdem spielte er Wagner; mit schlechtem Gewissen; wie ein Knabenlaster. Sie hätte gerne
gefragt, wieviel davon er seinem Freund erzählt hatte, denn er behielt nichts für sich. Aber sie schämte sich, es zu tun. Ihr Rücken hatte sich wie ein Bogen gekrümmt, und ihr Gesicht war gewaltsam gespannt; sie hielt es von dem des Freundes ängstlich abgewandt.
Anders hatte sich indessen wieder aufgerichtet. »Ich habe übrigens nie« schloß er ab »ein Vorbild gefunden. Ich überhebe mich dabei nicht. Es liegt wohl an mir. In jedem einzelnen Fall, wo ich den Versuch mache, mir eine solche Hingabe vorzustellen, stößt mich etwas ab.«
»Du liebst Walther nicht« sagte Clarisse. »Du bist in Wahrheit nicht von Herzen sein Freund.«
Aber Anders gab eine unerwartete Antwort. »Wenn ich sein Freund wäre, müßtest du meine Geliebte sein können. Er dürfte ebensowenig eifersüchtig sein, wie es die Vorbilder sind. Jeder Einfall von mir, der dir gefällt, müßte ihn mit Glück füllen können. Selbst wenn er dich und mich umarmt anträfe – leidenschaftlich verändert und vom Gott ergriffen, du entschuldigst schon, daß ich mich und ihn nicht in dieser Lage denke – dürfte er nicht trennen zwischen sich und uns; er dürfte nicht mir die Schuld geben, und ich dürfte mir nicht einbilden, ihn verdrängt zu haben; genau so wie ja auch wirklich der fragwürdige mechanisch-physiologische Vorgang nicht das Wesentliche bedeutet, sondern in den Flammen der nächsten Ekstase geradezu dem Bewußtsein entschwindet, und das ist weit eher eine himmlisch-irdische Grenzfrage der gesamten Menschheit als ein besonders persönliches Erlebnis zweier Beteiligten.«
Das alles war Anders plötzlich eingefallen, mit den Vorbildern zugleich; es ergriff sein Herz mehr,
als es sonst Gedanken taten, und kam wie eine Dichtung hervor, die man zuende sagen muß, wenn er auch den Schluß schon ein wenig ironisch färbte; er fühlte, daß er selbst zu Walther und Clarisse niemals in einem solchen Verhältnis stehen könnte. Auch Clarisse verstand, daß das nur die Möglichkeiten von Gefühlen waren; dennoch erhob sie sich und ging Anders ein Stück Wegs voran, bis sie nicht mehr im unmittelbaren Bereich der Töne des Klaviers waren, auf dem noch immer eine Wagnerphantasie gespielt wurde.
»Glaubst du,« fragte Clarisse »daß er noch etwas erreichen wird?«
Anders aber zuckte nur die Achseln.
Clarisse gab sich der Musik mit zäher Leidenschaft hin; Walther, seit einiger Zeit, wie einem unheimlichen Traum.
Als er seine Stellung antrat, heiratete er Clarisse, und sie zogen in dieses Haus unter dem freien Himmel. »Unermeßliche Kämpfe« mit sich selbst und den Verführungen des Lebens waren vorangegangen, die immer dem Ziel gegolten hatten, die Genialität und Reinheit des künstlerischen Sinns zu wahren; er begehrte Clarisse seit ihrem fünfzehnten Jahr zur Frau, und damals schon hatten sie einander zugeschworen, daß sie nicht eher heiraten würden, als es ohne ein Opfer der Überzeugung möglich sei. Aber als dieses Ziel erreicht war, begann das Unerwartete. Sein bequemer Dienst sicherte ihm Zeit, Sorglosigkeit, leichte Anregung, Unabhängigkeit, der Besitz der Geliebten nahm die Dornen von seinem Herzen, und seine Freunde durften die Werke erwarten, welche sein Kampf und die Höhe seiner Gesinnung ihnen so lange versprochen hatten, doch Walther begann anscheinend zu
versagen. Er arbeitete nicht mehr. Er sperrte sich jeden Nachmittag, wenn er heimkam, stundenlang ein oder machte weite Spaziergänge, aber das Wenige, was dabei entstanden sein mochte, verbarg oder vernichtete er. Zu gleicher Zeit begannen sich seine Anschauungen auffallend zu verändern. Er erklärte Bach für den letzten Musiker, Stifter für den letzten Dichter, Ingres für den letzten Menschen, der zeichnen konnte, und alles, was später kam, als Überladung und Entartung. Zuletzt behauptete er, daß man sich in einer verlorenen Zeit, wie es unsere sei, der eigenen Schöpfung überhaupt enthalten müßte, da sie unentrinnbar in den Wurzeln vergiftet ist. Das Befremdlichste aber war, daß er mit dem Einsetzen dieser Askese Wagner wieder zu spielen begann, den er als ein Hauptbeispiel der zeitgenössischen Entartung verachtet hatte, dem er aber jetzt wie einem dick gebrauten, heißen Getränk erlag.
Anders erklärte Musik für eine Zerrüttung des Willens und Geistes. Er behauptete, daß Walther nicht genug Intelligenz besitze. Nun, Clarisse besaß noch weniger davon und überhaupt war sie nicht so begabt wie Walther; aber sie hielt Genie für eine Frage des Willens und wollte irgendeinmal etwas Titanenhaftes tun. Was es sein würde, wußte sie nicht; einstweilen empfand sie es am heftigsten bei Musik und hoffte dann, daß Walther ein noch größeres Genie sein werde als Nietzsche, von Anders zu schweigen, der ihr in solchen Augenblicken als ein stumpfer Barbar erschien. Sie empfand es aber gelegentlich auch bei den Tennisschlägen Anders’ oder in seinem Arm, wenn sie tanzten, und traute dann ihm zu, daß er erreichen werde, was er wolle, ohne daß sie dies kannte, denn von Mathematik hatte sie keine gute Meinung, aber wenn ihr Vertrauen zu
Walther sank, fühlte sie das zu Anders stärker werden. Clarisse vermochte das nicht zu ordnen. Sie konnte nicht denken. Sie war, nicht weit von dem Platz, den sie verlassen hatten, wieder stehen geblieben. Ihr Haar schien in einem elektrischen Wind zu zittern. Es war braun. Ihre schmalen Lippen wollten immer etwas sagen, schwiegen, und die Flamme schoß stumm bei den Augen heraus. Auch ihr Körper sprach und dachte unaufhörlich mit; sie empfand eigentlich alles mit dem ganzen Körper und hatte das Bedürfnis, mit ihm etwas zu tun. Dieser schmale, knabenhafte Körper fühlte viel schneller, was mit Walther vorging, als es der Verstand begriff, und verweigerte sich ihm. Walther, wenn ihn seine Ohnmacht quälte, drängte sich an sie wie ein Kind, obgleich er sich das Ansehn eines Mannes gab, und seine Sinnlichkeit war wie Verlangen nach Milch und Schlaf. Aber Clarissens kleiner nervöser Leib war nicht mütterlich. Wenn es Walther trotzdem gelang, ihn zu überlisten, kam sie sich tagelang wie von einem Parasiten mißbraucht vor, der sich in ihr eingenistet hatte, und ließ es ihn verzweifelt fühlen. Es kann sein, daß dies grausam war; Walthers Gesicht zerfiel schmerzhaft bis zur Nichtigkeit, wenn die Leiden der Musik und Sinnlichkeit ihn bedrängten und Clarissens Widerstand ihn abwehrte, aber sie wollte die Gefährtin eines großen Menschen sein und rang in solchen Augenblicken mit dem Schicksal. Clarisse hatte ihr Gesicht vor dem Freund verborgen, dann war sie einige Schritte gegangen, und wo sie jetzt stand, sah sie halb vor sich hin und halb in den Himmel, während sich Anders in ihrem Rücken befand: aber ihr war zumute, daß sie durchsichtig sei und wie ein gegen Licht gehaltenes Blatt alles
ablesen lasse, wovon sie schwieg, indem sie Anders zuzuhören schien, der auch nur irgendetwas sprach.
Es war ganz gleichgültig, was Anders sagte; darin bestand die Zauberei des Augenblicks.
Anders sagte: »Wir befinden uns in dem typischen Verhältnis einer ausgehenden Jugendfreundschaft. Es ist erschütternd komisch, daß Walther und ich vor gar nicht langer Zeit von einander das Höchste geglaubt haben. Unübertreffliche Erkenntnisse fielen seltsamerweise immer uns zwei ersten Entdeckern zugleich ein. Diese Gemeinsamkeit war so groß, daß ein unbefangener Dritter wohl den Eindruck haben mochte, wir widersprächen einander unaufhörlich, aber wir sahen davon nur einen noch nicht auszudrückenden Schnittpunkt, der in der Zukunft lag. Ich glaube, so kann höchstens einem Ei zumute sein, das seine herrliche Vogelzukunft schon im Dotter fühlt, während es gegen die Welt noch nicht mehr als die etwas ausdruckslose Eilinie herauskehrt.«
»Er will ein Kind von mir!« sagte Clarisse plötzlich und wandte sich ihm zu. »Ich will aber nicht! – Bist du der Siegreiche, der sich ein Kind wünschen darf?!« belegte sie aus Nietzsche. Anders unterbrach sich etwas erstaunt. Aber dann meinte er ruhig, als verstünde sich das von selbst: »Es ist noch nicht ganz so weit. Eines Tags muß es jedoch kommen, das bekannte: Was ich nicht erreichen konnte, soll wenigstens mein Kind …!«
Clarisse war von der Ruhe, mit der er die ungeheuere Mitteilung aufgenommen hatte, enttäuscht. »Wie willst Du das wissen!« sagte sie rasch und drehte sich wieder um.
»Weil er und ich heute einander überall mißtraun,
wo wir uns früher bewundert haben, und einander den Dienst unbestechlicher Zerrspiegel leisten, weil jeder sich von der peinlichen Erinnerung befreien will, daß er den andern einst mit sich verwechselt hat.« Dann fügte er ernst hinzu: »Es gibt kein zweites ebenso erschütterndes Beispiel der Unentrinnbarkeit, Clarisse, wie es das ist, welches ein begabter junger Mensch bietet, der sich zu einem gewöhnlichen alten einengt, ohne Schlag des Schicksals, nur durch die Einschrumpfung, die ihm immer vorherbestimmt war!« Das alte Übereinkommen zwischen ihnen, daß sachliche Überzeugung vor persönlichem Schaden gehe, erlaubte ihm, so hochmütig von seinem Jugendfreund zu sprechen.
Sie hörten beide nicht, daß die Musik, während sie am Ufer ihres Verklingens halt gemacht hatten, zeitweilig aussetzte.
Walther ging dann ans Fenster.
Er konnte die beiden nicht sehn, aber er fühlte, daß sie knapp hinter der Grenze seines Gesichtsfelds standen. Eifersucht quälte ihn; gemeiner Rausch sinnlicher Musik lockte ihn zurück; das Klavier in seinem Rücken stand offen wie ein Bett, das ein Schläfer zerwühlt hat, der nicht aufwachen mag, um dem Tag nicht ins Gesicht sehn zu müssen. Es war die Eifersucht eines Gelähmten, der die Gesunden gehen fühlt, was ihn peinigte, und er brachte es nicht über sich, das Zimmer zu verlassen.
Zum hundertstenmal zerkaute er in der Erinnerung sein Leben bis zum bitteren Ende. Es war ohne Zweifel das Leben eines Menschen, den man interessant findet. Walther war vielseitig begabt wie Michelangelo. Gleichzeitig mit seinen kunsthistorischen Studien hatte er an einer Malklasse der Staatsakademie gearbeitet und bei einem
bekannten Kapellmeister Unterricht in Kontrapunkt und Harmonielehre genommen. Er wußte nicht, ob er Maler, Musiker, Dichter oder ein Denker werden solle. Aber die Vielseitigkeit dieser Begabung war etwas andres als Dilettantismus: jeder seiner Lehrer hatte ihm versichert, sie sei echtes und bedeutendes Talent. Um bei Michelangelo zu bleiben: Man hat gesagt, er wäre Er geworden auch ohne Hände; von Walther konnte man weit mehr, man konnte mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten, er wäre nur dann er geworden, wenn man ihm entweder die Hände und Ohren oder den Kopf oder die Ohren und Augen weggeschnitten hätte. Sein Vater pflegte zu behaupten, daß es ihm einfach an Willen fehle; wie Väter schon sind, war das zwar nicht falsch, aber viel zu unkompliziert. In Wahrheit schien es sich um eine Kraft, um eine ganz besondere Fähigkeit des Erlebens zu handeln. Woran weniger empfindliche Menschen achtlos vorbeigingen, vermochte ihn zu ergreifen. Wo andere achtlos nach etwas griffen, war für ihn schon die Bewegung des eigenen Arms voll Abenteuer oder in sich selbst verliebter Lähmung. Es sah aus, als ob alle seine Sinne überempfindlich seien, die Welt stürzte sich manchmal mit solcher Gewalt durch die Augen in ihn, wie ein andermal sein Blut bis ins Ohr schlug und sich dort in einem singenden Wald verlief. Davon kam es, daß er niemals gleichgültig war, sondern immer voll Glück oder Unglück; auch seine Gedanken waren ständig bewegt von Grübeleien, Gruben, wogenden Tälern und Bergen.
Solche Menschen üben eine außergewöhnliche Anziehung auf andere aus. Es ereignete sich immer wieder das gleiche: Walther stieß, wo immer er tätig war, auf Menschen, die ihn mit geheimer
Sympathie beobachteten und das gleiche Gefühl in ihm erregten; irgendein Tag brachte sie dann ins Gespräch, und ihre Anschauungen stimmten nicht nur überein, sondern befanden sich auch in gemeinsamem Gegensatz zu denen ihrer Umgebung; bewegliches Gefühl und eine gewisse Bereitschaft, an das Unerhörte zu glauben, entzückten sich an der Begegnung, es stellte sich heraus, daß der neue Freund schon seit längerem überzeugt war, Walther sei etwas ganz Ungewöhnliches, und diese Menschen, welche sich an ihm begeisterten, verfügten merkwürdigerweise gerade in solchen Augenblicken auch über irgendeinen Einfluß, einen aussichtsreichen Vorschlag, ein begonnenes Unternehmen, das sie ihm zur Verfügung stellten. Stellungen, Freundschaften wurden Walther in unaufhörlicher Folgeangeboten, und er durfte wahrhaftig glauben, zu jenen seltenen Leuten zu gehören, auf die man allerorts wartet. Er war im Ablauf weniger Jahre Maler, Dichter, Kritiker, Theaterkapellmeister, Teilnehmer einer Kunsthandlung, Dramaturg und noch einiges andere gewesen, solange bis sein Vater ihm die schöne Anstellung im Staatsdienst sicherte und zugleich drohte, ihm die Unterstützung zu entziehn, die bis dahin eine bescheidene, aber immerhin entscheidende Hilfe in allen Wechselfällen gewesen war, wenn er nicht gehorche. Im Grunde ist das nicht schwer zu begreifen. Das landläufige Sprichwort, daß die Götter gegen die Dummheit vergebens kämpfen, hat die Aufmerksamkeit von dem viel wichtigeren Tatbestand abgelenkt, daß ihre beiweitem gefährlichsten Gegner die Halb-, Dreiviertel-und Beinahegötter sind, und man wird verstehn, daß Walther sein Leben lang für eine ungewöhnliche Begabung gegolten hatte, wenn man nur
festhält, daß er nicht wirklich und in vollem Sinne eine war. In der Tat gibt es irgendeinen Prozentsatz der Mischung von Wahrheit und Irrtum, von Echtbürtigkeit und Nichtssagenheit, welcher in der Welt am weitesten kommt, und es läßt sich finden, daß die meisten ergiebigen und erstrebenswerten Stellen in ihr durch Menschen besetzt sind, von deren Zusammensetzung das gleiche gilt wie vom Kaffee: er greift nicht nur die Nerven weniger an, sondern er erscheint den Konsumenten feuriger, gehaltvoller, beschwingender, ja mit einem Wort geradezu kaffeeartiger, wenn ihm eine gewisse Portion Feigen-, Zichorien- oder sonstigen Surrogats beigemengt ist.
Eine uneingestandene Ahnung davon hatte Walthers Erfolge immer begleitet. Wenn er auch wie jedermann bereit war, an seine Erfolge als an ein persönliches Verdienst zu glauben, beunruhigte ihn doch sein Vorzug, daß er von jedem Glückszufall mit solcher Leichtigkeit emporgehoben wurde, wie ein beängstigendes Mindergewicht, was ihm als seltene Eigenschaft hoch anzurechnen ist, wenn es auch wie alles in seinem Wesen dadurch beeinträchtigt wurde, daß er niemals einen kraftvollen Schluß daraus zog. Aber daß er so oft seine Tätigkeiten und Verbindungen wechselte, geschah nicht bloß aus Sprunghaftigkeit, sondern gewöhnlich erst nach großen inneren Anfechtungen und Überwindungen und von einer Angst gehetzt, er müsse weiterwandern, ehe er dort Boden fasse, wo sich ihm das Trügerische schon andeutete. Wo immer er etwas gefunden hatte, stellte sich heraus, daß er es um der Reinheit des inneren Sinnes willen wieder aufgeben mußte, und wenn er auch zum hundertstemal seinen Lebensweg Schritt um Schritt nachprüfte, fand er nichts als eine Kette von Erlebnissen, die gar nicht
anders hätte ausgehen können, und den heroischen Kampf einer Seele, die allen Halbheiten widerstand, ohne Ahnung davon, daß sie damit der eigenen diente. Denn während er litt und kämpfte, wie es einem Genie zukommt, und den vollen moralischen Einsatz für seine Begabung erlegte, die nicht zum Sieg genügte, hatte ihn sein Schicksal still innen im Kreis zum Nichts zurückgeführt.
Jene kleine Verfälschung in den Organen, welche die geistigen Säfte des Gesellschaftskörpers bereiten, so sehr sie als erfunden erschienen sein mag, bloß um einen Witz zu erklügeln, genügt in Wahrheit, um nichts weniger zu bewirken, als daß das seelische Genie der Zeiten und Epochen wie von einer geheimnisvollen Krankheit verzehrt wird, ohne daß man weiß, warum, und nur durch eine Überraschung sich vorübergehend wieder herstellt. So hat sich aus dem pfützenstillen Geist der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an ihrem Ende plötzlich in ganz Europa ein beflügelndes Fieber, eine kräftige Kunstbewegung erhoben, und Walther war, als sein Geist erwachte, gerade noch von ihrem letzten Ansteigen erfaßt worden, während er beim Beginn der Mannesjahre in ihr Abflauen geriet, das trotz gelegentlicher, rasch sich beruhigender Wirbel zu einem wirren, lustlosen Pulsschlag verrinnt. In solchen zurücksinkenden Zeiten werden Menschen, die nicht an ihren Nutzen, sondern an ihr Genie denken wollen, von irgendetwas, das in unzähligen Gestalten wiederkehrt, mit einem Gift gelähmt, dem nur wenige widerstehn. Es ist nicht aus Geld, Kameraderie, Geschicklichkeit, Geschrei zusammengesetzt, sondern aus allen, schlechthin unaufzählbaren Arten des Einflusses, den das Illegitime auf die Bewertung und das Entstehen erfolgreicher
Leistungen ausüben kann. Selbst große Männer wenden dann geschickte Kleinarbeit daran, sich seiner nicht nur zu erwehren, sondern zu bedienen, und schon der schäumende Most zeigt einen abgeklärten Geschäftssinn. Eine unentrinnbare wachsende Unsicherheit ist die Folge, die alle beklagen, welche nicht gerade Nutzen davon haben. Ein Kaufmann kennt seine Ware, und wenn er ihren Wert durch Reklame auch noch so sehr übertreibt, bleibt daran noch etwas Reelles; ein Mensch, der mit den Göttern verkehrt, kennt den Wert dieser Gesellschaft aber niemals genau, und in einem Zeitalter von ungewissem Geist löst sie sich ihm in ein Nichts, einen Bluff, in den Schall geschäftiger Stimmen auf.
Irgendeine kaum näher beschreibliche Fähigkeit, sich mit den Interessen anderer zu versippen, hebt dann Menschen und Werke empor. Man weiß nicht mehr, warum das ist. Man kann weder gegen Personen, noch gegen bestimmte Ideen kämpfen. Man kann niemand anklagen. Es fehlt, wenn man sich umsieht, nicht an Begabungen, es fehlt nicht einmal an Charakteren, es fehlt bloß an irgendetwas, an allem, die Luft, das Blut scheinen sich verändert zu haben, und man ringt mit der Erstickung.
Dies erlebt zu haben, war das Leiden Walthers. Es war die Krankheit einer Zeit. Nichts wäre leichter, beim heutigen Stande des menschlichen Könnens, als das Dumme, Hässliche und Gemeine mit Erfolg zu bekämpfen, wenn man bloß wüßte, was sein richtiges Gegenteil ist; aber indem man gerade dieses der Mode, dem Geschäft, dem Zufall und den Ingenien zwischen 95 und 45 Prozent Reingehalt überläßt, verewigt man die Unsicherheit darüber. Der Geist wendet sich schließlich entsetzt von sich selbst ab, erklärt sich von Zeit zu Zeit für
entartet und flüchtet in der Richtung, die der seinen entgegengesetzt ist, zur platten Hochachtung vor der Erde, der Einfachheit, der Wirklichkeit und dem Leben. Und da sich Walther schmeicheln durfte, derart ein rechtzeitiges und vorbildliches Leiden zu haben, war es klar, daß er dafür auch eine Form der Heroik fand, die des Künstlers, der von dem Abgrund an Unruhe, Zerfall und bodenloser Intelligenz, welche als Geist von heute jede Macht und Ganzheit der Seele verhindern, zurückfinden muß; aber weil sein Ahnungsvermögen immer fein gewesen war, quälte ihn doch die Besorgnis, daß sein erwachender Bürgersinn nicht nur tiefe Erkenntnis, sondern auch das nicht mehr niederzukämpfende Bedürfnis sein könnte, endlich einmal nichts Bedeutendes mehr sein zu müssen.
Das fiel in die Zeit, wo er heiratete und sein Haus bezog. Die Geschichte seiner Stellungen und Schicksalskämpfe war auf der Innenseite immer die unaufhörlicher, durch Clarisse hervorgerufener Verwicklungen und Verzückungen gewesen. Sie hinderte ihn auch jetzt. Clarisse glaubte schnurstracks an das Genie. Was das sei, wußte sie nicht. Für kritische Gespräche war sie nicht zu haben. Ihr ganzer Körper begann zu zittern und sich zu spannen; man fühlt es vor sich oder man fühlt es nicht, das war ihr einziges Beweisstück. Immer blieb sie das kleine grausame fünfzehnjährige Mädchen für ihn. Niemals hatte sie sein Fühlen ganz verstanden oder hatte er sie beherrschen können. Aber so kalt und hart, wie sie war, und dann wieder so begeistert, mit ihrem fast substanzlos flammenden Willen, besaß sie eine geheimnisvolle Fähigkeit, auf ihn einzuwirken, als ob Stöße durch sie hindurch aus einer Richtung kämen, die in den drei Dimensionen des Raums nicht
unterzubringen war, so daß es manchmal ans Unheimliche grenzte. Namentlich wenn sie gemeinsam musizierten, fühlte er das. Clarisses Spiel war hart und farblos, einem ihm fremden Gesetz der Erregung gehorchend; wenn die Körper bis zum Durchschimmern der Seele glühten, kam es erschreckend zu ihm herüber. Etwas Unbestimmbares riß sich dann los in ihr und drohte mit ihrem Geist davonzufliegen. Es kam aus einem geheimen Hohlraum in ihrem Wesen, den man ängstlich verschlossen halten mußte: er wußte nicht, weshalb er das fühlte und was das war; aber es peinigte ihn mit einer unaussprechlichen Angst, mit dem Bedürfnis, etwas Entscheidendes dagegen zu tun, was er nicht vermochte, weil niemand außer ihm davon etwas merkte. Clarisse lachte ihn aus. Clarisse, die kleine Clarisse, welche nichts so nötig hatte wie Erdnähe, Einfachheit, Gesundheit und ein Kind, damit es sie fest an den Boden binde. »Was solle los sein in ihr? Weshalb ein Kind?« rief sie aus. Sie sei nicht normal? Er sei es zu sehr! Dabei war es wieder, dieses Wegschwirren, ganz deutlich in ihren Augen zu sehen gewesen, das offenbar nur ein Blick wie der seine zu bemerken vermochte, und er badete in ihrem Spott wie in einer elektrischen Quelle, die ihn belebte, obgleich es nicht sein sollte.
Wenn man das alles recht überlegt, kommt man zwar zu keinem Beschluß, weil im ganzen Umkreis nichts fest ist, sondern sich eins nur ans andere stützt, aber gerade deshalb können ungehindert Gedanken aufsteigen wie zuweilen der, Anders zu töten; gemeinsam mit sich selbst natürlich und mit Clarisse, um sie zu schützen! Nichts war dem ängstlichen Walther unnatürlicher als ein solcher Gedanke; aber wenn man nirgends mehr einen
natürlichen Ausweg erkennt, leuchten die unnatürlichen wie Straßen im Mondschein. Man darf sich diesen Gedanken auch gar nicht blutig vorstellen. Wenn Walther sich einbildete, Anders getötet zu haben, konnte sich die ganze Jugendliebe zum Freund in ihm wieder frei bewegen; es war wie auf dem Theater, was sonst an bürgerlichen Hemmungen dawider gewesen wäre, wurde durch ein großes tragisches Kunstgefühl aufgehoben; er vermochte zu denken, daß er damit sogar dem einstigen Freund etwas Gutes täte. So sind Gedanken; sie kennen keine Logik, wie sehr man sie ihnen auch zuschreiben mag; erst die Phantasielosigkeit des Lebens bringt die Angst vor Widersprüchen in das Gedicht Mensch. »So töte ihn doch!« sagte Clarisse, augenblicklich bereit, wie wenn es sich um etwas Anregendes und Unterhaltendes handeln würde, als er ihr, das einzige Mal, etwas davon andeutete; danach erlaubte sich Walther lange nicht, an so etwas wieder zu denken.
Es ist übrigens von keiner Person so schwer zu sagen, was sie war, wie von Anders. Für Walther war er ein grob behauenes Denkmal seiner eigenen Jugendhoffnungen, dem die Zeit nichts anzuhaben vermochte. Er begriff wohl auch, was es mit der Gegenwart, die Walther so bedrückte, auf sich habe, aber er war Clarisse in der Art ähnlich, wie er sich dazu verhielt, nur gröber und gesünder. Er schädigte Clarisse. Er verschlimmerte das in ihr, was Walther sich nicht anzurühren getraute, die Kaverne des Unheils, das Arme, Kranke, unselig Genialische in Clarisse, den geheimen leeren Raum, wo es an Ketten riß, die eines Tags ganz nachlassen konnten. Das Leben mit allen seinen Schlechtigkeiten schien ihm zu gefallen, er schien sein Spiel nicht verloren zu
geben, auch er hatte den Erfolg im Körper, in diesen Muskeln, auf die Walther mit dem alten Knabengefühl des schwächeren Freunds heimlich eifersüchtig war, er hatte nach Walthers Meinung noch gar nichts geleistet außer ein paar nackten Verstandesproben, aber auch er sagte: »Man fühlt es vor sich oder man fühlt es nicht! Blöde Frage, ob ich mir wirklich einbilde, etwas Ungewöhnliches zu sein; soll ich mich denn fürchten vor dem Genie? Und wenn ich tatsächlich eins wäre: was könnte ich denn anfangs, bevor ich mit mir fertig bin, mehr tun, als mir einzubilden, daß ich eins sei?!« »Glaubst Du denn an fertige Wunderkinder?« sekundierte Clarisse dem Angriff auf ihren Mann.
Ein Schmerz ohne Möglichkeit der Verteidigung entblößte bei der Erinnerung an solche Augenblicke Walthers Zähne von den Lippen. Clarisse bewunderte Anders! Aber Anders’ Kraft, die sie verführte, war auch nichts als Leere; es mag leicht sein, heroisch zu empfinden, wenn man von Natur unempfindlich ist, und in Kilometern zu denken, wenn man gar nicht weiß, welche Fülle jeder Millimeter verbergen kann! Walther flüchtete dann ans Klavier. Es ist möglich, daß Walther überhaupt nur deshalb in der letzten Zeit zur Musik zurückkehrte, weil sein vermeintes Genie zu keiner Zeit etwas andres gewesen war als ein Übermaß vieler kleiner zielloser Gefühle und die Hoffnung, diese Schwäche in der Musik, die ja zugleich voll des unbestimmtesten Übermaßes und der bestimmtesten, zu einer Hierarchie des Glanzes geordneten Einzelheiten ist, als göttliche Kräfte wiederzufinden. Aber nun war es des Übermaßes zuviel. Er erstickte es in dem Geplätscher von Wagners Musik, in dieser zuchtlos quellenden Substanz, die er sich einst, in
den Zeiten des Hochmuts, verboten hatte. Seine Finger schilften und gurgelten durch die Tonflut; mochte man es weithin hören; sein Rückenmark wurde von der Narkose dieser Musik gelähmt, und sein Schicksal erleichtert.
Wo soviel davon abhing wie im Bannkreis dieser Menschen, müßte nun freilich auch gesagt werden können, was dies denn eigentlich sei, ein Genie? Ich bin weit davon entfernt, es zu wissen. Aber soweit ich unterrichtet bin, ist es eine Erfindung der Biedermeierzeit, des achtzehnten Jahrhunderts, wo man das Kinn in hohe Krägen preßte und einen haarigen Zylinderhut trug, der zweimal so hoch war als der Kopf. Es war die Zeit, wo man still seinen Geschäften lebte und das Recht des freien Geistes auf die Fürstenschaft der Welt in Gedanken vertrat. Es ist ein Beispiel jener höchst lebendigen Wortleichen, zwischen denen man lange Zeit nach ihrem Tode lebt, ohne sie vom Lebendigen unterscheiden zu können, ja recht eigentlich zum höheren Leben befeuert von ihnen. Diese besondere, merkwürdige Leidenschaft für das Genie, ohne daß man weiß, was es ist, hat sich heute allerdings schon eingeschränkt, so daß man sie kaum noch anderwärts findet als in der Kunst. Aber soviel kann wohl von ihr gesagt werden: wenn sie überhaupt irgendetwas bedeutet, dann bedeutet sie die ewige Einsamkeit, den ewigen Gegensatz dessen, was vorwärts will, zum Erreichten.
Das Gespräch zwischen Clarisse und Anders war indes längst von seinem Gegenstand zu anderen übergegangen.
Anders hatte von der großen Aktion erzählt, und Clarisse forderte ein »Nietzschejahr«! Anders lachte sie aus.
»Weshalb soll etwas aber bloß deshalb im Leben nicht zu wollen sein, weil es geistig das Wichtigste wäre?!« beharrte Clarisse. - Das war nun schwer zu sagen. Denn angenommen, man hielte irgendwelche Gedanken für die tiefsten der neuen Zeit, warum würde man es auch dann nicht für denkbar, ja fast nicht für wünschenswert halten, ihre Verwirklichung zu fordern, während es doch beim Franz-Joseph-Suppenverein oder beim Schutzverband der Hauskatzenbesitzer ganz natürlich ist, daß etwas geschieht.
Anders nannte es die Notwendigkeit der aktiven Passivität. »Man muß die Kräfte des Nichtstuns haben« behauptete er. »Wenn es selbst nur gelänge, die allerbedeutendsten geistigen Weltbilder zu verwirklichen, würden wir einige hundert Welten haben statt einer; also befindet sich die Welt im Zustand der Notwehr gegen den Geist und ist berechtigt, ihn totzuschlagen, wo er ihr zu nahe kommt.«
»Du bist wie Walther!« antwortete Clarisse.
»Walther vertritt die passive Passivität, und ich die aktive!« lachte Anders.
Clarisse lag mit dem Gesicht zur Erde im schütteren Gras; unsinnlich wie ein hingeworfener Stab, aber das Märchen von der in einen Stock verzauberten Schlange war dabei, die lebendig wird, wenn man sie anfaßt. Sie hatte an diesem Tag etwas Verrücktes, sobald die Rede auf Nietzsche kam. Sie preßte sich gegen den Boden, gab kein Zeichen, wie es gemeint war, und lag ganz steif.
Da packte er die Widerspenstige an den Händen und zog sie so jäh in die Höhe, daß jeder Widerstand der leichten Clarisse vergeblich war; sie fiel ihm in die Arme, wie wenn man in einen Haufen Flaumfedern bläst und davon überrascht wird, daß sie um die Nase stieben. Jetzt lachten beide.
Um die Ecke des Plankenzauns, an dessen anderem Ende sie standen, war in diesem Augenblick Walther eingebogen. Sie hatten nicht die letzte lange Pause der Musik gehört, und auch er hätte nicht sagen können, war er allmählig aus dem Zimmer fortgegangen oder war er plötzlich da. Er lächelte, als er sie sah, aber er litt »unsagbar« und glaube alles zu wissen; die Musik machte ihn hellhörig. Anders aber quirlte just Clarisse an den Schultern hin und her; es war ein Vergnügen, Walther leiden zu machen.
Denn nun kam zum soundsovieltenmal das gleiche Gespräch. Es war das Gespräch über eine der Fragen, die schon geschildert worden sind, und solche Debatten drehn sich immer bis zur Erschöpfung im Kreis. Um Clarissens Kopf flog es wie große Vögel. Walther saß auf einem kleinen Erdhügel und fühlte, daß er recht hatte, wenn er auch nicht recht bekam; jede Minute vergrößerte den Schaden, den Anders Clarisse zufügte, die Zeit war voll dieser unheimlichen Bewegung, die den zweien selbst verborgen blieb; aber das kalte, starrende Erdgefühl, das von unten heraufdrang, machte ihn ängstlich schweigen und beinahe weinen. Anders dagegen stand breit und gesund vor dem leidenden Walther und seiner rachsüchtigen Verliebtheit. Alle drei wußten, daß sie etwas anderes sprachen, als sie meinten. Trotzdem war es wichtiger als eine Staatsaktion; jedes Wort besaß einen andersfarbigen tiefen Hintergrund. Die Sonne schien schräg heroisch einen Pfeilhagel auf sie, die entfernten Ränder des Himmels waren federgrün, und jeder hatte das Gefühl, wenn er das wirklich aussprechen könnte, was zu sagen war, so dürfte ruhig in dieser Stunde und an dieser Stelle für die Welt eine neue Zeitrechnung beginnen.
Nur Anders hatte keinen Hintergrund. Vielleicht ist dies das Zeichen, daß er nicht zum Dilettanten bestimmt war, denn nichts so sehr als das »Unaussprechliche«, indem es das Ausgesprochene nebelhaft vergrößert, hindert diesen, sich zu erkennen. Anders hatte begonnen, sich leicht zu langweilen. Aber als er fortging, lief Clarisse hinter ihm drein und sagte atemlos – ja, eine Viertelstunde später wußte Anders freilich nicht mehr, was sie gesagt hatte, es war so belanglos, daß er es nicht mehr wußte. Aber wie sie lief und dann das Wort suchte und dann es sagte, das war so unverhältnismäßig und lächerlich miterregend, als ob in diesem Augenblick im ganzen Weltall Alarm geblasen würde.
4.
Die Parallelaktion
Er hatte Seine Erlaucht, einen bürgerlich aussehenden Menschen vor sich, der an die fünfzig Jahre alt sein mochte. Dieser trug einen niedrigen Kragen, weil er einen etwas geblähten Hals hatte, und einen Knebelbart entweder aus den gleichen Gründen oder weil er damit ein wenig an die Bilder böhmischer Aristokraten aus der Zeit Wallensteins erinnerte. Was Anders dabei empfand, wäre am ehesten als Empörung über einen Schwindel zu bezeichnen gewesen angesichts des Widerspruchs, der zwischen diesem bürgerlichen Normalkern und den um ihn herumgelegten Schichten von Stille, Devotion, Goldtressen und Feierlichkeit des Ruhms bestand.
Seine Erlaucht nahm Anders auf wie einen jungen Freund. Aus bürgerlichem Gesichtspunkt
messend und störrisch, konnte man weder ganz sicher sein, ob nicht ein Hauch von Homosexualität dabei war, noch ob es nicht die beschlossene Freundlichkeit sei, mit der man einer Lehrerin der Kinder als unvermeidlicher Hausgenossin begegnet. Aber zu seinem eigenen Erstaunen befand sich Anders nach einer Viertelstunde mitten zwischen Intimitäten der europäischen Politik. Graf Bühl hatte ihm offenbar, seiner Intelligenz und den Empfehlungen vertrauend, die Stellung eines freiwilligen Sekretärs in den Angelegenheiten des Jubiläumsjahres zugedacht.
Es hatten die Arbeiten und Sitzungen natürlich schon begonnen. Soviel Anders verstand, lag jedoch bisher nichts Festes vor außer dem bekannten, auf den verschiedensten Seiten aufgetauchten Wunsch, daß das Jahr, wo der Herrscher das 70. Fest seiner Thronbesteigung feierte, zu einem »europäischen Markstein« und zu einer glanzvollen Lebenskundgebung Österreichs werden müsse. Deutlich damit verknüpft erwies sich auch noch die Erwartung, durch eine solche nach außen gerichtete Kundgebung auf die bekannte politische Verfeindung im Innern heilend einzuwirken. Über diese Axiome hinaus aber war alles, was gedacht wurde, bloß irgendwie mit dem Wort »Friedenskaiser« verknüpft und hatte sich von dieser Nabelschnur noch nicht zu selbständigem Leben losgerissen. Trotzdem also nichts weniger als eine bestimmte Idee vorlag, war jedoch das Maß davon ausgelöster Bewegung bereits ungeheuer.
Es hatte sich ein Ausschuß aus allen Kreisen der Gesellschaft zusammengesetzt, führende Politiker, Kleriker, Gelehrte, Finanzleute waren ihm beigezogen worden, und die Gesandtschaften in London, Berlin, Paris und Rom hatten in dieser
Angelegenheit bereits vorfühlende Arbeiten geleistet, die in seitenlangen Kurierberichten niedergelegt waren. Bei diesem Stand der Dinge war die zentrale Leitung, welche Graf Bühl oblag, diesem allein schon zu schwer geworden und er begrüßte das Eintreffen des jungen, gescheiten, ihm warm empfohlenen Anders’ wie das eines Erlösers. Er weihte ihn sofort rückhaltlos in alle Vorgänge ein, und Anders, der es gewohnt war, Ideen sich nur langsam durchsetzen zu sehn, war verblüfft von der Gespenstigkeit, mit welcher sich der gesellschaftliche und staatliche Apparat in Bewegung setzen ließ. Dieser neue Eindruck nahm ihn sofort gefangen.
Graf Bühl gebrauchte köstliche Ausdrücke. »Ein glückliches Verhältnis innerhalb der europäischen Staatenfamilie beruht auf gegenseitigem Respekt und Achtung vor der Macht des andern. Gewisse Erscheinungen in der europäischen Politik, welche sich auf Unkenntnis unsrer Verhältnisse und Überschätzung einzelner beklagenswerter Erscheinungen politischer Unreife stützen, lassen einen nicht zu übersehenden Hinweis auf unsre Kraft und Einigkeit als im internationalen Interesse liegend wünschen. Wir sind aber sicher, daß dieses Fest von den dankbaren Völkern Österreichs in einer Weise begangen wird, die der aufschauenden Welt nicht nur unsre tiefe Liebe zu unsrem ehrwürdigen Herrscher zeigen soll, sondern auch den Eindruck, daß die österreichisch-ungarische Monarchie fest wie ein Felsen um ihren Herrscher geschart steht.« Graf Bühl war als Majoratsherr zwar Mitglied des Herrenhauses, aber weder politisch aktiv, noch bekleidete er ein Amt bei Hofe oder im Staate; der bekannte revolutionär-konservative Politiker, der seinen Namen so häufig in den Zeitungen erscheinen ließ, war sein um einige Jahre
jüngerer Bruder. Graf Bühl war »nichts als Patriot«; aber gerade dadurch und durch seinen überragenden Reichtum ein Mittelpunkt aller anderen »Patrioten«, welche mit Besorgnis die Entwicklung des geistigen, politischen und wirtschaftlichen Lebens verfolgen mußten. Er sagte von der geplanten Aktion: »Was uns zusammengeführt hat, ist die Übereinstimmung darin, daß eine wirklich machtvolle, aus der Gesamtheit des Volks aufsteigende Kundgebung nicht dem Zufall überlassen bleiben darf, sondern weit vorausblickende, also von einer Stelle, welche weiten Überblick besitzt, also von oben kommende Einflußnahme fordert.« Die ethische Verpflichtung, nicht ein gleichgültiger Zuschauer zu sein, sondern von oben der Entwicklung helfend die Hand zu bieten, durchdrang sein Leben. »Die unliebsamen Erscheinungen innerpolitischer Natur« erschienen ihm als »das Werk unverantwortlicher, unreifer, sensationssüchtiger Elemente«, welche »in der politisch zu wenig geschulten Masse nicht die nötige Zurückweisung« finden. Es war für ihn Axiom, daß »das Volk« gut sei. Unbewußt lag vielleicht darin der Instinkt des siegreich gebliebenen Adels, sich die Lehren, welche zur französischen Revolution und als deren Nachhall zu den Beunruhigungen des Jahres 48 geführt hatten, nutzbar zu machen, wahrscheinlicher aber bloß das Bedürfnis, für die konstitutionellen Zugeständnisse eine ethische Entschuldigung zu finden. »Man darf dann aber auch nicht vergessen,« folgerte er weiter, »daß der hochherzige Entschluß Sr. Majestät, dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Angelegenheiten zu schenken«, noch nicht so lange her sei, »als daß auch schon überall jene politische Reife hätte einsetzen können, welche in jeder Hinsicht des von Allerhöchster Stelle großmütig
entgegengebrachten Vertrauens würdig erscheint«, und er erblickte, eine kräftigende Zuversicht hohen Orts einflößend, in den bekannten »an sich verdammenswerten Erscheinungen«, welche das politische Leben der Monarchie verdarben, durchaus nicht das greisenhafte Zeichen der Auflösung, sondern bloß das der Unreife, also eigentlich einer unverwüstlichen Jugendlichkeit des Reichs. Die höhere Bedeutung des ganzen patriotischen Plans bestand für ihn darin, der Kraft der österreichischen Völker ein wahres Ziel zu zeigen, um sie über die Jahrzehnte von Übergangserscheinungen hinauszuführen.
Anders fühlte fast zum erstenmal in seinem Leben, daß er Bürger eines Staates war. Wäre er als Arbeiterjunge geboren worden, so wäre er gewiß Revolutionär oder doch wenigstens Sozialdemokrat gewesen, und da er in bürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen und von Beginn an den »geistigen Gütern« zugewendet worden war, äußerte sich seine natürliche Anlage in der Geringschätzung alles Gemeinsamen; es vermag keine Änderung zu werden, solange der innere Mensch nicht geändert ist. Und obwohl geistige Arbeit gerade zu den größten gemeinsamen Leistungen der Menschheit zählt, so zeigt doch gerade sie in ihrer tausendfältigen Aufspaltung die Aussichtslosigkeit eines gemeinsamen Ergebnisses. Staat, Nation, äußere und innere Macht waren ihm nie anders als alte Redensarten erschienen. Die immer wiederkehrende Stellung, welche das Wort »Friedenskaiser« in den Ausführungen seines Gegenübers hatte, erschien ihm unsagbar lächerlich; er begriff dahinter bildlich die ganze Elendiglichkeit eines Staats, der auf nichts andres stolz ist als auf eine solche Rarität, wie sie der anekdotische Zufall einer 70jährigen Regierung
darstellt, und war trotzdem genug Österreicher, um in den Wünschen nach dem großen internationalen Werk die ungenaue Vorstellung von gewesenen großen Zeiten Österreichs zu erraten, fühlte förmlich den unausgesprochenen Gedanken an den »Wiener Kongreß«, mit dem sich bezeichnenderweise nicht etwa die Erinnerung an eine Tat verknüpfen ließ, sondern nur die Befriedigung darüber, eine Rolle gespielt zu haben. Ohne sich je um Politik gekümmert zu haben, begriff er natürlich auch wie eine köstliche Seltenheit, die künstlich auf irgend einem ganz abseitigen Punkt balanzierende feudal-konservative Denkweise, die von der Bravheit der Völker, von Allerhöchsten Gnadengeschenken und unreifen oder hetzerischen Elementen sprach; sie erhielt einen seltsamen Hintergrund dadurch, daß Graf Bühl, wie Anders wohl wußte, nicht etwa ein hinterwäldlerischer Latifundienbesitzer war, sondern mit den vielen Fabriken und Unternehmungen, die er auf seinen Gütern oder mit seinem Gelde eingerichtet hatte, als ein Mann gekennzeichnet war, der sich dem Geiste der Zeit nicht verschloß. Einer der Ausdrücke, der fast ebensooft wiederkehrte wie der vom Friedenskaiser, war die Verbindung von »Besitz und Bildung«; Besitz und Bildung waren die Träger des Staats, Besitz und Bildung sollten sich zusammenschließen, um nicht von der nationalistischen und demagogischen Flut erdrückt zu werden. Das gab dem Manne, den Anders sonst als ein Kuriosum anzusehn geneigt gewesen wäre, etwas Unheimliches. Anders ahnte eine Macht über sich, deren Marionette er selbst trotz aller vermeintlichen Überhobenheit sein könnte, etwa wie das Hineingeborensein in eine Endphase der Entwicklung, wo »Besitz und Bildung« die Welt einem der
periodioschen Zusammenbrüche ihres Aufbaus naheführten. Die Macht, welche er sich regen sah, während er sie bisher so wenig erblickt hatte wie das Gewimmel unter einem jetzt erst weggewälzten Stein, zog ihn als neue Entdeckung an und bewirkte, daß er vorsichtig allen Vorschlägen zustimmte, trotzdem er seiner eigenen Natur nach lachend schon beim ersten hätte aufstehn müssen.
So trat Anders in das »Wir« ein. Mit der größten Hochachtung hatte Graf Bühl immer wieder auch von der Gattin des Sektionschefs Tuzzi gesprochen. Sie schien nicht nur die engere Verbindung mit dem Ministerium des Äußern zu bedeuten, sondern irgendwie auch ein geheimer Ideenquell zu sein, oder eine Art besondren Wohlgeruchs, die Graf Bühl – seinen eigenen Anschauungen vielleicht selbst zuwenig Anziehungskraft zumessend – für besonders wichtig einschätzte.
Diotima empfing ihn mit dem nachsichtigen Lächeln der bedeutenden Frau, die weiß, daß sie auch schön ist und den oberflächlichen Männern verzeihen muß, daß sie zuerst daran denken.
»Ich habe Sie schon erwartet, Herr Dozent.«
Die Hand, welche sie ihm reichte, war fett und gewichtslos. Anders hielt sie zu lange in der seinen, dann küßte er sie, um die Pause in den Rhythmus einer gesellschaftlichen Konvention noch einzufangen. Er hatte sich von dieser Hand in Gedanken nicht trennen können. Wie ein dickes Blütenblatt lag sie in der seinen; die spitzen Nägel wie Flügeldecken, berechnet, daran zu mahnen, daß sie jeden Augenblick ins Unwahrscheinliche davonfliegen könne. Die Phantastik der Frauenhand hatte ihn überwältigt. Dieses schamlosesten,
affenähnlichsten menschlichen Organs, das alles betastet. Diotimas Hals trug mehrere Wülste, mit zartester Haut überzogen. Ihr Haar war zu einem griechischen Knoten geschlungen und Anders dachte an eine wegstehende Schweinsblase. Ihn hatte etwas erfaßt, feindliche Geschlechtlichkeit, eine merkwürdige Umkehrung; er hatte Lust, Diotimas anspruchsvolle Hand zu quetschen und sie ihr dann ins Gesicht zu schleudern, die Gedanken, die er dabei hatte, lassen sich nicht wiedergeben.
Auch Diotima sah ihn lange und fast ängstlich an. Sie hatte viel von ihm und seinem, wie manche Leute behaupteten, teils wüsten, teils gelehrten Leben erzählen hören. Sie fühlte sich verpflichtet, ihn geistig zu verachten, aber konnte sich nicht dem Eindruck seiner männlichen Schönheit entziehn. Seine Brust bildete das Entzücken jeden Schneiders, weil sich die Stoffe so trefflich daranlegten, und sein Körper hatte Anteil an seinem Schicksal, denn er führte ihm ohne seinen Willen sofort die Liebe aller Frauen zu, welche Sehnsucht haben, ihre Wange an eine starke Männerbrust zu lehnen und zu einem hohen Auge aufzublicken. Es waren im allgemeinen anständige und etwas sentimentale Frauen, und sein Schicksal war dadurch überlastet mit Erlebnissen solcher Art. Die Seele guter, schlichter und gerader Frauen geriet in seiner Gegenwart in einen beschleunigten Fall, und er erlebte immer wieder das Schauspiel der von ihrem Sockel herabsteigenden Tugend, Gesundheit und keuschen Schönheit und des hilflosen Dirnentums von Frauen, welche zu schwach sind, um von Leidenschaft enthoben zu werden, und zu verliebt, um keusch zu werden. Ihn graute vor diesen wilden Rückfällen aus der Anständigkeit in die Vorzivilisation, wenn er geliebt wurde, bloß
weil er nicht umspannt werden konnte, und er nützte seine Vorteile gewissenlos als Liebhaber, aber mit einem gepeinigten Gewissen als Philosoph aus.
Auch in Diotima erriet er sofort das, was sie mit Bonadea gemeinsam hatte, mochte es auch bei ihr hinter andren und höheren Eigenschaften versteckt sein. Sie behandelte ihn mit jener sanften, vorsichtshalber ein wenig übertriebenen Zuvorkommenheit, die sie sich von ihrem Mann angeeignet hatte, der sie im Verkehr mit jungen Adeligen brauchte, die zwar seine Untergebenen waren, eines Tags aber seine Minister sein konnten; es war etwas von der Ängstlichkeit und Überhebung des Geistes gegenüber der Roheit stärkerer Lebenskraft darin. So waren ihre Gehaben heimlich wie mit jenem schwarz-gelben Bindfaden zusammengeheftet, an den man die Aktenblätter reiht, und der Sakristeigeruch des hohen Bürokratismus wolkte zart aus ihrer Erotik. Sie mußte das Gerade, Offene seiner Erscheinung immer wieder betrachten und fühlte leibliche Liebe, gegen die sie sich seelisch wehrte, indem sie sich sagte, daß die edlen Eigenschaften, welche Anders so sinnenfällig besaß, bloß durch sein schlechtes Leben unterdrückt sein mußten und gerettet werden konnten. Eigentlich wehrte sie sich dabei gegen ihre Seele, deren ursprüngliche, am Geschmack der Familienblätter großgezogene Neigungen Anders zuliefen, während sich die Anmaßung größerer geistiger Verpflichtung dagegen wehrte.
So betrachteten sie einander gegenseitig. Zwei Wesen, die durch ihre geistige Natur bestimmt waren, einander zu hassen, wußten, daß sie statt dessen, wenn sie sich bloß dem Geschlecht und seiner Liebe überließen, einander beliebig nahe kommen konnten: es war, als ob sich oben zwei Ströme in
verhärteten Spannungen preßten und stauten, während sie unten widerstandslos und glühend ineinanderzufließen vermochten. Vor Diotimas aufgetriebener Frauenhaftigkeit empfand es Anders als Wahnsinn, daß man sich die geschlechtlichen Gefälligkeiten nicht einfach so erweist, wie Affen sich zur Bescheinigung der Sympathie gegenseitig die Läuse suchen. Man verlangt zwar alles mögliche andere und staut das Gefühl dadurch künstlich auf. Das wollte Diotima und Anders wollte es ihr verderben. Es war etwas wie Religion und Teufelskult. Ohne sich dem Zugeständnis ganz entziehn zu können, daß sie schön sei, stellte er erbittert alle unsympathische Mimik ihres Körpers und seines Edelfetts fest und wünschte, es zu kompromittierenden Bewegungen zu verleiten. Er bemerkte, daß die gepolsterten Stühle in ihrer Wohnung unanständig waren und gewisse menschliche Wölbungen nachahmten. Und er wußte, daß er nur ein bißchen schmeichlerisch auf das einfache Rezept dieser Seele einzugehen brauchte, daß er bloß Diotima nicht so, wie er es tat, betrachten durfte, sondern so, wie sie sich selbst zu sehen wünschte, damit sie es mit einer Liebe vergalt, die wie ein nicht endendes Würstchen aus einer zart gequetschten Tube quoll.
Sie fühlten beide, daß sie sich an der ungünstigsten Seite ihrer Seelen berührten; es war wie ein Schicksal, und dieses Schicksal wie eine Persiflage auf die Eindrücke, welche wenige Tage zuvor Agathe in ihrem Bruder hervorgerufen hatte. Sie hatten jedoch indessen in der liebenswürdigsten Weise eine Unterhaltung begonnen und fanden sich mit Hilfe der Höflichkeit zurecht. Diotima war in der Tat so etwas wie die Seele des Unternehmens, wegen dessen er gekommen war. Sie sprach vom Instinkt der
übermenschlichen Wahrheiten, den wir alle haben, aber von der Geschwätzigkeit des Verstandes über-schreien lassen. Sie verband mit dieser zweiten Vorstellung irgendwie den Gedanken an Berlin und Preußentum. Man war der Menschheit verpflichtet, gegenüber seiner seelenlosen materialistischen Zivilisation den im Österreichertum noch bewahrten Schatz von Gefühl, Intuition und menschlichem Takt machtvoll kundzugeben. Wenn man will, den katholischen Menschen gegen den reformierten. Sie schien vom reformierten Glauben ähnlich zu denken wie von Reformkleidern. Wir sind natürlich ganz haßfrei und voll Anerkennung: aber gegenüber der bloßen Logik, einer belanglosen empirischen Psychologie und einem Zuvielwissen auf allen Gebieten muß ein der Liebeskraft analoges Streben wieder kräftig entwickelt werden.
Anders staunte. Diese aus der Literatur der letzten zwanzig Jahre abgehobenen Phrasen in Verbindung mit allerwirklichster Politik zu sehn, erneute den gespenstischen Eindruck, den er schon bei Graf Bühl empfangen hatte; es konnte aber gar kein Zweifel bestehn, daß den Vorgängen in dem Kopf dieser Frau Einfluß eingeräumt war auf die Entwicklung der geplanten Aktion. All das rief plötzlich auch wieder den Einfall aus der Vergessenheit, daß einem Menschen wie Moosbrugger nicht durch gerade Anstrengung zu helfen sei, sondern nur durch Ausnützung solcher Kuriositäten des Lebens, und Anders begann sofort, diesen Fall Diotima in Erinnerung zu bringen und mit Verstandestyrannis des jurisprudenzlichen Menschen, preußischer Ungelenkigkeit und Brutalität des Verstandes überhaupt und Erlösung durch Liebe zu verknüpfen. Er hatte die Genugtuung, alsobald er sich derart zart
und liebevoll für ein Werk der Güte erwärmte, Diotima einstimmen zu sehen, wenn es auch vorderhand noch zurückhaltend geschah; denn es waren Stimmen des Blutes, die in Moosbrugger gegen die Vernunft unterlagen, wenn es auch düstere und verbrecherische waren, und man mußte anerkennen, daß da eine Seele wider die Notwendigkeit der Natur- und Menschengesetze rang, wenn sie auch unterlag. Anders benützte den guten Abgang, um den ersten Besuch nicht zu lang auszudehnen.
Beim Weggehen wiederholte sich ein Eindruck, den Anders schon beim Kommen gehabt hatte. Ein kleines Stubenmädchen mit Gazellenaugen geleitete ihn. Im Dunkel des Vorzimmers waren ihre Augen wie ein schwarzer Schmetterling gewesen, als sie zum erstenmal an ihm hinaufflatterten. Jetzt beim Fortgehn sanken sie durch das Dunkel wie schwarze Schneeflocken. Etwas Arabisches, Algerisch-Jüdisches, eine immer wieder zerschmelzende Vorstellung war so unachtsam-träumerisch in ihm, daß er vergaß, das Mädchen überhaupt genau zu besehen.
Das Wort vom »Österreichischen Jahr« hatte der rechte Instinkt erfunden. Es ließ alle Regungen tönen, die bei der Vorstellung eines österreichischen Jahrhunderts oder gar bei der Aufforderung, ein solches zu wollen, stumm blieben, als ob man etwas Wahnsinniges von ihnen verlangte. Österreich war, was wohl wenige Menschen damals schon wußten, der merkwürdigste und fortgeschrittenste Staat in Europa. Während es Österreichisch-ungarische Monarchie hieß, wurde es Österreich gerufen, also mit einem Namen, den es früher einmal getragen hatte; schon das war Zeichen dafür, daß es seine eigene
Gegenwart nicht ganz ernstnahm und auch keinen Wert darauf legte, das von andren zu verlangen. Es war eine Großmacht, welche viele Millionen jährlich dafür ausgab, eines der kostspieligen Riesenheere zu erhalten, aber die im Verhältnis dazu geringe Vermehrung dieser Kosten, welche es aus der Stellung der zweitschwächsten Vormacht zu einer führenden hätte vorrücken lassen, versagte es sich. Das gleiche war auf allen Gebieten der Kultur der Fall; Wissenschaften, Künste, Industrie und Handel gediehen in diesem Land etwa so wie Herden von Gebirgsschafen, zahlreich, aber ohne den gleißenden gepflegten Fettansatz. Es gab keine Leistung, zu deren Vervollkommnung nicht auch hier etwas beigetragen worden wäre, und keine Einrichtung, die sich nach einiger Zeit nicht auch hier fand, aber niemals lief man an der Spitze.
Man hat die Erklärung dafür im Charakter der Bewohner dieses Landes gesucht, was immer falsch ist, denn man hat zumindest zwei Charaktere, seinen persönlichen und den seiner Umgebung, deren Verhältnis zueinander das einer verwickelten Gemeinsamkeit ist. Es gab in diesem Land vermutlich ebensoviel Begabung, Charakter und Einzelwillen wie anderwärts, aber das Zusammenspiel war unlustig und schlapp, und zwar aus keinem andren Grunde so sehr als weil man es nicht ernst nahm. Und darin waren Österreich und seine Bewohner allen andren Staaten voran.
Sie nahmen das Gemeinsame und nach außen Gerichtete ihrer Existenz nicht ernst. Österreich besaß eine der ausgesprochensten dynastischen Regierungsformen, aber man war, von einzelnen Kreisen abgesehen, in seiner privaten Gesinnung so frei und demokratisch, daß man es kaum bemerkte, nicht
in einer Republik zu leben. Man lebte liberal und war von klerikal konservativen Gesetzen eingehegt. Man lieferte sich endlich so heftige national-politische Kämpfe, wie sie anderwärts höchstens zwischen England und Irland vorkamen, und ließ ihrethalben mindestens dreimal im Jahr die Staatsmaschine ins Stocken geraten, aber es ist nicht anzunehmen, daß man dies für ein Zeichen besonderer Schwierigkeiten hielt. Im Gegenteil, jede dieser Erscheinungen betraf eine Sache für sich, und es ist kaum zu verstehn, wie die Bewohner anderer Staaten sich einbilden können, die Verantwortung dafür zu tragen, was diese Staaten tun. Nirgends in der Welt kann ja der Einzelne in einem Staat mehr tun, als gewähren zu lassen, was die anordnen, welche dafür da sind, und alle paar Jahre, wenn die Neuwahlen ausgeschrieben werden, von fünf oder sechs Übeln, welche mit den Namen politischer Parteien bezeichnet werden, das zu wählen, welches ihm nach den Erfahrungen der letzten Jahre als das kleinste erscheint. Seit die Lenkung den Händen der Despoten entrissen worden ist, hat man noch keine gescheitere Form dafür finden können als diese.
Die Wirkungen dieser Demokratie werden durchkreuzt und teilweise aufgehoben von denen einer durch hartnäckiges Beharrungsvermögen gekennzeichneten Beamtenschaft, und die Herrschaft dieser Bürokratie wird gemildert durch ihre Ängstlichkeit vor plötzlichen und rohen Angriffen der Volksvertreter. Es mischen sich noch wirtschaftliche Einflüsse hinein, teils durch die direkten Kraftwirkungen des Geldes, teils dadurch, daß die Fehlgriffe der politisch Herrschenden nichts so sehr fürchten machen als den Vorwurf, daß sie das gesunde Wirtschaftsleben stören, eine Sache, von der
sie nichts verstehn und sich alles erzählen lassen müssen. So hat für den einzelnen, von nichts als den höchsten geistigen Gütern erfüllten Menschen der ständige Lebensaufenthalt in einem Staat etwas durchaus Gespenstisches. Er kann weder auf die Straße treten, noch ein Glas Wasser trinken, ohne die Hebel eines riesigen Apparats in Bewegung zu setzten oder von ihrem ausgewogenen Gleichgewicht in der Ruhe seines Daseins erhalten zu werden. Der Staat, in welchem Anders sein Leben verbrachte, hatte dies eben in erhöhtem Maße, weil das Unpersönliche der – wenn auch zum Teil natürlich aus Persönlichkeiten bestehenden – Maschinerie darin stärker zum Bewußtsein kam. Man streift zufällig einen Hebel oder Knopf und mit einem ganz bestimmten Laut, der in Deutschland anders ist als in Frankreich, und mit einer ganz bestimmten, hier größeren, dort geringeren, Geschwindigkeit beginnt das Räderwerk in einer Weise abzulaufen, die man nach einiger Erfahrung voraussagen kann. Man hat durchaus keine andre Möglichkeit, als gewährenzulassen, was jeder einzelne dort tut, wo er seinen Angriffspunkt hat, und wird hilflos hin und hergetragen wie ein Schwimmer auf hoher See.
Niemals war Anders das Schicksal Moosbruggers so lebhaft vor Augen gestanden als in der Zeit, da er die ersten dieser Erfahrungen sammelte. Er hatte ein starkes und man könnte fast sagen natürliches Empfinden dafür, daß ein Mensch in einen dunklen, leeren, meilenweiten Raum hineingestellt, durchaus nicht imstande ist, seine Handlungen zu bestimmen, und solche Lage schien ihm die zu sein, in welcher Moosbrugger geboren war. Anders hatte das Gefühl, durch die patriotische Aktion, an der er beteiligt war, seinen Raubmörder innig zu verstehn.
Der Hochadel hielt sich zwar von sichtbarer Tätigkeit ängstlich und hochmütig zurück, selbst Graf Bühl wirkte mehr als Dirigent in der Versenkung, aber war die Quelle jedes seltsamen ethischen Don Quichotismus; es tauchten die seltsamsten Vorschläge aus diesem Kreise auf; Anders hatte den Eindruck, daß diese Menschen zwar den Monarchen für sich beanspruchten und bereit waren, sich für ihn zu opfern, aber sie erschienen gleichzeitig eifersüchtig und niemals imstande, eine Kränkung darüber ganz zu überwinden, daß der Monarch sich mit der parlamentarischen Demagogie abzufinden bereit zeigte. »Unverantwortliche, unreife, sensationssüchtige Elemente, die in der politisch zu wenig geschulten Masse nicht die nötige Zurückweisung finden« war der immer wiederkehrende Gedanke, den Bühl Anders einzuprägen suchte, und einmal, als wollte er seinen inneren Widerspruch beruhigen, fügte er hinzu: »Wir dürfen nicht vergessen, daß der hochherzige Entschluß Seiner Majestät, dem Volk ein gewisses Mitbestimmungsrecht in seinen Fragen zu schenken, noch nicht solange her ist, als daß auch schon überall jene politische Reife hätte eintreten können, welche in jeder Hinsicht dem von höchster Stelle großmütig entgegengebrachten Vertrauen würdig erscheint.«
Wenn von Meier-Ballot, der Gouverneur, vor dem Spiegel stand, und er tat es am Abend des Tags, wo er zum erstenmal das Wort Österreichisches Jahr gehört hatte, so blickte ihm daraus über Frack und Ordenskette das geordnete Gesicht eines bürgerlichen Ministers entgegen, in dem sich von der Härte des Gelds höchstens ganz hinten in den Augen noch etwas hielt, und seine Finger hingen wie Fahnen in der Windstille von seinen
Händen herab, als hätten sie nie im Leben die hastigen Rechenbewegungen eines Banklehrlings ausführen müssen.
Diesen Männern zur Seite traten einige Wesen, deren Namen niemals in den Berichten der Zeitungen über wohltätige Veranstaltungen gefehlt hatten, ohne daß sich Anders je hätte entschließen können, ihre wirkliche Existenz wie eine Tatsache zu betrachten. Den adeligen Flügel dieser Reihe bildete eine etwa fünfzigjährige Gräfin Strass und den bürgerlichen eine ungemein charitative Frau Fabrikant Weghuber. Daß sich diesen Personen, welche zunächst sozusagen die Initiative des Volks darstellten, Universität und Kurie anschlossen, versteht sich von selbst; das Kriegsministerium, als es von der Sache hörte, hatte sich sogar selbst zur Mitarbeit eingeladen, wobei es in seiner Zuschrift darauf hinwies, daß es als die größte der gemeinsamen Institutionen der Monarchie sich ganz »hervorragend« berufen fühle, die Bestrebungen zu fördern, von denen es gehört habe. Schwierigkeiten bereitete nur die Behandlung der Politik. Auch in der Politik gab es natürlich Verbindungsmänner, welche in ihr ein Laufbrett sahen und überzeugt waren, daß man mit Sonne und Wind rascher läuft als gegen sie, man hatte also Anwälte in allen Lagern, immerhin war aber damit erst ein vorbereitender Schritt getan, und der Ehrgeiz des Grafen Bühl ging sehr weit. In den seltsamen Verschlingungen seiner Gehirngänge hatte sich ja der Gedanke festgesetzt, durch sein großes Werk die Politik recht eigentlich überflüssig zu machen.
Immerhin war diese Vision als solche machtlos gegen das ethische Zerrbild der materialistischen Weltanschauung, und angesichts des geistigen
Ghettos, in das sich bekanntlich die marxistische Führerhierarchie der Arbeiterschaft einschließt und der persönlichen Reinheit ihres Lebenswandels war ein Zugang noch nicht gefunden, während er zum Liberalismus, der samt seinen Zeitungen vom Kapital lebt, breit offen stand. Nicht nur als einer der reichsten und einflußreichsten Männer seines Landes, sondern auch kraft seiner Idee konnte Graf Bühl der Beihilfe der Hochfinanz sicher sein, die – in einer ähnlichen Stellung zum Staat wie die Kirche, nämlich in der einer in ihrem Wesen weiblichen, unterworfenen, aber aus dem Hintergrund regierenden Gewalt – unvermeidliche Opfer zu bringen verstand. Schlimmer stand es um den infolge der jahrelangen parlamentarischen Kämpfe national radikalisierten Teil der deutschen Parteien. Der national fast geschlossenen Vertreter der andren »österreichischen Stämme«, wie das Wort lautete, mit dem Graf Bühl bei solcher Erwähnung stets seinen Kopf in den Sand steckte, um nicht Nationen sagen zu müssen, konnte er sich in seiner so genial einfachen politischen Intuition sicher fühlen, denn diese Vertreter der unversöhnlichsten Oppositionsgedanken ließen keine Gelegenheit unbenützt, um für ihre Person sowohl wie in einer persönlich dynastischen Frage ihre Loyalität hell auf diesem dunklen Hintergrund strahlen zu lassen, wodurch sie wohl wußten, ihre Geschäfte zu fördern.
Wenn sie das Vaterland als ein Gefängnis bezeichneten, so wußte man wohl, daß sie wie kleine Vögel nirgends in der Welt einen so sicheren Platz hatten wie in diesem Käfig, aber gerade unter den Deutschen war die nationale Bewegung verderblich, weil sie durch Geschichte und Nachbarschaft des Deutschen Reichs eine nahe Beziehung zur
Wirklichkeit erhielt. Es würde wohl schwer zu sagen sein, ob Graf Bühl sich bewußt war, daß seine ganze Aktion sich gegen den deutschen Gedanken richtete, es ist viel wahrscheinlicher, daß er gewöhnlich angenommen haben wird, mit ihr dem »wahren deutschen Gedanken« zu dienen, jedenfalls kam er aber nach langen Überlegungen zu der Überzeugung und kam auch später nach verschiedenen andren Vorschlägen – wie dem Ankauf einer Zeitung und dem Weg über die militärische Ertüchtigung der Jugend – immer wieder auf sie zurück, daß der Weg zu den nationalen Deutschen nur über die ihnen feindlichen Nationen führe. Hatte man diese gewonnen, so mußten auch die antidynastischen Deutschen mitgehn; der Grund lag darin, daß es einen viel größeren Entschluß bedeutet, sich von etwas auszuschließen, das alle tun, als sich zu weigern, den Anfang zu machen. Diese Überlegung stammte von Anders, der sich in einer jener machiavellistischen Stunden ihrer entäußert hatte, wo junge Menschen nur an die Gewandtheit des Schlags denken und nicht an das, was sie treffen. Die Deutschen müssen die scheinheilige Komödie, war ihm eingefallen, mit den andren Nationen mitmachen, weil das Österreichische Jahr ganz von selbst und mühelos Wirklichkeit wurde, während der großdeutsche Gedanke eine Idee blieb; wie ein Erdstrom führt die Wirklichkeit die Füße mit sich, ohne daß sie sich rühren, während die Ideen nur wie überflüssig ausgespannte Segel sind: es müßte schon ein riesiger Sturm sein,der ihre Träger aus dem gleitenden Sumpf heraus risse. Anders hatte in den wenigen Tagen von seinen Eindrücken gelernt.
Aber das Merkwürdigste waren nicht jene Menschen, welche wie ein bereitgelegenes Hebelwerk
nun mit einemmal sichtbar wurden, sondern die vielen Namenlosen, welche gleichzeitig mit ihnen schon das erste Signal hervorrief. Anders, der kurzerhand zum Sekretär der Aktion gemacht worden war, wurde von Menschen mit Vorschlägen überlaufen, die wie Insekteneier von einer plötzlichen Hitze ausgebrütet waren. Eine wahre Unsumme von Ideen, Ehrgeiz und Sorgen breitete sich eines Tages vor ihm aus, ein groteskes Weltverbesserungsbedürfnis, das bis dahin unter dem Druck des Gewährenlassenmüssens begraben gewesen war und sich nun befreit glaubte. Es scheint, daß jeder Mensch, auch der gewöhnliche und praktische, im Grunde nicht die Wirklichkeit liebt, sondern nur Gleichnisse, weil nur Gleichnisse die Phantasie erregen und es mehr unterdrückte Phantasie im Leben gibt, als es den Anschein hat. Es scheint, sagte sich Anders, ein paar Urträume zu geben, und das Leben besteht darin, daß sie versickern.
5.
Arnheim
Jedoch besteht heute kein Gefühl ohne seinen Gegensatz. Sein Großvater war noch Schiffsjunge am Rhein gewesen und hatte erst in späten Jahren mit einem Müllabfuhrgeschäft, das er Veredlungsverkehr für Abfälle taufte, den Grund zum Reichtum der Arnheims gelegt, aber noch Arnheims Vater war ein Emporkömmling. Menschen, die ihn geschäftlich kannten, beschrieben ihn als einen ekelhaften, aber unvergleichlichen Kerl. Er war klein, breitschultrig, trug immer einen weit offen stehenden
Schwalbenschwanz und hatte ein knochiges Gesicht mit einer Knopfnase. So hatte er das Welthaus geschaffen. Seine geschäftliche Haupteigenschaft war, das Kommende zu wissen und immer die Aktienmajorität zu haben, wenn er sie brauchte; er erriet das dazu Nötige einfach irgendworan, es wechselte und war unklar, was ihm als Anhaltspunkt diente, und selbst Arnheim jun. blieb es zeitlebens verborgen, wie sein Vater mit einem Blick Weltverhältnisse durchschauen konnte, deren Grundlagen und Einzelheiten ihm völlig unbekannt sein mußten. Er erklärte niemals seine Entschlüsse, er ließ immer die anderen reden, gegen Ende drängte er sich aber breitschultrig durch und stand mit einem festen Vorschlag da, der denen Segen brachte, welche ihm folgten. Mit der Zeit verbreitete das den Eindruck, daß niemals etwas mißlinge, worin er die Hand habe, welche allgemeine Einbildung natürlich mächtig dazu beitrug, daß es auch fast immer so kam und daß die Fehlschläge, welche in Wahrheit keinem wirkenden Mann ganz erspart bleiben, in der Lawine des Erfolgs untergingen.
Arnheim jun. war lange Zeit neben ihm der überflüssige, allmählig alternde Kronprinz im Geschäft gewesen, ehe er seine selbständige Rolle als diplomatisierender Kaufmann entdeckte, und hatte sein Leben damit verbracht, über das nachzudenken, was der Alte scheinbar ohne Nachdenken tat. Er hatte die Natur- und Staatswissenschaften studiert, Logik und Mathematik; wenn es sich aber um wichtige Entscheidungen handelte, saß die Meinung des Älteren an einem knüppelkurzen Willen und behielt merkwürdigerweise immer recht. Dr. Arnheim konnte sich der Überlegenheit seines Vaters niemals ganz entziehn und fürchtete dessen knappen Sarkasmus in gleichem Maß, wie er ihn bewunderte.
Die erste Folgerung, die er daraus zog, war, daß es im Leben etwas gibt, das dem Verstand und seinen Kräften überlegen ist. Arnheim brauchte bloß einen Billardball zu betrachten. Man kann ihn hoch oder tief, rechts oder links nehmen. Den zweiten Ball mit ihm voll treffen oder eben nur streifen. Man kann stark stoßen oder bloß hauchen. Kann ihm die Bewegung schlicht mitteilen oder fälschen. Kann mehr oder weniger fälschen, und da es wahrscheinlich noch viele solcher Möglichkeiten gibt, die das Ergebnis unter sonst gleichen Umständen verschieden und unter verschiedenen Umständen gleich zu gestalten vermögen, und man sich jedes dieser Elemente des Stoßes zudem beliebig abgestuft denken kann, so würde schon das genügen, um den Verlauf eines einfachen Karambolstoßes zu einer unendlichen Arbeit zu machen, wenn man ihn auf dem Weg der Rechnung finden wollte. Aber es kommt noch viel mehr hinzu. Eine vollendete Theorie würde fordern, daß man außer den Gesetzen der Mathematik und starren Mechanik auch die der Elastizitätslehre berücksichtigt. Man müßte die Koeffizienten des Materials kennen. Den Temperatureinfluß. Man müßte die feinsten Maßmethoden für die Koordination und Abstufung der motorischen Impulse besitzen. Die Distanzschätzung müßte genau wie ein Nonius sein. Das kombinatorische Vermögen schneller und sicherer als ein Rechenschieber; zu schweigen von der Fehlerrechnung, der Streuungsbreite und dem Umstand, daß auch das zu erreichende Ziel nicht ein einziges und eindeutiges darstellt, sondern eine um einen Mittelwert gelagerte Gruppe von eben noch genügenden Tatbeständen ist. Der Verstand gibt hier wahrhaftig eine unendliche Aufgabe auf und läßt bei ihrer
Lösung schmählich im Stich, die zu finden, man lauter Eigenschaften haben und Dinge tun müßte, die man unmöglich haben und tun kann. Dennoch vermag man, mit einer Zigarette im Mund, sozusagen mit dem Hut auf dem Kopf, an das Brett heranzutreten, braucht sich kaum die Mühe zu geben, die Lage zu betrachten und eine richtige Stellung einzunehmen, stößt zu und löst in dieser nachlässigen Weise oft glänzend eine Aufgabe, welche für die Überlegung nicht zu bewältigen ist, übrigens nicht nur beim Billard, sondern unzähligemal, beim Tennis, Fechten, Schießen, Wettkämpfen aller Art, ja eigentlich überall.
Von solchen geheimnisvollen Fähigkeiten ist das Leben voll, aber ebenso von ihren geheimnisvollen Grenzen. Da war zum Beispiel das Geschäft, wo es doch scheinbar darauf ankommt, der Schlauere zu sein. Aber seit Arnheim darin tätig war, hatte es sich zwar immer umfassender ausgebreitet, doch schoß es nicht mehr so gerade in die Höhe wie zu Anfang in seiner ›heroischen Zeit‹. Es hatte eine Grenze des Wachstums erreicht und strebte nun schon sichtlich einer zweiten zu; es gibt eben auch für Geschäfte eine geheime innere Grenze wie für Organismen, deren keiner mehr heute die Masse früherer Erdperioden erreicht. In diesem Fall entzieht sich also der materielle Erfolg dem Willen und der Berechnung, und der Mensch gerät in die Lage des Wilden dem Donner gegenüber. So aber fand sich Arnheim bei den verschiedensten Fragen von seinem Verstand hilflos gelassen. Wenn schon ein Karambolstoß nicht überdacht werden kann, wie viel weniger eine Frage der Moral, der Kunst, der politischen Gestaltung, der Seele.
6.
Gerda
Als Anders wieder einmal kam, wurde er von Gerdas Mutter zu einer Unterredung unter vier Augen gebeten. Die große, magere Frau mit dem strengen, etwas vergrämten Gesicht war verlegen, als sie sich allein gegenübersaßen. Da er der einzige sei, auf den Gerda etwas gebe, und trotz seiner Jahre ernst …: er solle ihre Bitte nicht mißverstehn. Anders war es zufrieden, denn er hatte schon befürchtet, daß sich über seinem eigenen, nicht ganz unschuldigen Haupte ein Gewitter zusammengezogen habe, als Vertrauensperson zu gelten. Er genoß es, Frau Direktor … aus einer drohenden Mutter sich in eine Frau zurückverwandeln zu lassen, was sie zusehends verjüngte und entsächlichte. Er dachte sogar darüber eine Weile nach, bei welchem Taufnamen man sie rufen müßte, und erinnerte sich, daß sie Klementine hieß, wofür schwer eine Koseform zu finden ist.
Sie war entsetzt über den Verkehr Hans Tepps in ihrem Hause und wagte doch nicht, Gerda ihn zu verbieten. Gerda war so nervös und blutarm und regte sich gleich so fürchterlich auf. Aber trotzdem war dieser Hans Tepp ein dummer Junge ohne Lebensart und sein zur Schau getragener Antisemitismus war nicht nur taktlos, sondern auch ein Zeichen seiner inneren Roheit. Nein, sie wolle nicht über den Antisemitismus reden, er sei eine traurige Zeiterscheinung, aber darin müsse man nun einmal resigniert sein; man könne sogar zugeben, daß in mancher Hinsicht etwas daran sein möge …
Sie war arm und verprügelt. Sie hatte ihren Mann nicht nur geheiratet, weil ihr Vater ein hoher
Beamter ohne Geld und mit viel unversorgten Töchtern war, unter denen sie an Alter an dritter Stelle stand, sondern auch, weil das Bankwesen ein moderner freigeistiger Beruf war und ein gebildeter Mensch im neunzehnten Jahrhundert nicht mehr den Wert eines andren danach beurteilt, ob er Jude oder Katholik sei. Die Arme mußte erleben, daß mit dem steigenden Nationalismus in ganz Europa auch eine Welle des Antisemitismus stieg, und ihr Mann sozusagen in ihren Armen aus einem modernen Menschen in einen stinkenden Juden verwandelt wurde. Anfangs lehnte sie sich dagegen mit dem ganzen Grimm des beleidigten Geistes auf, mit den Jahren aber wurde sie von dieser naiv grausamen, sich immer weiter ausbreitenden feindlichen Haltung zermürbt, von dem allgemeinen Urteil entwaffnet und eingeschüchtert. Ja, sie mußte selbst das erleben, daß sie selbst bei den Gegensätzen, die nicht selten zwischen ihr und ihrem Mann bestanden und eine wenig freundliche Austragung fanden, sich manches achselzuckend damit erklärte, daß sein Charakter eben doch der eines Juden sei, wenn sie auch nach außen niemals das Prinzip verraten hätte.
Gerdas frei deutsche, blond energische Art, für die das Problem gar nicht zu existieren schien, war ihr ein Labsal; sie wollte die Unsicherheit nicht merken, welche diese Unbefangenheit hervortrieb. Deshalb war es ihr anfangs auch recht und verständlich, daß Gerda sich mit diesen jungen Christogermanen umgab, wenn man unbefangen ist, muß man manchmal auch ein sonst verletzendes Wort vertragen.
Aber nun schien ihr doch, das sonst gute Kind, das an seinen Eltern hing, müsse in einen ganz merkwürdigen Zustand geraten sein, weil es die
Beleidigung ihrer Eltern, die in Hans Teppens fortgesetzter Weltanschauung lag, so gar nicht würdigte und nicht von ihr abgestoßen wurde, wo doch dieser Junge nicht die geringste Aussicht auf eine anständige Versorgung bot. Es müsse wie eine geistige Infektion sein und man könne es auch Gerda anmerken, daß sie wie unter einer Suggestion stand. Schließlich war sie auch nicht mehr so jung, um ihre Jahre einfach wegwerfen zu können.
Also wurde Anders mit vielen Erklärungen und Beschwörungen, daß er die Absicht nicht mißdeuten möge, gebeten, seinen merklich guten Einfluß auf Gerda dazu zu benützen, ihr ein wenig die Augen für die Nichtigkeit und jugendliche Unreife dieses Hans Tepp und seiner Gefährten zu öffnen. Indem sie seine Überlegenheit in menschlichen Angelegenheiten und Eignung, diese Bitte zu erfüllen, hervorhob, entging Anders nicht, daß er ihr selbst, wenn auch in lebensferner Unschuld, wohlgefällig war.
So fand Anders reichlich Gelegenheit, mit Gerda allein zu sein.
7.
Vorlesung bei Diotima
Der junge jüdische Dichter Friedel Feuermaul gehörte zu jenen, die teils aus Ängstlichkeit, teils einer neu aufkommenden Mode der Güte und des Vertrauens in die unverdorbene Menschennatur folgend, aber auch wegen einer im Gymnasium und im kaufmannsklugen Elternhaus erworbenen Abneigung gegen den kalten Verstand der Menschheit am liebsten dort hineingekrochen wären, wo
sie am wärmsten ist. Es hatte ihn tief ergriffen, als er von der Möglichkeit hörte, daß eine große österreichische Demonstration gegen den preußisch-deutschen Verstand stattfinden sollte. Verbindung zu Diotima war rasch gefunden, denn Friedel Feuermaul war der Liebling kunstsinniger Frauen und Diotima gefiel es wohl, diesen vielgenannten jungen Mann in ihrem Hause vorzuführen.
Friedel Feuermaul las erst zwei größere Gedichte von sich den hingerissenen Zuhörern vor, »Christus und die Schlacht bei Kolin« und »Christus bei Buddha«. Dann hielt er eine längere Rede über »Die Liebe des Menschen«, deren Sinn es war, daß man gut sein müsse, um die Welt gut zu machen. Er gefiel sogar dann sehr gut, ja besonders dann, als er sich zu der Behauptung hinreißen ließ, es sei besser, als Österreicher des Widerstrebens der Nationen nicht Herr zu werden, denn als Deutscher alles nach seinem Willen exerzieren zu lassen. Anders bemerkte an der Rede besonders die vielen Zitate aus dem alten Testament, und da er Rotbart bei sich hatte, vermochte er sie rasch und einwandfrei zu diagnostizieren.
Rotbart ist Sekretär der Festvereinigung. Ist »Historiker«, ohne Doktorat. Irgendein freigeistiger Sektionschef in der liberalen Ära hat sich ihn geleistet. Hielt das für Geist, was dieser Mensch sprach. Wollte einen frischen Zug ins Beamtentum bringen. Der Sektionschef ging und Rotbart blieb. Kam vom Konzept zum Zeitungsausschnittarchiv. Und zwar wieder, weil man ihn für einen Vertreter des Geistes hielt, was man als unpassend empfand, wenn man ihm auch nicht wehtun wollte, nachdem nun einmal ein Sektionschef diesen Irrtum begangen hatte,wollte man keine Affaire daraus machen.
Dieses Hascherl mit einem Blähhals hat die Lebensanschauung: Alles, was die Menschheit erreicht hat, geschah durch die »starke Persönlichkeit«. Gilt als Querkopf trotz der Heroenanschauung, denn: das tut man bloß, das sagt man nicht. Philosophieren ist überhaupt eine Anmaßung. Professoren, das ist etwas anderes, denn Lehrer braucht man schließlich, damit die Sache nicht ausstirbt.
Es kommt zu einer Debatte. Der ganze Pazifismus und Humanitarismus, der bei Feuermaul und den Seinen so unbegründet lückenhaft und aus der Kanone geschossen wirkte, fand sich schon im alten Testament und ist dort wunderschön, denn er ist dort die Tragik eines kleinen Volks, das die Wahrheit gewußt und gewollt hat und untergegangen ist. Aber wenn diese Predigten und Exklamationen bis heute zu keinem Resultat führen konnten, so kann die Ethik, die sie enthalten, doch nicht richtig sein. Die warme Predigt des Optimismus ist falsch und richtig ist nur, den Menschen für eine kolloidale Masse zu halten, aber ihm Institutionen zu geben. Hier entwickelt er etwas von der dynamischen Moral und alle fielen über ihn her.
8.
Anders bei Diotima
Anders kam früh am Morgen zu Diotima; die Neugierde trieb ihn an, sie zu dieser ungewöhnlichen Stunde zu sehn, er erfand rasch irgend einen Vorwand. Diotima saß in einem epheugrünen Hauskleid aus dickem Samt auf einem Stuhl, der zu schmal für sie war, vor einem Tischchen, welches
ihr Frühstück trug. Anders bemerkte Setzeier, weiße Kännchen mit Kakao, Butter, Erdbeermus und goldiges Brot. Er bemerkte noch einmal, daß der Stuhl zu schmal für sie war, ihre Schenkel schienen nur mit der Innenseite auf ihm zu liegen. Der Samt spiegelte in den steifen Brüchen verschossen wie alte Vorhänge.
Diotima hatte eine Zeitung weggelegt, als sie Anders mit ihrem bis zur Natur einstudierten seelenhoheitsvollen Lächeln die Hand hinreichte. »Mein Freund,« sagte sie so laut, daß es jeder hören konnte, der mochte, »ich habe eben in der Zeitung die Toten gezählt; Unglücksfälle und natürliche Tode addiert, waren es 76. Sie sind gewiß auch überzeugt, daß es an manchen Tagen viel mehr ist. Und das liest man morgens jeden Tag. Und merkt es nicht. Merkt es nicht mehr; soweit haben uns die Zeitungen gebracht.«
Anders dachte angestrengt nach. Lockte einen Gedanken herauf.
»Eine unglaubliche Menge Roheit wird jeden Morgen uns eingeflößt. Es wäre wichtig, dagegen etwas zu unternehmen.«
»Stellen Sie sich einen Menschen vor,« erwiderte Anders »auf den diese Ereignisse in ihrer natürlichen Schwere wirken würden: müßte das nicht ein Narr sein? Er würde beim Frühstück zu zittern anfangen und dann nicht an seine Arbeit gehn können, sondern herumrennen und die Menschen zu Rettungswerken anrufen, oder zu Bußwerken, oder die Zeitungen mit Zuschriften und Besuchen belagern!«
Der Gedanke, nach dem er gesucht hatte, war: müßte das wirklich ein Narr sein?! Ohne Frage ja; aber zweifellos hätte dieser Psychotiker auch recht.
Wie hätte er recht? Wie vereint man das? … Und zum erstenmal stand Clarisse wieder vor ihm, gespannt wie ein Bogen, auf dem ein Pfeil das Los-schnellen erwartet.
Diotima sagte noch irgendetwas. Da versperrte Anders die Türe – er wußte, Hofrat Tuzzi war schon lange im Büro – und öffnete die angelehnte Tapetentür, welche in Diotimas Schlafzimmer führte. »Komm« sagte er. »Du hast recht. Aber dann laß uns auch so handeln. Wenigstens einmal. Unser Wesen ist schon am Morgen satt und nimmt nichts mehr auf. Dann muß man ihm die Ohren schärfen, damit es hört. Die Haut gerben, damit ihr schon Vorstellungen wehtun. Laß dich so schlagen, daß du dich nach deiner Mutter sehnst.«
Diotima blieb natürlich sitzen und hielt das für einen Scherz.
»Du bist eine Maulmacherin« sagte Anders so grob, daß sie die Augenbrauen hob. Rathenau würde ihn aber in diesem Fall auch nicht hinausgewiesen haben. Sie überhörte daher das Entgleiste seiner Stimme und betonte das Interesse des Geistigen. »Du hast theoretisch recht. Krankheiten verfeinen, eine tägliche kleine Pein könnte für religiöse Menschen zu einem dietätischen Mittel werden. Ich gebe sogar zu, daß man es einmal versuchen dürfte.«
Anders stand in der Öffnung der Tür.
»Haben es religiöse Zeiten nicht getan? Tun es nicht heute noch Kleriker? Ich nehme an, daß sie es ohne Verständnis tun. Aber ein Mensch wie du, dessen Seele dem Erwachen näher ist als die Seelen aller andren, traut es sich nicht, schließlich doch nur, weil es ungewöhnlich ist.«
Er wußte, daß die Eitelkeit so sicher, wie der Tod kommt, auf Diotima wirken mußte. Sie sah ihn
ziemlich blöde an. Er hatte etwas Undurchsichtiges, Neues; er blickte voll Bosheit auf Diotima, lähmte ihren Widerstand. Die Lockung, die von seinem Körper ausging, umschattete ihre Klarheit: es schien ihr möglich zu sein, daß er geistig recht hatte und sie wollte nicht zurückstehn.
Es war für Anders Genuß, die Ansätze, aufzustehn, in ihren Schenkeln wahrzunehmen, die anfangs noch vor dem Ziel umkehrten. Die Opferblödheit in ihrem Gesicht, die sich noch den Anschein der Initiative wahren wollte. Er hatte Gewalt über diesen eitlen Menschen, dessen Seele er haßte, und er streifte ihr das schwere grüne Kleid von den Schultern, während sie – nun nur mehr von der Sinnlichkeit des Verbotenen überwältigt – schwer aufseufzte.
Anders floh. Er ließ Diotima zurück, wie sie lag. Auf den Knien. Die Haare über das Gesicht gefallen. Die Wangen voll Speichel. In den Augen die erwachende Vernunft im Entsetzen über die entweichende Entrücktheit. Wenn man das Leben eines Menschen aufreißt bis zur Kindheit zurück und die Kinderworte kommen hervor und die Kindergebärden, diese ganz schamlos mit sich einverstandenen, in die Liebe der Familie eingebetteten, noch vor dem Charakter liegenden Worte und Gebärden, so ist der Mensch entsetzlich und Anders war es, als hätte er eine Schnecke im Mund gehabt und leidenschaftlich an ihr gekaut.
9.
Förster
Agathe kommt ihrem Bruder nach. Er ist verändert. Sie ist verwirrt und aufgewühlt. Sie fühlt, daß sie in eine abnorme Beziehung geraten ist, wenn auch noch gar nichts geschah, die Seele sehnt sich in einer unerlaubten Richtung. In solchen Momenten fühlt man sich von der ganzen Welt verlassen, antizipiert die Verlassenheit mit dem gleichen Schreck, wie man an einem kleinen Zeichen erraten kann, die Eltern würden ganz grausam sein, wenn man etwas täte.
Sie macht einen einsamen Spaziergang an den Hängen des Wienerwalds – die große Stadt liegt unter ihr in der Vormittagssonne, bewegt langsam ihre Rauchschweife wie eine behagliche Katze. Sie kommt zu dem Grab des Dichters, der sich getötet hat; dort überwältigt sie ihr Kummer, von dem sie nichts Näheres weiß. Sie legt sich aufs Grab und drückt ihr Gesicht in den Rasen. Ganz traurige Tränen kommen wie ein Regen, durch den die Sonne scheint.
Als sie aufsieht, steht ein Herr bei ihr. Sie wurde verwirrt, denn sie wußte nicht, wie lange er ihr schon zugesehen hatte. Er betrachtete sie mit unverhüllter Anteilnahme. Als ihr vom Weinen noch verdunkelter Blick über seinen hinglitt, flößte er ihr ein unerklärliches Vertrauen ein. Der Herr war groß, dunkel gekleidet und mager; er trug gütige Augengläser und in den kurzen blonden Bart, der Kehle, Kinn, Lippen und Wange bedeckte, hatten sich schon einzelne graue Fäden gemengt. Nicht leicht auffindbare asketische Züge verhärteten
dieses Antlitz, das sie sonst vielleicht doch für das eines Mittelschullehrers gehalten hätte.
»Der Wille darf den Organismus nicht seinen dunklen Antrieben überlassen« sagte der Fremde. Agathe staunte. Dann lüftete der Fremde den Hut, wie um es nachzuholen. »Es kommt vor, daß man einen wirklich quälenden Schmerz, eine wirkliche Erschütterung des eigenen Ich lieber einem Unbekannten anvertraut als einem Freund.«
So sicher der Fremde aufgetreten war, er hatte nicht ohne Anstrengung gesprochen, und jetzt, wo sie nebeneinander gingen, kämpfte er mit den Worten. Agathe war einfach aufgestanden und hatte angefangen, langsam neben ihm herzuschreiten. Im ersten Augenblick wollte sie sich gegen diese Ansprache eines, der ihr nicht vorgestellt war, empören, aber sogleich schien ihr, daß dies lächerlich wäre.
Sie gehen im Gespräch, dann zurück, dann noch einmal den Weg; keiner weiß, wo der andere eigentlich hin will, und möchte doch darauf Rücksicht nehmen. Endlich sagt Agathe: »Wohin werden Sie jetzt gehen?«
»Ich muß nach Hause gehen« antwortet Förster.
»Wird Ihre Frau etwas dagegen haben, wenn ich Sie noch begleite?«
»Es kommt mein Sohn aus der Schule nach Hause; in einer Stunde; deshalb muß ich zu Hause sein. Meine Frau ist tot. Vor einem Jahr ganz plötzlich gestorben; ja.«
»Ich möchte jetzt aber wissen, wer Sie sind. Sie verstehen mich? Vorher fand ich es auch nicht notwendig.« Wieder war die etwas komische Unsicherheit an dem Fremden zu bemerken wie vorhin, als er den Gruß nachgetragen hatte; es schien ihn im Arm zu jucken, daß er abermals feierlich den Hut
lüpfe. Dann versteifte sich etwas. Eine Gedankenarmee schien einer andern eine Schlacht zu liefern und zu siegen; statt daß eine spielleichte Sache spielend geschah.
»Ich heiße Förster und bin Lehrer am Rudolfsgymnasium … auch Dozent der Pädagogik an der Universität.«
»Dann kennen Sie meinen Bruder?« sagte Agathe erfreut und nannte ihn.
»Nur dem Namen nach. Ihr Herr Vater war Professor in Prag?«
»Wollen Sie mir nicht sagen, weshalb Sie geweint haben?«
»Nein … Ich weiß es selbst nicht … Aber ich möchte, daß Sie mir beantworten, warum Sie glauben, daß Sie mir helfen könnten? Ich glaube, man kann niemandem helfen.«
Ihr Begleiter antwortete nicht gleich. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, aber es schien Agathe, daß er sich zwang, zu warten.
»Man kann wahrscheinlich nur jemandem helfen, dessen Leid man selbst einmal durchlebt hat. Ich meine natürlich nicht, daß man sich einbildet, ihm zeigen zu können, wie er es machen soll. Aber, sehen Sie – Angst in einer Katastrophe steckt an; und Entronnensein steckt auch an! Ich meine das bloße Entronnensein, wie bei einem Brand; alle sind kopflos geworden und rennen in die Flammen: welche ungeheure Hilfe, wenn ein einziger schon draußen steht und winkt, nichts tut als winken und unverständlich schreien. Er kann auch nicht den Weg weisen, aber da er hinausgelangt ist, muß es einen Weg geben.«
Agathe sagte: »Mein Bruder und ich nennen das den Bergführer. Wenn man mutlos wird und eine
ganz ruhige Bauernhand anfassen darf. Eine wahre Vaterhand. Aber Sie werden zugeben, daß uns so einfach und bieder nur selten im Leben zu helfen ist. Wie kann man annehmen, daß in seelischen Gefahren ein anderer Mensch schon in der gleichen Situation gewesen ist, um zu wissen, daß unser Leben sehr einfach ist.«
»Einfach?« Der Fremde lächelte ziemlich unverschämt. »Sie sind wahrscheinlich noch viel zu jung, um einzusehen, daß unser Leben viel eher einer Katastrophe gleicht als einem Spaziergang in den Bergen; die zweite Hälfte des Lebens rechnet nur mehr nach Minuten, in denen man immer kopfloser umherirrt und nach dem Ausgang sucht.«
Agathe sah ihn neugierig und respektlos an. »Glauben Sie vielleicht an Religion?«
Er antwortete nicht.
»Wie kann man an Religion glauben? Sie sind doch kein Geistlicher?!« Wenn der Fremde plötzlich gesagt hätte: unser erlauchter Herrscher, Dives Augustus, sie wäre kaum erstaunter gewesen.
»Ich möchte Ihre Frage lieber nicht beantworten; Sie sind zu weit davon entfernt.« Aber Agathe war von einem tiefen Interesse ergriffen worden.
Der neue Mann flößt ihr ein unbekanntes Vertrauen ein; der Mensch, von dem man empfindet, daß er nichts für sich will, sondern den warmen Wunsche hat, dem andern zu helfen. Seine Neugierde ist die des Arztes, der fragt: tut es hier weh? Sie ist zu ihm gegangen und nun eröffnet sich ihr diese Welt mit dem nie ganz schweigenden Mißbehagen, wie wenn man sich in eine Familie begeben hat, wo man nicht hingehört. Sie merkt, daß man Vertrauen oder Mißtrauen schon gegen das Gehäuse des Lebens
hat, ohne es sonst zu beachten. Als sie einmal allein in der Wohnung ist, benützt sie das Klosett und das geschieht nur mit großer Überwindung. Jede Einzelheit ist ihr fremd und erregt ihr Mißtrauen; eine gestickte Tasche für das Papier, die altmodische Konstruktion. Die Stiche, mit denen die Wohnung ausgestattet ist, haben alle religiösen Inhalt. Man findet da Raffael, Murillo, Bernini, aber schon Tizian nicht und ebensowenig die Präraffaeliten und Primitiven. Den meisten Platz nehmen Reproduktionen nach späten Meistern ein – auch weniger bekannte wie Giuliani und Altomonte – meistens aus der Zeit des schon ganz aufgeweichten und gezuckerten Barock. Wenn man den Wänden entlang nur diesen Bildern folgt, wirkt die Häufung geblähter Gewänder und emporgehobener, leerer, ovaler Gesichter beängstigend. Die Summe dieser im einzelnen oft bewundernswerten Leistungen ist eine so starke Entseelung, daß Agathe blaß wird und ihr der Atem versagt. Zugunsten der Aufwärtswendung der Seele ist das Leibliche derart unterdrückt, daß mit einemmal gar keine Seele mehr da ist, sondern nur ein seltsames Raffinement in Gewandfalten und unnatürlichen Gebärden. Agathe stellt erschrockenfest, daß sie ebensogut die gestickten Überwürfe der altmodischen Möbel erhebend finden könnte. Bisher hatte sie das als eine nicht in Betracht kommende Kunst sich vom Leib gehalten; hier fühlt sie, daß es ein ebenso autonomes Reich ist, mit dem man irgendwie fertig werden muß, und daher kommt ihre Angst. Das Raffinement liegt darin, daß der angestrebte seelische Ausdruck zu einer Konvention geworden ist und die ganze ununterdrückbare menschliche und künstlerische Lebendigkeit sich in die Details geflüchtet und dort versteckt hat; so
hatten diese Kleidersäume, Schuhe, Wolken eine Ladung von Sexualität und das Ganze war nicht weit entfernt von den Empfindungen eines Exhibitionisten oder Fetischisten. In der Wohnung riecht es außerdem nach Medikamenten. Altmodisch, denn die modernen Medizinen rochen nicht. Verzärtelt wie bei alten Großmüttern. Dennoch auf das menschliche Leiden gerichtet. Agathe kann sich nicht versagen, ein wenig näher diese Wohnung zu untersuchen. Alle Schränke sind aber geschlossen; so zieht sie nur die Lade eines Nachttischchens auf und sieht darin nichts als eine peinliche Ordnung.
Als Förster nach Hause kommt, schließt sich an diese Eindrücke das Gespräch über Kunst. Agathe gesteht Förster, daß sie sich zwischen seinen Bildern gefürchtet hat.
Er sagt zunächst geringschätzig: »Künstler! – Der Seele des Gläubigen gelingt es zuweilen, sich so gut wie unmittelbar mit Gott zu vereinen. Der Künstler muß sich dazu des Fleischlichen (Stofflichen) bedienen und haftet an ihm; schon daraus folgt ein niederer Rang der Kunst. Sie kann eigentlich das religiöse Erlebnis nur propagieren, nicht zum Erlebnis bringen.«
Agathe hält ihm vor, daß er dann zuviel solcher Bilder hat. Die Freiheiten, die man, wie er sagt, der niederen Menschlichkeit im Künstler lassen muß, scheinen danach doch auch ihm etwas zu bedeuten. – Etwas in die Enge getrieben, spricht er nun seine Ansicht über Kunst aus. »Die wahre Kunst ist Beseelung des Stoffes … Sie soll das Nackte nur darstellen, wenn die Übermacht der Seele über den Stoff aus der Darstellung spricht. Oder läßt sich der Nacktkultus der Maler und Bildhauer für einen ernsten Menschen rechtfertigen? Ist der nackte
Mensch wirklich etwas so Schönes? Etwas so Unerhörtes? Sind die Entzückungen der Kunstmenschen nicht etwas Lächerliches, auch wenn man gar nicht sie vom religiösen Standpunkt beurteilt?« Agathe kann ihm darin nicht unrecht geben.
Er fährt fort: »Leibeskultus erregt die Phantasie einseitig und erhitzt sie mit Ansprüchen, die das Leben nicht erfüllen kann. Auch die übertriebene, von Amerika herübergekommene Körperpflege ist eine große Gefahr.«
Agathe sagt: »Sie sind ein Gespensterseher.«
Förster: »Viele reine Frauen, die ohne Lebenskenntnis und harmlos solche Dinge begrüßen oder mitmachen, sehen eben nicht, daß sie damit Geister beschwören, die vielleicht noch ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten zerstören können!« Es hieß: Du bist eine Gefahr für mich – und das ließ Agathe weniger das Lächerliche darin hören.
Aber gerade deshalb antwortet sie ihm scharf. »Soll man etwa nur alle vierzehn Tage baden? Die Nägel abbeißen? Flanell tragen und nach Frostsalbe riechen?« Wie sie es sagt, ist es eine Anspielung auf irgendwas, das sich in dieser Umgebung sehen und riechen läßt; muß sie solche längst überholte Dinge sagen? Sie fühlt sich so eingeschlossen.
Er nimmt es auch als Angriff. »Eine wahrhaft männliche Seele wird auch dem ganzen modernen Theaterwesen mit größter Zurückhaltung gegenüberstehen und dabei ruhig den Hohn und Spott derer über sich ergehen lassen, die zu weichlich sind und zu bescheidene Ansprüche an ihre innere Reinlichkeit stellen, um sich konsequent jeden Sinnen-kitzel zu versagen. Selbst eine ganze Reihe von ernsteren Opern und Schaustücken unseres modernen Theaters enthalten so wenig wahre Kunst und
atmen so unverkennbar die sinnliche Unfreiheit und Überreizung ihrer Autoren, daß sie die niederen Seiten des Zuschauers stark anregen, und zwar gerade durch die poetische Illusion, durch die sie alles beschönigen und verhüllen.«
»Sie sprechen wie die Lex Heinze« wirft Agathe unwillig ein. Sie ist zornig über die dadurch verlorene Zeit, daß er wie im Parlament redet und nicht wie ein Mensch. Dabei geht ihr aber durch den Kopf, warum er »wahrhaft männliche Seele« sagt und so heftig ist. Ist er unmännlich, feig, verprügelt? Und wirft sich nun vor einer Frau in die Brust? Sie stellt sich diese Frage leider nicht in Gedanken, sondern nur in ein Unbehagen verwandelt ist sie in ihr.
Da nimmt das Gespräch schon eine andere Wendung. Er ist am Gipfel: »Es ist ein Dogma geworden, daß man alles gehört und gesehen haben muß, um darüber mitreden zu können – man lasse andere schwätzen und sei stolz auf seine Unbildung! Man rede sich nicht ein, daß es zur Bildung gehöre, Schmutz bei elektrischem Lichte zu sehen!« Dann klappt er nach: »Alle diese Bemerkungen richten sich natürlich nicht gegen die große und echte Kunst.« Dann gibt er – weil er keine Antwort erhält, noch etwas weiter nach: »Das ist nicht Prüderie, Prüderie ist meist nur ein Zeichen einer verdorbenen Phantasie. Aber die nackte Schönheit ruft Tragik im inwendigen Menschen hervor und zugleich geistige Kräfte, die diese zu entsühnen und zu lösen trachten. Darum muß man das Nackte entweder verhüllen oder so vergeistigen und mit der höheren Sehnsucht des Menschen verbinden, daß es nicht mehr knechtend und erregend, sondern beruhigend und befreiend wirkt. So ist es auch auf dem Höhepunkt der griechischen Kunst
geschehen.« Sie brauche ihn nicht für künstlerisch ganz ungebildet zu halten, überhaupt sei ihr Streit nicht der eines kunstliebenden Menschen gegen einen kunstfremden, sondern gehe um Wesenserkenntnisse! »Die Gestalten des Parthenonfrieses sind bekleidet und auf nackte Körper hat der Grieche ein Götterantlitz gesetzt. Michelangelo gibt verklärte Leiber, verbunden mit der übersinnlichen Welt. Bei Tizian wird die Begehrlichkeit gebunden durch einen Ausdruck der Gesichter, ein Empfinden, das aus der Welt der Seele stammt und nicht eins ist mit der Welt der Naturtriebe.« Er geht auf und ab und erwartet keine Antwort. Er bleibt vor Agathe stehen und spricht sie direkt an: »Die Seele des Menschen ist kein Schutz gegen die Sinne, sondern deren gewaltiges Echo! Sie erlangen ihre Gewalt über den Menschen erst dadurch, daß ihre Vorspiegelungen seine Seele erobern und erfüllen!« Das ist ein Geständnis.
Agathe kennt die leidenschaftlichen Erfüllungen der Sinnlichkeit nur aus Wach- und Schlafträumen. Hier ist also ein Mann, für den ihr Besitz diese Seligkeit gewähren würde, er nennt das aber eine Vorspiegelung und wehrt sich dagegen. Sie verspricht sich nichts von ihm, aber er hat eine vitale Frage berührt. Darum schweigt sie nicht.
»Ich habe es nicht erfahren; aber ich habe geglaubt, daß die Sinne und die Seele eins werden müssen. Daß in den wirklichen Fällen die Seele den Sinnen ihr viel größeres Feuer verleiht.« Damit trifft sie ihn mitten in seinen Kampf wegen ihr.
Er sagt: »Lassen sie uns einmal ohne Schonung darüber reden. Machen Sie sich klar, wie unzulänglich und unbefriedigend der ganze Zeugungsprozeß als bloße Naturerscheinung ist. Selbst die
Mutterschaft! Ist ihr physiologischer Mechanismus wirklich so unbeschreiblich wunderbar und vollkommen? Wieviel schreckliches Leiden und Sterben bringt er mit sich, wieviel sinnlosen und unerträglichen Zufall! Lassen wir also die Naturvergötterung denen,die das Leben nicht kennen wollen, und öffnen wir die Augen für die Wirklichkeit. Der Zeugungsprozeß wird nur dadurch geadelt und über dumpfe Knechtschaft erhoben, daß man ihn durch Treue und Verantwortlichkeit weiht und den geistigen Idealen unterstellt. Man muß gegen das klägliche Geschrei der eigenen Begierden hart sein. Sie schleichen sich sonst selbst in die edelsten Absichten ein; was den Mann schwach und unfähig zum ritterlichen Beistand macht, das ist eben das sinnliche Bedürfnis nach den weiblichen Reizen. Selbst in die Hilfe schleicht es sich noch ein.« Damit hatte er sich wieder in der Hand.
Agathe ging kurz danach fort, da das Gespräch keine Weiterführung zuließ.
10.
Anders und Agathe bei Moosbrugger
Agathe will Moosbrugger sehen. Es ist nicht Neugierde, sondern das Bedürfnis nach sinnlicher Wahrnehmung eines Wesens, für das man seine Seele einsetzen will. Anders hat den Arzt gewonnen, weil er Privatdozent ist und irgendein philosophisches Interesse simuliert, das dann ins Psychologische gewendet akzeptiert wird. Dieser junge Arzt, ein großer junger Mensch, entstammt einer mittleren bürgerlichen Familie. Anders hatte die Hauptdaten seines
Ich sofort weg gehabt; darin besaß er den scharfen Blick des Hasses. Es war der Wunsch aufzusteigen, trotz der Enge seiner Herkunft, Macht und Verehrung eines gehobenen Daseins zu gewinnen. Der Arzt, der nur zu Menschen kommt, die auf seine Hilfe warten und sie demütig entgegennehmen müssen, war eine Möglichkeit. Aber der Weg handfester Jungen über Anatomie und Paukarzt hat etwas vom Schlächterhandwerk. Die Aufmerksamkeit fiel also auf die höhere Möglichkeit des Psychiaters. Ein später Nachglanz der verschmähten Humaniora lag auf diesem Beruf. Der Dichter, der in jedem Menschen eingemauert ist, fand Gelegenheit zu Einflüsterungen. In den Romanen und Aufsätzen las man von abgründiger Psychologie. So bestimmte ein dämonischer und düsterer Glanz die Wahl. Man findet nicht ganz selten unter Psychiatern diesen romantischen Typus, dessen Stellung Verwandtschaft mit der des Photographen hat (auch ein Künstler in einem mechanisch kausalen Milieu), und Anders kannte ihn. Durch leicht zu erfindende, kaum wahrnehmbare Schmeichelei erreichte er es, daß der Mann sich in seiner Gesellschaft außerordentlich wohl fühlte.
Schwieriger war es, Agathe den Zugang zu schaffen. Es mußte ein wohltätiges Motiv ersonnen und die Erlaubnis des Landesgerichts erwirkt werden. Agathe kam daher, um Moosbrugger zu beschenken. Es war schwer zu entscheiden: womit. Als natürlich erschien ihr, ihm etwas zu geben, das dem Forte ihrer Beziehung zu ihm entsprach. Da diese aber eigentlich nur eine ganz dunkle, noch gliederlose Aufregung war, ließ sich durchaus nicht wahrnehmen, was dies sein müßte.
»In früheren Zeiten wäre man ihm bei der ersten
Begegnung weinend an die Brust gesunken,« bemerkte Anders »das viele Weinen und Umarmen war ein Zeichen, daß man Gefühle wahrnahm, die man nicht begriff. Heute enthält man sich dessen: oder willst du? Da du nicht willst,« ging der Streit weiter»mußt du stark bleiben und dir sagen, daß diese Aufregung gar nicht in eine Handlung umgewandelt werden soll.« Er verlangte, daß sie Moosbrugger entweder Tabak mitbringe oder eine Wurst. Agathe wehrte sich gegen diese Trennung des Handelns vom Fühlen, Anders behauptete ungeduldig, daß so erst der neue Idealismus bereitet werden könne.
Als sie hineingeführt wurden, waren sie aber beide überrascht von dem Bild, das sich ihnen darbot. Sie mußten zuerst den Saal der hysterischen Frauen durchschreiten und das übermäßige Wogen der Brüste, das blumenhafte schwarze Glänzen der vergrößerten Augen und gelösten Haare im Weiß der Bettgewänder blieb ihnen lebenslang unvergeßlich, wenn sie es auch in der Eile und Befangenheit des Durcheilens kaum begriffen. Wurst und Tabak in ihren Händen erbitterten Agathe in diesem Augenblick vielleicht mehr denn je. Aber zugleich fühlte sie, daß der gleiche unnennbare Eindruck jetzt ja auch in ihrem Bruder war und eine der tief verborgenen kleinen Schlingen mehr verknüpfte sie mit ihm. Und nun standen sie an der Türschwelle des Zimmers, das sie betreten sollten, ein unfreundlich leerer Würfel, von den Freundlichkeiten eines breiten, hellen Fensters, spiegelnder Parkette und weißer Wände widerspruchsvoll begrenzt. In der Gegend des Fensters standen zwei rohe Tische aus weichem Holz mit weißgestrichenen Stühlen, daran saßen vier Männer, wovon einer den Ärztekittel trug, der andre die Anstaltskleidung, der dritte
einen dunklen, schlecht sitzenden Anzug, der vierte die etwas verschmierte Sutane eines Priesters, der sich zu Hause weiß, und spielten Karten. Es waren der Arzt, Moosbrugger, Dr. Pfeifenstrauch und der Geistliche der Anstalt.
Dr. Pfeifenstrauch, mit der Abgabe eines Gutachtens betraut, und der Assistent hatten es so verabredet, um Moosbrugger unbefangen beobachten zu können und der Seelenhirt war der Vierte, da sie Tarock zu dritt spielten, wo beim Pausieren zeitweilig einer der Ärzte sich ganz der Beobachtung hingeben sollte. Natürlich war das Ganze recht auf ein »Nun, mein lieber Moosbrugger« gestimmt und dieser saß, nicht wenig geschmeichelt, als Hauptecke im Geviert.
Anders stellte seine Schwester vor, erklärte ihren Besuch und übergab Moosbrugger in ihrem Namen die beiden Päckchen. Moosbrugger stand stramm und galant auf, fing Agathens unsichere Hand mit seiner Tatze und machte eine stumme, schnelle Verbeugung in den Hüften wie ein Junge. Anders bat, daß man sich doch nicht stören lassen möge. Als dies vorbei war und die Geschwister dem weitergehenden Spiel zusahen, an dem Anders mit Scherzen teilnahm, wußte Agathe, wie sie Moosbrugger hätte begegnen sollen. Wie eine Fee, dachte sie sich. Sie war die erste Frau, welche – schön und rein – Anteil an ihm nahm. So hätte sie ihm auch entgegentreten müssen: als Schwester. Bewußtsein, Schwestern zu haben in den Weiten der Welt, die zu jeder Stunde da sein können, selbst wenn sie noch nie gekommen sind. Trotzdem sie es verabsäumt hatte, erwärmte und erleichterte sie die Möglichkeit solchen Erlebnisses, als müßte es ihr gegeben sein, sich in einen schwebenden Regen von Licht aufzulösen.
Sie fühlte währenddessen, daß sie Moosbrugger von Zeit zu Zeit heimlich beobachtete. Der Besuch dieser schönen Frau, nach allen Ehrungen, die ihm schon widerfuhren, schmeichelte ihm unbändig. Er zweifelte nicht einen Augenblick, daß seine buschbärtige Männlichkeit sie verliebt gemacht habe. Sie hatte das Bild gesehn, daß Anders von ihm aufgenommen hatte, hatte durch diesen von ihm gehört und hat nun den Bruder beredet, sie mitzunehmen. Er verachtete sogar Anders ein wenig, weil er sich dazu hatte hergeben müssen, ihm Wurst und Tabak zuzutragen. »Diese Teuflinnen,« dachte Moosbrugger »ich würde sie mir schon anders erziehn«, und das war sein Blick von Zeit zu Zeit, der den Agathes suchte und dann von einem seinen Sieg bestätigenden Lächeln gefolgt war, das unendlich komisch wirkte.
»Pick war ausgespielt, nicht Karo, Herr Moosbrugger« sagte der Anstaltsarzt, der es aufmerksam beobachtete; Moosbrugger lächelte generös unaufmerksam, während er sonst achtsam wie ein Falke spielte, ja die Gefahr eines gewalttätigen Ausbruchs befürchten ließ, wenn ihm etwas mißlang. Denn er spielte um sein Leben. Der Wille, diesen Studierten seine geistige Überlegenheit zu zeigen und sie zu besiegen, war so übermächtig in ihm, daß er Tisch und Spiel und Anwesende zusammengeschlagen hätte, wenn ihm etwas mißlang, hätte ihn anderseits nicht der ebenso heftige Wunsch gebändigt, seine gesellschaftliche Höhe zu erweisen. Er wollte nicht wissen, daß er ihnen damit in die Hand spielte, die nichts andres wünschten, als die gute Funktion seines Verstandes bestätigt zu sehn, und ihn durch ermunternde und bewundernde Zurufe in seinem Element hielten.
Agathe war es unendlich schmerzvoll, in seinem Gesicht den gleichen Seelenzustand zu lesen, den sie an allen andren erkannte, sie sank von der Höhe, wo sie gestern vor ihrem Kommen stand, immer tiefer, das war ein Spiel dummer Teufel, die nicht an eine Seele glaubten und sich aneiferten, ihr Fehlen zu beweisen, und sie behielten recht.
Agathe kommt zum Assistenten. Der Mann braucht den Fall in einer bestimmten Auffassung für eine Arbeit, von der er sich viel verspricht. Moosbrugger muß den motivierenden Einflüssen der Strafe zugänglich sein, wenn sie auch in diesem Fall leider zufällig der Tod ist. Agathe macht ihn auf diesen Widerspruch, diese entsetzlich konsequenzlose Konsequenz aufmerksam. C’est la vie, das ist die Wissenschaft. Er spricht gern über die Philosophie seines Metiers. Es ist ihm besonders interessant, mit einer schönen Frau … im Studio … faustisch … die Wissenschaft ist überhaupt konsequenzenlos, konsequenzfrei. Sie ist zwangsläufig. Wir sehen Seelenleiden, aber für uns sind es physiologische Vorgänge. Auf die Konsequenzen haben andere zu achten, er tut nur das Seine, darauf beruht die Größe der Menschheit. Wir kommen als Privatleute sozusagen auf ein immer ferneres Gebiet. Melancholisch: Wir bedürfen eigentlich des Trostes … Aber er verspricht, sich die Sache zu überlegen und bittet Agathe wiederzukommen, er werde Moosbrugger im Sinn ihrer Anregungen beobachten.
Als Agathe das Anders erzählt, sagt er: Wir werden Moosbrugger zur Flucht verhelfen.
Agathe kommt zum zweiten Mal zum Assistenten. Locke und Spitzbart. Er ist mit sich zu Rate
gegangen und erklärt, nicht helfen zu können. Er hat sich auch Agathes Interesse an Moosbrugger überlegt und hält es für einen sadistisch-negativen Zug. Sie regt sich über das Resultat auf. Er weist sie sanft zurecht, daß es ja »der Erhöhung der Würde der Gesetze« diene. Agathe sagt ihm ironisch, daß die Würde der Gesetze der Stolz von Bedienten auf das Wohlergehn der Herrschaft sei, oder der Respekt von Schuljungen vor der Rute! »Also das ist herrlich,« sagt sie»so wird Moosbrugger hingerichtet, weil seine Ärzte …« Dabei, um den Arzt nicht ansehn zu müssen und durch den zornigen Blick den Angriff bis zur Unmöglichkeit zu verschärfen, sieht sie zur Seite und vielleicht zur Höhe und vielleicht irrten ihre Augen verzweifelt umher. Jedenfalls legte der Arzt es als eine pathologische, durch den Gedanken an Moosbruggers Bestrafung und die Züchtigung geschaffene sexuelle Aufregung aus. Er faßt ihre Hand am Gelenk. Sie dürfe das mit der Würde der Gesetze nicht mißverstehn, das gelte nur im allgemeinen, in allen Dingen, welche die Öffentlichkeit berühren. Im Privatleben könne man sich nicht immer mit der gleichen Rigorosität vor Schwächen schützen. Insbesonders Nervenärzte, schließlich sei die Medizin ja doch auch eine Kunst, könnten großen Erfolg nur haben, wenn sie zu den Erscheinungen an ihren Patienten in einem gewissen sympathetischen Verhältnis stünden … Er drückte ihr Gelenk. Wenn sie ein gewisses Bedürfnis nach Brutalität … He? Es braucht ja durchaus nicht gerade Moosbrugger zu sein; ein dämonischer Beruf wie der des Psychiaters.
Agathe stand auf und ging fort. Es kam ihr vor wie die Geilheit eines kleinen Hundes, der sich an eine große Hündin heranmachen möchte.
11.
Moosbruggers Fluchtversuch
»Sagen Sie, Moosbrugger, haben Sie niemand, der Sie da herausholen könnte? Anders wird es nämlich nicht gehn.« Moosbrugger nennt einen Freund, er hatte wohl einen. Aber er wird nicht leicht zu finden sein. Was ist er? Schlosser. Aber er ist Schrankschlosser, grinst Moosbrugger etwas verlegen, er wird nicht leicht zu finden sein, er arbeitet in vielen Geschäften. Der würde es schon tun, aber Anders müßte zu seiner Frau gehn und sich dort nach der Adresse erkundigen. Und das wolle er ihm nicht anmuten, das sei eine widerliche Person. Moosbrugger machte ersichtlich Kapriolen und tat sich wichtig auf ritterlichem Fuß mit Anders.
Anders blies mit ein paar geraden Fragen in dieses flaue Gewölk. Sie werde ihm wohl Auskunft geben, ob sie nun widerlich sei oder nicht. Ja, das werde sie wohl, er müsse sich auf Moosbrugger berufen. Vor seiner letzten Wanderung, als er in Wien arbeitete, habe er mit ihr zusammengelebt, kam nun der Kern zum Vorschein; er, Moosbrugger, aber sie sei ein Weib mit verbrecherischen Neigungen, eine ganz gemeine Seele … Moosbrugger zeigte alle Symptome seines Frauenhasses, bloß weil er fürchtete, Anders könnte sich eine schlechte Meinung von ihm bilden, wenn er diese Frau sehe. Es war für Moosbrugger ein Glück gewesen, daß sie so gut zu seinem Freunde paßte. Die also würde Anders sagen, wo er ihren Lebensgefährten treffen könne.
Es war zu verlockend für Anders. Es kamen da vielleicht auch merkwürdige Vorstellungsverbindungen hinzu. Als Junge hatte das Weib der
niederen Klasse stärkeren Reiz für ihn gehabt als das der eigenen; man könnte sagen, einen scharfen Tiergeruch. Bloße Füße, die unter unordentlichen Rockrändern zum Vorschein kamen, ein Busen, der sich unter der Bluse regte wie ein Kaninchen unter einem Tuch, im Bund zwischen Rock und Bluse Teile des Hemds, und der Rock um die Beine schlagend, umfallend, hinweisend. Während bei der Dame alles durch die Kunstformen des Miedermachers und Schneiders verdeckt ist, die das Interesse auf sich selbst lenken und, wo solcher Umweg noch zu weit ist, wie bei der Lust der Jugend, diese gar nicht erwachen lassen. Es kam hinzu die Vorstellung roher Sitten und Schläge, Vorgänge, welche das sittliche Gefühl, das in der Jugend vor allem Ehrgefühl und Familien- oder Klassenhochmut ist, reizen; vielleicht dadurch aber, daß in jungen Menschen immer auch eine unterirdische Gegenströmung zur Revolution gegen das sich Bildende bereit ist, eine geheime, oppositionelle Liebesscheu auf sich ziehn.
Es war nun allerdings merkwürdig, daß Anders, Privatdozent der Universität, solche Gedanken nicht schon an der Schwelle abwies. Man behauptet wohl, daß es wenig sittlich völlig integre Menschen gebe, verlangt aber von diesen, daß solche Einfälle in ihnen sofort vom Widerstand überwältigt werden.
Anders aber wurde von dem Abenteuer unbändig verlockt. Der Abenteuer leugnete und die Kühnheit solcher des Geistes pries. Es bereitete sich da ein Umschwung in ihm vor. Er war müde der Gleichförmigkeit eines intellektuellen Lebens, seit es aus dem Zustand des glücklichen Gabenempfangens von allen Seiten in den einer eigenen festen und sich verengenden Auffassung getreten war. Hat
ein Leben das Glück, da sofort sich wirken zu fühlen, andren Menschen etwas zu geben und durch Glück und Unzufriedenheit der Empfangenden in hundert Beziehungen verwirkt zu werden, so kann es lächelnd sicher werden wie eine junge Mutter, die ein Kind am Busen nährt. Stößt es auf Unverständnis, Fremdheit und Kampf, so mag es heroisch werden, aber auf dem Wege dahin durchläuft es eine Strecke höchster Gefahr, die wie die mittlere Strecke jeder Leistung ist, wo weder die Spannungen des Anfangs noch des Ziels wirken, und der Wille schwankt.
Anders sagte sich entsetzt, daß Moosbrugger, ausgebrochen, unleugbar früher oder später wieder seiner Anlage verfallen werde und daß er, Anders , sich mit der Verantwortung für seine Opfer belaste.
Es hatte diese Vorstellung aber wenig Kraft über ihn, vor allem fehlte ihr das lebendige Erleben der Opfer. Die automatischen moralischen Leitvorstellungen waren in ihm paralysiert durch die Erkenntnis und mit den Opfern war es so: Hätte er die leidende Kreatur vor sich gesehn, so wäre er wahrscheinlich in heftiges Mitleiden verfallen, denn er war ein Mensch der Schwingungen und also auch der Mitschwingungen. Solange aber die Suggestion des sinnlichen Erlebens fehlte, war es die allgemeine Abneigung gegen Menschen, welche sich stärker erwies und dem Gedanken an mögliche Opfer die Gefühlskraft schmälerte. Sie waren abstrakt, Bedrohte wie alle die Tausende, welche den Gefahren der Eisenbahn und Automobile ausgesetzt sind.
Ja, die ethische Kraft, welche in ihm ihre Versuchsgebilde formte, spiegelte ihm sogleich die Möglichkeit einer Theorie als der Durchführung würdig vor. Das ganze Leben, das wir geschaffen haben, ist
nur ermöglicht durch Vernachlässigung der pflichtgemäßen Obsorge für unsren Nächsten. Wir dürften keine Maschinen auf die Straße stellen, die ihn töten, oder wir dürften ihn wie ein behütetes Kind nicht auf die Straße lassen. Wir leben aber mit einem statistisch alljährlich vorausberechenbaren Prozentsatz von Morden, die wir lieber begehn, als daß wir von unsrer Entwicklungslinie abwichen, und opfern Tausende dem Gedeihen der Art.
Man wird zugeben müssen, daß aus solchen Gedanken schwer ein Ausweg zu finden ist, wenn sie von einer echten, tollkühnen ethischen Leidenschaft erfaßt werden. Es kam hinzu, daß Anders damals schon als eine Grundform des menschlichen Geschehens das »Gewährenlassen« erfaßt hatte.
Es ist in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung immer die Sache andrer, die Schäden zu heilen, welche die notwendige Tätigkeit der einen auf ihrer Kehrseite mit sich führt. Es sind endlich ganz bestimmte Organe eingesetzt – die Parlamente, Ministerien und Herrscher – deren es eine Hauptaufgabe ist, diese Seiten und Kehrseiten miteinander in Einklang zu bringen. Der Richter wirkt auf den Arzt und der Arzt auf den Richter, die Enteignung durch die Kaufleute wird in irgendwelche Grenzen gefaßt usw. Er konnte sich also sagen, wenn er Moosbrugger zur Flucht verhelfe, so sei es eben Sache andrer, dem Schaden vorzubeugen, und wenn sie ihre Schuldigkeit tun, so kann es ihnen nicht mißlingen. Daß er als Einzelner es gar nicht darauf ankommen lassen dürfe, sei eine Maßregel der Vorsicht, ja sogar der Bequemlichkeit, ein verdoppelter Sicherheitskoeffizient. Warum unterließ er es dann aber nicht gleich? Diese Frage war nur eine andre
Gestalt von der, warum er es überhaupt tat. Warum hatte ihn sein Geschick mit Moosbrugger verflochten? Warum war er an einem bestimmten Punkt seiner Entwicklung auf ihn gestoßen? Warum zog ihn nichts ab.
Als er bei Fräulein … eintrat, war es ganz anders. In der Küche einer kleinen Wohnung wirtschaftete eine derbe junge Frau. Es war eine Wohnung wie vierzig andre in diesem Vorstadthaus und die junge Frau glich allen vierzig andren Hausfrauen. Das Mißtrauen, mit dem er empfangen wurde, wich in nichts von dem Mißtrauen ab, das man auch sonst oft in diesen Kreisen findet. Der Rock hing zwar formlos und befleckt herab, aber es war der Rock eines Wesens, mit dem man sogleich beim Eintreten sprechen mußte und zu dem man in die gewöhnliche europäische Beziehungslage eines Besuchers trat. Und von Verbrechen war in diesem Umkreis kein Hauch. In der Physiognomie nach Degenerationszeichen zu fahnden, versagte sich Anders als unsicher und wesenlos. Er hatte das Ganze gar nicht anders erwartet und war bloß wieder einmal aus dem Tor eines Traums getreten.
Als er sich mit dem Namen Moosbruggers einführte, lächelte Fräulein … abschätzig, als wollte sie sagen: was der für unnötige, verrückte Sachen macht, aber sie war erbötig, ihm zu helfen. Natürlich hing es von Karl ab, aber sie glaubte, daß er Moosbrugger nicht sitzen lassen werde. Das spielte sich in den ehrbaren Formen ab, wie wenn ein in Bedrängnis geratener Geschäftsmann bei der seriösen Nachbarschaft um Unterstützung ansucht.
Sie nannte Anders eine kleine Wirtschaft, wo er wahrscheinlich Karl treffen werde. Er müsse nur vielleicht ein paarmal hingehn, da Karls Kommen
nie ganz sicher war. Dort sollte er dem Wirt sagen, wer ihn hinschicke und wen er zu sprechen wünsche, und sich ruhig hinsetzen.
Anders hatte Glück und traf Karl Biziste beim ersten Mal. Er tat, wie ihn Fräulein … geheißen hatte, berief sich auf sie, brachte dem Wirt seinen Wunsch vor, wurde zum Sitzen aufgefordert und aufmerksam gemacht, daß er vielleicht lang werde warten müssen.
Er musterte die Gäste, deren viele beim Kommen und Gehn mit dem Wirt sprachen, fühlte sich beobachtet und konnte selbst nicht viel unterscheiden. Aus besserer Kleidung schloß er schließlich auf Verbrechen. Es war überdies eine Stunde, wo das Publikum noch mit Arbeitern und Kleinbürgern untermischt war.
Anders hatte auch Herrn Biziste nicht herausgefunden, der, als er eintrat, nach einem schnellen Blick über den Raum mit dem Wirt sprach wie die andren, und von dem er, nachdem er saß, hie und da in der gleichen Weise angesehn wurde wie von allen andren. Auch der Wirt gab Anders keine Verständigung. Biziste trank mit ein paar Männern, stand dann auf, um zu gehn, blieb wie von ungefähr an Anders’ Tisch stehn und fragte ihn abweisend, was er eigentlich wolle. Anders hatte den Takt, nicht aufzustehn, nachlässig aufzusehn und für Biziste einen Stuhl heranzurücken. Das war allerdings eine Anmaßung, aber da er sicher sein konnte, daß Biziste etwas für Moosbrugger übrig habe, durfte er es sich erlauben, dem großen Mann in gleicher Haltung zu begegnen. Er sagte ihm, daß Moosbrugger sicher binnen wenigen Wochen hingerichtet werden würde, wenn man ihm nicht helfe. Biziste schien für Moosbrugger Mißbilligung zu
empfinden wie für einen unverbesserlichen Dummkopf. Noch immer sehr abweisend fragte er Anders, wie er sich das eigentlich denke. Anders trank rasch aus und überließ es durch einen unbestimmten Wink dem Wirt, ob er nur ihm oder auch seinem Tischgast ein neues Glas bringen wolle. Dann erzählte er, daß eine Entführung aus der Beobachtungsstation nicht so schwierig sein dürfte. Er kam ins Erfinden, es belustigte ihn, daß er einem Schwerverbrecher das vordenken solle, und er entwickelte aus dem Stegreif einen genauen Plan, worin nur die Stunde unbestimmt blieb, der aber sonst infolge der genauen Ortskenntnis Anders’ nicht schlecht gewesen sein dürfte. Man brauchte drei Männer; einen, der vor der Gartenmauer, über die man einstieg, achtgeben sollte, daß man bei der Rückkehr nicht einer Polizeipatrouille in die Hände lief oder sich an Passanten verriet, die zwei andren würden genügen, um Moosbrugger bürgerliche Kleidung zu bringen und einen eventuell dazukommenden Wärter solange abzuwehren, bis Moosbrugger sich umgezogen hatte.
Auffallend war nur die überlegene Ironie, mit der Biziste sich diesen Plan anhörte, bei dem Anders in immer nervösere Schnelligkeit geriet.
Dann sagte Biziste und stand auf: »Wenn Sie am Mittwoch dort und dort hin kommen, kann man vielleicht noch einmal darüber reden.«
»Bringen Sie einen dritten mit?«
Biziste zuckte die Achseln und Anders war entlassen.
Am bestimmten Tag war Anders zu der Zusammenkunft gekommen, aber den dritten Mann hatte er nicht kennen gelernt. Biziste sagte ihm bloß, daß dieser sich bereit erklärt habe, gab Tag und Stunde
an und eröffnete Anders, daß er selbst mit über die Mauer gehn müsse, weil er der einzige sei, der den Ort kenne.
Biziste hatte ihn wohl nur schrecken wollen und für Geld hätte sich noch ein neuer Teilnehmer finden lassen, aber die bizarre Situation lockte Anders; da man sich auch beim Skilaufen den Hals brechen kann, warum sollte dann nicht ein Privatdozent nachts mit Einbrechern über eine Mauer steigen, es kam nur darauf an, daß man es glücklich und geistesgegenwärtig durchstand.
Er hatte seinen ältesten Anzug angezogen, keinen Kragen umgebunden und eine Sportkappe aufgesetzt; so war sein Schattenriß im Schatten der Nacht nicht auffällig unter den andren, denen man auf diesem äußeren Straßengürtel begegnen konnte, an den die Mauer des Irrenhausgartens grenzte. Moosbrugger war verständigt, drei Leintücher waren im Lauf der Zeit verschwunden und hatten zu einem Seil gedient, falls es nicht gelingen sollte, Moosbrugger eins zuzuwerfen. Anders hätte wohl auch eins einschmuggeln können, aber er wollte alles vermeiden, was imstand sein konnte, die geleistete Hilfe von innen zu verraten, denn in diesem Fall hätte schließlich der Verdacht nur auf ihn fallen können. Das Fenster von Moosbruggers Zimmer war in dieser Nacht schwach erleuchtet, den Kerzenstumpf hatte Anders besorgt, damit man im Dunkel der mondlosen Nacht eine Richtung hatte.
Biziste stieg dem zweiten Gentleman auf den Rücken, schwang sich auf die Mauer und man hörte ihn auf der andern Seite in die Blätter springen. Als Anders folgen sollte, waren Stimmen vernehmbar, der Gentleman richtete sich rücksichtslos auf, so daß Anders, der schon zum Aufstieg auf seinen
Rücken angesetzt hatte, beinahe zu Fall gekommen wäre, und schlenderte, die Hände in den Taschen, in die Nacht hinein.
Anders schlug das Herz und er empfand ein Bedürfnis zu laufen, das er mühsam beherrschte; um aber nicht durch ganz fremde Bewegungen aufzufallen, bildete er sich ein, daß er nicht allein gehen dürfe, er holte den Gentleman ein und nahm seinen Arm wie den eines Zechbruders, was dieser anscheinend als sehr lächerlich empfand.
Die Stimmen verhallten, der Gentleman bot seinen Rücken dar, Anders griff in Mörtel und Ziegelstaub, fühlte eine schmerzhafte Zerrung im Bein, mit solchem Übermaß hatte er es hinaufgeschwungen, hing, ließ sich ins Dunkel fallen und endete in einem aufklatschenden Laut alter Blätter, den er seit der Knabenzeit nicht mehr gehört hatte. Er richtete sich in völliger Schwärze auf und gewahrte nicht mehr das Geringste von Biziste. Er tastete rechts und links, in der Hoffnung, daß seinem Laut ein anderer antworten würde, aber es blieb so still wie schwarz. Er mußte sich entschließen, allein die Richtung aufs Haus zu einzuschlagen, in der Hoffnung, unterwegs sich wieder mit Biziste zu vereinen.
Abermals schlug Anders das Herz; die Gebüsche stachen, als führte er in der Angst lauter unzweckmäßige Bewegungen aus. Entfernungen, Geruch, Berührungen, Laut – alles war neu, nie erlebt. Er mußte stehn bleiben, seinen Willen sammeln und sich sagen, daß ihm nichts andres übrig bleibe, als dieses dumme Abenteuer nun auch durchzuführen. Er stieß auf einen Weg, mutmaßte, welche Richtung rascher zum Haus führe, aber erschrak plötzlich vor der Frage, ob er auf dem knirschenden Kies
gehen solle oder sich weiter durch die Büsche arbeiten. Der verdammte Biziste hätte auf ihn warten sollen, und zugleich sehnte er sich nach ihm wie nach einem älteren Bruder. Hätte er sich nicht vor dem Kerl auf der andren Seite der Mauer geschämt, er wäre umgekehrt. Aber er wußte nicht einmal, mit welchem Zeichen er ihn anzurufen hatte, um ein Signal zu bekommen, ob jenseits die Luft rein sei. Er erkannte sich als einen Esel und bekam Respekt vor den Gaunern. Aber er war doch nicht der Mann, um sich niederschlagen zu lassen; es wäre lächerlich für einen Menschen von Kopf, wenn er das nicht auch träfe. Anders trat den Vormarsch an, quer durch die Büsche, die Aufregung, in der er sich befand, und die Überwindung, die ihn der Vortrieb kostete, ließen ihn rücksichtslos in den Sträuchern knacken, brechen und rauschen. Wie ein Indianer sich anzuschleichen, kam ihm in diesem Augenblick unsagbar blöd und kindisch vor, und man könnte vielleicht von diesem Augenblick an das Wiedererwachen des normalen Menschen in ihm datieren.
Als er an den Rand kam, wahrhaftig, er hätte sich das vom ersten Augenblick an denken sollen, hockte Biziste dort, beobachtete das Haus und wandte seiner lärmenden Ankunft einen unsäglich strafenden Blick zu. Moosbruggers Fenster war schwach erleuchtet, Biziste pfiff leise durch die Zähne, die riesigen Schultern des Mörders füllten oben das Geviert aus, das aus den Laken gedrehte Seil rollte herunter, aber Moosbrugger war kein im Verbrechen geübter Mensch, er hatte die rettende Leine für sein ungeheures Gewicht zu schwach bemessen, sie riß und die Wucht seines dumpfen Aufschlags sprengte die Stille mit einem dumpfen
Knall. In diesem Augenblick tauchten im Halblicht, das die Mauer erhellte, zwei Wärter auf.
Zwei Tage zuvor waren aus einer andren gerichtlichen Beobachtungsstation zwei geisteskranke Häftlinge entsprungen, aber Anders hatte weder davon gehört noch gelesen. So hatte er auch nicht gewußt, daß seit gestern allgemein die Aufsicht verschärft worden war und alle in Vergessenheit geratenen alten Vorschriften für eine Weile wieder befolgt wurden. Zu diesen gehörte auch die Doppelpatrouille, welche, vielleicht durch den Lärm angezogen, den Anders verursacht hatte, jetzt, durch den dumpfen Fall alarmiert, stehn blieb, spähte, im Sand einen schweren Körper erkannte, der sich mühsam aufrichtete, hinzueilte, ein Seil vom Fenster hängen sah und aus schrillen Pfeifchen mit aller Lungenkraft das Assistenzsignal gab. Moosbrugger hatte sich die Schulter verstaucht und einen Knöchel gebrochen, es wäre sonst den Wärtern, die sich auf ihn stürzten, schlecht ergangen; ohnedies schlug er einen blutend in den Sand, aber als er sich aufrichten wollte, um den zweiten abzuschütteln, versagte ihm der Schmerz den Fuß. Der Wärter hing an seinem Hals und pfiff, daß es gellte, der zweite Wärter stürzte sich toll vor Schmerz und Wut auf ihn und in diesem Augenblick sprang Biziste aus den Büschen. Mit einem gewaltigen Fausthieb schmetterte er dem einen das Pfeifchen zwischen die Zähne, daß er taumelnd losließ, aber nun pfiff der andre wie toll und stürzte sich auf Biziste. Solche Wärter sind starke Männer, und Biziste war nicht übermäßig kräftig. Wäre in diesem Augenblick Anders zu Hilfe geeilt mit seiner großen und geschulten Kraft, so hätte es wohl gelingen müssen, die beiden Angreifer für eine Weile stumm und
reglos zu machen, aber Anders verspürte nicht die geringste Lust dazu. Alles Abstrakte war fern, in dem Knäuel vor ihm galt seine Sympathie eher den beiden für ihre Pflicht kämpfenden, unvermutet überfallenen Männern, und wenn er nur dem Impuls gefolgt wäre – so hätte er diesen Biziste beim Kragen genommen und ihm einen sicheren Kinnhaken versetzt. Vielleicht war das aber auch nur eine etwas komische Mutterstimme der bürgerlichen Ordnung in ihm – so sehr die Situation seine Muskeln und Nerven spannte, so sehr flaute sie seinen Geist ab und erfüllte ihn mit dem Widerwillen vor Widersprüchen, deren Lösung die Anstrengung nicht lohnt. Eine sehr schmerzliche Empfindung von lächerlicher Peinlichkeit seiner Lage kam hinzu. Biziste griff nach dem Messer. Bevor er aber zum Stoß ausholte, verriet ihm sein im Abwägen von Gefahr und Vorteil geübter Blick die Hoffnungslosigkeit des Endes; Moosbrugger konnte nicht ohne Hilfe aufstehn, aus dem Dunkel am Flügel des Hauses drang schon Geräusch des alarmierten Nachtdienstes, es war nur noch die Flucht zu gewinnen. Der Wärter, der ihn nicht loslassen wollte, schrie auf, von einem Stich in den Schenkel getroffen, Biziste verschwand und ließ Anders im Stich, wie dieser trotz der recht ungemütlichen Lage mit heiterer Befriedigung feststellte. Er hatte inzwischen selbst überlegt, auf welchem Weg er diese dumme Geschichte verlassen wolle. Der über die Mauer war ihm versperrt, denn ihn wandelte nicht das geringste Verlangen an, weder Herrn Biziste und dessen Freund je im Leben wiederzusehn, noch allein über die Mauer zu klettern und jenseits vielleicht von Passanten festgenommen zu werden, welche das Geschrei der Wärter, die sicher Biziste nachstürzen
würden, alarmiert hatte. Er beschloß, das gänzlich Dümmste und einzige, was ihm einfiel: zu bleiben, rasch eine Bank zu suchen und sich eingeschlafen zu stellen, falls man ihn fände. Er schlug den Rock auf, damit man nicht seinen nackten Hals sehe, nahm die Kappe vom Kopf und wachte so erstaunt als möglich auf, als ihn, von einem Gewirr von Laternen umgeben, eine ungläubige Faust von der Bank stieß und sechs andre ihn bei den Armen packten. Ob er gut den schlaftrunknen Gerechten spielte, wußte er nicht, sein Glück war, daß ihn sogleich einer der Wärter erkannte, worauf er mit zögerndem Respekt losgelassen wurde. Er wollte nun tun, als wäre er nach einem Besuch in den Garten gegangen und versehentlich eingeschlafen und zu diesem Zweck nach der Uhr sehn, erinnerte sich, daß er sie zu Hause gelassen, konnte aber die Bewegung nicht mehr zurücknehmen und vermißte daher die Uhr, griff in Brust- und Hosentaschen und vermißte gleich auch sein Geld, daß er natürlich auch nicht mitgenommen hatte, und so dumm diese Komödie war, wie er sich selbst sagte, es fand sich ein noch dümmerer Wärter, der sie glaubte, oder eigentlich nur einer, dem seine Diensteifrigkeit des kleinen Mannes, um Anders zu Gefallen zu sein, das suggerierte, was dieser geglaubt wünschte und der daher sofort ausrief: »Sicher haben die Spitzbuben auch den Herrn Dozenten bestohlen.« Anders sagte nicht ja noch nein, sondern tat nun weiter wie einer, der sein Eigentum vermißt, ohne daß er von irgend etwas Vorgefallenem wüßte, und erfuhr nun ruckweise und mitteilsam das ganze Drama. Als Gegenstand der Ehrfurcht und letztes Zentrum des Interesses verließ er, so rasch er es in dieser fingierten Rolle tun konnte, die Klinik, die er nicht mehr
wiederbetreten sollte, solange sie Moosbrugger beherbergte.
Denn dieser wurde nach diesem Fluchtversuch unter strenge Bewachung gestellt und auch Anders durfte ihn auf Befehl des Vorstands nicht mehr besuchen. Der sehr unangenehme Zweifel, ob man nicht doch bei Nachprüfung der Umstände einen Verdacht gegen ihn gefaßt hatte, den man selbstverständlich nicht aussprechen, aber ebensowenig aufgeben wollte, blieb an ihm haften.
12.
Am Meer
Es kam vor, daß sie gegen Abend, wenn die glühende Luft schon leichte, erkaltende Falten warf, auf den Steilufern wandelten. Gelbe Ginsterstauden sprangen vom Flimmer der Sterne ab und standen unmittelbar vor der Seele; grau wie Eselrücken, schleieriges Grün des Karstgrases darüber geworfen, die Berge; heißes Dunkelgrün des Lorbeers, – wenn der Blick darauf verweilt, sinkt er in immer kühlere Tiefen. Unzählige Bienen summen, es verschmilzt zu einem tiefen metallischen Ton, der kleine Pfeile abschießt, wenn sie in jäher Wendung am Ohr vorbeikommen. Heroisch, ungeheuer die kantig glatt gestrichenen, steil abbrechenden, hintereinander wie die Wellen herkommenden Linien der Berge.
Heroisch? Oder ist es etwas, das man gehaßt hat, weil es heroisch sein sollte? Unzählige Male gemalt und gestochen, diese griechische Landschaft, römische Landschaft, nazarenische, klassizistische, diese – tugendhafte, professorale, idealistische
Landschaft, kahl wie – die dürftig möblierten Zimmer eines Vorstadtgasthofes? Und das man nun bloß deshalb liebt, weil man es wieder sieht? So wie man vielleicht einen einflußreichen Mann verachtet und sich trotzdem geschmeichelt fühlt, weil man ihn kennt.
Nein. Die wenigen Dinge, denen hier der Raum gehörte, respektierten einander, sie hielten voneinander Distanz und überfüllten nicht die Natur mit Eindrücken wie in Deutschland. Es war – wie nur ganz hoch im Gebirge, wo das Irdische immer weniger wird – wohl wahrhaftig eine heroische Landschaft. Und auf der anderen Seite lag das Meer. Die große Geliebte, mit dem Pfauenrad geschmückt. Die Geliebte mit dem ovalen Spiegel. Das aufgeschlagene Auge der Geliebten. Die Gott gewordene Geliebte; die ungeheure Forderung. Noch schmerzte das Auge und mußte wegsehn, von den aus dem Meer zurückschmetternden Speeren des Lichts getroffen. Aber bald wird die Sonne tiefer stehn. Es wird nur ein umgrenzter See von flüssigem Silber bleiben. Und dann muß man hinaussehn aufs Meer. Dann muß man es ansehn. Agathe und Anders fürchteten sich vor diesem Augenblick. Was kann man tun, um diese ungeheure Forderung zu erfüllen? Wie soll man sich lieben? In die Knie sinken, die Arme ausbreiten, schrein? Was muß man glauben, um das tun zu können? Kann man sich umarmen? Es ist so lächerlich, wie wenn man jemand zornig anschreien wollte, während neben einem alle Glocken eines Münsters läuten. Sie fühlten sich immer leerer werden.
Man muß etwas beschränkt sein, um die Natur schön zu finden. Wie so einer, der lieber spricht, statt einem Bedeutenden zuzuhören. Man muß sich
durch sie an Schulaufsätze und schlechte Gedichte erinnern lassen und imstande sein, sie im Augenblick des Sehens in einen Öldruck zu verwandeln. Sonst bricht man zusammen. Man muß dümmer sein als sie, um ihr standzuhalten, und muß schwätzen, damit man nicht die Sprache verliert.
Zum Glück hielt Anders’ oder Agathens Haut der Hitze nicht stand. Schweiß brach aus. Eine Ablenkung war geschaffen und eine Entschuldigung. Sie fühlten sich der Aufgabe enthoben. Aber sie lernten zuvor den Wert tröstender menschlicher Gesellschaft kennen.
Zwischen zwei einzelnen Menschen gibt es keine Liebe.
Fürchterliche Augenblicke kamen nachmittags im Zimmer. Zwischen der hinausgespreizten rotgestreiften Markise und dem Steingeländer des Balkons ist ein handbreites blaues Band geblieben. Die glatte Wärme, die hart gedämpfte Helligkeit haben alles, was nicht fest ist, aus dem Zimmer gedrängt. Anders und seine Schwester hatten nichts zum Lesen mitgenommen, so war ihr Plan. Es gab kein Werk, für das sie hätten Gedanken hegen können, denn sie glaubten an kein Publikum. Ihre Seelen lagen da wie zwei hartgebrannte Ziegelsteine, aus denen jeder Tropfen Wasser entwichen ist. Es waren rohe, tierische Einfälle, deren sie sich erwehren mußten; und nicht immer konnten sie es.
13.
Clarisses Erkrankung
Nachdem Anders abreiste, kehrt er zurück und zeigt sich nicht bei Walther und Clarisse. Da wird er eines Morgens dringend ans Telefon gerufen: Walther. Er müsse hinkommen. Clarisse sei ganz verstört. Walther wisse nicht, was es zwischen ihnen gegeben habe, aber es sei kalter Eigensinn, daß er sich deshalb gar nicht mehr um sie kümmere.
Anders eilt hin.
Er findet Clarisse in einer Art hysterischen Aufregung. Sie hat beim Frühstück die Zeitung gelesen, berichtet Walther, und es stand wahrhaftig gar nichts Besonderes darin, ein Zugszusammenstoß mit sieben Toten und etwa 30 Verletzten, nun ja, dann eine Typhusepidemie und der Untergang einer Plätte am Wörthersee, wobei zwei Menschen ertrunken sind. Aber sie sieht alles förmlich vor sich und spürt es an sich. Es ist nicht mit ihr zu reden.
Clarisse sah Anders sonderbar an, als sie ihn erkannte; sie erkannte ihn nicht gleich. Sie schien genau zu wissen, daß er kommen mußte, Anders hatte sogar den unangenehmen Verdacht, daß sie es darauf angelegt gehabt hatte; sie schien ihn zumindest nicht nur zu erkennen, sondern ihr ganzer Ausdruck war tief ausgehöhlt wie eine Schale, in die seine Anwesenheit genau wie eine Kugel hineinpaßte. Und doch schien etwas sie zu behindern, sein Vor-ihr-stehn anzuerkennen.
Endlich lächelte Clarisse und reichte ihm die Hand. So gibt ein kranker Hund die Pfote. Als hätte sie etwas angestellt.
»Dich hat Walther gerufen? Er übertreibt. Ich
weiß nicht, was mir ist. Ich habe das ganz ruhig gelesen …« Sie begann tief und aufgeregt zu atmen, in ihre Augen kam etwas Hilfloses. Walther trat zu ihr, legte ihr den Arm um die Schulter und zog sie beruhigend an sich. Sie machte sich frei. »Aber hast du das nie bemerkt?! 60 Menschen werden tot gemeldet, es sind fürchterliche Unglücke geschehn. Für sieben Menschen wird um kleine Unterstützungen gebeten, weil sie sich in den entsetzlichsten Umständen befinden. Ich habe Walther gebeten, auf die Redaktionen zu gehn, er will nicht.«
Anders wollte eine Antwort geben und begriff blitzschnell, daß sie falsch war. Er sagte bloß: »Was geht dich das an?«
Der grobe Angriff brachte Clarisse zum Stehn.
»Kannst du helfen?«
»Aber ich kann es nicht lesen.«
»Dann hilf. Aber wie willst du es machen? Das Unglück, von dem die Welt voll ist, entzieht sich jedem Zugriff von uns aus, die wir irgendwo in der Menge stehn und nicht an den Hebeln.«
»Aber verstehst du nicht, daß man das täglich liest, ohne hinzustürzen … jedes Zeitungsblatt legt dir einen Berg von Leid auf und du spürst nicht mehr, als ob sich dir eine Fliege auf die Stirn setzen würde. Das ist eine Degeneration. Deine Haut vermag nichts mehr zu erkennen.«
»Schreib eine Broschüre darüber. Das ist das einzige, was wir tun können.«
»Ihr versteht mich nicht.« Sie begann zu lesen. »Der Tourist, welcher, wie wir gemeldet haben, am Sonntag auf der Rax abgestürzt ist, ist der 31-jährige Privatbeamte Max Prevenhuber. Kannst du das überhaupt verstehn? Jedes Wort ist voll Verantwortung. Sonntag. Abgestürzt. Max Prevenhuber?
Kannst du folgen? Begreifst du? Werde ich verrückt? Oder seid ihr Gewohnheitsmenschen?«
»Clarisse, du hättest mich nicht deshalb herrufen sollen, ich habe heute sehr viel zu tun. Du hättest mich lieber überhaupt einladen sollen, wieder zu euch zu kommen. Wir sprechen noch darüber; für heute versprichst du mir, nicht mehr daran zu denken, das gehört jetzt gerade so gut mir wie dir?«
Anders’ feste Gleichgültigkeit hatte ihren Eindruck nicht verfehlt. Clarisse war eingeschüchtert und was sich vielleicht etwas selbstgefällig breit gemacht hatte, zog sie ein, in einen Punkt zusammen, hinter den Augen, aber der Punkt blieb da. Anders wußte, als er ging, daß sie nicht nachgegeben hatte. Er fuhr ein Stück des Wegs gemeinsam mit Walther.
»Sie war schon einmal so« sagte Walther. Anders wußte es. England.
»Du solltest aber doch einen Arzt fragen.«
»Sie will nicht, aber ich werde es tun.«
»Diese Nerven können zuweilen unvernünftig werden wie Tiere; sie hat es von der Familie.«
Als er allein war, schüttelte sich Anders; Clarisse hatte ihn abgestoßen. Er hatte schließlich doch von sich Interesse für sie verlangt; aber eine physiologische Störung ist so gleichgültig wie eine Mauer. Man fühlt sich unangenehm ohnmächtig. »Hysterie« sagte er sich. Aber er spürte irgendwo ein Gewissen. Eine halbgetane Sache. Aber zu schwach, um danach zu handeln. Er vergaß sogar, sich in den nächsten Tagen nach Clarissens Befinden zu erkundigen.
Clarisse sah den »Griechen« bei Lahmann. Sie zeigte ihn Walther. Als Walther nach Dresden kam, war
sie zum erstenmal in ihrer Ehe körperlich sinnlich. Unersättlich. Walther verletzte sich gleich in der ersten Nacht und konnte sie nicht befriedigen; so brutal: konnte sie nicht befriedigen. Sie war damals durch die Mastkur überreizt, sexuell; Walther aber durch seine Verletzung gehindert. Nach seiner Abreise hört sie im Vorbeigehn, wie der Grieche einerDame sagte: »Ein Mensch, der soviel gereist ist, vermag überhaupt nicht, eine Frau zu lieben.« Am gleichen Abend schreibt sie ihm einen Brief. Ungefähr so: ich bin die einzige Frau, die Sie lieben werden.
Am nächsten Tag bringt er ihr den Brief zurück. Sie macht ihm sofort einen Antrag und wird aggressiv. Er weist sie ab. Sie hat von ihm das Gefühl einer ungeheuren Reinheit. Aber auch von dem Unanständigen, das sie tut, hatte sie das Gefühl sehr reiner Handlungen. Der Grieche sagt ihr, daß er homosexuell sei. Stoß, Stauung. Auf einer Fahrt nach Dresden ins Theater zeigt er ihr den Schutzmann, mit dem er ein Verhältnis haben will. Durch dieses Hindernis setzt sich die sexuelle Spannung in Phantasie um. Trotzdem läßt sie auch mit den sinnlichen Versuchen nicht ab.
Der Grieche läßt alles mit sich geschehn, er ist ein weiblicher Typus. Nur einmal sagt er in drei Sprachen »Cette femme est folle« – leise, unaufhörlich. Dann wiederholt sich das, so oft sie sich ihm nähert.
Sie glaubt sofort an ihrem Körper zwitterhafte Eigentümlichkeiten zu bemerken, bezeichnet sich in Gedichten als Hermaphrodit, fühlt, daß sie und dieser Mensch eine »göttliche Liebeskonstellation« geben. »Von lichten Göttern stamme ich ab …« Sie machen Wagenfahrten, auf denen sich Clarisse an ihm vergreift. Er hat Angst vor dem Kutscher. Ein
Gewitter überrascht sie. »Thessalische Hexe dünkt ich mich …« Der arme Tierkörper zittert elektrisiert.
Sie will mit ihm abreisen; nach Berlin, der Stadt der größten Energien. Sie verschafft Geld. Er sucht Ausflüchte. Schließlich erklärt er ihr, daß er nicht will, er habe den Besuch eines Geliebten empfangen. Reist ab, angeblich nach München.
Clarisse reist nach Wien zu Walther. Doch irgendwie Schutz suchen vor sich selbst bei ihm. Verbringt Tage mit ihm und Klages. Schickt aber lange Telegramme an den Griechen in das Hotel, wo er angeblich ist, die Walther später findet. Sie erzählt auch vieles. Hat schon ein Gefühl ihrer Mission und Göttlichkeit. Walther und Klages erscheinen ihr nur wie zu ihrem Gebrauch da zu sein. Walther sucht sie unter einem Vorwand zum Nervenarzt zu bringen. Am Abend im Gasthaus gibt sie vor, auf die Toilette zu gehn, nimmt einen Wagen und fährt zur Bahn. Nimmt ein Schlafcoupée. Sagt sofort dem Schlafwagenschaffner: »Hier müssen drei Herren sein, sehen Sie nach, ich muß sie unbedingt sprechen!« Alle stehen, wie ihr scheint, ganz unter dem starken persönlichen Einfluß, der von ihr ausgeht, und befolgen ihre Befehle. Auch der Kellner im Speisewagen. Im Spiegel erkennt sie sich nun mit klarem sinnlichen Eindruck bald als weiße Teufelin, bald als blutrote Madonna.
In München wohnt sie luxuriös in den »Vier Jahreszeiten«, raucht den ganzen Tag, trinkt Cognak und schwarzen Kaffee und schreibt Briefe und Telegramme. Durch irgendetwas kommt sie zu der Annahme, daß der Grieche nach Venedig gereist sei.
Sie reist auf der vermeintlichen Spur des Griechen nach Venedig. Dort ungeheure Spannungsgefühle. Sie fühlt sich groß, schwebend. Verteilt ihr Geld, ihren Schmuck an die Gondelführer. Will am Markusplatz eine Rede halten. Fällt aber vorher auf und wird ins Hospital gebracht. Das Hospital, in das sie gebracht wird, liegt beim Colleone. Es holte sie ein Herr zu einer Gondelfahrt aus der Pension ab. Sie hatte in der Gondel das Gefühl, daß er sich vor ihr scheue. Sie fixierte ihn. Bei der Kirche sagte er: »Wollen wir nicht, bevor wir weiterfahren, hier hineingehen, es ist etwas Schönes zu sehn.« Sie verteilt ihren Schmuck an die Wärterinnen, die ihn nehmen. Man schnallt sie am Bett fest; sie weint; die Wärterinnen sagen: »poveretto!«
Als sie der Beamte der öffentlichen Sicherheit auffordert, die Kirche anzusehn, kommt ihr das wohl verdächtig vor. Aber diese Verdächtigkeit hat sozusagen keine Valenz, sie kausiert nicht. Mit Clarissens Augen gesehn, ist Wahnsinn bloß das Herausfallen aus der allgemeinen Kausierung. Nicht Unvernunft; man weiß auch, daß das jetzt verdächtig ist, aber man legt nicht Wert darauf. Störung in einer nebensächlichen, von den andern überschätzten Funktion. Krassester Unethizismus. Eingeordnet in die kausale Beziehung ist dieser Mensch unvernünftig, was er tut und warum er es tut, ist krankhaft. Sie aber sehen die Gefilde. Heilen ist Zerstören, zum Beispiel eine Melancholie durch Abführmittel.
Clarisse wollte nach Griechenland, via Venedig – Triest. In Venedig führt sie das gleiche Leben wie in München. Nur bemalt sie die Wände ihres Zimmers; hat dabei das Gefühl: in hundert Jahren werden die Menschen vor diesen Zeichnungen und Aufschriften stehn. Löst ein Schiffsbillet. Nimmt
ihre Bettdecke und ein zu einem Turban gedrehtes Tuch mit an Bord, als ihre kaiserliche Ausstattung. Ihre Zimmerwärterin lockt sie mit der Fiktion eines Telegramms zurück, eigentlich hat sie nicht mehr die Kraft zu der Reise. Nun kommt die Gondelfahrt.
Walther bittet telegraphisch Anders, Clarisse bis München zu bringen, wo er sie übernehmen wird. In München muß sie aber neuerdings interniert werden.
In der Münchner Klinik sieht sie ein dickes blondes Weib mit männlicher Stimme, eine Polin. Gleichzeitig ist der Gedanke Überweib da. Sie denkt nach. Das da vor ihr ist ein primitives Exemplar. Es fallen ihr ein Semiramis, Katharina v. Rußland, Elisabeth v. Österreich. Sie ist hilflos, weil sie keine Quellen hat. Solche Frauen haben übermännliche Kraft. Ihre Gedanken biegen aus: auch vor Nietzsche hat es Übermänner gegeben, entdeckt sie; Napoleon, Jesus Christus. Plötzlich fällt ihr ein: Christus war unwissend. Wie sie. In unserer Zeitrechnung, Epoche ist er also eine der mysteriösesten Figuren. Denn sie ist ja eingesperrt. Erster Gang in ein Bad, da sie vom Transport wieder aufgeregt ist. Zwei verzehrte Körper hefteten ihre sehnsüchtigen Blicke auf sie und schrien nach Erlösung. Es waren ihre besten Freunde – Walther und Anders – in Sündegestalt. In den nächsten vierzehn Tagen erlebt sie Faust II. Drei Personen personifizieren ihr Altertum, Mittelalter und Neuzeit. »Mit meinen Füßen trat ich sie nieder, um ein sündenloses Nirwana erstehen zu sehen.« Vielleicht ist diese Nirwanasehnsucht nichts als das Verlangen, von diesem Zustand erlöst zu werden. Das
wäre die Idee, die sie durch die Erlöseridee überwinden muß. In der Verzerrung des Wahnsinns das große ethische Problem. Messias und Übermensch dünkt sie sich in einer Person.
Drei Tage und drei Nächte gehorcht sie dem suggestiven Willen der Kranken, läßt sich blutig kratzen und zerren und schlägt sich auf dem Fliesenboden symbolisch ans Kreuz. Meine Überkraft ließ mich siegen, bis meine Stimme in Heiserkeit erstickte. Sie liegt einige Zeit erschöpft, dann bringt ihr »ein Junger« Erlösung. Es war ein blondes Geschöpf von 21 Jahren, das sie vom ersten Tag an als Befreier angesehen hat. Die übernimmt nun ihre Mission, verbringt Tag und Nacht in der Badezelle und treibt durch ihren Gesang den Teufel aus. Clarisse aber bleibt im großen Saal, pflegt die Kranken und lauscht ihre Sünden ab. Es könnte auch Machteifersucht dazukommen, worauf sich dann die Notizen von der Falschheit bezögen. Eines Tages spricht ein gewöhnliches Weib, welches früher ihren Rücken mit Fäusten geschlagen hat, zu ihr: »Versammle deine Jünger heute zur Nacht und feiere dein Abschiedsmahl. Was für Speisen verlangt der hohe Herr? Sag es, damit sie für dich bereitet werden. Wir aber wollen abziehn und nicht mehr unter deinen Augen erscheinen!«
Eine andre, die an Paralyse leidet, küßt leidenschaftlich Clarissens Hände und ihr Auge verklärt sich, sobald sie ihr in die Nähe kommt. Wenige Tage danach stirbt sie. Clarisse sagt noch später: »Kein Wunder, daß ich eine höhere Mission erfüllen zu müssen glaubte.«
In der ruhigen Abteilung erwacht ihr Selbsterhaltungstrieb wieder. Sie überläßt die ruhigen Kranken sich selbst, weil sie resigniert einsieht, daß
ihre Heilkraft nur während der Suggestion wirkt und ein Mensch kein Gott sein kann. Sie erfährt, daß ihr Geisteszustand Manie heißt. Sie erkennt: »Der Verlust der Selbstkontrolle brachte mich ins Irrenhaus.«
14.
Moosbruggers Hinrichtung
Man stellt sich das falsch vor. Eigentlich voll »unvorstellbaren« Grauens, wenn die Vorbereitungen getroffen werden. Es war nicht anders, wie wenn einer auf die Bahn wartet oder auf ein unangenehmes Erlebnis. Psychologisch eine gewisse Spannung und ein Unbehagen; darin still und gewissenhaft die kleinen Ablenkungen. Die freundliche Ruhe, mit der er das Ohr zum Priester hinabneigt. Der Gesichtsausdruck, mit dem er den Vorbereitungen zusieht, ist Stummheit. Es gibt natürlich Menschen, die zittern, einen nervösen Anfall bekommen; die gibt es mit Eisenbahnfieber auch. Die Henker hantieren freundlich, sachkundig, aufmunternd. Liegt nicht darin der Beweis, daß der ganze Vorgang konventionell-pathetisch übertrieben wird? Nämlich eine natürliche Rückkehr zu dem natürlichen Vorgang des Sterbens, der auch ohne dies unentrinnbar ist, dem gegenüber alle diese Haltung haben? Erst das Zeremoniell suggeriert das Schaurige.
Was ist eine Hinrichtung im Vergleich mit einer Operation? Er fährt mit einem anderen zurück, der sich entsetzt; das ist der Redakteur. Wie sie auf die gepflasterte Straße kommen, stößt der Wagen so, daß sie nicht weitersprechen. Bäume reißt es vorbei,
manchmal schleuderte es den Blick durch eine Lücke durch in Sand, Kiefern.
Moosbrugger ist einfach verlegen bei seiner Hinrichtung. Exekution wie bei einer Feuerwehrübung; die feierlichen Floskeln passen gar nicht dazu. Anders grüßt höflich und unbestimmt beim Verlassen; fühlt, daß es vielleicht unpassend ist. Erst als er in das Gesicht seines Chauffeurs schaut, merkt er einen Unterschied von Helle und Wärme der Umgebung gegen früher. Das Gesicht erschien ihm ganz hart, er sieht jedes Barthaar einzeln. Er hat den Journalisten vergessen, den er zur Rückfahrt eingeladen hatte, und erinnerte sich erst an ihn, als der zu ihm einsteigt. Er bleibt aus unbestimmtem Gefühl rechts sitzen. Fünf Stunden Landstraße, dann herausgestülpte Stadtstraße. Wirtshäuser. Volk in schwarzen Röcken und Hemdärmeln. Anders fühlte einen unbestimmten verachtenden Haß gegen dieses Volk.
15.
Liebe
Es war ein Impuls gegen die Weltordnung gewesen. Aber von einer Negation kann man nicht leben. Und ohne Negation auch nicht. Eine Liebe kann aus Trotz erwachsen, aber sie kann nicht aus Trotz bestehn. Sondern sie kann nur eingefügt in eine Gesellschaft bestehn. Liebe ist kein Lebensinhalt. Sondern nur eine Färbung, ein Auftrieb oder dergleichen an den Inhalten. Man müßte sich denn sagen, daß man da sei, um in Liebe die Welt zu erfassen. Vielleicht sogar, um sie in Liebe zu erlösen.
Anders’ harter Sportsinn stürzte sich in die Schwerter dieser Aufgabe, die unmöglich ist, denn sogar die Religionen reservieren sie für die Götter. Trotzdem sind solche Phrasen literarisch sehr häufig. Diotima gebrauchte sie, Arnheim gebrauchte sie.
Sie hatten kein gemeinsames Leben vor sich, keine gute Zukunft. Deshalb gab es wohl Momente voll übermenschlicher Spannung – Anblick des Meers, Umarmungen – im Ganzen aber Langeweile. Das Böse bereitete ihnen gar keine Freude; sie liebten es nur als Kontrast des Guten. So liebten sie weder das Gute noch das Böse und man muß zugeben, daß dies das Wahre ist für Seelen, welche das Große lieben, den Einfall, die Idee.
Aber liebten sie nicht einander? Gefielen sie einander nicht mehr denn andre? Lösten sie sich nicht auf im Gedanken aneinander in Gutseinwollen? Aber man darf nicht übersehn, wie sehr das von der Einbettung in die Umwelt bedingt ist. Vom guten Gewissen. Von der Erziehung, darauf zu warten und eine Erfüllung der höchsten Aufgaben darin zu sehn! Sie spürten dies alles wohl, aber wie eine ganz abgetragene und abgeflachte Hügellandschaft. Sie waren ein Beispiel einer skelettierten, einer gerupften Liebe. Und nur um ein gemeinsames Leben vor sich zu haben, kamen sie auf den Gedanken der Spionage, welcher, wie Förster sagen würde, die tiefste Verderbnis ihres Lebens anzeigte.