MoE 1 | Erstes Buch | Zweiter Teil | Kapitel 60-69

Was über Moosbrugger von Rechts wegen zu sagen war, das hätte man in einem Satz vorbringen können. Moosbrugger war einer jener Grenzfälle, die aus der Jurisprudenz und Gerichtsmedizin auch den Laien als die Fälle der verminderten Zurechnungsfähigkeit bekannt sind.
Bezeichnend für diese Unglücklichen ist es, daß sie nicht nur eine minderwertige Gesundheit, sondern auch eine minderwertige Krankheit haben. Die Natur hat eine merkwürdige Vorliebe dafür, solche Personen in Hülle und Fülle hervorzubringen; natura non fecit saltus, sie macht keinen Sprung, sie liebt die Übergänge und hält auch im großen die Welt in einem Übergangszustand zwischen Schwachsinn und Gesundheit. Aber die Jurisprudenz nimmt nicht Notiz davon. Sie sagt: non datur tertium sive medium inter duo contradictoria, zu deutsch: der Mensch ist entweder imstande, rechtswidrig zu handeln, oder er ist es nicht, denn zwischen zwei Gegensätzen gibt es nichts Drittes und Mittleres. Durch diese Fähigkeit wird er strafbar, durch diese seine Eigenschaft der Strafbarkeit wird er Rechtsperson, und als Rechtsperson hat er teil an der überpersönlichen Wohltat des Rechts. Wer das nicht gleich versteht, der denke an die Kavallerie. Wenn ein Pferd sich bei jedem Versuch, es zu reiten, wie toll benimmt, so wird es mit besonderer Sorgfalt gewartet, bekommt die weichsten Bandagen, die besten Reiter, das ausgewählteste Futter und die geduldigste Behandlung. Wenn sich dagegen ein Reiter etwas zuschulden kommen läßt, so steckt man ihn in einen von Flöhen besetzten Käfig, entzieht ihm das Essen und gibt ihm Eisenschellen. Die Begründung dieses Unterschieds liegt darin, daß das Pferd bloß dem tierisch empirischen Reich angehört, während der Dragoner an dem logisch-sittlichen teilhat. In diesem Sinne zeichnet es den Menschen vor dem Tiere, und man darf hinzufügen, auch vor dem Geisteskranken aus, daß er nach seinen geistigen und sittlichen Eigenschaften imstande ist, rechtswidrig zu handeln und ein Verbrechen zu begehn; und da also erst die Strafbarkeit jene Eigenschaft ist, die ihn zum sittlichen Menschen erhebt, wird es verständlich, daß der Jurist eisern an ihr festhalten muß.
Leider tritt noch hinzu, daß die Gerichtspsychiater, die berufen wären, sich dem entgegenzusetzen, gewöhnlich viel ängstlicher in ihrem Beruf sind als die Juristen; sie erklären nur solche Personen für wirklich krank, die sie nicht heilen können, was eine bescheidene Übertreibung ist, denn sie können die anderen auch nicht heilen. Sie unterscheiden zwischen unheilbaren Geisteskrankheiten, zwischen solchen, die mit Gottes Hilfe nach einiger Zeit von selbst besser werden, und endlich solchen, die der Arzt zwar auch nicht heilen kann, wohl aber der Patient vermeiden könnte, vorausgesetzt natürlich, daß durch höhere Fügung rechtzeitig die richtigen Einflüsse und Überlegungen auf ihn einwirken. Diese zweite und dritte Gruppe liefert jene nur minderwertigen Kranken, die der Engel der Medizin zwar als Kranke behandelt, wenn sie zu ihm in die Privatpraxis kommen, die er aber schüchtern dem Engel des Rechts überläßt, wenn er mit ihnen in der Gerichtspraxis zusammenstößt.
Ein solcher Fall war Moosbrugger. Man hatte ihn während seines von den Verbrechen eines unheimlichen Blutrausches unterbrochenen ehrlichen Lebens ebenso oft in Irrenhäusern zurückgehalten wie entlassen, und er hatte als Paralytiker, Paranoiker, Epileptiker und zirkulär Irrer gegolten, ehe ihm in der letzten Verhandlung zwei besonders gewissenhafte Gerichtsärzte seine Gesundheit wieder zurückgaben. Natürlich befand sich damals in dem großen, menschenerfüllten Saal keine einzige Person, sie inbegriffen, die nicht davon überzeugt gewesen wäre, daß Moosbrugger in irgend einer Weise krank sei; aber es war keine Weise, die den vom Gesetz gestellten Bedingungen entsprach und von gewissenhaften Gehirnen anerkannt werden durfte. Denn wenn man teilweise krank ist, ist man nach Ansicht der Rechtslehrer auch teilweise gesund; ist man aber teilweise gesund, so ist man wenigstens teilweise zurechnungsfähig; und ist man teilweise zurechnungsfähig, so ist man es ganz; denn Zurechnungsfähigkeit ist, wie sie sagen, der Zustand des Menschen, in dem er die Kraft besitzt, unabhängig von jeder ihn zwingenden Notwendigkeit sich aus sich selbst für einen bestimmten Zweck zu bestimmen, und eine solche Bestimmtheit kann man nicht gleichzeitig besitzen und entbehren.
Zwar schließt das nicht aus, daß es Personen gibt, deren Zustände und Anlagen es ihnen erschweren, »unsittlichen Antrieben« zu widerstehn und den »Ausschlag zum Guten« zu finden, wie die Juristen das nennen, und eine solche Person, in der Umstände, die einen anderen noch gar nicht berühren, schon den »Entschluß« zu einer Straftat hervorrufen, war Moosbrugger. Aber erstens waren seine Geistes- und Verstandeskräfte nach Ansicht des Gerichts soweit unbeschädigt, daß bei ihrer Anwendung die Tat ebensogut unausgeführt hätte bleiben können, und es bestand sonach kein Grund, ihn von dem sittlichen Gut der Verantwortung auszuschließen. Zweitens fordert es eine geordnete Rechtspflege, daß jede schuldige Handlung bestraft wird, wenn sie mit Wissen und Willen vollendet wurde. Und drittens nimmt die juristische Logik an, daß in allen Geisteskranken – mit Ausnahme jener ganz unglücklichen, welche die Zunge herausstrecken, wenn man sie fragt, wieviel sieben mal sieben ist, oder »Ich« sagen, wenn sie den Namen Sr. Kaiser- und Königlichen Majestät angeben sollen – ein Minimum von Unterscheidungs- und Selbstbestimmungsfähigkeit noch vorhanden sei und es hätte bloß einer besonderen Anspannung der Intelligenz und Willenskraft bedurft, um den verbrecherischen Charakter der Tat zu erkennen und den verbrecherischen Antrieben zu widerstehn. Das ist aber wohl das mindeste, was man von so gefährlichen Personen verlangen darf!
Gerichtshöfe gleichen Kellern, in denen die Weisheit der Vorvordern in Flaschen liegt; man öffnet diese und möchte darüber weinen, wie ungenießbar der höchste, ausgegorenste Grad menschlicher Genauigkeitsanstrengung wird, ehe er vollkommen ist. Dennoch scheint er unabgehärtete Personen zu berauschen. Es ist eine bekannte Erscheinung, daß der Engel der Medizin, wenn er längere Zeit den Ausführungen der Juristen zugehört hat, sehr oft seine eigene Sendung vergißt. Er schlägt dann klirrend die Flügel zusammen und benimmt sich im Gerichtssaal wie ein Reserveengel der Jurisprudenz.

Auf diese Weise war Moosbrugger zu seinem Todesurteil gekommen und verdankte es nur dem Einfluß des Grafen Leinsdorf und dessen freundlicher Gesinnung für Ulrich, daß Aussicht bestand, sein Geisteszustand werde noch einmal geprüft werden. Ulrich hatte jedoch damals keineswegs die Absicht, für Moosbruggers Schicksal auch im weiteren Verlauf zu sorgen. Die entmutigende Mischung von Grausamkeit und Erleiden, die das Wesen solcher Menschen ist, war ihm ebenso unangenehm wie die Mischung von Genauigkeit und Fahrlässigkeit, die das Merkmal der Urteile bildet, die man über sie zu fällen pflegt. Er wußte genau, was er von ihm zu denken hatte, wenn er den Fall nüchtern ansah, und welche Maßnahmen man mit solchen Menschen versuchen könnte, die weder ins Gefängnis noch in die Freiheit gehören und für die auch die Irrenanstalten nicht ausreichen. Es war ihm aber ebenso gegenwärtig, daß Tausende anderer Menschen das auch wußten, daß von ihnen jede solche Frage unablässig erörtert und nach den Seiten gewendet wird, an denen sie besonderen Anteil nehmen, und daß der Staat schließlich Moosbrugger umbringen wird, weil das in einem solchen Zustand der Unfertigkeit einfach das Klarste, Billigste und Sicherste ist. Es mag ein rohes Verhalten sein, sich damit abzufinden, aber auch die schnellen Verkehrsmittel fordern mehr Opfer als alle Tiger Indiens, und offenbar befähigt uns die rücksichtslose, gewissenlose und fahrlässige Gesinnung, in der wir das ertragen, auf der anderen Seite zu den Erfolgen, die uns nicht abzusprechen sind.
Ihren bedeutendsten Ausdruck gewinnt diese Geistesverfassung, die für das Nächste so scharfsichtig und für das Ganze so blind ist, in einem Ideal, das man das Ideal eines Lebenswerks nennen könnte, das aus nicht mehr als drei Abhandlungen besteht. Es gibt geistige Tätigkeiten, wo nicht die großen Bücher, sondern die kleinen Abhandlungen den Stolz eines Mannes ausmachen. Wenn jemand beispielsweise entdecken würde, daß die Steine unter bisher noch nicht beobachteten Umständen zu sprechen vermögen, er würde nur wenige Seiten zur Darstellung und Erklärung einer so umwälzenden Erscheinung brauchen. Über die gute Gesinnung dagegen kann man immer wieder ein Buch schreiben, und das ist durchaus nicht bloß eine gelehrte Angelegenheit, denn es bedeutet eine Methode, bei der man mit den wichtigsten Lebensfragen niemals ins klare kommt. Man könnte die menschlichen Tätigkeiten nach der Zahl der Worte einteilen, die sie nötig haben; je mehr von diesen, desto schlechter ist es um ihren Charakter bestellt. Alle Erkenntnisse, durch die unsere Gattung von der Fellkleidung zum Menschenflug geführt worden ist, würden samt ihren Beweisen in fertigem Zustand nicht mehr als eine Handbibliothek füllen; wogegen ein Bücherschrank von der Größe der Erde beiweitem nicht genügen möchte, um alles übrige aufzunehmen, ganz abgesehen von der sehr umfangreichen Diskussion, die nicht mit der Feder, sondern mit Schwert und Ketten geführt worden ist. Der Gedanke liegt nahe, daß wir unser menschliches Geschäft äußerst unrationell betreiben, wenn wir es nicht nach der Art der Wissenschaften anfassen, die in ihrer Weise so beispielgebend vorangegangen sind.
Das ist auch wirklich die Stimmung und Bereitschaft eines Zeitalters – einer Anzahl von Jahren, kaum von Jahrzehnten – gewesen, von der Ulrich noch etwas miterlebt hatte. Man dachte damals daran – aber dieses »man« ist mit Willen eine ungenaue Angabe; man könnte nicht sagen, wer und wieviele so dachten, immerhin, es lag in der Luft –, daß man vielleicht exakt leben könnte. Man wird heute fragen, was das heiße? Die Antwort wäre wohl die, daß man sich ein Lebenswerk ebensogut wie aus drei Abhandlungen auch aus drei Gedichten oder Handlungen bestehend denken kann, in denen die persönliche Leistungsfähigkeit auf das Äußerste gesteigert ist. Es hieße also ungefähr soviel wie schweigen, wo man nichts zu sagen hat; nur das Nötige tun, wo man nichts Besonderes zu bestellen hat; und was das Wichtigste ist, gefühllos bleiben, wo man nicht das unbeschreibliche Gefühl hat, die Arme auszubreiten und von einer Welle der Schöpfung gehoben zu werden! Man wird bemerken, daß damit der größere Teil unseres seelischen Lebens aufhören müßte, aber das wäre ja vielleicht auch kein so schmerzlicher Schaden. Die These, daß der große Umsatz an Seife von großer Reinlichkeit zeugt, braucht nicht für die Moral zu gelten, wo der neuere Satz richtiger ist, daß ein ausgeprägter Waschzwang auf nicht ganz saubere innere Verhältnisse hindeutet. Es würde ein nützlicher Versuch sein, wenn man den Verbrauch an Moral, der (welcher Art sie auch sei) alles Tun begleitet, einmal auf das äußerste einschränken und sich damit begnügen wollte, moralisch nur in den Ausnahmefällen zu sein, wo es dafür steht, aber in allen anderen über sein Tun nicht anders zu denken wie über die notwendige Normung von Bleistiften oder Schrauben. Es würde dann allerdings nicht viel Gutes geschehn, aber einiges Besseres; es würde kein Talent übrig bleiben, sondern nur das Genie; es würden aus dem Bild des Lebens die faden Abzugbilder verschwinden, die aus der blassen Ähnlichkeit entstehen, welche die Handlungen mit den Tugenden haben, und an ihre Stelle deren berauschendes Einssein in der Heiligkeit treten. Mit einem Wort, es würde von jedem Zentner Moral ein Milligramm einer Essenz übrigbleiben, die noch in einem Millionstelgramm zauberhaft beglückend ist.
Aber man wird einwenden, daß dies ja eine Utopie sei! Gewiß, es ist eine. Utopien bedeuten ungefähr so viel wie Möglichkeiten; darin, daß eine Möglichkeit nicht Wirklichkeit ist, drückt sich nichts anderes aus, als daß die Umstände, mit denen sie gegenwärtig verflochten ist, sie daran hindern, denn andernfalls wäre sie ja nur eine Unmöglichkeit; löst man sie nun aus ihrer Bindung und gewährt ihr Entwicklung, so entsteht die Utopie. Es ist ein ähnlicher Vorgang, wie wenn ein Forscher die Veränderung eines Elements in einer zusammengesetzten Erscheinung betrachtet und daraus seine Folgerungen zieht; Utopie bedeutet das Experiment, worin die mögliche Veränderung eines Elements und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen. Ist nun das beobachtete Element die Exaktheit selbst, hebt man es heraus und läßt es sich entwickeln, betrachtet man es als Denkgewohnheit und Lebenshaltung und läßt es seine beispielgebende Kraft auf alles auswirken, was mit ihm in Berührung kommt, so wird man zu einem Menschen geführt, in dem eine paradoxe Verbindung von Genauigkeit und Unbestimmtheit stattfindet. Er besitzt jene unbestechliche gewollte Kaltblütigkeit, die das Temperament der Exaktheit darstellt; über diese Eigenschaft hinaus ist aber alles andere unbestimmt. Die festen Verhältnisse des Inneren, welche durch eine Moral gewährleistet werden, haben für einen Mann wenig Wert, dessen Phantasie auf Veränderungen gerichtet ist; und vollends wenn die Forderung genauester und größter Erfüllung vom intellektuellen Gebiet auf das der Leidenschaften übertragen wird, zeigt sich, wie angedeutet worden, das verwunderliche Ergebnis, daß die Leidenschaften verschwinden und an ihrer Stelle etwas Urfeuerähnliches von Güte zum Vorschein kommt. – Das ist die Utopie der Exaktheit. Man wird nicht wissen, wie dieser Mensch seinen Tag zubringen soll, da er doch nicht beständig im Akt der Schöpfung schweben kann und das Herdfeuer eingeschränkter Empfindungen einer imaginären Feuersbrunst geopfert haben wird? Aber dieser exakte Mensch ist heute vorhanden! Als Mensch im Menschen lebt er nicht nur im Forscher, sondern auch im Kaufmann, im Organisator, im Sportsmann, im Techniker; wenn auch vorläufig nur während jener Haupttageszeiten, die sie nicht ihr Leben, sondern ihren Beruf nennen. Denn er, der alles so gründlich und vorurteilslos nimmt, verabscheut nichts so sehr wie die Idee, sich selbst gründlich zu nehmen, und es läßt sich leider kaum zweifeln, daß er die Utopie seiner selbst als einen unsittlichen Versuch, begangen an ernsthaft beschäftigten Personen, ansehen würde.
Darum war Ulrich in der Frage, ob man der mächtigsten Gruppe innerer Leistungen die übrigen anpassen solle oder nicht, mit anderen Worten, ob man zu etwas, das mit uns geschieht und geschehen ist, ein Ziel und einen Sinn finden kann, sein Leben lang immer ziemlich allein geblieben.

Genauigkeit, als menschliche Haltung, verlangt auch ein genaues Tun und Sein. Sie verlangt Tun und Sein im Sinne eines maximalen Anspruchs. Allein hier ist eine Unterscheidung zu machen.
Denn in Wirklichkeit gibt es ja nicht nur die phantastische Genauigkeit (die es in Wirklichkeit noch gar nicht gibt), sondern auch eine pedantische, und diese beiden unterscheiden sich dadurch, daß sich die phantastische an die Tatsachen hält und die pedantische an Phantasiegebilde. Die Genauigkeit zum Beispiel, mit der der sonderbare Geist Moosbruggers in ein System von zweitausendjährigen Rechtsbegriffen gebracht wurde, glich den pedantischen Anstrengungen eines Narren, der einen freifliegenden Vogel mit einer Nadel aufspießen will, aber sie kümmerte sich ganz und gar nicht um die Tatsachen, sondern um den phantastischen Begriff des Rechtsguts. Die Genauigkeit dagegen, die die Psychiater in ihrem Verhalten zu der großen Frage, ob man Moosbrugger zum Tode verurteilen dürfe oder nicht, an den Tag legten, war ganz und gar exakt, denn sie traute sich nicht mehr zu sagen, als daß sein Krankheitsbild keinem bisher beobachteten Krankheitsbild genau entspreche, und überließ die weitere Entscheidung den Juristen. Es ist ein Bild des Lebens, das der Gerichtssaal bei dieser Gelegenheit bot, denn alle die lebhaften Menschen des Lebens, die es gänzlich unmöglich finden würden, einen Kraftwagen zu benützen, der älter als fünf Jahre ist, oder eine Krankheit nach den Grundsätzen behandeln zu lassen, die vor zehn Jahren die besten waren, die überdies ihre ganze Zeit freiwillig-unfreiwillig der Förderung solcher Erfindungen widmen und davon eingenommen sind, alles zu rationalisieren, was in ihren Bereich kommt, überlassen die Fragen der Schönheit, der Gerechtigkeit, der Liebe und des Glaubens, kurz alle Fragen der Humanität, soweit sie nicht geschäftliche Beteiligung daran haben, am liebsten ihren Frauen, und solange diese noch nicht ganz dazu genügen, einer Abart von Männern, die ihnen von Kelch und Schwert des Lebens in tausendjährigen Wendungen erzählen, denen sie leichtsinnig, verdrossen und skeptisch zuhören, ohne daran zu glauben und ohne an die Möglichkeit zu denken, daß man es auch anders machen könnte. Es gibt also in Wirklichkeit zwei Geistesverfassungen, die einander nicht nur bekämpfen, sondern die gewöhnlich, was schlimmer ist, nebeneinander bestehen, ohne ein Wort zu wechseln, außer daß sie sich gegenseitig versichern, sie seien beide wünschenswert, jede auf ihrem Platz. Die eine begnügt sich damit, genau zu sein, und hält sich an die Tatsachen; die andere begnügt sich nicht damit, sondern schaut immer auf das Ganze und leitet ihre Erkenntnisse von sogenannten ewigen und großen Wahrheiten her. Die eine gewinnt dabei an Erfolg, und die andere an Umfang und Würde. Es ist klar, daß ein Pessimist auch sagen könnte, die Ergebnisse der einen seien nichts wert und die der anderen nicht wahr. Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an, und wenn es ihrer dreißig wären?! Andererseits, was weiß man vom Jüngsten Tag, wenn man nicht einmal weiß, was alles bis dahin aus der Ameisensäure werden kann?!
Zwischen den beiden Polen dieses Weder-Noch pendelte die Entwicklung, als es rund länger als achtzehn und noch keine zwanzig Jahrhunderte her war, seit die Menschheit zum erstenmal erfuhr, daß es am Ende aller Tage ein solches geistiges Gericht geben werde. Es entspricht der Erfahrung, daß dabei auf eine Richtung immer die entgegengesetzte folgt. Und obgleich es denkbar und wünschbar wäre, daß eine solche Umkehr sich wie ein Schraubengang vollzöge, der bei jedem Richtungswechsel höher steigt, gewinnt aus unbekannten Gründen die Entwicklung dabei selten mehr, als sie durch Umweg und Zerstörung verliert. Dr. Paul Arnheim hatte also ganz recht, als er zu Ulrich sagte, die Weltgeschichte gestatte niemals etwas Negatives; die Weltgeschichte ist optimistisch, sie entscheidet sich immer mit Begeisterung für das eine und erst nachher für sein Gegenteil! So folgte auch auf die ersten Phantasien der Exaktheit keineswegs der Versuch, sie zu verwirklichen, sondern man überließ sie dem flügellosen Gebrauch der Ingenieure und Gelehrten und wandte sich wieder der würdigeren und umfangreicheren Geistesverfassung zu.
Ulrich konnte sich noch gut erinnern, wie das Unsichere wieder zu Ansehen gekommen war. Immer mehr hatten sich Äußerungen gehäuft, wo Menschen, die ein etwas unsicheres Metier betrieben, Dichter, Kritiker, Frauen und die den Beruf einer neuen Generation Ausübenden, Klage erhoben, daß das pure Wissen einem unseligen Etwas gleiche, das alles hohe Menschenwerk zerreiße, ohne es je wieder zusammensetzen zu können, und sie verlangten einen neuen Menschheitsglauben, Rückkehr zu den inneren Urtümern, geistigen Aufschwung und allerlei von solcher Art. Er hatte anfangs naiver Weise angenommen, das seien Leute, die sich aufgeritten haben und hinkend vom Pferd steigen, schreiend, daß man sie mit Seele einschmiere; aber er mußte allmählich erkennen, daß der sich wiederholende Ruf, der ihm anfangs so komisch erschienen war, einen breiten Widerhall fand; das Wissen fing an, unzeitgemäß zu werden, der unscharfe Typus Mensch, der die Gegenwart beherrscht, hatte sich durchzusetzen begonnen.
Ulrich hatte sich dagegen aufgelehnt, das ernst zu nehmen, und bildete nun seine geistigen Neigungen auf eigene Art weiter.
Aus der frühesten Zeit des ersten Selbstbewußtseins der Jugend, die später wieder anzublicken oft so rührend und erschütternd ist, waren heute noch allerhand einst geliebte Vorstellungen in seiner Erinnerung vorhanden, und darunter das Wort »hypothetisch leben«. Es drückte noch immer den Mut und die unfreiwillige Unkenntnis des Lebens aus, wo jeder Schritt ein Wagnis ohne Erfahrung ist, und den Wunsch nach großen Zusammenhängen und den Hauch der Widerruflichkeit, den ein junger Mensch fühlt, wenn er zögernd ins Leben tritt. Ulrich dachte, daß davon eigentlich nichts zurückzunehmen sei. Ein spannendes Gefühl, zu irgendetwas ausersehen zu sein, ist das Schöne und einzig Gewisse in dem, dessen Blick zum erstenmal die Welt mustert. Er kann, wenn er seine Empfindungen überwacht, zu nichts ohne Vorbehalt ja sagen; er sucht die mögliche Geliebte, aber weiß nicht, ob es die richtige ist; er ist imstande zu töten, ohne sicher zu sein, daß er es tun muß. Der Wille seiner eigenen Natur, sich zu entwickeln, verbietet ihm, an das Vollendete zu glauben; aber alles, was ihm entgegentritt, tut so, als ob es vollendet wäre. Er ahnt: diese Ordnung ist nicht so fest, wie sie sich gibt; kein Ding, kein Ich, keine Form, kein Grundsatz sind sicher, alles ist in einer unsichtbaren, aber niemals ruhenden Wandlung begriffen, im Unfesten liegt mehr von der Zukunft als im Festen, und die Gegenwart ist nichts als eine Hypothese, über die man noch nicht hinausgekommen ist. Was sollte er da Besseres tun können, als sich von der Welt freizuhalten, in jenem guten Sinn, den ein Forscher Tatsachen gegenüber bewahrt, die ihn verführen wollen, voreilig an sie zu glauben?! Darum zögert er, aus sich etwas zu machen; ein Charakter, Beruf, eine feste Wesensart, das sind für ihn Vorstellungen, in denen sich schon das Gerippe durchzeichnet, das zuletzt von ihm übrig bleiben soll. Er sucht sich anders zu verstehen; mit einer Neigung zu allem, was ihn innerlich mehrt, und sei es auch moralisch oder intellektuell verboten, fühlt er sich wie einen Schritt, der nach allen Seiten frei ist, aber von einem Gleichgewicht zum nächsten und immer vorwärts führt. Und meint er einmal, den rechten Einfall zu haben, so nimmt er wahr, daß ein Tropfen unsagbarer Glut in die Welt gefallen ist, deren Leuchten die Erde anders aussehen macht.
In Ulrich war später, bei gemehrtem geistigen Vermögen, daraus eine Vorstellung geworden, die er nun nicht mehr mit dem unsicheren Wort Hypothese, sondern aus bestimmten Gründen mit dem eigentümlichen Begriff eines Essays verband. Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen,– denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. Das ist übrigens nur die einfache Beschreibung der Tatsache, daß uns ein Mord als ein Verbrechen oder als eine heroische Tat erscheinen kann und die Stunde der Liebe als die Feder, die aus dem Flügel eines Engels oder einer Gans gefallen ist. Aber Ulrich verallgemeinerte sie. Dann fanden alle moralischen Ereignisse in einem Kraftfeld statt, dessen Konstellation sie mit Sinn belud, und sie enthielten das Gute und das Böse wie ein Atom chemische Verbindungsmöglichkeiten enthält. Sie waren gewissermaßen das, was sie wurden, und so wie das eine Wort Hart, je nachdem, ob die Härte mit Liebe, Roheit, Eifer oder Strenge zusammenhängt, vier ganz verschiedene Wesenheiten bezeichnet, erschienen ihm alle moralischen Geschehnisse in ihrer Bedeutung als die abhängige Funktion anderer. Es entstand auf diese Weise ein unendliches System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht seines Daseins trat dem Menschen als Niederschrift, als Wirklichkeit und Charakter entgegen. Im Grunde fühlte sich Ulrich nach dieser Anschauung jeder Tugend und jeder Schlechtigkeit fähig, und daß Tugenden wie Laster in einer ausgeglichenen Gesellschaftsordnung allgemein, wenn auch uneingestanden, als gleich lästig empfunden werden, bewies ihm gerade das, was in der Natur allenthalben geschieht, daß jedes Kräftespiel mit der Zeit einem Mittelwert und Mittelzustand, einem Ausgleich und einer Erstarrung zustrebt. Die Moral im gewöhnlichen Sinn war für Ulrich nicht mehr als die Altersform eines Kräftesystems, das nicht ohne Verlust an ethischer Kraft mit ihr verwechselt werden darf.
Es mag sein, daß sich auch in diesen Anschauungen eine gewisse Lebensunsicherheit ausdrückte; allein Unsicherheit ist mitunter nichts als das Ungenügen an den gewöhnlichen Sicherungen, und im übrigen darf wohl daran erinnert werden, daß selbst eine so erfahrene Person, wie es die Menschheit ist, scheinbar nach ganz ähnlichen Grundsätzen handelt. Sie widerruft auf die Dauer alles, was sie getan hat, und setzt anderes an seine Stelle, auch ihr verwandeln sich im Lauf der Zeit Verbrechen in Tugenden und umgekehrt, sie baut große geistige Zusammenhänge aller Geschehnisse auf und läßt sie nach einigen Menschenaltern wieder einstürzen; nur geschieht das nacheinander, statt in einem einheitlichen Lebensgefühl, und die Kette ihrer Versuche läßt keine Steigerung erkennen, während ein bewußter menschlicher Essayismus ungefähr die Aufgabe vorfände, diesen fahrlässigen Bewußtseinszustand der Welt in einen Willen zu verwandeln. Und viele einzelne Entwicklungslinien weisen dahin, daß dies bald geschehen könnte. Die Gehilfin in einem Krankenhaus, die, blütenweiß gekleidet, den Kot eines Patienten in einem weißen Porzellanschüsselchen mit helfenden Säuren zu einem purpurfarbenen Aufstrich verreibt, dessen richtige Farbe ihre Aufmerksamkeit belohnt, befindet sich schon jetzt, auch wenn sie es nicht weiß, in einer wandelbareren Welt als die junge Dame, die vor dem gleichen Gegenstand auf der Straße erschauert. Der Verbrecher, der in das moralische Kraftfeld seiner Tat geraten ist, bewegt sich nur noch wie ein Schwimmer, der mit einem reißenden Strom mitmuß, und jede Mutter, deren Kind einmal hineingerissen worden ist, weiß das; man hat es ihr bisher bloß nicht geglaubt, weil man keinen Platz für diesen Glauben hatte. Die Psychiatrie nennt die große Heiterkeit eine heitere Verstimmung, als ob sie heitere Unlust wäre, und hat erkennen lassen, daß alle großen Steigerungen, die der Keuschheit wie der Sinnlichkeit, der Gewissenhaftigkeit wie des Leichtsinns, der Grausamkeit wie des Mitleidens ins Krankhafte münden; wie wenig würde da noch das gesunde Leben bedeuten, wenn es nur einen mittleren Zustand zwischen zwei Übertreibungen zum Ziel hätte! Wie dürftig wäre es schon, wenn sein Ideal wirklich nichts anderes als die Leugnung der Übertreibung seiner Ideale wäre!? Solche Erkenntnisse führen also dazu, in der moralischen Norm nicht länger die Ruhe starrer Satzungen zu sehen, sondern ein bewegliches Gleichgewicht, das in jedem Augenblick Leistungen zu seiner Erneuerung fordert. Man beginnt, es immer mehr als beschränkt zu empfinden, unwillkürlich erworbene Wiederholungsdispositionen einem Menschen als Charakter zuzuschreiben und dann seinen Charakter für die Wiederholungen verantwortlich zu machen. Man lernt das Wechselspiel zwischen Innen und Außen erkennen, und gerade durch das Verständnis für das Unpersönliche am Menschen ist man dem Persönlichen auf neue Spuren gekommen, auf gewisse einfache Grundverhaltensweisen, einen Ichbautrieb, der wie der Nestbautrieb der Vögel aus vieler Art Stoff nach ein paar Verfahren sein Ich aufrichtet. Man ist bereits so nahe daran, durch bestimmte Einflüsse allerhand entartete Zustände verbauen zu können wie einen Wildbach, daß es beinahe nur noch auf eine soziale Fahrlässigkeit hinausläuft oder auf einen Rest von Ungeschicklichkeit, wenn man aus Verbrechern nicht rechtzeitig Erzengel macht. Und so ließe sich sehr vieles anführen, Zerstreutes, einander noch nicht nahe Gekommenes, was zusammenwirkt, daß man der groben Annäherungen müde wird, die unter einfacheren Bedingungen für ihre Anwendung entstanden sind, und allmählich die Nötigung erlebt, eine Moral, die seit zweitausend Jahren immer nur im kleinen dem wechselnden Geschmack angepaßt worden ist, in den Grundlagen der Form zu verändern und gegen eine andere einzutauschen, die sich der Beweglichkeit der Tatsachen genauer anschmiegt.
Nach Ulrichs Überzeugung fehlte dazu eigentlich nur noch die Formel; jener Ausdruck, den das Ziel einer Bewegung, noch ehe es erreicht ist, in irgendeinem glücklichen Augenblick finden muß, damit das letzte Stück des Wegs zurückgelegt werden kann, und es ist das immer ein gewagter, nach dem Stande der Dinge noch nicht zu rechtfertigender Ausdruck, eine Verbindung von exakt und nichtexakt, von Genauigkeit und Leidenschaft. Aber es war gerade in den Jahren, die ihn hätten aneifern sollen, mit ihm etwas Merkwürdiges vor sich gegangen. Er war kein Philosoph. Philosophen sind Gewalttäter, die keine Armee zur Verfügung haben und sich deshalb die Welt in der Weise unterwerfen, daß sie sie in ein System sperren. Wahrscheinlich ist das auch der Grund dafür, daß es in den Zeiten der Tyrannis große philosophische Naturen gegeben hat, während es in den Zeiten der fortgeschrittenen Zivilisation und Demokratie nicht gelingt, eine überzeugende Philosophie hervorzubringen, wenigstens soweit sich das nach dem Bedauern beurteilen läßt, das man allgemein darüber äußern hört. Darum wird heute in kurzen Stücken erschreckend viel philosophiert, so daß es gerade nur noch die Kaufläden gibt, wo man ohne Weltanschauung etwas bekommt, während gegen große Stücke Philosophie ein ausgesprochenes Mißtrauen herrscht. Man hält sie einfach für unmöglich, und auch Ulrich war keineswegs frei davon, ja er dachte nach seinen wissenschaftlichen Erfahrungen etwas spöttisch über sie. Das gab die Richtung für sein Verhalten, so daß er immer wieder von dem, was er sah, zum Nachdenken aufgefordert wurde und doch mit einer gewissen Scheu vor zuviel Denken behaftet war. Aber was sein Verhalten schließlich entschied, war noch etwas anderes. Es gab etwas in Ulrichs Wesen, das in einer zerstreuten, lähmenden, entwaffnenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeutigen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte, und auch das hing mit dem seinerzeit von ihm gewählten Namen Essayismus zusammen, wenn es auch gerade die Bestandteile enthielt, die er mit der Zeit und mit unbewußter Sorgfalt aus diesem Begriff ausgeschaltet hatte. Die Übersetzung des Wortes Essay als Versuch, wie sie gegeben worden ist, enthält nur ungenau die wesentlichste Anspielung auf das literarische Vorbild; denn ein Essay ist nicht der vor- oder nebenläufige Ausdruck einer Überzeugung, die bei besserer Gelegenheit zur Wahrheit erhoben, ebensogut aber auch als Irrtum erkannt werden könnte (von solcher Art sind bloß die Aufsätze und Abhandlungen, die gelehrte Personen als »Abfälle ihrer Werkstätte« zum besten geben); sondern ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken annimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt, aber auch wahr und falsch, klug und unklug sind keine Begriffe, die sich auf solche Gedanken anwenden lassen, die dennoch Gesetzen unterstehn, die nicht weniger streng sind, als sie zart und unaussprechlich erscheinen. Es hat nicht wenige solcher Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens gegeben, aber es würde keinen Zweck haben, sie zu nennen; ihr Reich liegt zwischen Religion und Wissen, zwischen Beispiel und Lehre, zwischen amor intellectualis und Gedicht, sie sind Heilige mit und ohne Religion, und manchmal sind sie auch einfach Männer, die sich in einem Abenteuer verirrt haben.
Nichts ist übrigens bezeichnender als die unfreiwillige Erfahrung, die man mit gelehrten und vernünftigen Versuchen macht, solche große Essayisten auszulegen, die Lebenslehre, so wie sie ist, in ein Lebenswissen umzuwandeln und der Bewegung der Bewegten einen »Inhalt« abzugewinnen; es bleibt von allem ungefähr so viel übrig wie von dem zarten Farbenleib einer Meduse, nachdem man sie aus dem Wasser gehoben und in Sand gelegt hat. Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Unergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn, und doch darf man sie nicht eigentlich zart und lebensunbeständig nennen, da man sonst auch einen Elefanten zu zart nennen müßte, um in einem luftleeren, seinen Lebensbedürfnissen nicht entsprechenden Raum auszudauern. Es wäre sehr zu beklagen, wenn diese Beschreibungen den Eindruck eines Geheimnisses hervorrufen würden oder auch nur den einer Musik, in der die Harfenklänge und seufzerhaften Glissandi überwiegen. Das Gegenteil ist wahr, und die ihnen zugrunde liegende Frage stellte sich Ulrich durchaus nicht nur als Ahnung dar, sondern auch ganz nüchtern in der folgenden Form: Ein Mann, der die Wahrheit will, wird Gelehrter; ein Mann, der seine Subjektivität spielen lassen will, wird vielleicht Schriftsteller; was aber soll ein Mann tun, der etwas will, das dazwischen liegt? Solche Beispiele, die »dazwischen« liegen, liefert aber jeder moralische Satz, etwa gleich der bekannte und einfache: Du sollst nicht töten. Man sieht auf den ersten Blick, daß er weder eine Wahrheit ist noch eine Subjektivität. Man weiß, daß wir uns in mancher Hinsicht streng an ihn halten, in anderer Hinsicht sind gewisse und sehr zahlreiche, jedoch genau begrenzte Ausnahmen zugelassen, aber in einer sehr großen Zahl von Fällen dritter Art, so in der Phantasie, in den Wünschen, in den Theaterstücken oder beim Genuß der Zeitungsnachrichten, schweifen wir ganz ungeregelt zwischen Abscheu und Verlockung. Man nennt etwas, das weder eine Wahrheit noch eine Subjektivität ist, zuweilen eine Forderung. Man hat diese Forderung an den Dogmen der Religion und an denen des Gesetzes befestigt und ihr dadurch den Charakter einer abgeleiteten Wahrheit gegeben, aber die Romanschriftsteller erzählen uns von den Ausnahmen, angefangen beim Opfer Abrahams bis zur jüngsten schönen Frau, die ihren Geliebten niedergeschossen hat, und lösen es wieder in Subjektivität auf. Man kann sich also entweder an den Pflöcken festhalten oder zwischen ihnen von der breiten Welle hin und her tragen lassen; aber mit welchem Gefühl!? Das Gefühl des Menschen für diesen Satz ist ein Gemisch von vernageltem Gehorchen (einschließlich der »gesunden Natur«, die sich sträubt, an so etwas auch nur zu denken, aber, durch Alkohol oder Leidenschaft nur ein wenig von ihrem Platz verrückt, es sofort tut) und gedankenlosem Plätschern in einer Woge voll Möglichkeiten. Soll dieser Satz wirklich nur so verstanden werden? Ulrich fühlte, daß ein Mann, der etwas mit ganzer Seele tun möchte, auf diese Weise weder weiß, ob er es tun, noch ob er es unterlassen soll. Und ihm ahnte doch, daß man es aus dem ganzen Wesen heraus tun oder lassen könnte. Ein Einfall oder ein Verbot sagten ihm gar nichts. Die Anknüpfung an ein Gesetz nach oben oder innen erregte die Kritik seines Verstandes, ja mehr als das, es lag auch eine Entwertung in diesem Bedürfnis, den seiner selbst gewissen Augenblick durch eine Abstammung zu nobilitieren. Bei alledem blieb seine Brust stumm, und nur sein Kopf sprach; aber er fühlte, daß in einer anderen Weise seine Entscheidung übereinfallen könnte mit seinem Glück. Er könnte glücklich sein, weil er nicht tötet, oder glücklich sein, weil er tötet, aber er könnte niemals der gleichgültige Eintreiber einer an ihn gestellten Forderung sein. Das, was er in diesem Augenblick empfand, war kein Gebot, es war ein Gebiet, das er betreten hatte. Er begriff, daß alles darin schon entschieden sei und den Sinn besänftigt wie Muttermilch. Aber es war kein Denken mehr, was ihm das sagte, und auch kein Fühlen in der gewöhnlichen, wie in Stücke gebrochenen Weise; es war ein »ganz Begreifen« und doch auch wieder nur so, wie wenn der Wind eine Botschaft fern herüberträgt, und sie kam ihm weder wahr noch falsch, weder vernünftig noch widervernünftig vor, sondern ergriff ihn, als wäre ihm eine leise selige Übertreibung in die Brust gefallen.
Und so wenig man aus den echten Teilen eines Essays eine Wahrheit machen kann, vermag man aus einem solchen Zustand eine Überzeugung zu gewinnen; wenigstens nicht, ohne ihn aufzugeben, so wie ein Liebender die Liebe verlassen muß, um sie zu beschreiben. Die grenzenlose Rührung, die ihn zuweilen untätig bewegte, widersprach dem Tätigkeitstrieb Ulrichs, der auf Grenzen und Formen drang. Nun ist es ja wahrscheinlich richtig und natürlich, erst wissen zu wollen, ehe man das Gefühl sprechen läßt, und unwillkürlich stellte er sich vor, was er dereinst finden wollte, werde, wenn es auch nicht Wahrheit sei, dieser doch an Festigkeit nichts nachgeben; aber in seinem besonderen Fall ähnelte er dadurch einem Mann, der sich ein Rüstzeug zusammenstellt, indes ihm darüber die Absicht erstirbt. Wann immer man ihn bei der Abfassung mathematischer und mathematisch-logischer Abhandlungen oder bei der Beschäftigung mit den Naturwissenschaften gefragt haben würde, welches Ziel ihm vorschwebe, so würde er geantwortet haben, daß nur eine Frage das Denken wirklich lohne, und das sei die des rechten Lebens. Aber wenn man eine Forderung lange Zeit erhebt, ohne daß mit ihr etwas geschieht, schläft das Gehirn genau so ein, wie der Arm einschläft, wenn er lange Zeit etwas hochhält, und unsere Gedanken können ebensowenig dauernd stehen bleiben wie Soldaten im Sommer auf einer Parade; wenn sie zu lange warten müssen, fallen sie einfach ohnmächtig um. Da Ulrich ungefähr in seinem sechsundzwanzigsten Jahr den Entwurf seiner Lebensauffassung abgeschlossen hatte, kam sie ihm in seinem zweiunddreißigsten Jahr nicht mehr ganz aufrichtig vor. Er hatte seine Gedanken nicht weitergebildet, und abgesehen von einem ungewissen und spannenden Gefühl, wie man es bei geschlossenen Augen hat, wenn man etwas erwartet, zeigte sich in ihm auch nicht viel von persönlicher Bewegung, seit die Tage der zitternden ersten Erkenntnisse vorbei waren. Wahrscheinlich war es trotzdem eine unterirdische Bewegung von solcher Art, was ihn mit der Zeit in der wissenschaftlichen Arbeit verlangsamte und daran hinderte, in sie seinen ganzen Willen zu setzen. Er geriet durch sie in einen eigentümlichen Zwiespalt. Man darf nicht vergessen, daß die exakte Geistesverfassung im Grunde gottgläubiger ist als die schöngeistige; denn sie würde sich »Ihm« unterwerfen, sobald er geruht, sich ihr unter den Bedingungen zu zeigen, die sie für die Anerkennung seiner Tatsächlichkeit vorschreibt, wogegen unsere schönen Geister, wenn Er sich äußerte, nur finden würden, daß sein Talent nicht ursprünglich und sein Weltbild nicht verständlich genug seien, um ihn auf eine Stufe mit wirklich gottbegnadeten Begabungen zu stellen. So leicht wie irgendwer von dieser Gattung konnte sich Ulrich also nicht unbestimmten Ahnungen hingeben, aber andererseits konnte er sich ebensowenig verhehlen, daß er in lauter Exaktheit jahrelang bloß gegen sich selbst gelebt habe, und er wünschte, daß etwas Unvorhergesehenes mit ihm geschehen möge, denn als er das tat, was er etwas spöttisch seinen »Urlaub vom Leben« nannte, besaß er in der einen wie in der anderen Richtung nichts, was ihm Frieden gab.
Vielleicht könnte man zu seiner Entschuldigung anführen, daß das Leben in gewissen Jahren unglaublich schnell entflieht. Aber der Tag, wo man beginnen muß, seinen letzten Willen zu leben, ehe man dessen Rest hinterläßt, liegt weit voran und läßt sich nicht verschieben. Das war ihm drohend klar geworden, seit fast ein halbes Jahr vergangen war, ohne daß sich etwas änderte. Während er sich in der kleinen und närrischen Tätigkeit, die er übernommen hatte, hin und her bewegen ließ, sprach, gerne zuviel sprach, mit der verzweifelten Beharrlichkeit eines Fischers lebte, der seine Netze in einen leeren Fluß senkt, indes er nichts tat, was der Person entsprach, die er immerhin bedeutete, und es mit Absicht nicht tat, wartete er. Er wartete hinter seiner Person, sofern dieses Wort den von Welt und Lebenslauf geformten Teil eines Menschen bezeichnet, und seine ruhige, dahinter abgedämmte Verzweiflung stieg mit jedem Tag höher. Er befand sich in dem schlimmsten Notstand seines Lebens und verachtete sich für seine Unterlassungen. Sind große Prüfungen das Vorrecht großer Naturen? Er würde gerne daran geglaubt haben, aber es ist nicht richtig, denn auch die simpelsten nervösen Naturen haben ihre Krisen. So blieb ihm eigentlich nur in der großen Erschütterung jener Rest von Unerschütterlichkeit übrig, den alle Helden und Verbrecher besitzen, es ist nicht Mut, es ist nicht Wille, es ist keine Zuversicht, sondern einfach ein zähes Festhalten an sich, das sich so schwer austreiben läßt wie das Leben aus einer Katze, selbst wenn sie von den Hunden schon ganz zerfleischt ist.
Will man sich vorstellen, wie solch ein Mensch lebt, wenn er allein ist, so kann höchstens erzählt werden, daß in der Nacht die erhellten Fensterscheiben ins Zimmer schauen, und die Gedanken, nachdem sie gebraucht sind, herumsitzen wie die Klienten im Vorzimmer eines Anwalts, mit dem sie nicht zufrieden sind. Oder vielleicht, daß Ulrich einmal in solcher Nacht die Fenster öffnete und in die schlangenkahlen Baumstämme blickte, deren Windungen zwischen den Schneedecken der Wipfel und des Bodens seltsam schwarz und glatt dastanden, und plötzlich Lust bekam, im Schlafanzug, wie er war, in den Garten hinunterzugehn; er wollte die Kälte in den Haaren fühlen. Als er unten war, schaltete er das Licht aus, um nicht vor der erleuchteten Türe zu stehn, und nur aus seinem Arbeitszimmer ragte ein Lichtdach in den Schatten hinein. Ein Weg führte zum Gittertor, das auf die Straße mündete, ein zweiter kreuzte ihn dunkel deutlich. Ulrich ging langsam auf diesen zu. Und dann erinnerte ihn die zwischen den Baumkronen emporragende Dunkelheit plötzlich phantastisch an die riesige Gestalt Moosbruggers, und die nackten Bäume kamen ihm merkwürdig körperlich vor; häßlich und naß wie Würmer und trotzdem so, daß man sie umarmen und mit Tränen im Gesicht an ihnen niedersinken mochte. Aber er tat es nicht. Die Sentimentalität der Regung stieß ihn im gleichen Augenblick zurück, wo sie ihn berührte. Durch den Milchschaum des Nebels kamen vor dem Gitter des Gartens in diesem Augenblick verspätete Fußgänger vorbei, und er hätte ihnen wohl wie ein Narr erscheinen können, wie sich sein Bild, in rotem Schlafanzug zwischen schwarzen Stämmen, nun von diesen loslöste; aber er trat fest auf den Weg und ging verhältnismäßig zufrieden in sein Haus zurück, denn wenn etwas für ihn aufbewahrt war, so mußte es etwas ganz anderes sein.

Als Ulrich an dem Morgen, der auf diese Nacht folgte, spät und sehr zerschlagen aufstand, wurde ihm der Besuch Bonadeas gemeldet; es war zum erstenmal seit ihrem Zerwürfnis, daß sie sich wieder sehen sollten.
Bonadea hatte in der Zeit der Trennung viel geweint. Bonadea hatte sich während dieser Zeit oft mißbraucht gefühlt. Sie hatte oft gewirbelt wie eine umflorte Trommel. Sie hatte viele Abenteuer gehabt und viele Enttäuschungen. Und obgleich die Erinnerung an Ulrich bei jedem Abenteuer in einen tiefen Brunnen versank, stieg sie nach jeder Enttäuschung daraus wieder auf; ohnmächtig und vorwurfsvoll wie der verlassene Schmerz in einem Kindergesicht. Bonadea hatte ihrem Freund schon hundertmal im stillen ihre Eifersucht abgebeten, ihren »bösen Stolz gestraft«, wie sie es nannte, und endlich entschloß sie sich, ihm einen Friedensschluß anzutragen.
Sie war liebenswürdig, melancholisch und schön, als sie vor ihm saß, und fühlte sich im Magen elend. Er stand »wie ein Jüngling« vor ihr. Seine Haut marmorn poliert von großen Vorgängen und Diplomatie, die sie ihm zutraute. Sie hatte noch nie bemerkt, wie kräftig und entschlossen sein Gesicht aussehe. Sie hätte gerne mit ganzer Person kapituliert, aber sie traute sich nicht, so weit zu gehen, und er machte keine Miene, sie dazu einzuladen. Diese Kälte war unsagbar traurig für sie, aber groß wie eine Statue. Bonadea nahm unvermutet seine herabhängende Hand und küßte sie. Ulrich strich ihr nachdenklich über das Haar. Ihre Beine wurden auf die weiblichste Weise von der Welt schwach, und sie wollte in die Knie sinken. Da drückte sie Ulrich sanft in den Stuhl, brachte Whisky mit Soda und zündete eine Zigarette an.
»Eine Dame trinkt nicht am Vormittag Whisky!« protestierte Bonadea; einen Augenblick lang fand sie wieder die Kraft zum Gekränktsein, und ihr Herz stieg bis in den Kopf, denn es schien ihr, daß die Selbstverständlichkeit, mit der ihr Ulrich ein so derbes und, wie sie dachte, zügelloses Getränk anbot, eine lieblose Anspielung enthalte.
Aber Ulrich sagte freundlich: »Es wird dir gut tun; alle Frauen, die große Politik gemacht haben, haben auch Whisky getrunken.« Denn Bonadea hatte, um sich bei Ulrich wieder einzuführen, gesagt, daß sie die große patriotische Aktion bewundere und gerne dabei mithelfen möchte.
Das war ihr Plan. Sie glaubte immer mehreres gleichzeitig, und halbe Wahrheiten erleichterten ihr das Lügen.
Der Whisky war dünngoldig und wärmte wie Maisonne.
Bonadea hatte das Gefühl, siebzig Jahre alt zu sein und vor einem Haus auf einer Gartenbank zu sitzen. Sie wurde alt. Ihre Kinder wuchsen heran. Der Älteste war jetzt schon zwölf Jahre. Es war ohne Zweifel schändlich, einem Mann, den man nicht einmal genau kannte, in eine Wohnung zu folgen, bloß weil er Augen hatte, mit denen er einen ansah wie ein Mann hinter einem Fenster. Man unterscheidet ganz gut, dachte sie, Einzelheiten an diesem Menschen, die einem mißfallen und eine Warnung sein könnten; man könnte überhaupt – wenn einen nur etwas in solchen Augenblicken anhalten würde! – schamübergossen und vielleicht sogar zornflammend abbrechen; aber weil es nicht geschieht, wächst dieser Mann immer leidenschaftlicher in seine Rolle hinein. Und man selbst fühlt sich dabei ganz deutlich wie eine von künstlichem Licht angestrahlte Kulisse; es sind Bühnenaugen, ein Bühnenschnurrbart, sich öffnende Kostümknöpfe, was man vor sich hat, und die Augenblicke vom Betreten des Zimmers bis zur entsetzlichen ersten wieder nüchternen Bewegung spielen sich in einem Bewußtsein ab, das aus dem Kopf hinausgetreten ist und die Zimmerwände mit einer Tapete des Wahns überzieht. Bonadea gebrauchte nicht ganz die gleichen Worte, dachte es überhaupt nur teilweise in Worten, aber während sie es sich zu vergegenwärtigen trachtete, fühlte sie sich sofort wieder dieser Veränderung des Bewußtseins ausgeliefert. »Wer das beschreiben könnte, wäre ein großer Künstler; nein, er wäre ein Pornograph« dachte sie, während sie Ulrich ansah. Denn die guten Vorsätze und den besten Willen zur Anständigkeit verlor sie auch während solcher Zustände keinen Augenblick; sie standen dann draußen und warteten und hatten zu dieser von den Begierden veränderten Welt bloß kein Wort zu sagen. Wenn Bonadeas Vernunft wiederkehrte, war das ihre größte Qual. Die Bewußtseinsveränderung durch den Geschlechtsrausch, über die andere Menschen als etwas Natürliches hinwegsehen, nahm bei ihr durch die Tiefe und Plötzlichkeit des Rausches wie auch der Reue eine Stärke an, die sie beängstigte, sobald sie wieder in den Friedenskreis der Familie zurückgekehrt war. Sie kam sich dann wie eine Wahnsinnige vor. Sie traute sich kaum, ihre Kinder anzusehen, aus Angst, sie mit ihrem verdorbenen Blick zu schädigen. Und sie zuckte zusammen, wenn ihr Mann sie etwas freundlicher anschaute, und fürchtete sich vor der Zwanglosigkeit des Alleinseins. Darum war in den Wochen der Trennung der Plan in ihr gereift, keinen anderen Geliebten mehr zu haben als Ulrich; er sollte ihr Halt geben und sie vor fremden Ausschreitungen bewahren. »Wie habe ich mir nur erlauben können, ihn zu tadeln,« dachte sie jetzt, wo sie zum erstenmal wieder vor ihm saß, »er ist so viel vollkommener als ich«, und sie schrieb ihm das Verdienst zu, daß sie in der Zeit seiner Umarmungen ein gebesserter Mensch gewesen sei, und dachte wohl auch daran, daß er sie bei der nächsten Wohltätigkeitsveranstaltung in seinen neuen Gesellschaftskreis einführen müsse. Bonadea legte lautlos einen Fahnenschwur ab und bekam Tränen der Rührung in die Augen, während sie alles das bedachte.
Aber Ulrich trank mit der Langsamkeit eines Mannes, der einen schweren Entschluß bekräftigen muß, seinen Whisky aus. – Es sei im Augenblick noch nicht möglich, sie bei Diotima einzuführen, erklärte er ihr.
Bonadea wollte selbstverständlich genau Bescheid haben, warum es nicht möglich sei; und dann wollte sie genau wissen, wann es möglich sein werde.
Ulrich mußte ihr auseinandersetzen, daß sie weder in der Kunst, noch in der Wissenschaft, noch im Wohlfahrtswesen hervorgetreten sei, und daß es darum sehr lange dauern werde, ehe er Diotima die Notwendigkeit ihrer Mitwirkung begreiflich machen könne.
Nun war aber Bonadea in der Zwischenzeit von eigentümlichen Gefühlen für Diotima erfüllt worden. Sie hatte genug von deren Tugenden gehört, um nicht eifersüchtig zu sein; vielmehr beneidete und bewunderte sie diese Frau, die ihren Geliebten an sich fesselte, ohne ihm unsittliche Zugeständnisse zu machen. Sie schrieb die statuenhafte Gelassenheit, die sie an Ulrich zu bemerken glaubte, diesem Einfluß zu. Sich selbst nannte sie »leidenschaftlich«, worunter sie ebensowohl ihre Ehrlosigkeit wie eine immerhin ehrenvolle Entschuldigung für diese verstand; aber sie bewunderte kühle Frauen mit dem gleichen Empfinden, wie unglückliche Besitzer ewig feuchter Hände ihre Hand in eine besonders trockene und schöne Hand legen. »Sie ist es!« dachte sie. »Sie hat Ulrich so verändert!« Ein harter Bohrer in ihrem Herzen, ein süßer Bohrer in ihren Knien: diese beiden sich gleichzeitig und gegeneinander drehenden Bohrer machten Bonadea beinahe ohnmächtig, als sie bei Ulrich Widerstand fand. Sie spielte ihren letzten Trumpf aus: Moosbrugger!
Es war ihr durch schmerzliches Nachdenken klargeworden, daß Ulrich eine eigentümliche Vorliebe für diese fürchterliche Erscheinung habe. Sie selbst widerte die »rohe Sinnlichkeit«, die sich ihrer Überzeugung nach in Moosbruggers Taten ausdrückte, einfach mit Abscheu an; sie empfand in dieser Frage, natürlich ohne davon zu wissen, genau so wie die Prostituierten, die mit ganz ungemischtem Gefühl und ohne alle bürgerliche Romantik in einem Lustmörder einfach eine Gefährdung ihres Berufs erblicken. Aber sie brauchte, einschließlich ihrer unvermeidlichen Verfehlungen, eine ordentliche und wahre Welt, und Moosbrugger sollte ihr zu deren Wiederherstellung dienen. Da Ulrich eine Schwäche für ihn, und sie einen Gatten hatte, der Richter war und dienliche Auskunft zu geben vermochte, war in ihrer Verlassenheit ganz von selbst der Gedanke gereift, ihre Schwäche mit Ulrichs Schwäche durch die Vermittlung ihres Gatten zu vereinen, und diese sehnsüchtige Vorstellung hatte die tröstende Kraft einer vom Rechtsgefühl gesegneten Sinnlichkeit. Aber als sie sich ihrem guten Gatten damit näherte, war dieser über ihre juridische Entbranntheit erstaunt, obwohl er wußte, daß sie sich leicht für alles menschlich Gute und Hohe begeistere; und da er nicht nur Richter, sondern auch Jäger war, antwortete er gutmütig abweisend, daß es einzig das Richtige sei, das Raubzeug allerorten ohne viel Sentimentalität auszurotten, und ließ sich auf weitere Auskünfte nicht ein. Bei einem zweiten Versuch, den sie einige Zeit später unternahm, erfuhr Bonadea von ihm nur die zusätzliche Meinung, daß er das Gebären für Frauensache, das Töten aber für eine Männerangelegenheit halte, und da sie sich in dieser gefährlichen Frage nicht durch zu große Beflissenheit verdächtigen durfte, war ihr damit der Weg des Rechts vorläufig verschlossen. So war sie auf den Weg der Gnade gelangt, der einzig übrig blieb, wenn sie zu Ulrichs Freude etwas für Moosbrugger ausrichten sollte, und dieser Weg führte, man kann nicht einmal sagen überraschenderweise, eher anziehenderweise, über Diotima.
Sie sah sich im Geiste als Diotimas Freundin und erfüllte sich den Wunsch, die bewunderte Rivalin um der unaufschieblichen Sache willen kennenlernen zu müssen, selbst wenn sie zu stolz sein sollte, es aus persönlichem Bedürfnis zu tun. Sie hatte sich vorgenommen, sie für Moosbrugger zu gewinnen, was Ulrich, wie sie gleich erraten hatte, offenbar nicht gelang, und ihre Phantasie malte es ihr in schönen Bildern aus. Die marmorne große Diotima legte ihren Arm um die warme, sündengebeugte Schulter Bonadeas, und Bonadea erwartete für sich ungefähr die Rolle, dieses himmlisch unberührte Herz mit einem Tropfen Hinfälligkeit zu salben. Dies war der Plan, den sie ihrem verlorenen Freund auseinandersetzte.
Aber Ulrich war an diesem Tag für den Gedanken, Moosbrugger zu retten, in keiner Weise zu gewinnen. Er kannte die edlen Gefühle Bonadeas und wußte, wie leicht bei ihr aus dem Aufflammen einer einzelnen schönen Regung die Panik einer den ganzen Körper ergreifenden Feuersbrunst wurde. Er erklärte ihr, daß er nicht im geringsten die Absicht habe, sich in das Verfahren einzumengen, das man Moosbrugger mache.
Bonadea sah ihn mit gekränkten schönen Augen an, in denen das Wasser über dem Eis schwamm wie an der Grenze zwischen Frühjahr und Winter.
Nun hatte Ulrich niemals ganz eine gewisse Dankbarkeit für ihre kindisch schöne erste Begegnung in jener Nacht verloren, wo er ohn mächtig auf dem Pflaster lag, Bonadea zu seinen Häupten hockte und die unsichere, abenteuerliche Unbestimmtheit der Welt, der Jugend und der Gefühle aus den Augen dieser jungen Frau in sein erwachendes Bewußtsein träufelte. Er suchte also die kränkende Abweisung zu lindern und in ein längeres Gespräch aufzulösen. »Nimm an,« schlug er vor »du gehst nachts durch einen weiten Park, und es machen sich zwei Strolche an dich heran: würdest du daran denken, daß es bedauernswerte Menschen sind, an deren Roheit die Gesellschaft schuld hat?«
»Aber ich gehe nie nachts durch einen Park« erwiderte Bonadea sofort.
»Aber wenn ein Schutzmann daherkäme, würdest du die zwei doch verhaften lassen?«
»Ich würde ihn ersuchen, mich zu schützen!«
»Das heißt doch, daß er sie verhaftet?!«
»Das weiß ich nicht, was er dann mit ihnen tut. Übrigens ist Moosbrugger kein Strolch.«
»Also dann nimm an, er arbeite als Tischler in deiner Wohnung. Du bist mit ihm allein im Haus, und er fängt an, so hin und her rutschende Augen zu machen.«
Bonadea verwahrte sich. »Das ist doch abscheulich, was du von mir verlangst!«
»Sicher« sagte Ulrich. »Aber ich will dir ja zeigen, daß solche leicht aus dem Gleichgewicht geratende Menschen äußerst unangenehm sind. Unparteilichkeit darf man sich ihnen gegenüber eigentlich nur erlauben, wenn die Schläge ein anderer kriegt. Dann allerdings fordern sie unsere äußerste Zartheit heraus und sind die Opfer einer Gesellschaftsordnung oder des Schicksals. Du mußt zugeben, daß niemand für seine Fehler kann, wenn man sie mit seinen eigenen Augen betrachtet; sie sind für ihn im schlimmsten Fall Irrtümer oder schlechte Eigenschaften an einem Ganzen, das ihrethalben nicht weniger gut wird, und natürlich hat er vollkommen recht!«
Bonadea hatte etwas an ihrem Strumpf zu richten und fühlte sich gezwungen, Ulrich mit etwas zurückgeneigtem Kopf dabei anzusehen, so daß sich am Knie, unbeaufsichtigt von ihrem Auge, ein gegensatzreiches Leben von spitzen Säumen, glattem Strumpf, gespannten Fingern und sanft entspanntem Perlenschmelz der Haut entwickelte.
Ulrich zündete sich rasch eine Zigarette an und fuhr fort: »Der Mensch ist nicht gut, sondern er ist immer gut; das ist ein gewaltiger Unterschied, verstehst du? Man lächelt über diese Sophistik der Eigenliebe, aber man sollte aus ihr die Folgerung ableiten, daß der Mensch überhaupt nichts Böses tun kann; er kann nur bös wirken. Mit dieser Erkenntnis wären wir am rechten Ausgangspunkt einer sozialen Moral.«
Bonadea streifte mit einem Seufzer ihren Rock wieder an die rechte Stelle zurück, richtete sich auf und suchte sich mit einem Schluck von dem matten Goldfeuer zu beruhigen.
»Und nun will ich dir erklären,« setzte Ulrich lächelnd hinzu »warum man für Moosbrugger wohl allerhand fühlen, aber trotzdem nichts tun kann. Im Grunde gleichen alle diese Fälle einem herausstehenden Fadenende, und wenn man daran zieht, beginnt sich das ganze Gesellschaftsgewebe aufzutrennen. Ich werde dir das zunächst an rein verstandesmäßigen Fragen zeigen.«
Bonadea verlor auf unaufgeklärte Weise einen Schuh. Ulrich bückte sich danach, und der Fuß kam mit den warmen Zehen dem Schuh in seiner Hand entgegen wie ein kleines Kind. »Laß nur, laß, ich mache es selbst!« sagte Bonadea, während sie ihm den Fuß hinhielt.
»Da sind zuerst die psychiatrisch-juridischen Fragen« erklärte Ulrich unerbittlich weiter, während ihm aus dem Bein der Hauch der verminderten Zurechnungsfähigkeit in die Nase stieg. »Diese Fragen, von denen wir wissen, daß die Ärzte beinahe jetzt schon so weit sind, daß sie die meisten solcher Verbrechen verhindern könnten, wenn wir nur die dazu nötigen Geldmittel aufwenden wollten. Das ist also nur noch eine soziale Frage.«
»Ach, weißt du, die laß!« bat Bonadea, als er nun schon zum zweitenmal sozial sagte. »Wenn davon gesprochen wird, geh ich zu Hause aus dem Zimmer; das langweilt mich zu Tod.«
»Nun gut,« lenkte Ulrich ein »ich habe sagen wollen, wie die Technik aus Kadavern, Unrat, Bruch und Giften längst schon nützliche Dinge bereitet, könnte dies fast auch schon der psychologischen Technik gelingen. Aber die Welt läßt sich mit der Lösung dieser Fragen unmäßig viel Zeit. Der Staat gibt Geld für jede Dummheit her, für die Lösung der wichtigsten moralischen Fragen hat er aber nicht einen Kreuzer übrig. Das liegt in seiner Natur, denn der Staat ist das dümmste und boshafteste Menschenwesen, das es gibt.«
Er sagte es mit Überzeugung; aber Bonadea suchte ihn zum Kern der Sache zurückzubringen. »Liebster,« sagte sie schmachtend »es ist doch gerade das Beste für Moosbrugger, daß er unverantwortlich ist!?«
»Es wäre wahrscheinlich wichtiger, etliche Verantwortliche umzubringen, als einen Unverantwortlichen vor dem Umgebrachtwerden zu schützen!« wehrte Ulrich ab.
Er ging jetzt nahe vor ihr auf und ab. Bonadea fand ihn revolutionär und zündend; es gelang ihr, seine Hand einzufangen, und sie legte sie sich auf den Busen.
»Gut,« sagte er »ich werde dir jetzt die gefühlsmäßigen Fragen erklären.«
Bonadea entfaltete seine Finger und breitete seine Hand auf ihrer Brust aus. Der begleitende Blick würde ein steinernes Herz gerührt haben; Ulrich glaubte in den nächsten Augenblicken zwei Herzen in der Brust zu fühlen, wie in einem Uhrmacherladen die Uhrschläge durcheinanderwimmeln. Mit dem Aufgebot aller Willenskraft brachte er die Brust in Ordnung und sagte sanft: »Nein, Bonadea!«
Bonadea war nun den Tränen nahe, und Ulrich redete ihr zu. »Ist es denn nicht widerspruchsvoll, daß du dich wegen dieser einen Sache aufregst, weil ich dir zufällig davon erzählt habe, während du von den Millionen ebenso großer Ungerechtigkeiten, die täglich geschehn, nichts merkst?«
»Aber das hat doch damit gar nichts zu tun« verwahrte sich Bonadea. »Das eine weiß ich nun eben! Und ich wäre ein schlechter Mensch, wenn ich ruhig bliebe!«
Ulrich meinte, daß man ruhig zu bleiben habe; geradezu stürmisch ruhig,– fügte er hinzu. Er hatte sich losgemacht und in einiger Entfernung vor Bonadea niedergesetzt. »Alles geschieht heute ›inzwischen‹ und ›einstweilen‹,« bemerkte er »das muß so sein. Denn wir werden von der Gewissenhaftigkeit unseres Verstandes zu einer entsetzlichen Gewissenlosigkeit unseres Gemüts gezwungen.« Nun hatte er auch sich noch einmal Whisky eingeschenkt und die Beine auf den Diwan gezogen. Er fing an, müde zu werden. »Jeder Mensch denkt ursprünglich über das ganze Leben nach,« erklärte er »aber je genauer er nachdenkt, desto mehr engt sich das ein. Wenn er reif ist, hast du einen Menschen vor dir, der sich auf einem bestimmten Quadratmillimeter so gut auskennt wie in der ganzen Welt höchstens zwei Dutzend anderer Menschen, der genau sieht, wie alle Menschen, die sich nicht so genau auskennen, Unsinn über seine Angelegenheit reden, und sich doch nicht rühren darf, denn wenn er seinen Platz nur um einen Mikromillimeter verläßt, redet er selbst Unsinn.« Seine Müdigkeit war jetzt dünngolden wie das Getränk, das am Tisch stand. »Auch ich rede also schon eine halbe Stunde lang Unsinn« dachte er; aber dieser herabgeminderte Zustand war angenehm. Er fürchtete bloß das eine, daß Bonadea auf den Einfall kommen könnte, sich zu ihm zu setzen. Dagegen gab es nur ein Mittel: reden. Er hatte den Kopf aufgestützt und lag ausgestreckt da wie die Grabfiguren in der Mediceerkapelle. Mit einemmal fiel ihm das ein, und wirklich, während er diese Stellung einnahm, floß Großartigkeit durch seinen Körper, ein Schweben in ihrer Ruhe, und er kam sich gewaltiger vor, als er war; zum erstenmal glaubte er, aus der Ferne, diese Kunstwerke zu verstehen, die er bis dahin nur wie fremde Dinge angesehen hatte. Und statt zu reden, schwieg er. Auch Bonadea fühlte etwas. Es war ein »Augenblick«, wie man das nennt, was man nicht bezeichnen kann. Etwas schauspielerisch Gehobenes vereinigte die beiden, die plötzlich stumm wurden.
»Was ist von mir übrig geblieben?« dachte Ulrich bitter. »Vielleicht ein Mensch, der tapfer und unverkäuflich ist und sich einbildet, daß er um der Freiheit des Inneren willen nur wenige äußere Gesetze achtet. Aber diese Freiheit des Inneren besteht darin, daß man sich alles denken kann, daß man in jeder menschlichen Lage weiß, warum man sich nicht an sie zu binden braucht, und niemals weiß, wovon man sich binden lassen möchte!« In diesem wenig glücklichen Augenblick, wo sich die sonderbare kleine Gefühlswelle, die ihn für eine Sekunde gefaßt hatte, wieder auflöste, wäre er bereit gewesen, zuzugeben, daß er nichts besitze als eine Fähigkeit, an jeder Sache zwei Seiten zu entdecken, jene moralische Ambivalenz, die fast alle seine Zeitgenossen auszeichnete und die Anlage seiner Generation bildete oder auch deren Schicksal. Seine Beziehungen zur Welt waren blaß, schattenhaft und verneinend geworden. Welches Recht hatte er, Bonadea schlecht zu behandeln? Es war immer das gleiche ärgerliche Gespräch, das sich zwischen ihnen wiederholte. Es entstand aus der inneren Akustik der Leere, in der ein Schuß doppelt so laut widerhallt und nicht aufhört zu rollen; es beschwerte ihn, daß er zu ihr gar nicht mehr anders sprechen konnte als in dieser Art, für deren besondere Qual, die sie beiden bereitete, ihm der halbsinnig hübsche Name Barock der Leere einfiel. Und er richtete sich auf, um ihr etwas Liebenswürdiges zu sagen. »Mir ist jetzt etwas aufgefallen« wandte er sich an Bonadea, die noch immer in würdiger Weise dasaß. »Es ist eine komische Sache. Ein merkwürdiger Unterschied: Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie!«
Bonadea erwiderte etwas sehr Bedeutendes. »Ach du!« erwiderte sie. Das war die einzige Unterbrechung, und das Schweigen schloß sich wieder.
Wenn Ulrich in ihrer Gegenwart von allgemeinen Dingen sprach, so mochte sie es nicht. Sie fühlte sich mit Recht bei allen ihren Fehltritten doch immer inmitten einer Menge ihr ähnlicher Menschen und hatte ein richtiges Empfinden für das Ungesellige, Übertriebene und Einsame seiner Art, sie mit Gedanken, statt mit Gefühlen zu bewirten. Immerhin hatten sich in ihr dabei Verbrechen, Liebe und Traurigkeit jetzt zu einem Ideenkreis vereint, der höchst gefährlich war. Ulrich kam ihr nun beiweitem nicht mehr so einschüchternd und vollkommen vor wie beim Beginn des Wiedersehns; aber zur Entschädigung hatte er etwas Knabenhaftes gewonnen, das ihren Idealismus aufregte wie ein Kind, das sich an etwas nicht vorbeitraut, um seiner Mutter ans Herz zu eilen. Sie empfand schon die längste Zeit eine aufgelockerte, nicht in Rand noch in Band gefaßte Zärtlichkeit für ihn. Aber seit Ulrich ihre erste Andeutung davon abgewiesen hatte, legte sie sich gewaltsam Zurückhaltung auf. Sie hatte die Erinnerung, wie sie bei ihrem letzten Besuch hier entkleidet und hilflos auf seinem Diwan gelegen war, noch nicht verwunden und hatte sich vorgenommen, wenn es sein müßte, lieber mit Hut und Schleier bis zum Ende auf ihrem Stuhl sitzen zu bleiben, damit er verstehen lerne, daß er jemand vor sich habe, der sich nötigenfalls ebenso zu beherrschen wisse wie die Rivalin Diotima. Bonadea vermißte immer zu der großen Erregung, in die sie durch die Nähe eines Liebhabers geriet, die große Idee; freilich ist das etwas, das man leider vom ganzen Leben sagen könnte, das viel Erregung und wenig Sinn hat, aber Bonadea wußte das nicht, und sie suchte irgendeine Idee zu äußern. An denen Ulrichs fehlte ihr die Würde, die sie nötig hatte, und es ist wahrscheinlich, daß sie eine schönere und gefühlvollere suchte. Aber ideales Zögern und gemeine Anziehung, Anziehung und eine schreckliche Angst, vorzeitig angezogen zu werden, mischten sich dabei mit dem Antrieb des Schweigens, in dem die versagten Handlungen zuckten, und der Erinnerung an die große Ruhe, die sie für eine Sekunde mit ihrem Geliebten verbunden hatte. Schließlich war das so, wie wenn ein Regen in der Luft hängt und es kann nicht regnen: eine Benommenheit, die sich über die ganze Haut ausbreitete und Bonadea mit der Vorstellung schreckte, sie könnte die Beherrschung verlieren, ohne es zu merken.
Und plötzlich zuckte eine körperliche Illusion daraus hervor, ein Floh. Bonadea wußte nicht, ob er Wirklichkeit oder Einbildung war. Sie fühlte einen Schauer im Gehirn, einen unglaubwürdigen Eindruck, als ob sich dort eine Vorstellung aus der schattenhaften Gebundenheit der übrigen losgemacht hätte, aber doch nur eine Einbildung wäre; und zugleich einen unbezweifelbaren, wirklichkeitsgetreuen Schauer auf der Haut. Sie hielt den Atem an. Wenn etwas, tripp trapp, die Treppe heraufkommt, und man weiß, die Treppe ist leer, und doch hört man ganz deutlich tripp trapp, ist es so. Bonadea begriff wie von einem Blitz erhellt, daß das eine unfreiwillige Fortsetzung des verlorenen Schuhes sei. Es bedeutete ein verzweifeltes Auskunftsmittel für eine Dame. Dennoch fühlte sie in dem Augenblick, wo sie den Spuk bannen wollte, einen heftigen Stich. Sie kreischte leise auf, bekam hochrote Wangen und forderte Ulrich auf, ihr suchen zu helfen. Ein Floh bevorzugt die gleichen Gegenden wie ein Liebhaber; der Strumpf wurde bis zum Schuh untersucht, die Bluse mußte an der Brust geöffnet werden. Bonadea erklärte daß er von der Straßenbahn käme oder von Ulrich gekommen sei. Aber er war nicht zu finden und hatte keine Spuren hinterlassen.
»Ich weiß nicht, was das war!« sagte Bonadea.
Ulrich lächelte unerwartet freundlich.
Da fing Bonadea wie ein kleines Mädchen, das sich schlecht aufgeführt hat, zu weinen an.

General Stumm von Bordwehr hatte Diotima seine Aufwartung gemacht. Das war jener Offizier, den das Kriegsministerium in die große gründende Sitzung entsandt hatte, wo er eine Rede hielt, die auf alle Eindruck machte, ohne aber hindern zu können, daß bei der Aufstellung der Ausschüsse für das große Friedenswerk, die nach dem Muster der Ministerien geschah, das Ministerium des Krieges aus naheliegenden Gründen übergangen wurde. – Er war ein nicht sehr stattlicher General mit einem kleinen Bauch und einer kleinen Lippenbürste an der Stelle des Schnurrbarts. Sein Gesicht war rund und hatte etwas von Familienkreis bei Abwesenheit jedes Vermögens über das in der Heiratsvorschrift für Truppenoffiziere geforderte hinaus. Er sagte zu Diotima, dem Soldaten sei im Beratungszimmer eine bescheidene Rolle angemessen. Es verstehe sich überdies aus politischen Rücksichten von selbst, daß das Kriegsministerium bei der Bildung der Ausschüsse nicht berücksichtigt werden konnte. Dennoch wage er zu behaupten, die geplante Aktion solle nach außen wirken, was aber nach außen wirke, sei die Macht eines Volks. Er wiederholte, daß der berühmte Philosoph Treitschke gesagt habe, Staat sei die Macht, sich im Völkerkampf zu erhalten. Die Kraft, die man im Frieden entfalte, halte den Krieg fern oder kürze seine Grausamkeit zumindest ab. Er sprach noch eine Viertelstunde lang, bediente sich einiger klassischer Zitate, an die er sich, wie er hinzufügte, noch aus der Gymnasialzeit mit Vorliebe erinnerte, und behauptete, daß diese Jahre des humanistischen Studiums die schönsten seines Lebens gewesen seien; suchte Diotima fühlen zu lassen, daß er sie bewundere und von der Art, wie sie die große Sitzung geleitet habe, entzückt gewesen sei; wollte nur noch einmal wiederholen, daß recht verstanden ein Ausbau der Wehrmacht, die hinter der anderer Großstaaten weit zurückstehe, die ausdrucksvollste Bekundung friedlicher Gesinnung bedeuten könnte, und erklärte im übrigen, vertrauensvoll zu erwarten, daß eine breite, volkstümliche Teilnahme an den Fragen des Heeres von selbst kommen werde.
Dieser liebenswürdige General versetzte Diotima in tödlichen Schreck. Es gab damals in Kakanien Familien, wo Offiziere verkehrten, weil ihre Töchter Offiziere heirateten, und Familien, deren Töchter Offiziere nicht heirateten, entweder weil kein Geld für die Heiratskaution vorhanden war oder aus Grundsatz, so daß dort auch keine Offiziere verkehrten; Diotimas Familie hatte aus beiden Gründen zu der zweiten Sorte gehört, und die Folge war, daß die gewissenhaft schöne Frau eine Vorstellung vom Militär mit ins Leben nahm, ungefähr so wie die Vorstellung eines mit bunten Lappen behängten Todes. Sie erwiderte, es gebe so viel Großes und Gutes auf der Welt, daß die Wahl nicht leicht falle. Es sei ein großer Vorzug, inmitten eines materialistischen Treibens der Welt ein großes Zeichen geben zu dürfen, aber auch eine schwere Pflicht. Und schließlich solle die Kundgebung aus der Mitte des Volks selbst aufsteigen, weshalb sie ihre eigenen Wünsche ein wenig zurückstellen müsse. Sie setzte ihre Worte sorgfältig, wie mit schwarzgelben Bindfäden geheftet, und verbrannte sanfte Räucherwerkworte der hohen Bürokratie auf ihren Lippen.
Aber als der General sich verabschiedet hatte, brach das Innere der hohen Frau ohnmächtig zusammen. Wenn sie eines so niederen Gefühls wie Hasses fähig gewesen wäre, würde sie diesen rundlichen kleinen Mann mit den schwänzelnden Augen und den Goldknöpfen am Bauch gehaßt haben, aber da ihr das unmöglich blieb, empfand sie eine dumpfe Beleidigung und konnte sich nicht sagen, warum. Sie öffnete trotz der Winterkälte die Fenster und rauschte mehrmals im Zimmer auf und ab. Als sie die Fenster wieder schloß, hatte sie Tränen in den Augen. Sie war sehr erstaunt. Das geschah nun schon zum zweitenmal, daß sie grundlos weinte. Sie erinnerte sich an die Nacht, wo sie an der Seite ihres Gatten Tränen vergossen hatte, ohne eine Erklärung dafür zu besitzen. Diesmal war das lediglich Nervöse des Vorgangs, dem kein Inhalt entsprach, noch deutlicher; dieser dicke Offizier trieb ihr die Tränen aus den Augen wie eine Zwiebel, ohne daß ein vernünftiges Gefühl mitsprach. Mit Recht wurde sie davon beunruhigt; eine ahnungsvolle Angst sagte ihr, daß irgendein unsichtbarer Wolf um ihre Hürden schleiche und daß es hoch an der Zeit sei, ihn durch die Macht der Idee zu bannen. Auf diese Weise kam es, daß sie sich nach dem Besuch des Generals vornahm, mit größter Beschleunigung die in Aussicht genommene Versammlung großer Geister zustandezubringen, die ihr behilflich sein sollte, der patriotischen Aktion einen Inhalt zu sichern.

Es erleichterte Diotimas Herz, daß Arnheim gerade von einer Reise zurückgekehrt war und ihr zur Verfügung stand.
»Ich habe erst vor einigen Tagen mit Ihrem Vetter ein Gespräch über Generäle gehabt« erwiderte er sofort und machte diese Mitteilung mit der Miene eines Mannes, der einen bedenklichen Zusammenhang andeutet, ohne angeben zu wollen, worum es sich handle. Diotima empfing den Eindruck, daß ihr widerspruchsvoller, von der großen Idee der Aktion wenig begeisterter Vetter auch noch die unklaren Gefahren begünstige, die vom General ausgingen, und Arnheim fuhr fort:
»Ich möchte es in Gegenwart Ihres Vetters nicht dem Spott aussetzen,« mit diesen Worten leitete er eine neue Wendung ein »aber es liegt mir daran, Sie etwas fühlen zu lassen, worauf Sie als Fernestehende kaum von selbst kommen könnten: den Zusammenhang zwischen Geschäft und Dichtung. Ich meine natürlich das Geschäft im großen, das Weltgeschäft, wie ich es durch die Stelle, auf der ich geboren, zu betreiben bestimmt worden bin; es ist verwandt mit der Dichtung, es besitzt irrationale, ja geradezu mystische Seiten; ich möchte sogar sagen, besonders das Geschäft besitzt sie. Sehen Sie wohl, das Geld ist eine außerordentlich unduldsame Macht.«
»In allem, was Menschen mit dem Einsatz ihrer ganzen Person betreiben, liegt wahrscheinlich eine gewisse Unduldsamkeit« antwortete Diotima, die noch dem unvollendeten ersten Teil des Gesprächs nachhing, mit einigem Zögern.
»Besonders im Geld!« sagte Arnheim rasch. »Törichte Menschen bilden sich ein, Geld zu besitzen sei Genuß! Es ist in Wahrheit eine unheimliche Verantwortung. Ich will nicht von den zahllosen Existenzen sprechen, die von mir abhängen, so daß ich für sie fast das Schicksal vertrete; lassen Sie mich bloß davon sprechen, daß mein Großvater mit einem Müllabfuhrgeschäft in einer rheinischen Mittelstadt begonnen hat.«
Bei diesen Worten fühlte Diotima wirklich einen plötzlichen Schauer, der ihr wie wirtschaftlicher Imperialismus vorkam; es war das aber eine Verwechslung, denn sie entbehrte nicht ganz der Vorurteile ihres Gesellschaftskreises, und da sie bei Müllabfuhrgeschäft in der Sprechweise ihrer Heimat an den Mistbauer gedacht hatte, machte sie das mutige Bekenntnis ihres Freundes erröten.
»In diesem Veredlungsverkehr für Abfälle« fuhr der Bekenner fort »hat mein Großvater den Grund zum Einfluß der Arnheims gelegt. Aber noch mein Vater erscheint als Selfmademan, wenn man bedenkt, daß er in vierzig Jahren diese Firma zum Welthaus ausgeweitet hat. Er hat nicht mehr als zwei Klassen einer Handelsschule durchgemacht, aber durchschaut mit einem Blick die verwickeltsten Weltverhältnisse und weiß alles, was er zu wissen braucht, früher als es andere Leute wissen. Ich habe Nationalökonomie und alle erdenklichen Wissenschaften studiert, aber ihm sind sie ganz unbekannt, und man kann in keiner Weise erklären, wie er das macht, aber es mißlingt ihm nie das geringste. Das ist das Geheimnis des kraftvollen, einfachen, großen und gesunden Lebens!«
Arnheims Stimme, wie er von seinem Vater sprach, hatte einen ungewöhnlichen, ehrfürchtigen Ton angenommen, als hätte ihre dozierende Ruhe irgendwo einen kleinen Sprung. Es fiel Diotima umsomehr auf, als ihr Ulrich erzählt hatte, daß man den alten Arnheim einfach als einen kleinen, breitschultrigen Kerl schildere, mit einem knochigen Gesicht und einer Knopfnase, der immer einen weit offenen Schwalbenschwanz trage und mit seinem Aktienbesitz so zäh und umsichtig verfahre wie ein Schachspieler mit seinen Bauern. Und ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr Arnheim nach einer kleinen Pause fort: »Wenn ein Geschäft eine Ausbreitung erreicht wie die ganz wenigen, von denen ich hier spreche, so gibt es kaum eine Angelegenheit des Lebens, mit der es nicht verflochten wäre. Es ist ein Kosmos im kleinen. Sie würden staunen, wenn Sie wüßten, welche scheinbar ganz unkommerziellen Fragen, künstlerische, moralische, politische, ich zuweilen in den Unterredungen mit dem Seniorchef zur Sprache bringen muß. Aber die Firma schießt nicht mehr so in die Höhe wie in den Anfangszeiten, die ich die heroischen nennen möchte. Es gibt auch für Geschäfte trotz allen Wohlergehens eine geheimnisvolle Grenze des Wachstums wie für alles Organische. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum über Elefantengröße heute kein Tier mehr hinauswächst? Sie finden das gleiche Geheimnis in der Geschichte der Kunst und in den sonderbaren Beziehungen des Lebens von Völkern, Kulturen und Zeiten.«
Diotima bereute jetzt, daß sie vor dem Veredelungsverkehr für Abfälle zurückgeschaudert war, und fühlte sich verwirrt.
»Von solchen Geheimnissen ist das Leben voll. Es gibt etwas, wogegen aller Verstand ohnmächtig ist. Mein Vater ist damit im Bunde. Aber ein Mensch wie Ihr Vetter,« sagte Arnheim »ein Aktivist, der immer den Kopf voll davon hat, wie die Dinge anders und besser zu machen wären, hat kein Empfinden dafür.«
Diotima drückte, als Ulrichs Name noch einmal vorkam, durch ein Lächeln aus, daß ein Mann wie ihr Vetter keineswegs Anspruch habe, auf sie Einfluß auszuüben. Die gleichmäßige, etwas gelbliche Haut Arnheims, die im Gesicht so glatt wie eine Birne war, hatte sich über die Wangen hinaus gerötet. Er hatte einem wunderlichen Bedürfnis nachgegeben, das Diotima seit längerer Zeit in ihm erregte, sich ihr bis ins letzte Unbekannte ungeschützt anzuvertrauen. Nun schloß er sich wieder ein, nahm ein Buch vom Tisch, las seinen Titel, ohne ihn zu entziffern, legte es ungeduldig zurück und sagte mit seiner gewöhnlichen Stimme, die auf Diotima in diesem Augenblick so erschütternd wirkte wie die Bewegung eines Menschen, der seine Kleider an sich nimmt, woran sie erkannte, daß er nackt gewesen war: »Ich bin weit abgekommen. Was ich Ihnen über den General zu sagen habe, ist, daß Sie nichts Besseres tun können, als so bald wie möglich Ihren Plan zu verwirklichen und durch den Einfluß humanen Geistes und seiner anerkannten Vertreter unsere Aktion zu heben. Aber Sie brauchen auch den General nicht grundsätzlich abzulehnen. Er ist vielleicht persönlich guten Willens, und Sie kennen ja meinen Grundsatz, daß man der Gelegenheit, Geist in eine Sphäre bloßer Macht zu tragen, niemals aus dem Wege gehen soll.«
Diotima ergriff seine Hand und faßte diese Unterredung in den Abschied zusammen: »Ich danke Ihnen für Ihre Aufrichtigkeit!«
Arnheim ließ die milde Hand einen Augenblick lang unentschlossen in der seinen ruhn und starrte nachdenklich darauf, als hätte er etwas zu sagen vergessen.

Ihr Vetter machte sich damals nicht selten das Vergnügen, Diotima die dienstlichen Erfahrungen zu beschreiben, die er an der Seite Sr. Erlaucht sammelte, und legte besonders Wert darauf, ihr immer wieder die Mappen mit den Vorschlägen zu zeigen, die bei Graf Leinsdorf einliefen.
»Mächtige Kusine,« berichtete er, mit einem dicken Aktenstoß in der Hand, »ich kann mir allein nicht mehr helfen; die ganze Welt scheint von uns Verbesserungen zu erwarten, und die eine Hälfte von ihnen beginnt mit den Worten ›Los von…‹, während die andere Hälfte mit den Worten ›Vorwärts zu…‹ beginnt! Ich habe hier Aufforderungen, die von Los von Rom bis Vorwärts zur Gemüsekultur reichen. Wofür wollen Sie sich entscheiden?«
Es war nicht leicht, in die Wünsche, welche die Mitwelt an Graf Leinsdorf richtete, Ordnung zu bringen, aber zwei Gruppen hoben sich aus den Zuschriften durch ihren Umfang hervor. Die eine machte für den Mißstand der Zeit eine bestimmte Einzelheit verantwortlich und verlangte ihre Beseitigung, und solche Einzelheiten waren nichts geringeres als die Juden oder die römische Kirche, der Sozialismus oder der Kapitalismus, die mechanistische Denkweise oder die Vernachlässigung der technischen Entwicklung, die Rassenmischung oder die Rassenentmischung, der Großgrundbesitz oder die Großstädte, die Intellektualisierung oder der ungenügende Volksunterricht. Die andere Gruppe dagegen bezeichnete ein vorausliegendes Ziel, das zu erreichen vollkommen genügen würde, und sie unterschieden sich, diese erstrebenswerten Ziele der zweiten, von den zerstörungswerten Einzelheiten der ersten Gruppe gewöhnlich durch nichts als durch das Gefühlsvorzeichen des Ausdrucks, offenbar, weil es in der Welt eben kritische und bejahende Naturen gibt. So ließen denn die Zuschriften der zweiten Gruppe etwa mit freudiger Verneinung verlauten, daß man mit dem lächerlichen Kultus der Künste endlich brechen möge, weil das Leben ein größerer Dichter sei als alle Skribenten, und forderten Sammlungen von Gerichtssaalberichten und Reisebeschreibungen zu allgemeinem Gebrauch; wogegen im gleichen Fall die Zuschriften der ersten Gruppe mit freudiger Bejahung behaupteten, daß das Gipfelgefühl der Bergfahrer über alle Erhebungen der Kunst, Philosophie und Religion hinausreiche, weshalb man statt dieser lieber Alpenvereine fördern solle. In solcher doppelwegigen Weise wurde Verlangsamung des Zeittempos ebenso gefordert wie ein Preisausschreiben für das beste Feuilleton, weil das Leben unerträglich oder köstlich kurz sei, und man wünschte die Befreiung der Menschheit durch und von Gartensiedlungen, Entsklavung der Frau, Tanz, Sport oder Wohnkultur ebenso wie durch unzählig anderes von unzählig anderem.
Ulrich klappte die Mappe zu und begann ein Privatgespräch. »Mächtige Kusine,« sagte er »es ist eine verwunderliche Erscheinung, daß die eine Hälfte das Heil in der Zukunft sucht und die andere in der Vergangenheit. Ich weiß nicht, was man daraus schließen soll. Se. Erlaucht würde sagen, daß die Gegenwart heillos ist.«
»Beabsichtigt Erlaucht etwas Kirchliches?« fragte Diotima.
»Er hat sich augenblicklich zu der Erkenntnis durchgerungen, daß es in der Geschichte der Menschheit kein freiwilliges Zurück gibt. Aber das Erschwerende ist, daß wir ja auch kein brauchbares Vorwärts haben. Gestatten Sie mir, es als eine merkwürdige Lage zu bezeichnen, wenn es weder vorwärts noch zurück geht und der gegenwärtige Augenblick auch als unerträglich empfunden wird.«
Diotima verschanzte sich, wenn Ulrich so sprach, in ihrem hohen Körper wie in einem Turm, der im Reisehandbuch drei Sterne hat.
»Glauben Sie, gnädige Frau, daß irgendein Mensch, der heute für oder gegen eine Sache kämpft,« fragte Ulrich »wenn er morgen durch ein Wunder zum unumschränkten Beherrscher der Welt gemacht würde, noch am gleichen Tag das täte, was er sein Leben lang gefordert hat? Ich bin überzeugt, er würde sich einige Tage Aufschub gönnen.«
Da Ulrich danach eine kleine Pause machte, wandte sich ihm Diotima überraschend zu, ohne zu antworten, und fragte streng: »Aus welchem Grund haben Sie dem General Aussichten auf unsere Aktion gemacht?«
»Welchem General?«
»Dem General von Stumm!«
»Das ist der runde, kleine General aus der großen ersten Sitzung? Ich? Ich habe ihn seither nicht einmal gesehen, geschweige denn ihm etwas in Aussicht gestellt!«
Ulrichs Erstaunen war überzeugend und heischte eine Erklärung. Aber da auch ein Mann wie Arnheim nicht die Unwahrheit sprechen konnte, mußte ein Mißverständnis vorliegen, und Diotima erläuterte, worauf sich ihre Annahme stütze.
»Ich soll also mit Arnheim über General von Stumm gesprochen haben? Auch das niemals!« versicherte Ulrich. »Ich habe mit Arnheim – geben Sie mir, bitte, einen Augenblick Zeit« – er dachte nach, und mit einemmal lachte er. »Das wäre ja sehr schmeichelhaft, wenn Arnheim solches Gewicht auf jedes meiner Worte legen sollte! Ich habe mich in der letzten Zeit mehrmals mit ihm unterhalten, wenn Sie unsere Gegensätze so nennen wollen, und einmal habe ich dabei in der Tat auch von einem General gesprochen, aber von keinem bestimmten und nur nebenbei als Beispiel. Ich habe behauptet, daß ein General, der aus einem strategischen Grund Bataillone in den sicheren Untergang schickt, ein Mörder ist, wenn man ihn in Zusammenhang damit bringt, daß das tausende Söhne von Müttern sind; daß er aber sofort etwas anderes wird, wenn man ihn mit anderen Gedanken in Zusammenhang bringt, zum Beispiel mit der Notwendigkeit von Opfern oder der Gleichgültigkeit des kurzen Lebens. Ich habe auch eine Menge anderer Beispiele benützt. Aber hier müssen Sie mir eine Abschweifung gestatten. Aus sehr naheliegenden Gründen behandelt jede Generation das Leben, das sie vorfindet, als fest gegeben, bis auf das wenige, an dessen Veränderung sie interessiert ist. Das ist nützlich, aber falsch. Die Welt könnte ja in jedem Augenblick auch nach allen Richtungen verändert werden oder doch nach jeder beliebigen; es liegt ihr sozusagen in den Gliedern. Es wäre darum eine eigenartige Weise zu leben, wenn man einmal versuchen würde, sich nicht so zu benehmen wie ein bestimmter Mensch in einer bestimmten Welt, in der, möchte ich sagen, nur ein paar Knöpfe zu verschieben sind, was man Entwicklung nennt; sondern von vornherein so wie ein zum Verändern geborener Mensch, der von einer zum Verändern geschaffenen Welt eingeschlossen wird, also ungefähr so wie ein Wassertröpfchen in einer Wolke. Verachten Sie mich, weil ich wieder undeutlich bin?«
»Ich verachte Sie nicht, aber ich kann Sie nicht verstehn« befahl Diotima; »erzählen Sie mir doch das ganze Gespräch!«
»Nun, Arnheim hat es hervorgerufen; er hat mich angehalten und förmlich zum Gespräch gestellt« begann Ulrich. »›Wir Kaufleute‹, hat er mit einem sehr elementischen Lächeln zu mir gesagt, das zu der ruhigen Haltung, die er sonst beobachtet, etwas in Widerspruch stand, aber doch sehr hoheitsvoll war, ›wir Kaufleute rechnen nicht, wie Sie vielleicht glauben könnten. Sondern wir – ich meine natürlich die führenden Leute; die kleinen mögen immerhin unausgesetzt rechnen – lernen unsere wirklich erfolgreichen Einfälle als etwas betrachten, das jeder Berechnung spottet, ähnlich wie es der persönliche Erfolg des Politikers und schließlich auch der des Künstlers tut.‹ Dann hat er mich gebeten, was er jetzt sagen werde, mit der Nachsicht zu beurteilen, die etwas Irrationales beanspruchen dürfe. Er mache sich seit dem ersten Tag, wo er mich gesehen habe, gewisse Gedanken über mich, hat er mir anvertraut, und Sie, gnädigste Kusine, sollen ihm allerdings auch manches von mir erzählt haben, aber er hätte es gar nicht erst zu hören brauchen, versicherte er, und er hat mir erklärt, daß ich merkwürdigerweise einen ganz abstrakten, begrifflichen Beruf erwählt habe, denn so sehr ich auch dafür begabt sein könne, ginge ich doch irre, indem ich Wissenschafter sei, und meine wesentliche Begabung liege, wenn mich das auch wundern möge: im Gebiet des Handelns und der persönlichen Wirkung!«
»So?« sagte Diotima.
»Ich bin ganz Ihrer Meinung« beeilte sich Ulrich zu erwidern. »Ich bin für nichts unbegabter wie für mich selbst.«
»Sie spötteln immer, statt sich dem Leben zu widmen« meinte Diotima, die sich über ihn noch wegen der Mappen ärgerte.
»Arnheim behauptet das Gegenteil. Ich habe das Bedürfnis, aus meinem Denken zu gründliche Schlüsse auf das Leben zu ziehn, – behauptet er.«
»Sie spötteln und sind negativistisch; Sie sind immer auf dem Sprung ins Unmögliche und weichen jeder wirklichen Entscheidung aus!« bestimmte Diotima.
»Es ist einfach meine Überzeugung,« erwiderte Ulrich »daß Denken eine Einrichtung für sich ist, und das wirkliche Leben eine andere. Denn der Stufenunterschied zwischen den beiden ist gegenwärtig zu groß. Unser Gehirn ist einige tausend Jahre alt, aber wenn es alles nur halb zu Ende gedacht und zur andern Hälfte vergessen hätte, so wäre sein getreues Abbild die Wirklichkeit. Man kann ihr nur die geistige Teilnahme verweigern.«
»Heißt das nicht, sich die Aufgabe allzu leicht machen?« fragte Diotima ohne beleidigende Absicht, nur so, wie ein Berg auf einen kleinen Bach zu seinen Füßen blickt. »Arnheim liebt auch die Theorien, aber ich glaube, daß er sich wenig durchgehen läßt, ohne es auf alle Zusammenhänge zu prüfen: Meinen Sie denn nicht, daß es der Sinn alles Denkens ist, gedrängte Anwendungsfähigkeit zu sein…?«
»Nein« sagte Ulrich.
»Ich möchte hören, was Ihnen Arnheim darauf geantwortet hat?«
»Er hat mir gesagt, daß der Geist heute ein machtloser Zuschauer der wirklichen Entwicklung ist, weil er den großen Aufgaben, die das Leben stellt, aus dem Weg geht. Er hat mich aufgefordert, zu betrachten, wovon die Künste handeln, welche Kleinlichkeiten die Kirchen erfüllen, wie eng selbst das Blickfeld der Gelehrsamkeit ist! Und ich sollte daran denken, daß währenddessen die Erde buchstäblich aufgeteilt werde. Dann erklärte er mir, daß er gerade davon zu mir habe reden wollen!«
»Und was haben Sie erwidert?« fragte Diotima gespannt, denn sie glaubte zu erraten, daß Arnheim ihrem Vetter wegen dessen teilnahmslosen Verhaltens zu den Fragen der Parallelaktion habe Vorwürfe machen wollen.
»Ich habe ihm erwidert, daß mich das Verwirklichen jederzeit weniger anzieht als das Nichtverwirklichte, und ich meine damit nicht etwa nur das der Zukunft, sondern ebenso sehr das Vergangene und Verpaßte. Es kommt mir vor, daß es unsere Geschichte ist, jedesmal wenn wir von einer Idee einiges weniges verwirklicht haben, in der Freude darüber den größeren Rest von ihr unvollendet stehen zu lassen. Großartige Einrichtungen sind gewöhnlich verpatzte Ideenentwürfe; übrigens auch großartige Personen: das habe ich ihm gesagt. Es war gewissermaßen ein Unterschied in der Richtung der Betrachtung.«
»Das war streitsüchtig von Ihnen!« sagte Diotima gekränkt.
»Er hat mir dafür mitgeteilt, wie ich ihm vorkomme, wenn ich die Tatkraft verleugne um irgendeiner ausständigen gedanklichen Generalregelung willen. Wollen Sie es hören? Wie ein Mann, der sich neben ein für ihn bereitetes Bett auf die Erde legt. Es sei Energievergeudung, also selbst etwas physikalisch Unmoralisches, hat er persönlich für mich hinzugefügt. Er hat mir zugesetzt, doch zu verstehen, daß geistige Ziele von großem Ausmaß nur mit Benützung der heute bestehenden wirtschaftlichen, politischen und nicht zuletzt geistigen Machtverhältnisse zu erreichen seien. Er für seine Person halte es für ethischer, sich ihrer zu bedienen, als sie zu vernachlässigen. Er hat mir sehr zugesetzt. Er hat mich einen sehr aktiven Menschen in Abwehrstellung, in verkrampfter Abwehrstellung genannt. Ich glaube, er hat irgendeinen nicht ganz geheuerlichen Grund, warum er meine Achtung gewinnen will!«
»Er will Ihnen nützen!« rief Diotima strafend aus.
»O nein« meinte Ulrich. »Ich bin vielleicht nur ein kleiner Kiesel, und er ist wie eine prächtige bauchige Glaskugel. Aber ich habe den Eindruck, daß er Angst vor mir hat.«
Diotima antwortete nichts darauf. Das, was Ulrich sprach, mochte anmaßend sein, aber es war ihr eingefallen, daß das Gespräch, das er wiedergegeben hatte, keineswegs ganz so war, wie es nach dem Eindruck, den Arnheim in ihr hervorgerufen hatte, hätte sein müssen. Das beunruhigte sie sogar. Obgleich sie Arnheim eines intriganten Zuges ganz unfähig hielt, gewann Ulrich doch an Vertrauen, und sie richtete die Frage an ihn, was also er in der Angelegenheit des Generals Stumm raten würde.
»Fernhalten!« gab Ulrich zur Antwort, und Diotima konnte sich nicht den Vorwurf ersparen, daß ihr das gut gefiel.

Das Verhältnis Diotimas zu Ulrich hatte sich in dieser Zeit durch das zur Gewohnheit gewordene Beisammensein sehr gebessert. Sie mußten oft gemeinsam ausfahren, um Besuche zu machen, und er kam mehrmals wöchentlich und nicht selten unangekündigt und zu ungebräuchlichen Zeiten zu ihr. Es war ihnen beiden unter diesen Umständen bequem, aus ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis Nutzen zu ziehen und die strengen gesellschaftlichen Vorschriften häuslich zu mildern. Diotima empfing ihn nicht immer im Salon und vom Haarknoten bis zum Rocksaum in Vollendung gepanzert, sondern zuweilen in leichter häuslicher Auflösung, wenn das auch bloß eine sehr vorsichtige Auflösung bedeutete. Es war eine Art Zusammengehörigkeit zwischen ihnen entstanden, die hauptsächlich in der Form des Verkehrs lag; aber Formen haben eine Wirkung nach innen, und die Gefühle, aus denen sie gebildet sind, können durch sie auch geweckt werden.
Ulrich fühlte zuweilen mit aller Eindringlichkeit, daß Diotima sehr schön sei. Sie kam ihm dann wie ein junges, hohes, volles Rind von guter Rasse vor, sicher wandelnd und mit tiefem Blick die trockenen Gräser betrachtend, die es ausrupfte. Er sah sie also auch dann nicht ohne jene Bosheit und Ironie an, die sich durch Vergleiche aus dem Tierreich an Diotimas Geistesadel rächte und aus einem tiefen Zürnen kam; es galt weniger diesem törichten Musterkind als der Schule, in der seine Leistungen Erfolg hatten. »Wie angenehm könnte sie sein,« dachte er »wenn sie ungebildet, nachlässig und so gutmütig wäre, wie es ein großgestalteter warmer weiblicher Körper immer ist, wenn er sich keine besonderen Ideen einbildet!« Die berühmte Gattin des vielberaunten Sektionschefs Tuzzi verflüchtigte sich sodann aus ihrem Körper, und es blieb nur dieser selbst übrig wie ein Traum, der samt Polstern, Bett und Träumendem zu einer weißen Wolke wird, die mit ihrer Zärtlichkeit ganz allein auf der Welt ist.
Kehrte Ulrich aber von einem solchen Ausflug der Einbildungskraft zurück, so sah er einen strebsamen bürgerlichen Geist vor sich, der Verkehr mit adeligen Gedanken suchte. Körperliche Verwandtschaft bei starkem Wesensgegensatz beunruhigt übrigens, und es genügt dazu auch schon die Vorstellung der Verwandtschaft, das Selbstbewußtsein; Geschwister können sich manchmal in einer Weise nicht ausstehen, die weit über alles hinausreicht, was daran gerechtfertigt sein könnte, und bloß davon kommt, daß sie einander schon durch ihr Dasein in Zweifel ziehen und eine leise verzerrende Spiegelwirkung auf einander haben. Es genügte manchmal, daß Diotima ungefähr ebenso groß war wie Ulrich, um den Gedanken zu wecken, daß sie mit ihm verwandt sei, und ihn Abneigung gegen ihren Körper fühlen zu machen. Er hatte ihr da, wenn auch mit einigen Veränderungen, eine Aufgabe übertragen, die sonst sein Jugendfreund Walter innehatte; eigentlich die, seinen Stolz zu demütigen und zu reizen, ähnlich wie uns alte unangenehme Bilder, in denen wir uns wiedersehen, vor uns demütigen und zugleich in unserem Stolz herausfordern. Es ging daraus hervor, daß auch in dem Mißtrauen, das Ulrich Diotima schenkte, etwas Bindendes und Zusammenschließendes, kurz ein Hauch echter Neigung vorhanden sein mußte, so wie die einstige herzliche Zugehörigkeit zu Walter sich noch in der Form des Mißtrauens fortfristete.
Das befremdete Ulrich, da er doch Diotima nicht mochte, lange Zeit sehr, ohne daß er dahinter kommen konnte. Sie machten manchmal gemeinsame kleine Ausflüge; mit Tuzzis Unterstützung wurde das gute Wetter benützt, um Arnheim trotz der ungünstigen Jahreszeit »die Schönheiten der Umgebung Wiens« zu zeigen – Diotima gebrauchte niemals einen anderen Ausdruck dafür als dieses Klischee –, und Ulrich hatte sich in der Rolle einer älteren Verwandten, die den Ehrenschutz besorgt, jedesmal mitgenommen gesehen, da Sektionschef Tuzzi nicht abkömmlich war, und später hatte es sich herausgestellt, daß Ulrich mit Diotima auch allein fuhr, wenn Arnheim verreist war. Dieser hatte für solche Ausflüge, wie dann auch für die unmittelbaren Zwecke der Aktion Wagen zur Verfügung gestellt, so viel man brauchte, denn das Fuhrwerk Sr. Erlaucht war in seiner Wappengeschmücktheit zu stadtbekannt und auffällig; es waren übrigens auch nicht Arnheims eigene Wagen, da reiche Leute immer andere finden, die sich ein Vergnügen daraus machen, ihnen gefällig zu sein.
Solche Ausfahrten dienten nicht nur dem Vergnügen, sondern hatten auch den Zweck, um die Teilnahme einflußreicher oder wohlhabender Personen an dem vaterländischen Unternehmen zu werben, und fanden noch öfter in der städtischen Bannmeile statt als über Land. Die beiden Verwandten sahen gemeinsam viel Schönes; Maria-Theresien-Möbel, Barockpaläste, Menschen, die sich noch auf den Händen ihrer Dienerschaft durch die Welt tragen ließen, neuzeitliche Häuser mit großen Zimmerfluchten, Bankpaläste und die Mischung spanischer Strenge mit den Lebensgewohnheiten des Mittelstands in den Wohnungen hoher Staatsdiener. Im ganzen waren es, was den Adel anging, die Reste einer großen Lebenshaltung ohne fließendes Wasser, und in den Häusern und Konferenzzimmern des bürgerlichen Reichtums wiederholte sich diese als hygienisch verbesserte, geschmackvollere, aber blassere Kopie. Eine Herrenkaste bleibt immer ein wenig barbarisch; Schlacken und Reste, die das Weiterglimmen der Zeit nicht verbrannt hatte, waren in den adeligen Schlössern liegen geblieben, wo sie lagen, knapp neben Prunkstiegen trat der Fuß auf Dielen aus weichem Holz, und abscheuliche neue Möbel standen unbekümmert zwischen wundervollen alten Stücken. Die Klasse der Emporgekommenen dagegen, verliebt in die imposanten und großen Momente ihrer Vorgänger, hatte unwillkürlich eine wählerische und verfeinernde Auslese getroffen. War ein Schloß in bürgerlichem Besitz, so zeigte es sich nicht nur wie ein Familienstück von Kronleuchter, durch das man elektrische Drähte gezogen hat, mit moderner Bequemlichkeit versehen, sondern auch in der Einrichtung war weniger Schönes ausgeschieden und Wertvolles dazu gesammelt worden, entweder nach eigener Wahl oder nach dem unwidersprechlichen Rat von Sachverständigen. Am eindringlichsten zeigte sich diese Verfeinerung übrigens nicht einmal in Schlössern, sondern in den Stadtwohnungen, die zeitgemäß mit dem unpersönlichen Prunk eines Ozeandampfers eingerichtet waren, aber in diesem Lande verfeinerten gesellschaftlichen Ehrgeizes durch einen unwiedergeblichen Hauch, ein kaum merkliches Auseinandergestelltsein der Möbel oder die beherrschende Stellung eines Bildes an einer Wand, das zart deutliche Echo einer großen Verklungenheit bewahrten.
Diotima war entzückt von so viel »Kultur«; sie hatte immer gewußt, daß ihre Heimat solche Schätze berge, aber das Ausmaß überraschte selbst sie. Sie wurden bei Landbesuchen gemeinsam eingeladen, und es fiel Ulrich auf, daß er Obst nicht selten ungeschält aus der Hand essen sah oder ähnliches, während in Großbürgerhäusern das Zeremoniell von Messer und Gabel strenge gewahrt wurde; die gleiche Beobachtung ließ sich auch an der Unterhaltung anstellen, die von vollendeter Distinktion fast nur in Bürgerhäusern war, wogegen in Adelskreisen die bekannte zwanglose, an Kutscher erinnernde Redeweise überwog. Diotima verteidigte das mit Schwärmerei gegen ihren Vetter. Bürgerliche Edelsitze, gab sie zu, seien mit mehr Hygiene und größerer Intelligenz eingerichtet. In den adeligen Landschlössern friere man im Winter; schmale, ausgetretene Treppen seien keine Seltenheit, und muffige, niedrige Schlafräume fänden sich neben prunkvollen Empfangszimmern. Es gebe auch keinen Speisenaufzug und kein Dienerbad. Aber gerade das sei nun einmal in gewissem Sinn das Heroischere, das Ererbte und großartig Nachlässige! schloß sie entzückt.
Ulrich benützte solche Ausfahrten, um dem Gefühl nachzuforschen, das ihn Diotima verband. Aber da alles dabei voll von Abschweifungen war, muß man ihnen ein wenig folgen, ehe man an das Entscheidende herankommt:
Damals trugen die Frauen Kleider, die vom Hals bis zu den Knöcheln geschlossen waren, und den Männern, obgleich sie noch heute ähnliche Kleider tragen wie damals, waren sie zu jener Zeit angemessener, denn sie stellten noch in lebendigem Zusammenhang die tadellose Geschlossenheit und strenge Zurückhaltung nach außen dar, die als Zeichen des Mannes von Welt galt. Die wasserhelle Aufrichtigkeit, sich nackt zur Schau zu stellen, würde selbst einen Menschen, der wenig Vorurteile hatte und in der Würdigung des entkleideten Leibes von keinerlei Scham behindert wurde, damals als ein Rückfall ins Tierische erschienen sein, nicht wegen der Nacktheit, sondern wegen des Verzichtes auf das zivilisierte Liebesmittel der Bekleidung. Ja eigentlich hätte man zu jener Zeit wohl gesagt, unter das Tierische; denn ein dreijähriges Pferd von guter Zucht und ein spielender Windhund sind viel ausdrucksvoller in ihrer Nacktheit, als es ein menschlicher Leib erreichen kann. Dagegen können sie keine Kleider tragen; sie haben nur eine Haut, die Menschen aber hatten damals noch viele Häute. Mit dem großen Kleid, seinen Rüschen, Puffen, Glocken, Glockenfällen, Spitzen und Raffungen hatten sie sich eine Oberfläche geschaffen, die fünfmal so groß war wie die ursprüngliche und einen faltenreichen, schwer zugänglichen, mit erotischer Spannung geladenen Kelch bildete, der in seinem Inneren das schmale weiße Tier
verbarg, das sich suchen ließ und fürchterlich begehrenswert machte. Es war das vorgezeichnete Verfahren, das die Natur selbst anwendet, wenn sie ihre Geschöpfe Bälge sträuben oder Wolken von Dunkelheit ausspritzen heißt, um in Liebe und Schreck die nüchternen Vorgänge, auf die es dabei ankommt, bis zur unirdischen Torheit zu steigern.
Diotima fühlte sich zum erstenmal in ihrem Leben von diesem Spiel, wenn auch in dezentester Weise, tiefer berührt. Koketterie war ihr nicht fremd, denn sie gehörte zu den gesellschaftlichen Aufgaben, die eine Dame beherrschen muß; auch war es ihr nie entgangen, wenn die Blicke junger Männer dabei etwas anderes als Ehrfurcht für sie ausdrückten, ja sie hatte das sogar gern, weil es sie die Macht sanfter weiblicher Zurechtweisung fühlen ließ, wenn sie den wie die Hörner eines Stiers auf sie gerichteten Blick eines Mannes zwang, sich idealen Ablenkungen zuzuwenden, die ihr Mund äußerte. Aber Ulrich, gedeckt durch die verwandtschaftliche Nähe und die Selbstlosigkeit seiner Mithilfe an der Parallelaktion, beschützt auch durch das zu seinen Gunsten errichtete Kodizill, erlaubte sich Freiheiten, die das verästelte Geflecht ihres Idealismus senkrecht durchdrangen. So war es einmal bei einer Ausfahrt über Land vorgekommen, daß der Wagen an entzückenden Tälern vorbeirollte, zwischen denen von dunklen Fichtenwäldern bedeckte Berghänge nahe an die Straße herantraten, und Diotima mit den Versen »Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben…?« darauf hindeutete; sie zitierte diese Verse selbstverständlich als Gedicht, ohne den dazugehörigen Gesang auch nur anzudeuten, denn das wäre ihr verbraucht und nichtssagend erschienen. Aber Ulrich erwiderte: »Die Niederösterreichische Bodenbank. Das wissen Sie nicht, Kusine, daß alle Wälder hier der Bodenbank gehören? Und der Meister, den Sie loben wollen, ist ein bei ihr angestellter Forstmeister. Die Natur hier ist ein planmäßiges Produkt der Forstindustrie, ein reihenweise gesetzter Speicher der Zellulosefabrikation, was man ihr auch ohne weiteres ansehen kann.« Von dieser Art waren sehr oft seine Antworten. Wenn sie von Schönheit sprach, sprach er von einem Fettgewebe, das die Haut stützt. Wenn sie von Liebe sprach, sprach er von der Jahreskurve, die das automatische Steigen und Sinken der Geburtenziffer anzeigt. Wenn sie von den großen Gestalten der Kunst sprach, fing er mit der Kette der Entlehnungen an, die diese Gestalten untereinander verbindet. Es kam eigentlich immer so, daß Diotima zu sprechen begann, als ob Gott den Menschen am siebenten Tag als Perle in die Weltmuschel hineingesetzt hätte, worauf er daran erinnerte, daß der Mensch ein Häuflein von Pünktchen auf der äußersten Rinde eines Zwergglobus sei. Es war nicht ganz einfach zu durchschauen, was Ulrich damit wollte; offenbar galt es jener Sphäre des Großen, der sie sich verbunden fühlte, und Diotima empfand es vor allem als kränkende Besserwisserei. Sie konnte nicht vertragen, daß ihr Vetter, der nun einmal für sie ein Schreckenskind war, etwas besser wissen wolle als sie, und seine materialistischen Einwände, von denen sie nichts verstand, weil er sie aus der niederen Zivilisation des Rechnens und der Genauigkeit holte, ärgerten sie gröblich. – »Es gibt gottlob noch Menschen,« erwiderte sie ihm einmal scharf »die trotz großer Erfahrung an das Einfache zu glauben vermögen!« »Zum Beispiel Ihr Gatte« antwortete Ulrich. »Ich wollte Ihnen schon lange sagen, daß ich ihn beiweitem Arnheim vorziehe!«
Sie hatten damals die Gewohnheit angenommen, ihre Gedanken oft in der Form auszutauschen, daß sie über Arnheim sprachen. Denn wie allen Verliebten, bereitete es Diotima Vergnügen, von dem Gegenstand ihrer Liebe zu reden, ohne sich, wie sie wenigstens glaubte, dabei zu verraten; und weil Ulrich das so unausstehlich fand, wie es für jeden Mann ist, der keine hintergründige Absicht mit seinem eigenen Zurücktreten verbindet, kam es bei solchen Gelegenheiten oft vor, daß er Ausfälle gegen Arnheim machte. Ihn mit diesem verbindend, war ein Verhältnis eigener Art entstanden. Sie begegneten einander, wenn Arnheim nicht verreist war, fast täglich. Ulrich wußte, daß Sektionschef Tuzzi den Fremden beargwöhnte, so wie er selbst dessen Wirkung auf Diotima vom ersten Tag an hatte beobachten können. Zwischen diesen beiden schien es etwas Unrechtes freilich noch nicht zu geben, sofern ein Dritter das beurteilen kann, der in dieser Mutmaßung sehr dadurch bestärkt wurde, daß es unausstehlich viel Rechtes zwischen dem Liebespaar gab, das offenbar den höchsten Vorbildern platonischer Seelengemeinschaft nacheiferte. Dabei bekundete Arnheim eine auffallende Neigung, den Vetter seiner Freundin (oder vielleicht doch Geliebten? – fragte sich Ulrich; für das Wahrscheinlichste hielt er etwas wie Geliebte mehr Freundin, geteilt durch zwei) in das vertrauliche Verhältnis einzubeziehn. Er richtete oft sein Wort an Ulrich in der Weise eines älteren Freundes, die durch den Altersunterschied erlaubt war, aber durch den Unterschied der Stellung einen unangenehmen Zug von Herablassung gewann. Ulrich erwiderte das auch fast immer abweisend und in ziemlich herausfordernder Art, so als wüßte er nicht im geringsten den Verkehr mit einem Mann zu schätzen, der sich, statt mit ihm, mit Königen und Kanzlern über seine Ideen unterhalten konnte. Er widersprach ihm unhöflich oft und ungeziemend ironisch und ärgerte sich selbst über diesen Mangel an Haltung, den er besser durch das Vergnügen schweigender Beobachtung ersetzt haben würde. Aber es geschah zu seinem eigenen Erstaunen, daß er sich durch Arnheim so heftig gereizt fühlte. Er sah den von der Gunst der Verhältnisse gemästeten, vorbildlichen Einzelfall einer geistigen Entwicklung in ihm, die er haßte. Denn dieser berühmte Schriftsteller war klug genug, um die fragwürdige Lage zu begreifen, in die sich der Mensch gebracht hat, seit er sein Bild nicht mehr im Spiegel der Bäche sucht, sondern in den scharfen Bruchflächen seiner Intelligenz; aber dieser schreibende Eisenkönig gab die Schuld daran dem Auftreten der Intelligenz und nicht ihrer Unvollkommenheit. Es lag ein Schwindel in dieser Vereinigung von Kohlenpreis und Seele, die zugleich eine zweckdienliche Trennung dessen war, was Arnheim mit hellem Wissen tat, von dem, was er in dämmeriger Ahnung redete und schrieb. Dazu kam, um noch mehr Unbehagen in Ulrich zu erregen, etwas, das ihm neu war, die Verbindung von Geist mit Reichtum; denn wenn Arnheim annähernd wie ein Spezialist über irgendeine Einzelfrage sprach, um dann plötzlich mit einer lässigen Gebärde die Einzelheiten im Licht eines »großen Gedankens« verschwinden zu lassen, so mochte das wohl einem nicht unberechtigten Bedürfnis entspringen, aber zugleich erinnerte dieses freie Verfügen nach zwei Richtungen an den reichen Mann, der sich alles leistet, was gut und teuer ist. Er war geistreich in einer immer ein wenig an das Verfahren des wirklichen Reichtums gemahnenden Bedeutung. Und vielleicht war es auch das noch nicht, was Ulrich am meisten reizte, dem berühmten Mann Schwierigkeiten zu bereiten, sondern das war vielleicht die Neigung, die dessen Geist zu einer würdigen Hof- und Haushaltung bekundete, die von selbst zur Verbindung mit den besten Marken des Herkömmlichen wie des Ungewöhnlichen führt; denn im Spiegel ihrer genießerischen Kennerschaft sah Ulrich die affektierte Fratze, die das Gesicht der Zeit ist, wenn man daraus die wenigen wirklich starken Züge der Leidenschaft und des Denkens entfernt, und fand darüber kaum Gelegenheit, auf den Mann besser einzugehen, dem man wahrscheinlich auch allerlei Verdienste nachsagen konnte. Es war natürlich ein völlig sinnloser Kampf, den er da führte, in einer Umgebung, die Arnheim von vornherein rechtgab, und für eine Sache, die gar keine Wichtigkeit besaß; bestenfalls hätte man sagen können, daß diese Sinnlosigkeit den Sinn restloser Selbstverschwendung hatte. Es war aber auch ein ganz aussichtsloser Kampf, denn wenn es Ulrich wirklich einmal gelang, seinen Gegner zu verwunden, so mußte er erkennen, daß er die falsche Seite getroffen hatte; gleich einem geflügelten Wesen erhob sich dann, wenn der Geistmensch Arnheim besiegt am Boden zu liegen schien, der Wirklichkeitsmensch Arnheim mit einem nachsichtigen Lächeln und eilte von solcher Gespräche müßigem Wesen zu Taten nach Bagdad oder Madrid.
Diese Unverwundbarkeit ermöglichte es ihm, der Ungezogenheit des jüngeren Mannes jene freundschaftliche Kameradschaft entgegenzusetzen, über deren Ursprung dieser mit sich nicht ins reine kam. Allerdings war Ulrich selbst daran gelegen, seinen Gegner nicht zu sehr herabzusetzen, denn er hatte sich vorgenommen, nicht so leicht wieder eines der halben und unwürdigen Abenteuer zu beginnen, an denen seine Vergangenheit viel zu reich war, und die Fortschritte, die er zwischen Arnheim und Diotima bemerkte, schenkten diesem Vorsatz eine große Sicherheit. Er richtete die Spitzen seiner Angriffe darum gewöhnlich so ein wie die eines Floretts, die biegsam nachgeben und von einer den Stoß freundschaftlich abschwächenden kleinen Hülle umgeben sind. Diesen Vergleich hatte übrigens Diotima gefunden. Es erging ihr verwunderlich mit ihrem Vetter. Sein offenes Gesicht mit der klaren Stirn, seine ruhig atmende Brust, die freie Beweglichkeit in allen seinen Gliedern verrieten ihr, daß bösartige, hämische, umgebogen-wollüstige Bedürfnisse in diesem Körper nicht zu Hause sein konnten; sie war ja auch nicht ganz ohne Stolz auf solche gute Erscheinung eines Mitglieds ihrer Familie und hatte gleich bei Beginn ihrer Bekanntschaft den Entschluß gefaßt, ihn unter ihre Leitung zu nehmen. Hätte er nun schwarze Haare, eine schiefe Schulter, unreine Haut und eine niedere Stirn gehabt, so würde sie gesagt haben, daß seine Anschauungen dazu stimmten; wie er aber in Wirklichkeit aussah, fiel ihr nur eine gewisse Nichtübereinstimmung mit seinen Ansichten auf und machte sich als unerklärliche Beunruhigung fühlbar. Die Tastfäden ihrer berühmten Intuition fahndeten vergeblich nach der Ursache, aber dieses Fahnden bereitete ihr am anderen Fadenende Vergnügen. In gewissem Sinn, natürlich nicht in einem ganz ernsten, unterhielt sie sich sogar mit Ulrich zuweilen lieber als mit Arnheim. Ihr Überlegenheitsbedürfnis fand an ihm mehr Befriedigung, sie hatte sich sicherer in der Hand, und was sie für seine Frivolität, Verstiegenheit oder nicht erlangte Reife hielt, gab ihr eine gewisse Genugtuung, die den täglich gefährlicher werdenden Idealismus ausglich, den sie in ihren Gefühlen für Arnheim unberechenbar anwachsen sah. Seele ist eine furchtbar schwere Angelegenheit und demzufolge Materialismus eine heitere. Die Regelung ihrer Beziehungen zu Arnheim strengte sie manchmal ebensosehr an wie ihr Salon, und die Geringschätzung für Ulrich erleichterte ihr das Leben. Sie begriff sich nicht, stellte aber diese Einwirkung fest, und das ermöglichte es ihr, wenn sie ihrem Vetter wegen einer seiner Bemerkungen zürnte, ihm einen Blick von der Seite zu senden, der nur ein winziges Lächeln im Augenwinkel war, indes das Auge idealistisch ungerührt, ja sogar ein bißchen verächtlich geradeaus blickte.
Jedenfalls, was immer auch die Gründe gewesen sein mögen, verhielten sich Diotima und Arnheim so zu Ulrich wie zwei Kämpfende, die sich an einem Dritten anhalten, den sie in wechselnder Angst zwischen sich schieben, und solche Lage war für ihn nicht ungefährlich, denn durch Diotima wurde dabei die Frage lebendig: müssen Menschen mit ihrem Körper übereinstimmen oder nicht?

Unabhängig von dem, wovon die Gesichter sprachen, schaukelte die Bewegung des Wagens auf ihren langen Fahrten die beiden Verwandten, so daß sich die Kleider berührten, ein wenig übereinanderschoben und wieder voneinander entfernten; man konnte es nur an den Schultern erkennen, weil das andere von einer gemeinsamen Decke verhüllt war, aber die Körper empfanden dieses von den Kleidern gedämpfte Berühren so zart verschwommen, wie man die Dinge in einer Mondnacht sieht. Ulrich war für dieses Kunstspiel der Liebe nicht unempfänglich, ohne es sonderlich ernst zu nehmen. Das überfeinerte Übertragen des Begehrens vom Leib auf die Kleidung, von der Umarmung auf die Widerstände oder mit einem Wort vom Ziel auf den Weg kam seiner Natur entgegen; sie wurde durch ihre Sinnlichkeit zur Frau hingetrieben, aber durch ihre höheren Kräfte von dem fremden, nicht zu ihr passenden Menschen zurückgehalten, den sie plötzlich unerbittlich deutlich vor sich sah, so daß sie sich immer in lebhaften Widersprüchen zwischen Neigung und Abneigung befand. Aber das heißt, daß die hohe Schönheit des Leibes, die menschliche, der Augenblick, wo die Melodie des Geistes aus dem Instrument der Natur aufsteigt, oder jener andere Augenblick, wo der Körper wie ein Kelch ist, den ein mystischer Trank erfüllt, ihm Zeit seines Lebens fremd geblieben war, wenn man von den Träumen absieht, die der Frau Major gegolten und solche Neigungen für die längste Zeit in ihm abgeschafft hatten.
Alle seine Beziehungen zu Frauen waren seither unrecht gewesen, und bei einigem guten Willen auf beiden Seiten geht das leider sehr einfach. Da gibt es ein Schema von Gefühlen, Handlungen und Verwicklungen, das Mann und Frau, sobald sie nur den ersten Gedanken daran wenden, bereit finden, sich ihrer zu bemächtigen, und es ist ein im inneren Sinn verkehrter Ablauf, bei dem die letzten Geschehnisse voran sich aufdrängen, kein Strömen von der Quelle mehr; das reine Gefallen zweier Menschen aneinander, dieses schlichteste und tiefste der Liebesgefühle, das der natürliche Ursprung aller anderen ist, kommt bei dieser psychischen Verkehrung überhaupt nicht mehr vor. So erinnerte sich auch Ulrich nicht selten bei seinen Fahrten mit Diotima an ihren Abschied bei seinem ersten Besuch. Er hatte damals ihre milde Hand in der seinen gehalten, eine künstlich und edel vervollkommnete Hand ohne Schwere, und sie hatten einander dabei in die Augen gesehn; sie hatten sicher beide Abneigung gefühlt, aber daran gedacht, daß sie einander doch bis zum Verhauchen durchdringen könnten. Etwas von dieser Vision war zwischen ihnen stehen geblieben. So wenden oben zwei Köpfe einander eine entsetzliche Kälte zu, während unten die Körper widerstandslos und glühend ineinanderfließen. Es liegt etwas bösartig Mythisches darin, wie in einem zweiköpfigen Gott oder dem Pferdefuß des Teufels, und hatte Ulrich in seiner Jugend, als er es öfter erlebte, viel irre geführt, aber mit den Jahren hatte sich erwiesen, daß es nichts sei als ein sehr bürgerliches Reizmittel der Liebe, ganz im gleichen Sinn wie der Ersatz der Nacktheit durch das Entkleidete. An nichts entzündet sich die bürgerliche Liebe so sehr wie an der schmeichelhaften Erfahrung, daß man die Kraft besitzt, einen Menschen in ein Entzücken zu jagen, worin er sich so toll be nimmt, daß man geradezu zum Mörder werden müßte, wenn man auf zweite Weise die Ursache solcher Veränderungen werden wollte. – Und wahrhaftig, daß es solche Veränderungen zivilisierter Menschen gibt, daß solche Wirkung von uns ausgeht!: liegt nicht diese Frage und Verwunderung in den kühnen und verglasten Augen all derer, die an der einsamen Insel der Wollust anlegen, wo sie Mörder, Schicksal und Gott sind und auf äußerst bequeme Weise den höchsten ihnen erreichbaren Grad von Irrationalität und Abenteuerlichkeit erleben?
Die Abneigung, die er mit der Zeit gegen diese Art Liebe erwarb, erstreckte sich schließlich auch auf seinen eigenen Körper, der das Zustandekommen solcher verkehrten Verbindungen immer begünstigt hatte, indem er den Frauen eine gangbare Männlichkeit vorspiegelte, für die Ulrich zu viel Geist und innere Widersprüche besaß. Er war mitunter geradezu auf seine Erscheinung wie auf einen mit billigen und nicht ganz lauteren Mitteln arbeitenden Rivalen eifersüchtig, worin Widerspruch zutage trat, der auch in anderen vorhanden ist, die ihn nicht fühlen. Denn er war es selbst, der diesen Körper mit athletischen Übungen pflegte und ihm die Gestalt, den Ausdruck, die Handlungsbereitschaft gab, deren Wirkung nach innen nicht zu gering ist, als daß man sie mit dem Einfluß eines ewig lächelnden oder eines ewig ernsten Gesichtes auf die Gemütsstimmung vergleichen könnte; und merkwürdigerweise hat die Mehrzahl der Menschen entweder einen verwahrlosten, von Zufällen geformten und entstellten Körper, der zu ihrem Geist und Wesen in fast keinen Beziehungen zu stehen scheint, oder einen von der Maske des Sports bedeckten, die ihm das Aussehen der Stunden gibt, wo er sich auf Urlaub von sich selbst befindet. Denn das sind die Stunden, wo der Mensch einen nachlässig aus den Journalen der schönen und großen Welt aufgenommenen Wachtraum des Aussehenwollens weiterspinnt. Alle diese gebräunten und muskulösen Tennisspieler, Reiter und Wagenlenker, die nach höchsten Rekorden aussehen, obgleich sie gewöhnlich ihre Sache bloß gut beherrschen, diese Damen in großer Kleidung oder Entkleidung sind Tagesträumer und unterscheiden sich von den gewöhnlichen Wachträumern nur dadurch, daß ihr Traum nicht im Gehirn bleibt, sondern gemeinsam in freier Luft, als ein Gebilde der Massenseele körperlich, dramatisch, man möchte in Erinnerung an mehr als zweifelhafte okkulte Phänomene sagen, ideoplastisch gestaltet wird. Aber sie haben mit den gewöhnlichen Spinnern von Phantasien ganz und gar eine gewisse Seichtheit ihres Traums gemeinsam, sowohl was seine Nähe am Erwachen angeht wie seinen Inhalt. Das Problem der Gesamtphysiognomie scheint sich heute noch zu verstecken; obgleich man aus Schrift, Stimme, Schlafstellung und Gott weiß was Schlüsse auf das Wesen von Menschen zu ziehen gelernt hat, die manchmal sogar überraschend richtig sind, hat man für den Körper als Ganzes nur Modevorbilder, nach denen er sich gestaltet, oder höchstens eine Art moralischer Naturheilphilosophie.
Aber ist das der Körper unseres Geistes, unserer Ideen, Ahnungen und Pläne oder – die hübschen inbegriffen – der unserer Torheiten? Daß Ulrich diese Torheiten geliebt hatte und zum Teil noch besaß, hinderte ihn nicht, sich in dem von ihnen geschaffenen Körper nicht zu Hause zu fühlen.

Und vornehmlich war es Diotima, die dieses Gefühl, daß die Oberfläche und die Tiefe seiner Lebensgestalt nicht eins seien, auf eine neue Weise in ihm bestärkte. Auf den Fahrten mit ihr, die zuweilen wie Fahrten durch den Mondschein waren, wo sich die Schönheit dieser jungen Frau von ihrer ganzen Person löste und wie ein Traumgespinst für Augenblicke seine Augen bedeckte, kam es deutlich zum Ausbruch. Er wußte wohl, daß Diotima alles, was er sagte, mit dem verglich, was allgemein – wenn auch auf einer gewissen Höhe der Allgemeinheit – gesagt wird, und es war ihm angenehm, daß sie es »unreif« fand, so daß er beständig wie vor einem verkehrt auf ihn gerichteten Fernglas dasaß. Er wurde immer kleiner und glaubte, wenn er mit ihr sprach, oder war wenigstens nicht weit davon es zu glauben, in seinen eigenen Worten, wenn er den Anwalt des Bösen und Nüchternen machte, die Gespräche seiner letzten Schulzeit zu hören, wo er mit seinen Kameraden just deshalb von allen Übeltätern und Unholden der Weltgeschichte geschwärmt hatte, weil sie von den Lehrern mit idealistischem Abscheu so bezeichnet wurden. Und wenn ihn Diotima mit Unwillen ansah, wurde er noch einmal kleiner und langte von der Moral des Heroismus und Expansionsdrangs bei der trotzig verlogenen, roh und unsicher ausschweifenden der Flegeljahre an,– natürlich nur sehr bildlich gesprochen, wie man in einer Gebärde, einem Wort eine entfernte Ähnlichkeit mit Gebärden oder Worten entdecken kann, die man längst abgelegt hat, ja sogar mit Gebärden, die man nur geträumt oder unwillig an anderen gesehen hat; aber immerhin, in seiner Lust, bei Diotima Anstoß zu erregen, klang das mit. Der Geist dieser Frau, die ohne ihren Geist so schön gewesen wäre, erregte ein unmenschliches Gefühl, vielleicht eine Furcht vor Geist in ihm, eine Abneigung gegen alle großen Dinge, ein Gefühl, das ganz schwach, kaum unterscheidbar war,– und vielleicht war schon Gefühl ein viel zu anspruchsvoller Ausdruck für solchen hingeblasenen Hauch! Aber wenn man es in Worte vergrößerte, hätten die etwa so lauten müssen, daß er zuweilen nicht bloß den Idealismus dieser Frau, sondern den ganzen Idealismus der Welt, in seiner Verzweigtheit und Ausbreitung, körperlich vor sich sah, eine Handbreit über dem griechischen Scheitel schwebend; gerade daß es nicht des Teufels Hörner waren! Dann wurde er noch einmal kleiner und kehrte, weiter bildlich gesprochen, in die leidenschaftliche erste Moral der Kindheit zurück, in deren Auge Verlockung und Schreck ist wie im Blick einer Gazelle. Die zärtlichen Empfindungen dieser Zeit können in einem einzigen Augenblick der Hingabe die ganze, da noch kleine Welt entflammen, denn sie haben weder einen Zweck noch eine Möglichkeit, irgend etwas zu bewirken, und sind ganz und gar grenzenloses Feuer; es paßte schlecht zu Ulrich, aber nach diesen Gefühlen der Kindheit, die er sich kaum noch vorstellen konnte, weil sie mit den Bedingungen, unter denen ein Erwachsener lebt, so wenig mehr gemein haben, sehnte er sich schließlich in Gesellschaft Diotimas.
Und einmal fehlte nicht viel daran, daß er es ihr eingestanden hätte. Sie hatten auf einer Fahrt den Wagen verlassen und gingen zu Fuß in ein kleines Tal hinein, das wie eine Flußmündung aus Wiesen mit bewaldeten Steilufern war und ein krummes Dreieck bildete, in dessen Mitte ein geschlängelter, von leichtem Frost erstarrter Bach lag. Die Hänge waren teilweis abgeholzt, mit einzelnen stehen gelassenen Bäumen, die auf den Kahlschlägen und Hügelkämmen wie eingepflanzte Federwimpel aussahen. Diese Landschaft hatte sie zum Gehen verlockt; es war einer jener rührenden schneefreien Tage, die mitten im Winter wie ein verblaßtes, aus der Mode gekommenes Sommerkleid anzusehen sind. Diotima fragte plötzlich ihren Vetter: »Warum nennt Sie Arnheim eigentlich einen Aktivisten? Er sagt, Sie hätten immer den Kopf voll davon, wie die Dinge anders und besser zu machen wären.« Sie hatte sich mit einem mal erinnert, daß ihr Gespräch mit Arnheim über Ulrich und den General geendet hatte, ohne einen Abschluß zu finden. »Ich verstehe das nicht,« fuhr sie fort »denn mir kommt vor, daß Sie selten etwas ernst meinen. Aber ich muß Sie fragen, da wir eine verantwortungsvolle Aufgabe gemeinsam haben! Erinnern Sie sich noch an unser letztes Gespräch? Sie haben da etwas gesagt, Sie haben behauptet, niemand würde, wenn er alle Macht hätte, das verwirklichen, was er will. Ich möchte jetzt wissen, wie Sie das gemeint haben. War denn das nicht ein entsetzlicher Gedanke?«
Ulrich schwieg zunächst. Und während dieser Stille, nachdem sie ihre Rede so keck wie möglich vorgebracht hatte, wurde ihr klar, wie lebhaft sie die unerlaubte Frage beschäftigte, ob Arnheim und sie das verwirklichen würden, was sie jeder im geheimen wollten. Sie glaubte plötzlich, daß sie sich vor Ulrich verraten habe. Sie wurde rot, suchte es zu verhindern, wurde noch röter und trachtete, mit möglichst unbeteiligtem Ausdruck über das Tal von ihm fortzublicken.
Ulrich hatte den Vorgang beobachtet. »Ich fürchte sehr, daß der einzige Grund, warum mich Arnheim, wie Sie sagen, einen Aktivisten nennt, der ist, daß er meinen Einfluß im Hause Tuzzi überschätzt« erwiderte er. »Sie wissen selbst, wie wenig Sie auf meine Worte geben. Aber in dem Augenblick jetzt, wo Sie mich gefragt haben, ist mir klar geworden, welchen Einfluß ich auf Sie haben sollte. Darf ich es Ihnen sagen, ohne daß Sie mich sofort wieder tadeln?«
Diotima nickte stumm, zum Zeichen des Einverständnisses, und suchte sich hinter dem Anschein der Zerstreutheit wieder zu sammeln.
»Ich habe also behauptet,« begann Ulrich »niemand würde, auch wenn er könnte, verwirklichen, was er will. Erinnern Sie sich an unsere Mappen voll Vorschläge? Und nun frage ich Sie: Würde irgendeiner nicht in Verlegenheit geraten, wenn plötzlich das geschehen sollte, was er sein Leben lang leidenschaftlich gefordert hat? Wenn zum Beispiel plötzlich über die Katholiken das Gottesreich hereinbräche oder über die Sozialisten der Zukunftsstaat? Aber vielleicht beweist das nichts; man gewöhnt sich an das Fordern und ist nicht gleich darauf gefaßt, ans Verwirklichen zu kommen; vielleicht werden das viele nur natürlich finden. Ich frage also weiter: Ohne Zweifel hält ein Musiker die Musik für das Wichtigste, und ein Maler das Malen; wahrscheinlich sogar ein Betonfachmann das Bauen von Betonhäusern. Glauben Sie, daß der eine sich darum den lieben Gott als einen Spezialfachmann für Eisenbeton vorstellen wird und die anderen eine gemalte oder auf dem Flügelhorn geblasene Welt der wirklichen vorziehen? Sie werden diese Frage für unsinnig halten, aber der ganze Ernst liegt darin, daß man doch dieses Unsinnige verlangen müßte!
Und jetzt glauben Sie, bitte, nicht,« wandte er sich ihr vollkommen ernst zu »daß ich damit nichts anderes sagen will, als daß jeden das schwer zu Verwirklichende reizt und daß er das verschmäht, was er wirklich haben kann. Ich will sagen: daß in der Wirklichkeit ein unsinniges Verlangen nach Unwirklichkeit steckt!«
Er hatte Diotima weit in das kleine Tal hineingeführt, ohne auf sie Rücksicht zu nehmen; der Boden war, vielleicht durch Schnee, der von den Hängen absickerte, je höher hinauf, desto nässer geworden, und sie mußten von einem der kleinen Graspolster auf den nächsten hüpfen, was die Rede gliederte und es Ulrich ermöglichte, sie immer wieder sprunghaft fortzusetzen. Es gab darum auch so viele naheliegende Einwände gegen das, was er sagte, daß Diotima sich für keinen entscheiden konnte. Sie hatte sich die Füße naß gemacht und blieb verführt und ängstlich, mit etwas gehobenen Röcken auf einer Erdscholle stehn.
Ulrich wandte sich zurück und lachte: »Sie haben etwas ungemein Gefährliches begonnen, große Kusine. Die Menschen sind unendlich froh, wenn man sie so läßt, daß sie ihre Ideen nicht verwirklichen können!«
»Und was würden denn Sie tun,« fragte Diotima ärgerlich »wenn Sie einen Tag lang das Weltregiment hätten??«
»Es würde mir wohl nichts übrigbleiben, als die Wirklichkeit abzuschaffen!«
»Ich würde wirklich wissen wollen, wie Sie das anfingen!«
»Das weiß ich auch nicht. Ich weiß nicht einmal genau, was ich damit meine. Wir überschätzen maßlos das Gegenwärtige, das Gefühl der Gegenwart, das, was da ist; ich meine, so wie Sie jetzt mit mir in diesem Tale da sind, als ob man uns in einen Korb gesteckt hätte, und der Deckel des Augenblicks ist daraufgefallen. Wir überschätzen das. Wir werden es uns merken. Wir werden vielleicht noch nach einem Jahr erzählen können, wie wir da gestanden haben. Aber das, was uns wahrhaft bewegt, mich wenigstens, steht – vorsichtig gesprochen; ich will keine Erklärung und keinen Namen dafür suchen! – immer in einem gewissen Gegensatz zu dieser Weise des Erlebens. Es ist verdrängt von Gegenwart; das kann in dieser Weise nicht gegenwärtig werden!«
Was Ulrich da sagte, klang in der Talenge laut und verworren. Diotima fühlte sich mit einemmal unheimlich und trachtete zum Wagen zurück. Aber Ulrich hielt sie auf und zeigte ihr die Landschaft. »Das war vor etlichen tausend Jahren ein Gletscher. Auch die Welt ist nicht mit ganzer Seele das, was sie augenblicklich zu sein vorgibt« erklärte er. »Dieses rundliche Wesen hat einen hysterischen Charakter. Heute spielt es die nährende bürgerliche Mutter. Damals war die Welt frigid und eisig wie ein bösartiges Mädchen. Und noch einige tausend Jahre früher hat sie sich mit heißen Farrenwäldern, glühenden Sümpfen und dämonischen Tieren üppig aufgeführt. Man kann nicht sagen, daß sie eine Entwicklung zur Vollkommenheit durchgemacht hat, noch was ihr wahrer Zustand ist. Und das gleiche gilt von ihrer Tochter, der Menschheit. Stellen Sie sich bloß die Kleider vor, in denen im Lauf der Zeit Menschen hier gestanden haben, wo wir jetzt stehen. In Begriffen eines Narrenhauses ausgedrückt, gleicht das alles lang andauernden Zwangsvorstellungen mit plötzlich einsetzender Ideenflucht, nach deren Ablauf eine neue Lebensvorstellung da ist. Sie sehen also wohl, die Wirklichkeit schafft sich selbst ab!«
»Ich möchte Ihnen noch etwas sagen« fing Ulrich nach einer Weile von vorne an. »Das Gefühl, einen festen Boden unter den Füßen und eine feste Haut um mich zu haben, das den meisten Menschen so natürlich erscheint, ist bei mir nicht sehr stark entwickelt. Denken Sie doch einmal daran, wie Sie ein Kind waren: ganz weiche Glut. Und dann ein Backfisch, dem die Sehnsucht auf den Lippen brannte. In mir wenigstens lehnt sich etwas dagegen auf, daß das sogenannte reife Mannesalter der Gipfel solcher Entwicklung sein soll. In gewissem Sinn ja und in gewissem Sinn nicht. Wenn ich die libellenartige Myrmeleonina, die Ameisenjungfer wäre, würde mir furchtbar davor grauen, daß ich ein Jahr vorher der breite, graue, rückwärtslaufende Myrmeleon, der Ameisenlöwe war, der am Rand der Wälder eingegraben unter der Spitze eines Sandtrichters lebt und mit seiner unsichtbaren Zange Ameisen um die Taille faßt, nachdem er sie vorher durch eine geheimnisvolle Beschießung mit Sandkörnern erschöpft hat. Und zuweilen graut mir wirklich ganz ähnlich vor meiner Jugend, auch wenn ich damals eine Libelle gewesen und jetzt ein Untier sein sollte.« Er wußte selbst nicht recht, was er wollte. Er hatte mit Myrmeleon und Myrmeleonina ein wenig die gebildete Allwissenheit Arnheims nachgeäfft. Er hatte es aber auf den Lippen, zu sagen: »Schenken Sie mir eine Umarmung, rein aus Liebenswürdigkeit. Wir sind verwandt; nicht ganz getrennt, keineswegs ganz eins; jedenfalls der äußerste Gegensatz zu einer würdigen und strengen Beziehung.«
Aber Ulrich irrte. Diotima gehörte zu den Menschen, die mit sich zufrieden sind und darum ihre Altersstufen wie eine Treppe ansehen, die von unten nach oben führt. Was Ulrich sagte, war ihr also gänzlich unverständlich, zumal da sie ja das nicht wußte, was zu sagen er unterlassen hatte; aber sie waren mittlerweile beim Wagen angelangt, so daß sie sich ruhig fühlte und nun seine Rede wieder als das ihr bekannte, zwischen Unterhaltung und Ärgernis schwankende Gerede hinnahm, dem sie nicht mehr als einen Augenwinkel schenkte. Er hatte in Wahrheit in diesem Augenblick ganz und gar keinen Einfluß auf sie, außer dem der Ernüchterung. Eine zarte Wolke von Befangenheit, aufgestiegen aus irgendeinem Winkel ihres Herzens, hatte sich in trockene Leere aufgelöst. Vielleicht zum erstenmal erblickte sie klar und hart die Tatsache, daß ihre Beziehungen zu Arnheim sie über kurz oder lang vor eine Entscheidung stellen mußten, die ihr ganzes Leben verändern konnte. Man hätte nicht sagen können, daß sie das jetzt glücklich machte; aber es hatte die Schwere eines wirklich dastehenden Gebirges. Eine Schwäche war vorbei. Jenes »Nicht tun, was man möchte« hatte für einen Augenblick einen ganz unsinnigen Glanz gehabt, den sie nicht mehr begriff.
»Arnheim ist ganz und gar das Gegenteil von mir; er überschätzt das Glück, das Zeit und Raum haben, wenn sie mit ihm zum gegenwärtigen Augenblick zusammentreffen, beständig!« seufzte Ulrich lächelnd, in dem ordentlichen Bedürfnis, was er geäußert hatte, zu einem Ende zu führen; aber von der Kindheit sprach auch er nicht mehr, und so kam es nicht dazu, daß ihn Diotima als gefühlvoll kennen lernte.