MoE 5 | Zweites Buch | 1933-1936 | Zweite Fortsetzungsreihe

AGATHE

 
Band 5 (mit Seitensiglen und einfachem HTML-Code

Agathe bei Lindner


Zu dieser Zeit setzte Agathe ihre Besuche bei Lindner fort.
Das Konto für unvorhergesehene Zeitverluste wurde dadurch übermäßig beansprucht, und allzu oft bedeutete seine Überschreitung einen Abstrich an allen anderen Unternehmungen. Außerdem verlangte das Mitgefühl mit dieser jungen Frau auch noch viel Zeit, wenn sie nicht da war: So hatte Lindner eine Seele gefunden, aber tiefe Töne des Mißbehagens mischten sich darein und verhielten ihn dauernd in einem Reizzustand. Agathe hatte sich über sein Verbot ihrer Besuche einfach hinweggesetzt.
»Ist Ihnen mein Besuch denn peinlich?« hatte sie ihn bei der ersten Wiederholung gefragt.
»Und was sagt Ihr Herr Bruder dazu?!« erwiderte Lindner jedesmal ernst.
»Ich habe ihm noch nichts davon gesagt,« teilte Agathe zutraulich mit »denn am Ende könnte es auch ihm nicht recht sein. Sie haben mich ängstlich gemacht.«
Nun, man darf seine Hand einem Hilfesuchenden nicht verweigern. Aber Agathe verspätete sich jedesmal, wenn sie sich verabredet hatten. Vergeblich war ihr gesagt, daß Unpünktlichkeit das gleiche sei wie Vertragsuntreue oder Gewissensmangel.
»Es läßt darauf schließen, daß Sie sich auch sonst in einem schläfrigen Zustand des Willens befinden und sich zufällig auftauchenden Gelegenheiten traumhaft hingeben, statt sich mit gesammelter Energie rechtzeitig loszulösen!« mutmaßte Lindner streng.
»Wäre es nur traumhaft!« erwiderte Agathe.
Lindner aber erklärte heftig: »Ein solcher Mangel an Selbstbeherrschung läßt eben jede andere Unzuverlässigkeit auch befürchten!«
»Wahrscheinlich. Ich fürchte auch« war Agathes Antwort.
»Haben Sie denn keinen Willen?!«
»Nein.«
»Sie sind phantastisch und ohne Disziplin!«
»Ja.« Und nach einer kleinen Pause fügte sie lächelnd hinzu: »Mein Bruder sagt, ich sei ein Fragmentmensch, das ist hübsch, nicht wahr? Auch wenn nicht feststeht, was es bedeutet. Man kann an einen unvollendeten Band unvollendeter Gedichte denken.«
Lindner schwieg unwillig.
»Mein Mann dagegen behauptet jetzt unhöflich, ich sei pathologisch, eine Neuropathin oder dergleichen« fuhr Agathe fort.
Und darauf rief dann doch Lindner höhnisch aus: »Nein, was Sie sagen! Wie gefällt es den heutigen Menschen, wenn sich moralische Aufgaben scheinbar auf medizinische zurückführen ließen! Aber so bequem kann ich es Ihnen nicht machen!« Den einzigen Erziehungserfolg, den Lindner erreichte, verdankte er dem Grundsatz, daß er fünf Minuten vor dem immer vorher angesetzten und verabredeten Ende eines solchen Besuchs, unerachtet des verspäteten Beginns und wie sehr ihn auch das Gespräch fesseln mochte, zu verstummen begann und Agathe zu verstehen gab, daß seine Zeit nun anderen Pflichten gehöre. Diese Ungezogenheit begrüßte Agathe nicht nur mit Lächeln, sondern nahm sie dankbar hin. Denn diese wenigstens an einer Seite genau wie von einem Metallrand eingefaßten und scharf anschlagenden Minuten des Gesprächs teilten auch dem Rest des Tags etwas von ihrer Bestimmtheit mit. Nach den maßlosen Gesprächen mit Ulrich wirkte das wie Magerkeit oder eng umgürtender Riemen.
Als sie es aber einmal Lindner sagte, und ihm eine Annehmlichkeit zu erweisen gedachte, versäumte er sofort eine Viertelstunde und war am nächsten Tag sehr ungehalten über sich.
Unter diesen Umständen war er ein strenger Lehrer für Agathe. Aber Agathe war eine sonderbare Schülerin. Noch immer flößte ihr dieser Mann, der etwas zu ihren Gunsten wollte, obgleich er neuestens mit sich selbst nicht zustandkam, Vertrauen und sogar Trost ein, wenn sie an dem Fortschritt mit Ulrich verzweifeln wollte. Sie suchte dann Lindner auf, und nicht nur deshalb, weil er aus irgendwelchen äußeren Gründen Ulrichs Gegner war, sondern auch, ja desto mehr, aus dem Anlaß, weil er so deutlich wie unwillkürlich die Eifersucht merken ließ, in die es ihn schon versetzte, wenn bloß Ulrichs Name genannt wurde. Das war offenbar keine persönliche Nebenbuhlerschaft, denn Agathe wußte, daß sich die beiden Männer kaum kannten, sondern eine geistig-gattungsmäßige, ähnlich dem, daß Tiergattungen ihre besonderen Feinde haben, die sie schon kennen, wenn sie ihnen zum erstenmal begegnen, und deren geringste Annäherung sie in Aufregung versetzt. Und merkwürdigerweise konnte sie Lindner verstehn; denn etwas, das Eifersucht genannt werden mochte, fand sich auch unter ihren Gefühlen für Ulrich vor, ein Nicht-Schritt halten können oder kränkendes Müdwerden, vielleicht auch, einfach gesagt, eine weibliche Eifersucht auf seine männliche Gedankenlust, und es machte sie gern zuhören und mit schaurigem Behagen, wenn Lindner irgendwelche Anschauungen bestritt, die Ulrichs sein konnten, was er immer mit besonderer Vorliebe tat. Sie konnte sich umso gefahrloser darauf einlassen, als sie sich Lindner besser gewachsen fühlte als ihrem Bruder, denn mochte er noch so kriegerisch auftreten, ja mochte er sie sogar einschüchtern, so blieb in ihr doch immer ein heimliches Mißtrauen am Werk und war manchmal von der Art, wie es Frauen gegen die Bestrebungen anderer Frauen empfinden.
Doch immer bekam Agathe Herzklopfen, wenn sie einen Augenblick allein in der Lindnerschen Umgebung saß, so als wäre sie dem Aufsteigen von Dämpfen ausgesetzt, die ihr den Kopf verzauberten. Die Versuchung, das Mißbehagen, das sie empfand, sich behagen zu lassen, die gaukelnde Möglichkeit, daß es geschähe, riefen in ihr immer die Geschichte eines entführten Mädchens hervor, das, unter fremden Menschen erzogen, gleichsam in sich selbst vertauscht und eine fremde Frau wird: es war das eine der Geschichten, die auf ihre Kindheit zurück reichend und ohne ihr sonderlich wichtig zu sein, manchmal eine Rolle in den Versuchungen ihres Lebens und in deren Entschuldigungen gespielt hatten. Aber Ulrich hatte ihr eine eigene Deutung für diese Geschichten gegeben, aus denen man sonst leicht bloß eine mangelhafte Seelenverfassung herauslesen konnte, und sie glaubte leidenschaftlicher an seine Auslegung als er selbst. Denn Gott hat der Breite und Länge der Zeit nach nicht nur dieses eine Leben geschaffen, das wir gerade führen, es ist in keiner Weise das wahre, es ist einer von seinen vielen hoffentlich planvollen Versuchen, er hat für uns vom Augenblick nicht Verblendete keine Notwendigkeit hineingelegt, und derart von Gott sprechend und die Unvollkommenheit der Welt, das Ziellose, sinnlos Tatsächliche ihres Wandels, die durchschaute Pose ihrer Ordnung als die eigentliche Vision Gottes und die aussichtsreichste Annäherung an ihn darstellend, lehrte sie Ulrich auch die Bedeutung des Reizes, unsicher in sich, schattenhaft planend neben sich ein anderer zu sein, in diesem Sinne verstehn.
So spürte Agathe doch Ulrich in der Nähe, während sie aufmerksam die Wände Lindners betrachtete, die mit Bildern göttlichen Inhalts ausgestattet waren. Es fiel ihr auf, daß sie wohl Raffael, Murillo, Bernini vorfand, aber schon Tizian nicht und schon gar nichts aus der Gotik; dagegen überwogen Reproduktionen nach späten Meistern – auch weniger bekannte wie Giuliani und Altomonte – á la Jesuitenbarock. Wenn man den Wänden entlang nur diesen Bildern folgt, wirkt die Häufung geblähter Gewänder und emporgehobener, leerer, ovaler Gesichter beängstigend. Agathe sagte: »Es ist soviel Seele darin, daß die Summe dieser im einzelnen oft bewundernswerten Leistungen wie eine starke Entseelung wirkt. Und sehen Sie doch: die Aufwärtswendung ist zur Konvention geworden, daß die ganze ununterdrückbare menschliche und künstlerische Lebendigkeit sich in die Details geflüchtet und dort versteckt hat. Finden Sie nicht, daß diese Kleidersäume, Schuhe, Beinstellungen, Arme, Gewandfalten und Wolken von aller sonst zu kurz gekommenen Sexualität überladen sind? Ja, das hat etwas von Fetischismus in sich!« Nun, Agathe sollte dieses Phänomen der Überladung kennen. Dieses sehnsüchtige sich auf einem Balkon in die Leere Hinauslehnen. Mit Schrecken konnte man es hier auf der Grenze zwischen krankhafter Schrulle und Erhebung sehn.
Lindner hatte keine Ahnung davon. Aber er war von dem Vorwurf erschreckt und versuchte zunächst, geringschätzig von der Schönheit zu sprechen. Agathe wandte ihm ein, daß er sich täusche, denn nicht die Übermacht der Seele, sondern die der Konvention spreche.
Und plötzlich brach er aus: Oder ob sie meine, daß sich der Nacktkultus der Maler und Bildhauer für einen ernsten Menschen rechtfertigen lasse? – Ist denn der nackte Mensch wirklich etwas so Schönes?! Etwas so Unerhörtes?! Sind die Entzückungen der Kunstmenschen nicht einfach lächerlich, auch wenn man von der Anwendung ernster Moralbegriffe noch gar nicht Gebrauch macht?!
Agathe: Der nackte Körper ist schön! Daß die Welt stehn bleibt, wenn ein wirklich schöner Mensch erscheint, Schönheit als ein Geheimnis; weil Schönheit Liebe und Liebe eben ein Mysterium ist, stimmt es ins Ganze. Ebenso, daß man den Begriff der Schönheit verloren hat (Kunstbetrieb). So sitzt sie da, und Ulrich spricht aus ihr.
Aber Lindner fällt sofort auf die Herausforderung herein.
»Sie sind ein Gespensterseher« sagte Agathe gleichgültig.
Lindner darauf: »Viele reine Frauen, die ohne Lebenskenntnis und harmlos solche Dinge begrüßen oder mitmachen, sehen eben nicht, daß sie damit Geister beschwören, die vielleicht noch ihr eigenes Leben und das ihrer Nächsten zerstören können!«
Ihre Gespräche nahmen oft die Form an, daß Agathe spottete und reizte, damit er sich ereifere und »belle«. So erwiderte sie auch jetzt, und Lindner nahm den Gegner an.
»Eine wirklich männliche Seele würde nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch dem ganzen Theaterwesen mit größter Zurückhaltung gegenüberstehen und dabei ruhig den Hohn und Spott derer über sich ergehen lassen, die zu weichlich sind und zu bescheidene Ansprüche an ihre innere Reinlichkeit stellen, um sich konsequent jeden Sinnenkitzel zu versagen!« behauptete er und bezog gleich auch die Romanliteratur mit der Bemerkung ein, daß sie unverkennbar die sinnliche Unfreiheit und Überreizung ihrer Autoren atmet und die niederen Seiten des Lesers gerade durch die poetische Illusion anregen, mit der sie alles beschönigen und verhüllen! – Er schien vorauszusetzen, daß Agathe ihn als unkünstlerisch verachte und war um seine Überlegenheit bestrebt. »Es ist ja ein Dogma,« rief er aus »daß man alles gehört und gesehen haben muß, um darüber mitreden zu können – man lasse andere schwätzen und sei stolz auf seine Unbildung! Man rede sich nicht ein, daß es zur Bildung gehöre, Schmutz bei elektrischem Lichte zu sehn.«
Agathe blickte ihn lächelnd an, ohne zu antworten. Seine Bemerkungen waren so trostlos unverständig, daß ihre Augen feucht wurden. Unsicher sah er diesen naß-spöttischen Blick.
»Alle diese Bemerkungen richten sich natürlich nicht gegen die große und wahre Kunst!« versicherte Lindner. Er zog sich zurück.
Da Agathe weiter schwieg, gab er noch einen Schritt nach.
»Das ist nicht Prüderie,« verteidigte er sich »Prüderie wäre selbst nur ein Zeichen verdorbener Phantasie. Aber die nackte Schönheit ruft Tragik im inneren Menschen hervor und zugleich geistige Kräfte, die diese zu entsühnen und zu lösen trachten: verstehen Sie, was ich fühle?«
Er blieb vor ihr stehn. Er wurde wieder von ihr festgehalten. Er sah sie an. »Darum muß man das Nackte entweder verhüllen oder so mit der höheren Sehnsucht des Menschen verbinden,« fuhr er fort »daß es nicht knechtend und erregend, sondern beruhigend und befreiend wirkt.« So sei es auch auf dem Höhepunkte der Kunst immer versucht worden, in den Gestalten des Parthenonfrieses, in Michelangelos verklärten Leibern.
Agathe stand vor ihm. »Ein Augenblick!« sagte sie. »Sie haben einen Wollfaden im Bart« und sie faßte schnell hinein und schien etwas zu entfernen; Lindner konnte nicht wahrnehmen, ob es Wirkliches oder Vorgetäuschtes sei, da er unwillkürlich und mit Zeichen keuschen Erschreckens zurückfuhr, während sie sich gleich wieder setzte. Er ärgerte sich maßlos über seine tölpische Unbeherrschtheit und suchte das durch einen rauhen Ton zu maskieren. Wie ein Sonntagsreiter ritt er weiter auf dem schlecht zu ihm passenden Worte Tragik herum. Er hatte gesagt, daß die nackte Schönheit Tragik im inneren Menschen hervorrufe und ergänzte es nun damit, daß sich diese Tragik in der Kunst wiederhole, deren Kräfte trotz allem nicht zur vollen Spiritualisierung ausreichten. Es war nicht sehr einleuchtend, aber ganz klar kam es darauf hinaus, daß die Seele des Menschen kein Schutz gegen die Sinne sei, sondern deren gewaltiges Echo! Ja, die Sinnlichkeit erlange ihre Gewalt erst dadurch, daß ihre Vorspiegelungen seine Seele erobere und erfülle!
»Soll das ein Geständnis sein?« fragte Agathe unverschämt trocken.
»Wieso ein Geständnis?« rief Lindner aus. Und er setzte hinzu: »Wie können Sie behaupten, daß es ein Geständnis sein soll? Welche arrogante Auffassung Sie haben! Welcher Cäsarenwahnsinn! Und überhaupt: was denken Sie von mir?!« Aber er floh, er wich aus dem Felde, er wich wahrhaftig räumlich von Agathe zurück.
Nichts errät der Mensch so schnell wie die innere Unsicherheit eines anderen und fällt darüber her wie die Katze über einen krabbelnden Käfer: es war eigentlich die launische Technik des Mädcheninstituts mit seinen Liebschaften zwischen bewunderten »Großen« und verliebten Kleineren, die ewige Grundform der seelischen Hörigkeit, die Agathe gegen Lindner anwandte, indem sie ebensooft verständig und innig auf seine Worte einzugehen schien, als sie ihn kalt überfiel und abschreckte, wenn er sich in dem beiderseitigen Gefühl sicher glaubte.
Aus der Ecke des Raumes orgelte nun seine Stimme, der er künstlich Unerschrockenheit und Tiefe verlieh, und tat so, als ob er sich im Angriff befände, indem er vorschlug: »Lassen Sie uns einmal ohne Schonung darüber reden. Machen Sie sich klar, wie unzulänglich und unbefriedigend der ganze Zeugungsprozeß als bloße Naturerscheinung ist. Selbst die Mutterschaft! Ist ihr physiologischer Mechanismus wirklich so unbeschreiblich wunderbar und vollkommen? Wieviel schreckliches Leiden und Sterben bringt er mit sich, wieviel sinnlosen und unerträglichen Zufall! Wir wollen also die Naturvergötterung ruhig denen überlassen, die nicht wissen, wie das Leben ist, und öffnen unsere Augen für die Wirklichkeit: Der Zeugungsprozeß wird nur dadurch geadelt und über dumpfe Knechtschaft erhoben, daß man ihn durch Treue und Verantwortlichkeit weiht und den geistigen Idealen unterstellt!«
Agathe schien nachdenklich zu schweigen. Dann fragte sie unerbittlich: »Warum sprechen Sie zu mir vom Zeugungsprozeß?«
Lindner mußte tief Luft holen: »Weil ich ihr Freund bin! Schopenhauer hat uns gezeigt, daß das, was wir für unser persönlichstes Erlebnis halten möchten, die allerunpersönlichste Erregung ist. Ausgenommen von diesem Betrug des Gattungstriebs sind aber die höheren Gefühle, Treue zum Beispiel, reine selbstlose Liebe, Bewunderung und Dienen, die nach gegenseitigem Verständnis und Beständigkeit verlangen.«
»Warum?« fragte Agathe. »Gewisse Gefühle, die Ihnen passen, sollen einen überirdischen Ursprung haben und andere bloß Natur sein!?«
Lindner zögerte, er kämpfte. »Ich kann nicht wieder heiraten« sagte er leise und heiser. »Das bin ich meinem Sohn Peter schuldig.«
»Aber wer verlangt es denn von Ihnen? Ich verstehe Sie jetzt nicht« versetzte Agathe.
Lindner zuckte zurück: »Ich wollte sagen, auch wenn ich könnte, täte ich es nicht« verteidigte er sich. »Freundschaft zwischen Mann und Frau erfordert überhaupt eine Höhe der Gesinnung, die sich damit gar nicht vergleichen läßt.« Er nahm einen neuen Anlauf: »Sie kennen meine Grundsätze, also müssen Sie es auch verstehn, wenn ich Ihnen danach anbiete, daß ich nichts lieber als Ihnen brüderlich dienen, gleichsam im Weibe selbst das Gegengewicht gegen das Weib erwecken, die Maria in der Eva bestärken möchte …!« Er war nahe einem Schweißausbruch, so anstrengend war es, die strenge Linie seiner Vorsätze zu verfolgen.
»Sie bieten mir also eine Art ewige Freundschaft an« sagte Agathe still. »Das ist schön von Ihnen. Und Sie wissen doch wohl, daß Ihr Geschenk im voraus angenommen war.«
Sie ergriff seine Hand, wie es sich in einem solchen Augenblick gehört, und erschrak ein wenig über dieses hautige Stück fremder Mensch, das in dem Schoß der ihren lag. Auch Lindner vermochte seine Finger nicht zurückzuziehen, denn es schien ihm wohl, daß er es tun solle, doch aber auch, daß er es lassen könnte. Sogar Ulrichs Unentschlossenheit übte manchmal diesen Naturreiz aus, mit ihr zu spielen, aber Agathe verzweifelte auch, wenn sie es sich mit Erfolg tun sah, denn die Macht der Koketterie gehört mit Bestechung, List und Zwang in einen Begriff, und nicht mit der Liebe; und indem sie sich an Ulrich erinnert fühlte, sah sie dem schwanken Menschen, der in sich jetzt wie ein Kork auf und nieder tanzte, mit einer den Tränen nahen, von bösen Einfällen durchzuckten Stimmung zu.
»Ich möchte, daß Sie mir Ihr trotziges und verschlossenes Herz öffnen« sagte Lindner zaghaft, warm und komisch. »Denken Sie nicht als einen Mann an mich. Ihnen hat die Mutter gefehlt!«
»Gut« erwiderte Agathe. »Aber werden Sie es ertragen? Wären Sie soweit, mir auch dann Ihre Freundschaft zu bewahren,« – sie zog ihre Hand zurück – »wenn ich Ihnen sagte, ich hätte gestohlen und ich hätte Blutschande auf dem Gewissen, also irgendetwas, weswegen man ganz aus der Freundschaft der andern ausgestoßen wird?!«
Lindner zwang sich zu einem Lächeln. »Das ist allerdings stark, was Sie vorbringen, es ist sogar äußerst unweiblich,« tadelte er »einen solchen Scherz zu wagen. Ach was, wissen Sie, woran Sie mich in solchen Augenblicken erinnern? An ein Kind, das darauf ausgeht, einen Älteren zu ärgern! Aber dazu ist jetzt doch nicht der Augenblick« fügte er gekränkt hinzu, weil er sich in diesem Augenblick daran erinnerte.
Plötzlich hatte aber Agathe ein Etwas in der Stimme, wovon das Gespräch bis auf den Grund durchteilt wurde, als sie fragte: »Sie glauben an Gott, verraten Sie mir: auf welche Weise gibt er Ihnen Antwort, wenn Sie ihn vor einer schweren Sünde um Rat und Entscheidung bitten?!«
Lindner wies diese Frage mit der ängstlich empörten Strenge zurück, die ein anständiger Schloßbediensteter zur Schau trägt, wenn er nach dem Eheleben der Allerhöchsten Herrschaften befragt wird. Lindner fühlte wohl etwas von der Leidenschaft ihrer Worte, darum seine Antwort sanft und beichtväterlich: »Ich kenne Ihr Leben nicht, Sie haben mir bloß einige Andeutungen gemacht. Aber ich halte es für möglich, daß Sie ähnlich handeln können, wie es ein schlechter Mensch täte. Sie haben nicht im Kleinen gelernt, das Leben ernst zu nehmen, und werden es vielleicht darum in großen Entscheidungen nicht treffen. Sie sind wohl imstande, aus gar keinem anderen Grund Böses zu tun, als weil Sie den brennenden Wunsch nach dem Guten fühlen, das aber nur, weil Sie zwar Wunsch nach dem Guten haben, aber nicht wissen, wieviel Weisheit und Gehorsam dazugehört.« Nun ergriff er ihre Hand und bat: »Sagen Sie mir die Wahrheit.«
»Die Wahrheit ist ungefähr das, was ich Ihnen bereits gesagt habe« wiederholte Agathe nüchtern und nachdrücklich.
»Nein!«
»Ja.« In diesem schlichten Ja war etwas, das Lindner plötzlich die Hand zurückstoßen machte.
Agathe sagte: »Sie wollten mich doch besser machen? Bin ich also wie ein verbogenes Goldstück, das Sie zurückbiegen möchten, so bin ich doch ein Goldstück oder –? Aber Sie verlieren den Mut. Die Ihnen durch meine Person überbrachte Forderung kollidiert mit Ihrer konventionellen Einteilung der Handlungen in Licht und Finsternis. Und ich sage Ihnen: Gott mit einer menschlichen Moral zu identifizieren, ist Blasphemie!«
Die Stimme, mit der sie das ausrief, hatte, zumindest für Lindner, Posaunenklang, erzen Erregtes; auch er bekam Agathes wilde jugendliche Schönheit zu spüren, und litt doch ohnehin schon, wenn er ihr Vorwürfe machte, jedesmal unter einer unsäglichen Angst und Einflüsterung. Denn seine Grundsätze, wo waren seine Grundsätze? Rings um ihn waren sie, aber weit fort. Und in dem leeren Raum, dessen mittelste Leere nun seine Brust war, regte sich etwas, das so verächtlich aber lebendig war wie ein Korb voll junger Hunde. Seit Lindner Witwer war, lebte er als Asket, er vermied Prostituierte und leichtsinnige Frauen grundsätzlich, aber um es gerade heraus zu sagen, je mehr er sich um Agathes Rettung ereiferte, desto begründeter wurde seine Angst, sich eines Tages dabei in einem Zustand unerlaubter Erregung erleben zu müssen. Darum zählte er in den Augenblicken des Zorns wie der Liebe innerlich oft rasch bis fünfzig. Aber der Erfolg war ein merkwürdiger, je mehr er dadurch seine Erregung von der Stelle vertrieb, wo sie ausbrechen wollte, desto mehr Erregung sammelte sich in seinem ganzen Leib, und sein Leib schien mitunter innerlich zu leuchten.
Und mit einer erschreckenden Deutlichkeit, für die man keine Worte finden kann, wurde er davon an jenes fürchterlich erhebende Erlebnis erinnert, das ihn in seiner Jünglingszeit ein für allemal vor der Macht des Gefühls gewarnt hatte. Lindner fühlte sich von bitterer Verachtung für sich gestraft, wenn er bedenken sollte, daß das, was sich damals mit teuflischer Tücke in die Erscheinung Gottes gekleidet hatte, nun in reifen Jahren als gemeine Fleischeslust hervorkam, genau so, wie es die seichte Auffassung der Aufklärer behauptet.
»Gehn Sie doch nicht mit dieser Lüge von mir fort!« bat er.
»Das Testament?« sagte Ag. »Es ist keine Lüge.
Ich habe ein Testament gefälscht.«
Lindner packte sie im plötzlichen Zorn am Arm wie einen Schüler und rief: »Fort!«
»Nein« erwiderte Agathe. »Wir haben in unserem Kampf gegeneinander das geheime Übereinkommen, uns gegenseitig den Teufel hervorzutreiben!«
In Lindners Augen oder Rede: Und beinahe traf er wieder das Richtige.
Aber er traf es doch nur beinahe, und Agathe wurde dessen plötzlich müde und ließ ihn stehn.


Traum


Das Verhalten ihres Bruders, die Beunruhigung, die der Besuch bei Lindner in ihr gesteigert hat te, regten Agathe in einer Stärke auf, die ihr selbst verborgen blieb. Sie wußte nicht, wie es geschehen war, noch wann, plötzlich war ihre Seele aus dem Körper getreten und sah sich neugierig in der ihr fremden Welt um. Diese gefiel ihr besser als sonst.
Etwas, das sie gestört haben mochte, war zur Vollkommenheit des Gefallens verloren worden. Agathe träumte, auf dem Bett lag ihr Leib, ohne sich zu bewegen, und atmete. Sie sah ihn an und hatte eine marmorglatte Freude an seinem Anblick. Dann betrachtete sie die Gegenstände, die weiter fort in ihrem Zimmer standen; sie erkannte sie alle, aber es waren doch nicht genau die Dinge, die sonst ihr gehörten. Denn auch die Gegenstände lagen so außer ihr wie ihr Leib, den sie dazwischen ruhen sah. Das bereitete ihr einen süßen Schmerz!
Warum tat es weh? Wahrscheinlich, weil es etwas Todgleiches hatte; sie konnte nicht wirken und sich nicht rühren, und ihre Zunge war wie abgeschnitten, so daß sie auch nichts darüber zu sagen vermochte. Aber sie fühlte eine große Kraft dabei. Worauf nur ihre Sinne fielen, das begriff sie sofort, denn alles war zu sehen und erglänzte, wie Sonne, Mond und Sterne in einem Wasser widerscheinen. Agathe sagte zu sich: Ihr habt meinen Körper mit einer Rose verwundet – und wandte sich dem Bett zu, um zu ihrem Leib zu flüchten. Da entdeckte sie, daß es der Leib ihres Bruders war. Auch er lag in dem widerscheinenden herrlichen Licht wie in einer Gruft, sie sah ihn nicht genau, aber viel eindringlicher als gewöhnlich und betastete ihn in der Heimlichkeit der Nacht. Damit hob sie ihn empor; er lastete schwer in ihren Armen, doch hatte sie trotzdem die Kraft, ihn zu tragen und zu halten, und die se Umarmung war von übernatürlicher Annehmlichkeit. Der Körper ihres Bruders schmiegte sich so liebreich und gütig an sie, daß sie in ihm ruhte; wie er in ihr; nichts bewegte sich in ihr, auch die schöne Begierde nicht mehr. Und weil sie in dieser Ruhe eines waren und ohne Scheidungen, auch so ohne Scheidungen in sich selbst, daß ihr Verstand wie verloren war und ihr Gedächtnis sich auf nichts besann und ihr Wille kein Tun hatte, stand sie in dieser Ruhe wie vor einem Sonnenaufgang und ging mit ihren irdischen Einzelheiten in ihm unter. Während das mit größter Freude langsam geschah, gewahrte Agathe aber rings um sich eine wilde Menge von Menschen, die sich, wie es schien, in großer Furcht um sie befand. Sie rannten aufgeregt hin und her und gebärdeten sich warnend und unwillig mit steigendem Getöse. Das geschah nach der Art des Traums nahe bei ihr und ging ihr doch nicht nahe, aber nur bis der Lärm und Schreck mit einem Mal gewaltig in ihre Sinne drang. Da fürchtete sich Agathe und trat schnell wieder in ihren schlafenden Leib zurück; sie wußte in keiner Weise, wie sich alles geändert hätte, und unterließ eine Weile das Träumen.
Nach einiger Zeit begann sie es aber doch wohl von neuem. Sie verließ abermals ihr Fleisch; diesmal begegnete sie aber gleich ihrem Bruder. Und wieder lag ihr Leib nackt auf dem Bett, und sie sahen ihn beide an, ja die Haare über dem Schamteil dieses ohnmächtig zurückgelassenen Körpers brannten wie ein kleines goldenes Feuer auf einem Grabmal aus Marmor. Weil es das Du und das Ich zwischen ihnen nicht gab, war dieses Dreisein nicht verwunderlich. Ulrich sah sie so mild und ernst an, wie sie ihn nicht kannte. Sie blickten sich auch gemeinsam in ihrer Umgebung um, und es war ihr Haus, worin sie sich befanden, aber obgleich Agathe alle Gegenstände gut erkannte, hätte sie nicht sagen können, in welchem Zimmer das geschah, und das war wieder eine seltsame Annehmlichkeit, denn es gab nicht Rechts noch Links oder Früher und Später, sondern wenn sie etwas gemeinsam anblickten, entstand ein Vereintsein wie von Wasser und Wein, das mehr golden oder mehr silbern war, je nachdem dareingeschüttet wurde. Agathe wußte sofort: »Das ist es jetzt, wovon wir so oft gesprochen haben, die Ganze Liebe« und sie paßte genau auf, damit ihr nichts entgehe. Es entging ihr aber doch immer, wie das geschah. Sie sah darauf ihren Bruder an, aber auch er blickte mit einem steifen und verlegenen Lächeln vor sich hin. In diesem Augenblick hörte sie irgendwo eine Stimme sagen, und diese Stimme war so übermäßig schön, daß sie gar nicht irdischen Dingen gleichen mochte: »Wirf alles, was du hast, ins Feuer, bis zu den Schuhen; und wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!« Und während sie dieser Stimme zuhörte und sich erinnerte, daß sie diesen Satz kenne, stieg ein Glanz in ihre Augen und drang aus ihnen hinaus, der die genaue irdische Bestimmtheit auch von Ulrich fortnahm, und sie hatte dabei nicht den Eindruck, daß ihm nun etwas fehle, sondern jedes Glied an ihr empfing davon in der Weise seiner besonderen Lust große Gnade und Seligkeit. Unwillkürlich tat sie einige Schritte auf ihren Bruder zu. Da kam er ihr von der anderen Seite in der gleichen Weise entgegen.
Nun war nur noch ein schmaler Abgrund zwischen ihren Körpern, und Agathe fühlte, es müsse etwas getan werden. An dieser Stelle ihres Traums begann sie auch mit aller Anstrengung wieder nachzudenken. »Wenn er etwas liebt und es empfängt und genießt,« sagte sie sich »so ist er nicht mehr er, sondern seine Liebe ist meine Liebe!« Sie hatte wohl ein Empfinden dafür, daß dieser Satz so, wie sie ihn aussprach, irgendwie verwachsen und verstümmelt wäre, aber sie verstand ihn doch durch und durch, und da nahm er eine alles erklärende Bedeutung an. »Im Traum« erläuterte sie es sich »darf man nicht überlegen, da geschieht alles!« Denn alles, was sie überlegte, glaubte sie geschehen zu sehn oder vielmehr, was geschah und an der Wollust des Stoffes teilhatte, hatte auch an der Wollust des Geistes teil, die als Gedanke in sie drang, wie es tiefer nicht möglich ist. Es schien ihr das eine große Überlegenheit über Ulrich zu geben; denn während dieser nun wieder hilflos dastand, ohne sich zu regen, stieg nicht nur der gleiche Glanz in ihre Augen wie vorhin und füllte sie, sondern sein feuchtes Feuer brach mit einemmal auch aus ihren Brüsten und hüllte alles, was ihr gegenüber war, in ein unbeschreibliches Empfinden. Von diesem Feuer wurde nun ihr Bruder erfaßt und begann darin zu brennen, ohne daß das Feuer weniger oder mehr wurde. »Nun siehst du!« dachte Agathe. »Man hat es immer falsch gemacht! Man baut immer eine Brücke aus hartem Stoff und kommt immer nur an einer Stelle zueinander hinüber: man muß aber den Abgrund an allen Stellen überschreiten!« Sie hatte ihren Bruder an den Händen erfaßt und wollte ihn an sich ziehen: da löste sich, während sie zog, aber ohne eigentlich verändert zu werden, der brennende nackte Mannesleib in einen Busch oder eine Wand herrlicher Blumen auf und kam in dieser Gestalt lose näher. In Agathe schwanden alle Absichten und Gedanken; sie lag ohnmächtig vor Wollust auf ihrem Bett, und während die Wand durch sie hindurch schritt, glaubte sie auch, daß sie unter großen Bächen von weichhäutigen Blüten durch wandern müsse, und sie ging, ohne den Zauber vergehen machen zu können. »Ich bin ja verliebt!« dachte sie, wie einer einen Augenblick findet, wo er Luft zu schöpfen vermag, denn sie konnte ihre ungeheure Erregung, die nicht enden wollte, kaum noch ertragen. Sie sah auch ihren Bruder nicht mehr seit der letzten Verwandlung, aber er war nicht verschwunden. Und damit wachte sie auf, daß sie ihn suchte; aber sie fühlte, daß sie noch einmal zurück wollte, denn das Glück hatte eine solche Steigerung erreicht, daß es immer mehr wurde. Sie war ganz verwirrt, als sie aus dem Bett stieg: in ihrem Kopf war die beginnende Wachheit und in allen anderen Teilen ihres Körpers noch der nicht beendete Traum, der scheinbar kein Ende haben wollte.
Zusammenfassung der beiden Träume: Besser: den nicht allzu interessanten Traum als unklare Erinnerung schildern.
Leib Verlassen und doch Leib haben – Ihr Leib ist der ihres Bruders – Auch die Dinge haben etwas Ähnliches – Es ist ein süßer Schmerz; todgleich ohnmächtig und doch voll Kraft; sie begreift alles, wie wenn Sonne, Mond und Sterne in einem Wasser wiederscheinen. – Sie betastet ihren Bruder – dem Todgleichen tritt hier das Gruftähnliche an die Seite – Sie hebt ihn, sie vereinigen sich – Feuervergleich klingt an – Aber sie hat doch noch Angst vor den Menschen. Sie traut sich nicht weiter zu träumen. Im zweiten Traum geht sie es energischer an. Jetzt brennen auf dem Grabmal ihre Haare – Wieder gibt es das Du und Ich zwischen ihnen nicht und darum das Dreisein. – Realzeichen verschwinden; an ihrer Stelle eine Art Mischung. Agathe weiß: das ist es jetzt! Sie kann aber doch nicht begreifen. Auch Ulrich steht im Stupor. Da Befehl der Stimme: »Wirf …« – Ihre Interpretation: Entrealisierender Glanz, der mit Wollust verbunden ist. Sie bewegt ihren Bruder zu sich bis auf letzten schmalen Abgrund. Er darf wohl auch nicht über den Abgrund (Vagina?) gehen. Nun denkt sie angestrengt nach; das Ergebnis heißt wohl: ich muß handeln, und zwar (Glanz aus Brüsten): sexuell handeln. Und zwar (Brücke) nicht in der normalen Vereinigungsart. Das wird sehr wollüstig, aber bedrückend. Sie befreit sich für einen Augenblick in dem Gedanken: ich bin ja verliebt (der scheinbar ein Vorwurf ist, in Wahrheit ihr aber das Natürlichere wäre!). Ihr Bruder bleibt nun verschwunden, und sie wacht auf, indem sie ihn sucht.
Nachtrag: Vielleicht ist es besser, diesen Traum prophetisch zu gestalten.


Pyrrhussieg Agathes über ihren Rechtsanwalt


Waren ihre Seelen zwei Tauben in einer Welt von Habichten und Eulen? Ulrich hätte es nie über sich gebracht, etwas Ähnliches gelten zu lassen, und liebte darum zu bemerken, ja fand eine Art Sicherheit darin, daß die äußeren Geschehnisse keine Rücksicht auf die Entzückungen und Befürchtungen der Seele nahmen, sondern ihrer eigenen Logik folgten. Seitdem ihn Hagauers Briefe gezwungen hatten, einen Rechtsanwalt um Rat zu fragen, hatte sich auch Hagauer an einen Berater gewandt, und da nun die beiden Rechtsbeistände Briefe wechselten, war eine »Causa« entstanden, unabhängig von ihren persönlichen Ursprüngen und gleichsam mit überpersönlichen Vollmachten ausgerüstet. Diese Sache zwang Ulrichs Anwalt, um Agathes persönlichen Besuch zu bitten, und als sie nicht kam, sich zu wundern, und als sie später noch immer nicht kam, ernsthafte Vorstellungen zu erheben, die schließlich Ulrich durch die Ausmalung der üblen Folgen in die Notlage versetzten, den Widerstand seiner Schwester zu überreden. Als sie bei ihrem Beistand erschienen, waren dadurch dem Verlauf schon gewisse Geleise gelegt. Sie hatten einen gewandten und gefestigten Mann vor sich, nicht viel älter als sie selbst, der, gewohnt, selbst an der Stätte des Gerichts zu lächeln und höflichen Gleichmut zu bewahren, auch im Verkehr mit Auftraggebern von dem Grundsatz ausging, daß man sich von allen Dingen und Menschen zuvörderst selbst ein Bild zu machen habe und sich von dem Klienten, der immer unzuverlässig und zeitverschwenderisch sei, möglichst wenig beirren lassen dürfe.
Agathe erklärte denn auch nachträglich, daß sie sich die ganze Zeit über eigentlich als »Rechtspatientin« vorgekommen wäre, und das traf insofern die Wahrheit, als alle ihre Antworten auf die einleitenden und grundlegenden Fragen ihres Anwalts geeignet waren, diesen in einem zweifelnden Urteil zu bestärken. Seine Aufgabe war schwierig. Eine Scheidung »von Tisch und Bett«, die leicht zu erreichende »Trennung«, genügte den Wünschen seiner Vollmachtgeber nicht, und eine Scheidung »dem Bande nach«, die wirkliche Aufhebung der katholisch geschlossenen Ehe mit Hagauer, war nach den Gesetzen des Landes unmöglich und nur auf dem Umweg über verschiedene andere Staaten und deren Rechtsbeziehungen zueinander sowie durch verwickelte Ein- und Ausbürgerungen zu erreichen, was einen Weg ergab, der zwar sicher zum Ziel führen sollte, aber durchaus nicht ohne Schwierigkeiten und im vorhinein zu übersehen war. Darum hatte sich Agathes Rechtsanwalt vorgenommen, ihren allzu gewöhnlichen Scheidungsgrund, den sie einfach als Abneigung angab, durch einen stichhältigeren zu ersetzen.
»Unüberwindliche Abneigung könnte nicht genügen, haben Sie Ihrem Herrn Gemahl nicht noch etwas anderes vorzuwerfen, gnädige Frau?« forschte er. Agathe sagte kurzweg nein. Sie hätte Hagauer vieles vorwerfen können, aber sie wurde rot und blaß, denn alles gehörte so wenig hieher wie sie selbst. Sie war Ulrich böse.
Der Rechtsbeistand sah sie aufmerksam an. »Unhöfliche Behandlung, leichtfertige Vermögensgebarung, grobe Vernachlässigung der Pflichten als Gatte, wie steht es damit, gnädige Frau?« Er versuchte, sie auf einen Einfall zu bringen. »Die sicherste Scheidungsursache bleibt natürlich immer eheliche Untreue!«
Nun sah auch Agathe ihr Gegenüber an und antwortete mit klarer, ruhiger, tiefer Stimme: »Alle solchen Gründe habe ich ja nicht!«
Vielleicht hätte sie lächeln sollen. Dann wäre der Mann, der ihr, sorgfältig gekleidet, gegenübersaß und immerhin noch lebenslustig war, überzeugt gewesen, eine schöne und unbestimmbar fesselnde Frau vor sich zu haben. Aber der Ernst ihres Ausdrucks ließ nicht das geringste für ihn übrig, und das Gehirn des Anwalts wurde trocken. Er erinnerte sich aus den Akten, zu denen nicht nur die Zuschriften des gegnerischen Vertreters, sondern auch Briefe Hagauers an Ulrich gehörten, an jene sorgfältig substantiierte Beschwerde darüber, daß das Scheidungsbegehren ungerechtfertigt und launenhaft unernst sei, und er dachte einen Augenblick daran, daß er viel lieber der Vertreter dieses anscheinend nüchternen und verläßlichen Mannes wäre. Dann fiel ihm ein, daß irgendwo auch das Wort »Psychopathin« vorkäme, und er wies es nicht so sehr Agathes wegen von sich als weil es ihn hätte hindern können, den lohnenden Auftrag zu übernehmen. »Nervös wird sie eben sein, solch eine Nervöse, die zu allerhand fähig ist, wie man es oft antrifft!« dachte er und begann seine Ausfragung vorsichtig jener Stelle zuzuwenden, die sich ihm bei der Prüfung des gesamten Bestandes als das Aufklärungsbedürftigste eingeprägt hatte. In der bei den Akten befindlichen Korrespondenz befanden sich – und zwar sowohl in den Briefen Hagauers an Ulrich als, was schwerer wog, auch in den Zuschriften des gegnerischen Anwalts – mehr oder minder deutliche Anspielungen eines Sinnes eingestreut, als wüßten die Herren von Unregelmäßigkeiten, die bei der Behandlung der Verlassenschaft vorgekommen seien oder wären gar auch Willens, die Beziehungen zu verdächtigen, die seither zwischen den Geschwistern eingetreten waren: es waren dies die bekannten Ergebnisse des punktweisabgestuften Nachdenkens von Ulrichs Schwager und wollten so verstanden sein, daß die Geschwister es sich wohl überlegen möchten, ob es nicht besser sei, ihren Entschluß zu ändern, ehe sie sich zu weit in eine Angelegenheit einließen, die für sie allerhand Gefahren enthielte. Agathes neuer Ratgeber brachte diese unzweideutigen Anspielungen nun so zur Sprache, daß er sich damit an Ulrich, als den ihm schon Bekannteren, wandte und es in der höflichen Weise eines Mannes tat, der einem anderen die Wiederholung einer überflüssigen Belästigung nicht ersparen kann; er wandte sich dazwischen aber auch an Agathe und gab zu verstehen, ob es sich zwar nur um eine Förmlichkeit handle, daß doch auch sie selbst, als seine Auftraggeberin, ihm über diese Einwürfe, die unter Umständen so schwer wiegen konnten als sie sich gewissenlos aussprechen ließen, eine Versicherung abgeben mußte, auf die er sein weiteres Handeln stützen könne.
Nun hatte aber weder Agathe die Briefe Hagauers gelesen, noch Ulrich von ihr Auskunft bekommen, was sie in der auf die »sogenannte Testamentsfälschung« – unwillkürlich sprach er in diesem Augenblick zu sich selbst so vorsichtig! – folgenden Zeit ihres Alleinseins eigentlich alles unternommen habe. Es trat also eine kleine Verlegenheitspause ein, die recht sonderbar wirkte. Ulrich suchte sie durch eine Gebärde zu beenden, die in einer gelassen hochmütigen Weise das Begehren des Rechtsanwalts als überflüssig und im vorhinein erfüllt bezeichnen sollte, aber seine Schwester störte diesen Plan ein wenig, indem sie zur gleichen Zeit gelassen neugierig an den Rechtsanwalt die Frage richtete, was ihr Mann denn eigentlich zu wissen meine. Der Rechtsanwalt sah vom einen zum andern.
»Meine Schwester gibt Ihnen natürlich die Versicherung, die Sie wünschen, in jeder Form« erklärte Ulrich schnell und möglichst gleichgültig. »Sie ist durch mich von dem Inhalt der Briefe genau unterrichtet, hat sie aber aus ganz persönlichen Gründen nur zum Teil selbst gelesen.« Diesmal lächelte Agathe, die ihren Fehler bemerkt hatte, rechtzeitig und bestätigte, daß es so sei: »Ich war zu sehr verstimmt« behauptete sie mit Ruhe.
Der Advokat dachte einen Augenblick nach. Es ging ihm durch den Sinn, daß dieser Zwischenfall ganz gut eine unerwünschte Bestätigung der gegnerischen Behauptung bedeuten könnte, daß Agathe unter einem unheilvollen Einfluß ihres Bruders stünde. Er glaubte natürlich nicht daran, aber er fühlte ohnehin gegen Ulrich ein wenig Abneigung. Das bewog ihn, Agathe mit der größten Höflichkeit zur Antwort zu geben: »Ich bitte vielmals um Verzeihung, gnädige Frau, aber mein Beruf zwingt mich, auf der Bitte zu bestehn, daß Sie in diese Angelegenheit selbst Einsicht nehmen müssen.« Und mit diesen Worten reichte er ihr, leicht nötigend, die Aktenmappe hinüber.
Agathe zauderte.
Ulrich sagte: »Du mußt formell selbst Einsicht nehmen.«
Der Advokat lächelte höflich und fügte hinzu: »Verzeihung, nicht nur formell!«
Agathe ließ ihren Blick zweimal in die Blätter tauchen, verzog das Gesicht und klappte die Mappe wieder zu.
Der Rechtsanwalt zeigte sich befriedigt. »Diese Anspielungen sind bedeutungslos« versicherte er.
»Ich habe das auch vorausgesetzt. Der Kollege hätte der üblen Gereiztheit seines Klienten einfach nicht nachgeben dürfen. Aber es wäre immerhin peinlich, wenn während des zivilrechtlichen Verfahrens plötzlich eine staatsanwaltschaftliche Anzeige einliefe. Man müßte dann sofort mit einer Gegenklage wegen Verleumdung antworten können oder ähnlich …« Scheinbar ohne daß er es wollte, ging seine Redeweise aus der Art der Unwirklichkeit dabei wieder in die des Möglichen über, und Ulrich kam es vor, daß in diesen Versicherungen noch immer eine Frage lauere.
»Natürlich wäre es ungemein peinlich« bestätigte er trocken und nahm sich vor, außer diesem bekannten Scheidungsanwalt noch einen richtigen Verbrecheranwalt zu befragen, einen, mit dem man etwas offener reden könne, um alle Möglichkeiten zu erfahren, die in so einer Unglücksgeschichte stecken. Aber er wußte nicht, wie er einen solchen Mann finden solle. »Ein Kampf in dieser schmutzigen Art ist für reinliche Menschen immer peinlich« fügte er hinzu. »Aber kann man etwas anderes tun als abwarten?« Der Rechtsanwalt tat, als müßte er noch einen Augenblick nachdenken, lächelte und sagte mit einer Bitte um Entschuldigung, daß er doch sehr raten müsse, auf seinen ursprünglichen Vorschlag zurückzugreifen und dem Gegner eine Verletzung der ehelichen Treue nachzuweisen. Die Länge der schon bestehenden Trennung ließe den anzulastenden Tatbestand mit Sicherheit voraussetzen, an Instituten, die so etwas diskret und verläßlich besorgten, bestünde kein Mangel und daß man mit diesem gleichsam klassischen Scheidungsgrund unaufhaltsam und am raschesten zum Ziel käme, wäre der größte Vorteil, in einem Kampf, wo man dem Gegner keine Zeit lassen dürfe, seine Intrigen zu entfalten.
Ulrich schien das auch einzusehen.
Aber Agathe, die ihre einstige Sicherheit im Verkehr mit Anwälten und anderen Rechtspersonen ganz verloren hatte, sagte nein. Hatte sie sich eingebildet, daß man eine Scheidung beim Advokaten bestelle wie eine Torte beim Zuckerbäcker, die nach Wahl ins Haus geliefert wird, geschah es, daß sie Ulrich verübelte, sie in eine Lage gebracht zu haben, wo ihr Verantwortlichkeitsgefühl für die Hagauer unschuldig zugefügten Peinlichkeiten erwachte, oder wollte sie einfach nicht den Absturz ihrer Welt in die Fortdauer solcher Unterredungen ertragen, genug, sie weigerte sich heftig.
Sie hielt diesen Vorschlag auch für eine Bequemlichkeit des Rechtsanwalts und hätte sich vielleicht überreden lassen; aber Ulrich tat es nicht, sondern entschuldigte sie bloß lächelnd mit dem Scherz, daß sie eben selbst durch einen Detektiv nichts mehr von ihrem Gatten wissen wolle, und der Scheidungsanwalt seufzte mit einemmal ritterlich ergeben, denn er mochte die Besprechung schon beenden. Er versicherte nun, daß sie auch so ans Ziel kommen wollten, und schob Agathe die Prozeßvollmachten zur Hand, die sie unterschreiben sollte.
Nachtrag: Eventuell: Ulrich fragt, ob Vorschläge Hagauers zu einer gütlichen Austragung vorlägen und erklärt die Fortsetzung der Unterredung in diesem Sinn andernfalls für unerwünscht.

Schon als sie die Treppe hinabstiegen, schob Ulrich seinen Arm unter den Agathes, und unwillkürlich blieben sie in dem Augenblick, wo das geschah, stehen.
»Wir waren eine Stunde in der Wirklichkeit!« sagte er.
Agathe sah ihn an. Der Schmerz schloß den Hintergrund ihrer hellen Augen ab wie eine Steinmauer.
»Bist du sehr niedergeschlagen?« fragte er teilnehmend.
»Das bedeutet eine solche Erniedrigung, daß wir uns ihr entziehen müßten« gab sie langsam zur Antwort.
»Das ist sehr die Frage« meinte Ulrich.
»Eine wirkliche Erniedrigung, wie man mit dem Mund in den Staub fällt! Etwas, das wir uns vorzustellen in der letzten Zeit verlernt haben!« wiederholte Agathe mit leiser, heftiger Stimme.
»Ich meine, es ist die Frage, ob wir uns dieser Erniedrigung entziehen dürfen« erwiderte Ulrich.
»Vielleicht drohen uns auch noch viel größere. Ich muß dir gestehn, daß ich heute von unserer Lage beinahe den Eindruck habe, daß sie schlimm sei. Denn gesetzt, wir gäben nach: Wir könnten vielleicht noch einen Irrtum vorschützen, eilig gutmachen, verschleiern. Aber es hinge von ihm ab, das anzunehmen oder nicht, und er wird auf dich nicht verzichten, ja er wird, da er einmal Verdacht geschöpft hat, seine Waffe nicht eher aus der Hand legen, als du dich ihm bedingungslos unterworfen hast. Das ist einfach seine Ordentlichkeit!« sagte Ulrich, da Agathe das Ende seiner Rede nicht abwarten zu wollen schien. »Anderseits können wir natürlich dem Vorschlag unseres Anwalts oder einem ähnlichen Plan folgen, und versuchen, ihn mürbe zu machen. Aber was haben wir davon? Gesteigerte Gefahr, denn der Gegner wird sich durch unseren Angriff aller Rücksichten entbunden fühlen, und als Erfolg bestenfalls, außer der Scheidung den, daß wir einen tief gleichgültigen Menschen böswillig geschädigt haben.«
»Und die Schuld der Existenz?!« wandte Agathe leidenschaftlich ein, obgleich sie sich mit Gewalt zwang, einen Scherz daraus zu machen. »Was du selbst oft gesagt hast, daß die einzige reingebliebene Frau die ist, die ihre Liebhaber köpfen läßt?!«
»Habe ich das gesagt? Da könnte man den Erdball in die Luft sprengen!« sagte Ulrich ruhig.
»Wenn man alle Zeugen seiner Fehler beseitigen wollte!« Und er fügte nachdenklich hinzu: »Du verkennst noch immer den Gewöhnlichkeitsgrad, die greifbare Schwierigkeit der Lage, in der wir uns befinden: Wir sind auf die eine wie die andere Weise von Vernichtung bedroht und haben nur die Wahl, es zu bleiben oder –«
»Uns zu töten!« sagte Agathe kurz und bestimmt.
»Ach, was du sagst! Das klingt zwischen den Steinen solchen Treppenhauses! Hoffentlich hat es niemand gehört!?« Er verwies es ihr ärgerlich und blickte sich vorsichtig um. »Du bist doch zu dumm! Es ist bekanntlich nicht einmal sicher, daß der Tod besser sei als Gefängnis. Aber wir können uns jeder Wahl doch auch dadurch entziehn, daß wir fliehen.«
Agathe sah ihn an und ihre Augen glichen in diesem Nu unwillkürlich denen eines Kindes, das getobt hat und auf den Arm genommen wird. »Auf eine Insel in der Südsee« sagte Ulrich und lächelte.
»Aber vielleicht genügt auch schon eine in der Adria. Wohin uns einmal in der Woche ein Boot den Bedarf bringt.«
Sie waren benommen, als sie unten am Tor standen und vom Anprall der sommerlichen Straße getroffen wurden. Ein weißliches Feuer, in dem helle Schatten lebten, schien sie zu erwarten. Die Menschen, Tiere, der Straßenrahmen und auch sie selbst verloren in den heißen Lichtstrahlen etwas von ihrer körperlichen Gebundenheit. Agathe hatte gesagt: »Du hast es noch nie wollen! Dazu bin ich dir doch zu wenig?« Ulrich erwiderte: »Oh, wir wollen das nicht in dieser Weise besprechen! Es ist schwieriger als der Entschluß, der Welt zu entsagen. Denn wenn wir einmal geflohen sind, gerät hier, im wirklichen Leben, das uns als das unsere auferlegt war, alles ins Schlimme, und es gibt kaum eine Umkehr, obwohl wir gar nicht wissen, ob dort, wohin wir wollen, ein Boden ist, auf dem Menschen anders als in Träumen stehen können. Wenn ich noch immer überlege, geschieht es nicht aus Zweifel an dir und mir, sondern an dem, was möglich ist!«
(Aber anderseits ist es doch auch recht praktisch! Der Rechtsanwalt hat seine Instruktionen, der Auftraggeber ist verreist: entweder einigen sich die beiden Vertreter, um zu Ende zu kommen, oder sie verschleppen.)
(Als sie dann schließlich zurückkehren, ist alles in ganz guter Ordnung, der sich selbst gegen Katastrophen schützende Automatismus des Lebens. Sie haben bloß eine Reise gemacht, die Rechtsanwälte zaudern noch, usw.)


Peter und Agathe


Agathe entschließt sich aus irgendeinem Grund, noch einmal zu Lindner zu laufen. Nachtkästchenlade und zum Teil Wohnungseindruck hieher. Peter ertappt sie, und dadurch gerät nun sie beinahe in die Rolle, die sonst Lindner ihr gegenüber hat.
Lindner spricht bildlich ebensogern von Schlagen wie von Demut u Hingabe; seit einiger Zeit ballt sich das zu zwei Affektgruppen, die ihn jede für sich gefährden.
Peter: In, jung, der Deutsche. Agathe lacht über ihn. Via Mystiker lachen nicht, auch eine Reaktion auf Ulrich.
Eventuell. Reste Erziehungsmethode. Dort auch Mädel.
Schilderung Peters und ein wenig seine Reaktion auf Agathe. Szene Peter – Agathe (Zu Institutsfolgen: auch Agathe im Institut erzogen.)
Agathe deutet Peter ihre Abreise mit Ulrich an.
Agathe ist plötzlich verschollen und bleibt es. Peter weiß Näheres, quält aber bloß den Alten.


Bonadea
oder die Schülerin der natürlichen Liebe


Die natürlich Liebende. Bonadea oder die Schülerin der natürlichen Liebe. (Soll sich das nicht bei Diotima abspielen, damit Abwechslung ist?) Oder: Diotima und Bonadea besuchen ihn, Diotima geht für zwanzig Minuten weg. Bonadea bleibt, »um Ulrich noch zu bearbeiten«. Diotima wird sie abholen. Der oft zutreffende Spott dummer Menschen über geistige Sachen: Neue Möglichkeit, den Koitus als Sport, Wissenschaft oder Kunst zu betreiben. Dem Sinn der Zeit entsprechend. Das erzählt sie unbekümmert. Sie will einmal wieder anders.
Später wird sie wieder toll vor Entbehrung.
Bonadea war mit den Kindern allein zuhaus – Mann in der Richtervereinigung – sie hatte ihm in den Überrock geholfen. Die Arme waren knisternd und lang hineingeschlüpft, der Mann sah im Vorzimmer so groß aus. Bonadea hielt sich zurück. Im neuen Geist – sie wollte Ulrich zeigen! Aber sie vermochte es kaum noch zu ertragen. Sie ist wie – Zigarettenentzug, keine Ruhe, immer die Bilder. Sie geht Schlafzimmer, sieht an – nein nein! – Im Salon wird sie an Haltung gemahnt – bei den Kindern hält sie es nicht aus – Küche, Speisekammer. Sie kniet auf den Steinfließen nieder, streift eigens noch die Strümpfe zurück, die nackten Knie müssen berühren – sie sieht eine Rübe, kann nicht widerstehn, preßt sie tief in den Mund, keucht, wird rot – blau, die Erregung geht teilweise in Scham über, befreit sie. Zurückgekehrt ist ihr Haar wild, ihr Blick ein wenig irr – die Kinder schmiegen sich an sie. Zum erstenmal sind sie ihr so gleichgültig, daß sie sie morden könnte, um sich zu befrein – – Wenn ich mit dir ein Kind – –
Sie hatte die Fähigkeit, jederzeit das tun zu können, was sie für eine ehrenvolle Leidenschaft hielt. Es kommt ihm als eine schmutzige Spielerei vor (»Kindisch«). Eventuell: Linien voll eines wirren Sinns, wenn es nicht der einfache der Liebe ist. Abstoßende Körperteile, wenn man sie nicht liebt. Bonadea könnte in beliebigem Zusammenhang sagen: Ich war so glücklich, du hast das zerstört. Der Gedanke: Du hast ein Verhältnis mit ihr – nahm sich im Munde eines Alltagsmenschen merkwürdig selbstverständlich aus. Unappetitlichkeit des Ehebruchs. Ein Mensch mit Haltung darf es nicht. Was tätest du, wenn ich dir vorschlüge: Scheidung. (Ausgeschlossen. Denk an die Kinder!) Ganz wie aus einem Bild, das ›Heimlicher Besuch‹ heißt und ähnliches. Eine Frau, die sich preisgibt, hat sich … selbst zuzuschreiben. Begabte Lockenköpfe … Ein Lächeln reizt sie … Affekt anstelle fehlender Gedanken. Die Verführung, sich liebend in dieses Gesicht zu stürzen, wie der Krieger in die Schlacht. Sie setzt sich auf seinen Schoß. Ich möchte nichts lieber, als nichts von dir wissen. Entrüstet über ihre Schlechtigkeit windet sie sich auf seinen Beinen, als er sie küßt. Wir wollen uns ganz trennen – als Einleitung der Vereinigung. Nachher wie ein Fleischer. Aber mit Menschen ist man nur in Katastrophen eins: als Sinn der Sexualität.
Nachtrag: Bonadea, durch arrivierten Ehrgeiz und Pause entfremdet, kann nicht so rasch Rock hinauf, Hosen hinunter – und der »gesunde« Mensch bringt das doch zuwege und hat die ganze Verachtung für den Menschen, der ihn nicht dabei unterstützt und tröstet.


Krisis und Entscheidung


Als Agathe nach Hause kam, es geschah in der Dämmerung, suchte sie Ulrich, der aber die Wohnung verlassen hatte, um das, was geschehen war, zunächst so gut wie möglich zu vergessen. Sie setzte sich in seinem Arbeitszimmer nieder, legte Hut und Handschuhe neben sich auf das Sofa und überließ sich dem langsamen Finsterwerden, das ihrer Stimmung entsprach. Sie hatte den Vorsatz, Lindner nicht sobald wieder aufzusuchen und wollte Ulrich für ihre Bosheit um Verzeihung bitten.
Da berührten ihre Finger in den Polstern einen harten, sanft gewölbten, zackigen Gegenstand, und als sie ihn gegen das Licht hielt, erkannte sie darin einen kleinen Steckkamm, wie ihn Frauen tragen. Bonadea hatte ihn verloren. Agathes Hände, die ihn hielten, wurden ganz verwirrt davon. Sie sah ihn mit geöffneten Lippen an, und das Blut wich aus ihrem Gesicht. Wenn das Wort Bestürzung sagen will, daß alle Gedanken davonstürzen und das kleine Haus des Schädels mit geöffneten Laden und Türen leer steht, so war Agathe bestürzt. Die Tränen stiegen ihr in die Augen ohne hervorzuquellen. Sie wartete gedankenlos – mit wenigen Gedanken, die sich kaum in ihr regen wollten – auf ihren Bruder. Unter diesen Gedanken befand sich der, daß es sie doch gar nicht überraschen dürfe, was sie erfahren habe, und der entgegengesetzte, daß es nichts als natürlich sei und daß sie jederzeit daran hätte glauben müssen; was dazwischen lag, schien sie nicht erraten zu können, ehe Ulrich käme.
Als er eintrat, merkte er sogleich die Anwesenheit einer zweiten Person im Dunkel und ging auf seine Schwester zu, die es ja wohl nur sein konnte, um sie sanft und reuevoll zu begrüßen. Agathe bat ihn aber mit einer solchen Stimme, sich ihr nicht zu nähern, sondern lieber Licht anzuzünden, daß er kehrtmachte. Als es hell war, hielt sie ihm mit emporgestrecktem Arm den kleinen Kamm entgegen, und was sie nicht sagte, las er in ihren Augen. Ulrich hätte leugnen können; es wäre wohl nicht wahrscheinlich gewesen, den Fund durch Unordnung als eine Hinterlassenschaft aus früheren Zeiten zu erklären, doch hätte es vielleicht die unmittelbare Wirkung abgefangen und geschwächt: aber die Reue war schon ganz weit in ihm durchgekommen, und er machte keinen Versuch zu leugnen.
Agathe bezwang sich und hörte ihm mit einem bestürzten Lächeln zu. »Bist du denn auf Bonadea eifersüchtig?« fragte er sie und wollte ihr Gesicht streicheln, um den Vorfall ins Scherzhafte zu ziehn. Agathe faßte aber seine Hand und hielt sie fest, ehe sie von ihr berührt wurde.
»Ich habe doch kein Recht darauf« sagte sie. Im gleichen Augenblick begannen ihr die Tränen aus den Augen zu stürzen. Ulrich bekam beinahe auch feuchte Augen. »Du weißt doch, wie so etwas kommt.«
Schließlich saßen sie eine Weile, hielten sich an den Händen und trauten sich weder etwas zu sagen, noch zu tun. Es war ganz dunkel geworden. Agathe fühlte eine Verlockung sich auszukleiden, ohne ein Wort zu sprechen. Vielleicht lockte das Dunkel auch Ulrich zu ihr hinüberzukriechen oder etwas Ähnliches zu tun. Beide wehrten sich gegen diese Handlungstypen formende Kraft der Geschlechtslust. Hätten sie nun getan, was sie fühlten, so wäre in einer Stunde alles vorbei gewesen. So aber fragte sich Agathe: »Warum geschieht nichts? Warum versucht er es nicht!«
Und als es nicht geschah, fragte sie ihren Bruder: »Willst du jetzt nicht Licht machen?«
Ulrich zögerte. Aber dann machte er aus Furcht Licht.
Und es stellte sich heraus, daß er etwas vergessen hatte, das er selbst besorgen mußte. Es war einleuchtend, daß er es besorgen mußte und sollte höchstens eine dreiviertel Stunde dauern, und Agathe redete ihm selbst zu, es zu tun. Er hatte jemandem, der wichtig war, einen Bescheid versprochen, und telefonisch ließ sich das nicht machen. So zog sich das natürliche Leben bis in diese Stunde hinein, und es war eben das natürliche Leben, und nachdem sie sich getrennt hatten, wurden beide traurig.
Ulrich wurde so traurig, daß er beinahe umgekehrt wäre, doch fuhr er weiter; Agathe dagegen wurde so traurig, wie sie es noch nie in ihrem Leben gewesen war. Im Gegensatz zu allem anderen kam ihr diese Trauer geradezu unnatürlich vor; sie erschrak und spürte sogar ein neugieriges Staunen. Dies Unnatürliche war eine besondere Eigenheit. Soweit diese Trauer überhaupt für etwas anderes neben sich Platz ließ; gleichsam wie einen Schimmer an ihrem Rand. Tiefste Trauer ist überdies nicht schwarz, sondern dunkelgrün oder dunkelblau und hat die Weichheit des Samtes; sie ist nicht sowohl Vernichtung als vielmehr eine seltene positive Qualität. Dieses tiefe Glück in der Trauer, das Agathe sofort spürte, hat seinen Ursprung wahrscheinlich in der Verwandtschaft von Eingeistigkeit und Begeisterung, daß mit der ausschließlichen Herrschaft jedes einzelnen Gefühls das Glück verbunden ist, von allen Widersprüchen und Unentschlossenheiten nicht auf eine kalte, pedantische, unpersönliche Weise wie durch die Vernunft, sondern großmütig befreit zu sein. In jedem groß gewordenen Mut und Unmut steckt die Qualität des Großmuts. Ohne einen Augenblick überlegen zu müssen, erinnerte sich Agathe, wo sie ihr Gift bewahre, und stand auf, es zu holen. Die Möglichkeit, das Leben mit seinen Ambivalenzen zu beenden, befreit die ihm innewohnende Freude. Agathes Trauer wurde in einer ihr kaum begreiflichen Weise heiter, als sie das Gift vor sich auf einen Tisch legte. Sie holte ein Glas und eine Flasche Wasser und stellte sie daneben. Auf das natürlichste schied sich ihre Zukunft in die beiden Möglichkeiten, sich zu töten oder das Tausendjährige Reich zu erreichen, und nachdem das zweite nicht mehr gelang, blieb nur das erste übrig.
Es kam der Abschied. Agathe war viel zu jung, um ganz ohne Pathetik aus dem Leben scheiden zu können, und sie recht zu verstehn, darf auch nicht verschwiegen werden, daß ihr Entschluß affektiv nicht genug fixiert war: ihre Verzweiflung war nicht ausweglos, nicht das Zusammenbrechen nach allen Versuchen, es gab für sie, wenn er auch im Augenblick verdunkelt erschien, immer noch einen zweiten Weg. Ihr Abschied von der Welt war anfangs bewegt wie eine Abreise. Zum ersten Mal erschienen ihr alle Figuren, die ihr darin begegnet waren, als etwas, das sich in Ordnung befand, jetzt, wo sie gar nichts mehr damit zu tun haben sollte.
Es kam ihr schön und friedlich vor, dem Leben nachzusehn. Übrigens gehen ganze Generationen im Handumdrehn dahin. Nicht nur sie hatte mit ihrer Schönheit eigentlich nichts anzufangen gewußt. Sie dachte an das Jahr 2000, hätte gerne gewußt, wie es dann aussehn werde. Dann erinnerte sie sich an Gesichter aus dem 16. Jahrhundert, die sie in irgendeiner Sammlung von Abbildungen einmal gesehn haben mußte. Vortreffliche Gesichter mit starken Stirnen und mit kräftigeren Gesichtszügen als man es heute sieht. Man konnte verstehen, daß alle diese Menschen einmal eine Rolle gespielt hätten. Dazu brauchte man aber wohl Mitspieler; einen Beruf, eine Aufgabe und ein bewegendes Leben. Aber ihr war dieser Rollenehrgeiz völlig fremd. Sie hatte nie etwas sein wollen von dem, was man sein konnte. Die Welt der Männer war ihr immer fremd geblieben. Die Welt der Frauen hatte sie verachtet. Zuweilen hatte sie die Neugierde ihres Körpers, das Verlangen des Fleisches mit andern in Berührung gebracht, so wie man auch ißt und trinkt. Es war aber immer ohne tiefere Verantwortung geschehn, und so hatte ihr Leben aus der Öde des Kinderzimmers, von wo es ausgegangen war, nur in ein undeutliches Geschehen ohne Grenzen geführt. So endete alles in Ohnmacht.
Freilich war diese Ohnmacht nicht ohne Kern: Gott hat nicht nur dieses Leben geschaffen, es ist nicht das wahre. Die Welt einer von vielen möglichen Versuchen. Das Beste an uns eine hauchähnliche, eine ewig wie ein Vogel vom Ast fliegende Masse. In ihrer Abneigung gegen die Autorität der Welt stak immer eine Vision. Ja, mehr als eine Vision; sie hatte es doch beinahe schon gegriffen: Man kommt zu sich, wenn einem Sehen, Hören und Sprechen vergeht. Es ist mehr als eine Anwandlung, dieses dunkle Blinken. Es schien ihr aber wenig Sinn zu haben, sich das zu wiederholen. Alle diese Erfahrungen klangen wohl durcheinander mit, aber sie waren nicht um das geringste apodiktischer als ehedem. Sie hatten etwas Schemenhaftes und etwas Wirkliches. Es war ihr nicht gegeben, Gott deutlich zu schauen, so wenig wie irgendetwas!
Ohne Gott blieb von ihr nur das Schlechte übrig, das sie getan hatte. Nutzlos war sie beschmutzt und empfand Widerwillen gegen sich. Auch alles, was sie soeben wiederholt hatte, war ihr nun in Ulrichs Gesellschaft deutlich geworden, mehr als eine nervöse Spielerei gewesen. Unwillkürlich empfand sie heiße Dankbarkeit für ihren Bruder. Sie liebte ihn in diesem Augenblick wahnsinnig.
Und dann fiel ihr ein: Alles, was er gesagt hatte, alles, was er noch sagen konnte, hatte er entwertet! Sie mußte Schluß machen, ehe er zurückkehrte.
Sie sah nach der Uhr. Was für ein zärtliches Ding dieser kleine Zeiger. Sie schob die Uhr fort. Es wurde ihr unheimlich.Viel weniger frei von Todesfurcht, als es oft gesunde Augenblicke waren, in denen Agathe an den Tod gedacht hatte. Und viel weniger schön; stumpf, farblos. Aber der Gedanke, daß es geschehen müsse – sie wußte durchaus nicht, wie er hergekommen war – hatte jetzt eine furchtbare Anziehungskraft. Sie fand wenig Überlegung mehr in sich vor, eigentlich ein Unvermögen, zu überlegen, nichts als die Idee: ich muß mich töten, und diese bloß in der Form dieses Satzes, unausgesprochen, unheimlich bewußt in ihrer Anwesenheit, füllte immer ausschließlicher die dunkle Leere.
Sie wollte ihre Angelegenheiten ordnen; sie hatte keine. Ich hinterlasse niemand, der mich beweint, auch Ulrich wird sich trösten. Sie tat sich sehr leid. Der Puls am Handgelenk floß wie Weinen.
Ulrich war doch zu beneiden, wenn er kämpft und arbeitet. Er ist doch wunderbar, so wie er ist!
Aber die Souveränität des Entschlusses beruhigte sie. Auch sie hatte etwas voraus. Wer das zu tun vermag, ist frei und niemand Rechenschaft schuldig. Sie fühlte die wunderbare Einsamkeit, mit der sie geboren war.
Und als sie das Pulver in das Glas geschüttet hatte, war die Möglichkeit der Umkehr vorbei, denn nun hatte sie ihren Talisman eingesetzt (wie die Biene, die nur einmal stechen kann).
Plötzlich hörte sie vor der Zeit Ulrichs Schritte. Sie hätte das Glas rasch hinunterstürzen können. Aber als sie ihn hörte, wollte sie ihn auch noch einmal sehn. Sie hätte danach aufspringen und hinunterstürzen können. Sie hätte etwas Gebieterisches sagen und sich damit aus dem Leben zurückziehn können. Sie blickte ihn aber ratlos an, und er merkte in ihrem Gesicht die Zerstörung. Er sah das Glas. Er brach zusammen, entsetzt über das, was er angerichtet hatte! Mit dem Ausruf »Ich habe doch nie etwas geliebt als dich!« schloß er sie in seine Arme.
»Wir werden uns nicht töten, ehe wir nicht alles versucht haben!«


Reise


I) Eisenbahnfahrt – Seereise. Wo? Reisezeit, keine Schlafwagen ab Budapest. In Budapest das Nichtdeutschsprechenwollen (siehe Krieg). In den Stationen dringen die rauhen Stimmen fremder Menschen Agathe schläft erschöpft (siehe Krisis).

Ancona. Erschöpft: Man wies ihnen ein Zimmer mit einem Letto matrimoniale an. Sie leisteten dem keinen Widerstand. (Kapitelende) Nächstes Kapitel: Das Zimmer, der Hafen nachholen. Dann in den Straßen Agathe wollüstig gestillt. Das ist alles, was über Coitus gesagt werden soll. Aber Gott treibt beide weiter.
II) Die Unruhe und Pflicht, den Ort zu suchen, treibt sie Der Ort, das Meer. Beim Gespräch am Ende vor den Kellnern habe ich das Gefühl, daß es mit Gott (den sie vermeiden wollen) enden müßte (Gehört zusammen). Hier könnte ein Trennungskapitel sich einschieben, aber General – Graf Leinsdorf ist zu stark und störend. Also unmittelbar weiter. Auch wegen des vorangegangenen starken Clarisse-Blocks unmittelbar weiter.
III) Das Meer, die Bucht. Es ist eigentlich ein Versagen, aber ein optimistisches, das Hoffnung vor sich hat. Wieder das Meer, aber vom Balkon aus, dessen Einsamkeit (er springt vor, sie scheinen allein über dem Meer zu sein) sie entdecken.
Das gelingende Wunder. Die Beschreibung aus mystischen Zeugnissen ist wegzulassen, alles auf das Staunen und die Wirklichkeit abändern. Es ist ein wirkliches Erlebnis, wie immer man darüber denken mag. (Utopie der induktiven Gesinnung im Schlußblock.) Die Welt? Sie ist irgendwie zurückgetreten, ist in einem anderen Zustand; insofern ist das ein Provisorium voller Fragen. Darum gut der Hauch von Trauer und Vergänglichkeit, der über dieser Stunde liegt.
Die Probe bei Tag wieder ein Gelingen. Es wird aber eine andere Art der Vereinigung beschrieben, die in Gedanken. Das ist aber auch schon ein sich Messen am Wirklichen. Bemerken sie das nicht?
Es ist der Versuch, trotzdem, ja mit gespanntem Festhalten des Trennenden wieder hineinzufinden. Es mündet (Träume muß man wohl weglassen) ins Verhältnis zum Allgemeinen, also ins Tausendjährige Reich. Eventuell: der Hermaphrodit im Verhältnis zu diesem. Aus der persönlichen Wollust in die allgemeine. Es ist schon eine Auflehnung gegen das Duale. Der Orkan der Liebe ist gleich der Wollust der Fremdheit. Es endet in der Frage: wie müßte man dann mit den anderen leben? Und mit der Lust am Steinschleudern. Zu ergänzen durch ihren sexuellen Zustand, der dem zurückgedrängten Coitus entspricht. Zu vergleichen: Agein – Pathein. (Hier General – Graf Leinsdorf, eventuell Rachel – Soliman – Arnheim – Diotima.)
IV) Auf der Höhe mit Gegenzügen. Weltliches. Gute Definition der vollendeten Schönheit. Zugleich aber das geheimnisvoll Verneinende in der Schönheit. Der Pfeil Apolls. (Implizite schon die Abhängigkeit von einer ergänzenden Umgebung. In dieser Richtung wohl weiterzubilden!) Auch schwingt der Sinn mit: Haß gegen die Schönheit im Sinn des sie zerstörenden Sexualbegehrens.
Agathes Heiterkeit und Abenteuerlichkeit, die wieder zu Sexualität führen. Ihre Vor- und Nachreaktionen. Ulrich hat manchmal subversive Gedanken über sie; wie er sich mit diesen abfindet (nicht ganz genügend).
Dann wieder Versuche wie mit der Säule. Das ist eine Fortsetzung der Hinauswendung. Das Unfeste der Welt und des Ich. (Vielleicht auch noch aus den Notizen zum Schlußteil ergänzen.) Natürlich ist das eine Konzession an das Dingliche, nicht ganz erlaubt, und wahrscheinlich mit dem Problem Gott zu verbinden.
V) Immer wieder die Probe Es ist die große Leere, die leere Größe. (Es muß gesagt werden, warum sie plötzlich nichts mehr zu reden haben? Ein Grund ist, daß die Spannung, die immer weiter gezogen hat, jetzt wegfiel. Ein anderer zum Teil identischer der Fortfall der Opposition. Der Hauptgrund muß in der Unselbständigkeit des anderen Zustands liegen (Pathein). Es gäbe nur noch die große Steigerung durch Glaube (an Gott oder an anderen Zustand); schon Südsee, Adam und Eva (mit oder ohne Bücher?) ist ein Kompromiß. Ein Teil dessen kann auch retrospektiv in Gespräch nach Rückkehr kommen. Jedenfalls ist die gesamte Entwicklung Ulrich / Agathe von hier aus zu behandeln!!)
Dazu gehört die Gesprächsanknüpfung an Mittagsglocke und Notwendigkeit.
Das Bedürfnis, sich das, was man erlebt, zu erzählen. (Das berührt – wie? –: Leben wie Lesen; auch schreiben – Selbstmord). Eine rasende Ungeduld. Sehnsucht nach Vergangenheit. Ulrich begreift die Unausführbarkeit der moralischen Forderungen als deren eigentlichen Sinn. (Da kulminiert alles ausdehnungslose Erleben. Band II das Blumenleben zum Beispiel) Agathe resumiert: eine Welt, sich zu fürchten! Ulrich: Alles Absolute ist offenbar Widernatur! (Das kann nicht sein letztes Wort sein!) Ulrich hat Verlangen nach dem Stubenmädchen. (Rachel fällt ihm ein.) (Eventuell hier die Rachel / Soliman-Geschichte erzählen.)
Nun versucht er: Wenn man so arm ist, braucht man erst recht einander.
Agathe erinnert aber: Das Lied vom Schwesterlein! Sie ist zuinnerst müde.
Der Kunstreisende. Das war beeinflußt von Statische Menschen, jetzt muß es wohl eine andere Nuance haben, etwa wie eine Erinnerung an Arnheim. Immerhin gibt es die Idee der glücklosen (dynamischen) Menschen.
Die Sonne läßt für das Menschliche kaum noch einen geduldeten Platz. Es war eine einfache Unüberlegtheit, daß sie im Sommer hieher reisten, und sie genügt, ein so stolzes Gebäude zu zerstören.
Auflehnung gegen das Heroische der Landschaft und wieder Meer (zum Teil die im ersten Absatz vorgemerkte Einschaltung auch hieher). Man muß (zum Meer) selbst sprechen statt zuzuhören.
Fürchterliche Augenblicke im heißen Zimmer. Zurückgestoßen auf die Abhängigkeit von den Elementen.
Ein Regentag als Erlösung. Zweiter, dritter: noch ärgere Qual. Sie können nicht mehr sprechen. Auf wenige Minuten konzentrierter Flug durch Seligkeit und Tod, mit dem Bewußtsein: es geht auf hundert Stufen der Wiederholung abwärts. Beschwörende Worte. Agathe: Ich kann nichts mehr dabei fühlen. (Nach Agathes Rückkehr. Es zeigt sich – wohl schon notiert – daß Lindner für sie nur durch Ulrich Interesse hatte. Eigentlich ist sie jetzt erst aus einem Mädchen zur Frau geworden, und das Leben der Frau, die nicht der Wasserträger des Mannes sein will, liegt mit seiner ungeheuren Trostlosigkeit vor ihr.)
Hier kommt ein Satz über Gott (kann aber fehlen) (Agathe: Wenn wir an Gott geglaubt hätten, hätten wir die Rede der Berge und Blumen verstanden.)
Ulrich: Wir müssen uns nach einem Dritten (das ist dann wider Erwarten Clarisse!?) umsehn. Zwischen zwei einzelnen Menschen gibt es keine Liebe! Liebe ist antisozial.
Agathe: Also abreisen.
Nachtrag: Es ist noch nicht Saison (der schließende Kellner). Nur der Kunstreisende darum, der das mitnimmt. Anfangs Störung wird er immer unentbehrlicher.
Wir wollten ins Paradies finden und uns töten, wenn nicht …
Willst du dich denn töten? Vielleicht hätte es Agathe wollen können, aber sie schüttelt den Kopf. Ulrich: Alle Bewegung kommt vom Bösen. Statt Gott tut es auch eine Patience, usw. Das heißt auch: Geduld, Nachsicht, Indolenz.
Agathe: Aber lieben wir uns denn nicht?!
Hier sagt Ulrich das von Abhängigkeit der Liebe von Umgebung. Besser nicht hier! Sondern nur die Fortsetzung: Ich war doch kein Narr, als ich das Paradies suchen wollte. Was ist also geschehn? Es hat sich in optische Täuschung und Sexus aufgelöst.
Agathe: Wir haben schon die längste Zeit nur vom Bösen gelebt.
Ulrich: Dennoch, wir werden wieder warten.
Und du wirst meine Schwester bleiben.
Agathe: Was soll aus mir werden?
Ulrich: Heiraten, Verhältnis (wie zu Beginn!).
Wir müssen leben, ohne einander für einander.
Agathe: Aber wenn ich dich liebe!
Ulrich: Kannst du dir vorstellen, daß wir übermorgen zuhause ankommen?!
(Unorganischer Coitus hat etwas Schwül-Ekliges. Darum – mit Schwesterproblatik beginnend – irgendwie, daß es weniger sexuelle Bedeutung hat als …? Versuch einer ganz anderen Biologie und dergleichen.)
Anmerkung: In dieser Liebesentwicklung wird das bedenklich Inzestuöse völlig überdeckt vom Liebesgrauen, der Tragik der Liebe und ihrer zu unbedingten Forderung. Weil sie fühlt, daß Ulrich nicht aus Eitelkeit so fordert, macht sie ihm am Ende auch keine Vorwürfe.
Am Tag nach diesem unseligen Gespräch trifft Clarisse ein und Agathe verschwindet.