MoE 5 | Zweites Buch | 1933-1936 | Zweite Fortsetzungsreihe

PARALLELAKTION

 
Band 5 (mit Seitensiglen und einfachem HTML-Code

Beschreibung einer kakanischen Stadt


Eines Tags saß der General vor den Geschwistern und sagte erstaunt zu Ulrich: »Ja, liest du denn keine Zeitungen?!«
Die Geschwister wurden so rot, als hätte sie der gute Stumm in flagranti ertappt, denn mochte in ihrem Zustand auch schon alles möglich sein, daß sie es vermocht hätten, Zeitungen zu lesen, war nicht möglich gewesen.
»Aber, man muß Zeitungen lesen!« mahnte der General verlegen, denn er hatte da eine unbegreifliche Tatsache aufgedeckt, und es war Diskretion, was ihn vorwurfsvoll hinzufügen ließ: »In B. haben große Demonstrationen gegen die Parallelaktion stattgefunden!«
Wirklich, während Ulrich und Agathe hinter geschlossenen Kristallplatten lebten – durchaus nicht unwirklich und ohne Ausblick auf die Welt, wohl aber in einem ungewöhnlichen, eindeutigen Licht, badete diese Welt jeden Morgen in dem hundertfältigen Licht eines neuen Tags. Jeden Morgen erwachen Städte und Dörfer, und wo immer sie es tun, geschieht es, weiß Gott, ungefähr auf die gleiche Weise; aber mit dem gleichen Recht auf Dasein, das ein Riesendampfer ausdrückt, der zwischen zwei Kontinenten unterwegs ist, fliegen kleine Vögel von einem Ast zum andern, und so geschieht alles zugleich sowohl etwas gleichförmig und vereinfacht als auch auf unzählige Weisen nutzlos abgewandelt und in einer hilflosen und seligen Fülle, die an die herrlichen und beschränkten Bilderbücher der Kinderzeit erinnert. Ulrich und Agathe fühlten auch beide ihr Buch der Welt aufgeschlagen, denn B. war keine andere Stadt als jene, wo sie sich wiedergefunden hatten, nachdem ihr Vater dort gelebt hatte und gestorben war.
»Und gerade in B. hat es dazu kommen müssen!« wiederholte der General bedeutsam.
»Du bist doch auch einmal dort in Garnison gewesen« bekräftigte Ulrich.
»Und der Dichter Feuermaul ist dort geboren« fügte Stumm hinzu.
»Richtig!« rief Ulrich aus. »Hinter dem Theater! Von daher hat er wahrscheinlich seinen Ehrgeiz, ein Dichter zu sein. Erinnerst du dich noch an dieses Theater? Es muß in den achtziger oder neunziger Jahren einen Baumeister gegeben haben, der in die meisten größeren Städte solche Theaterschatullen hinsetzte, die um und um mit Zierformen und Statuenzierrat beschlagen waren. Und Feuermaul ist richtig in dieser Spinn- und Webstadt B. auf die Welt gekommen: als der Sohn eines wohlhabenden Tuchkommissionärs. Ich erinnere mich, daß diese Zwischenhändler aus mir unbekannten Gründen mehr verdienten als die Fabrikanten selbst; und die Feuermauls gehörten schon zu den reichsten Leuten in B., ehe der Vater in Ungarn mit Salpeter oder weiß Gott welcher Mordproduktion ein noch größeres neues Leben begann: Du bist doch gekommen, um dich bei mir nach Feuermaul zu erkundigen?« fragte Ulrich.
»Eigentlich nicht« erwiderte sein Freund. »Ich habe erhoben, daß sein Vater große Pulverlieferungen für das Kriegsministerium hat: damit ist ja der Menschengüte seines Sohns im vorhinein ein Zügel angelegt. Der Beschluß bleibt Episode, dafür stehe ich dir gut!«
Aber Ulrich hörte nicht. Es war ihm ein lang entbehrter Genuß, sich in einer ganz alltäglichen Weise reden zu hören. »Dieses alte B. ist keine üble Stadt« fing er zu plaudern an. »In der Mitte liegt auf einem Berg eine alte häßliche Festung, deren Kasematten von der Mitte des 18. bis zu der des 19. Jahrhunderts als Staatsgefängnis gedient haben und berüchtigt waren, und die ganze Stadt ist stolz darauf!«
»Der Lachberg« bestätigte der General höflich.
»Das ist aber ein netter Lach-Berg!« rief Agathe aus und ärgerte sich über ihr Bedürfnis nach Gewöhnlichkeit, als Stumm das Wortspiel geistvoll fand und ihr versicherte, daß er zwei Jahre in B. garnisoniert habe, ohne auf diesen Zusammenhang gekommen zu sein.
»Das wahre B. ist natürlich der Ring der Fabrikviertel, die Tuch- und Garnstadt!« fuhr Ulrich fort und wandte sich an Agathe. »Was sind das doch große, schmale, schmutzige Häuserschachteln mit unzähligen Fensterlöchern, Gäßchen, die nur aus Hofmauern und Eisentoren bestehn, Straßen, die sich breit, ausgefahren und trostlos krümmen!« Ein paar Mal hatte er nach dem Tod seines Vaters dieses Viertel durchstreift. Er sah die hohen Schornsteine wieder, an denen die schmutzigen Fahnen des Rauches hingen, und die ölüberzogenen Fahrbahnen, dann verlor sich seine Erinnerung unvermittelt ins Bauernland, das auch wirklich unvermittelt hinter den Fabrikmauern begann, mit schwerer, fetter, fruchtbarer Erde, die im Frühling schwarzbraun aufbrach, mit niedrigen, langen, längs der Straße liegenden Dörfern, und Häusern, die nicht nur in schreienden Farben angestrichen waren, sondern in solchen, die mit unverständlich häßlicher Stimme schrien. Es war ein demütiges und doch fremd-geheimnisvolles Bauernland, aus dem die städtische Geschäftigkeit ihre Arbeiter und Arbeiterinnen sog, weil es eingeengt zwischen ausgedehnten Zuckerrübenplantagen des Großgrundbesitzes dalag, der ihm nicht die nötigste Wohlhabenheit übrig gelassen hatte. Jeden Morgen riefen die Fabriksirenen aus diesen Dörfern Scharen von Bauern in die Stadt und verstreuten sie zwar des Abends wieder über das Land, aber mit den Jahren blieben doch immer mehr dieser tschechischen von dem öligen Wollstaub der Fabriken an Gesicht und Fingern dunkelhäutigen Landleute in der Stadt zurück und machten das dort schon vorhandene slawische Kleinbürgertum kräftig wachsen.
Daraus ergaben sich schwierige Verhältnisse, denn die Stadt war deutsch. Sie lag sogar in einer deutschen Sprachinsel, wenn auch auf deren äußerster Spitze, und wußte sich seit dem 13. Jahrhundert in die stolzen Erinnerungen deutscher Geschichte verflochten. Man konnte in ihren deutschen Schulen lernen, daß hierorts schon der Türkenprediger Kapistran wider die Hussiten gepredigt habe, zu einer Zeit, wo gute Österreicher noch in Neapel geboren werden konnten; daß die Erbverbrüderung zwischen den Häusern Habsburg und Ungarn, die 1364 den Grund zur österreichisch-ungarischen Monarchie gelegt hat, nirgends anders abgeschlossen worden sei als hier; daß die Schweden im Dreißigjährigen Krieg diese tapfere Stadt einen ganzen Sommer lang belagert hatten, ohne sie erobern zu können, und noch weniger hatten das die Preußen im Siebenjährigen Krieg vermocht. Natürlich war dadurch die Stadt ebenso auch in die stolzen hussitischen Erinnerungen der Tschechen verflochten und in die selbständigen geschichtlichen der Ungarn, möglicherweise sogar auch in die der Neapolitaner, Schweden und Preußen, und es fehlte in den nichtdeutschen Schulen der Stadt keineswegs an Hinweisen darauf, daß diese Stadt nicht deutsch sei und daß die Deutschen ein Diebsvolk seien, das sich sogar fremde Vergangenheiten aneigne. Es war merkwürdig, daß das nicht gehindert wurde, aber so gehörte es zur weisen Mäßigung Kakaniens. Es gab dort viele solche Städte, und alle sahen sie auch ähnlich aus. Am höchsten Punkt thronte ein Gefängnis, am zweithöchsten eine Bischofsresidenz, und ringsherum, gut auf die Stadt verteilt, fanden sich ungefähr noch zehn Klöster und Kasernen. War das geordnet, was man auch »die Staatsnotwendigkeiten« nannte, so überspannte man im übrigen die Einheitlichkeit und Einigkeit nicht, denn Kakanien war von einem in großen historischen Erfahrungen erworbenen Mißtrauen gegen alles Entweder- oder beseelt und hatte immer eine Ahnung davon, daß es noch viel mehr Gegensätze in der Welt gebe als die, an denen es schließlich zugrunde gegangen ist, und daß ein Gegensatz durchgreifend ausgetragen werden müsse. Sein Regierungsgrundsatz war das Sowohl-als-auch, oder, noch lieber mit weisester Mäßigung das Weder-noch. Man vertrat in Kakanien die Auffassung, daß es nicht vorsichtig sei, wenn die einfachen Leute, die es nicht nötig haben, zuviel lernen, und man legte auch keinen Wert darauf, daß es ihnen wirtschaftlich unbescheiden gut gehe. Man gab gerne denen, die schon viel hatten, weil es da keine Gefahr mehr mit sich bringt, und setzte voraus, wenn in den andern etwas Tüchtiges stecke, werde es sich selbst zeigen, denn Widerstände sind geeignet, Männer zu erziehn.
Und so bewahrheitete es sich auch: unter den Gegnern wurden Männer erzogen, und die Deutschen bekamen, weil Besitz und Bildung in B. deutsch waren, mit Staates Hilfe immer mehr Besitz und Bildung. Wenn man durch die Straßen von B. ging, konnte man das daran erkennen, daß die erhalten gebliebenen schönen baulichen Zeugnisse der Vergangenheit, von denen es einige gab, zum Stolz der wohlhabenden Bürger zwischen vielen Zeugnissen der Neuzeit standen, die sich nicht bloß damit begnügten, gotisch, Renaissance oder Barock zu sein, sondern von der Möglichkeit Gebrauch machten, alles zugleich zu haben. Unter den großen Städten Kakaniens war B. eine der reichsten und drückte das auch baulich aus, so daß selbst die Umgebung, dort wo sie waldig und romantisch war, die roten Türmchen, schieferblauen Zackendächer und schußschartenähnlichen Mauerkränze wohlhabender Villen abbekam. »Und welche Umgebung!« dachte und sagte Ulrich, heimatfeindlichangeheimelt. Dieses B. lag in der Gabel zweier Flüsse, aber das war eine sehr weite und lockere Gabel, und die Flüsse waren auch nicht so recht Flüsse, sondern an manchen Stellen waren es breite, gemäßigte Bäche, und wieder an anderen waren es stehende Wasser, die dennoch insgeheim flossen. Auch die Landschaft war ja nicht einfach, sondern bestand, sah man von dem zuerst bedachten Bauernland ab, noch aus drei weiteren Teilen. Auf der einen Seite eine weite, sich sehnsüchtig eröffnende Ebene, die an manchen Abenden von zarten Silber- und Orangefarben überhaucht war; auf der anderen buschiges, wipfliges, treudeutsches Waldhügelland (aber gerade das war nicht die deutsche Seite), von nahem Grün in fernes Blau führend; auf der dritten eine heroische, nazarenisch karge Landschaft von fast großartiger Eintönigkeit, mit graugrünen, von Schafen beweideten Hügelkuppen und braunen Ackerbreiten, die etwas wie das murmelnde Singen des Tischgebets der Bauern über sich hatten, das aus niedrigen Fenstern dringt.
Also ließe sich zwar rühmen, daß diese traulichkakanische Gegend, in deren Mitte die Stadt B. lag, sowohl bergig als auch eben, nicht weniger waldig als sonnig und ebenso heldisch wie demütig großartig war, aber es fehlte doch wohl überall daran ein wenig, so daß sie im ganzen weder so noch so war. Es ließ sich denn auch niemals entscheiden, ob die Bewohner dieser Stadt sie schön oder häßlich fanden. Sagte man zu einem von ihnen, B. sei häßlich, so antwortete er bestimmt: »Aber schauen Sie, der Rote Berg, er ist doch ganz hübsch, und gar der Gelbe Berg … und die Schwarzen Felder…!« und schon, wenn er so diese sinnlichen Namen aufzählte, mußte man zugeben, daß sich die Landschaft wohl hören lassen könne. Sagte man aber, sie sei schön, so lachte ein gebildeter B.er und erzählte, daß er soeben von der Schweiz zurückkäme oder aus den Pyrenäen oder aus Singapore und daß B. ein armes Nest sei, das nicht einmal den Vergleich mit Bukarest aushalte. Aber auch das war ja nur kakanisch, dieses Zwielicht des Gefühls, worin sie ihr Dasein aufnahmen, diese Unruhe einer zu früh herabgesunkenen Ruhe, in der sie sich geborgen und begraben fühlten. Sagt man es so: diesen Menschen war alles zugleich Unlust und Lust, so bemerkt man wohl, wie vorweg-heutig es war, denn der sanfteste aller Staaten stürmte in manchem seiner Zeit heimlich voraus. Die Menschen, die B. bewohnten, lebten von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von dem Verkauf von Tuchen und Garnen, von der Erzeugung und dem Handel aller Dinge, die von Menschen gebraucht werden, die Tuche und Garne erzeugen oder verkaufen, einschließlich der Erzeugung und Behandlung von Rechtsstreitigkeiten, Krankheiten, Kenntnissen, Vergnügungen und dergleichen, was zu den Bedürfnissen einer großen Stadt gehört. Und alle wohlhabenden unter ihnen hatten die Eigenschaft, daß es in der Welt keinen schönen und berühmten Ort gab, wo einer, der aus dieser Stadt stammte, nicht einen antraf, der auch aus dieser Stadt stammte, und wenn sie wieder zu Hause waren, hatte das zur Folge, daß sie alle ebensoviel von der Weite der Welt in sich trugen wie von der unheimlichen Überzeugung, daß alle Größe schließlich doch nur nach B. führt.
Ein solcher Zustand, der von der Erzeugung von Tuchen und Garnen, von Fleiß, Sparsamkeit, einem städtischen Theater, den Konzerten durchreisender Berühmtheiten, von Bällen und Einladungen kommt, wird nicht mit den gleichen Mitteln überwunden. Vielleicht hätte das dem Kampf um die Staatsmacht mit einer aufsässigen Arbeiterschaft gelingen können oder dem Kampf gegen eine Oberschicht oder einem imperialistischen Kampf um den Weltmarkt, wie ihn andere Staaten führten, kurz nicht dem Verdienen nach Verdienst, sondern einem Rest tierischen Erbeutens, worin sich die Lebenswärme wachhält. In Kakanien aber wurde wohl viel Geld unrecht verdient, aber erbeutet durfte nichts werden, und selbst wenn in diesem Staat Verbrechen erlaubt gewesen wären, so hätte man streng darauf geachtet, daß sie nur von obrigkeitlich zugelassenen Verbrechern begangen werden. Das gab allen solchen Städten wie B. das Aussehen eines großen Saals mit einer niedrigen Decke. Ein Kranz von Pulvertürmen umgab jede größere Stadt, in denen die Armee ihre Schießvorräte aufbewahrte, groß genug, bei einem Blitzschlag ein ganzes Stadtviertel in Trümmer zu legen: aber bei jedem Pulverturm war durch eine Schildwache und einen schwarz-gelben Schlagbaum dafür vorgesorgt, daß den Bürgern kein Unheil geschehe. Und die Polizei war mit Säbeln ausgerüstet, die so lang waren wie die der Offiziere und bis an die Erde reichten, niemand wußte mehr warum, es sei denn aus Mäßigung. Denn die Polizei war nur mit der rechten Hand die der Gerechtigkeit, mit der anderen mußte sie ihre Säbel festhalten. Niemand wußte auch, warum in wachsenden Städten auf Baugründen, die Zukunft hatten, vom Staat weit vorausblickend Militärspitäler, Monturdepots und Garnisonsbäckereien errichtet wurden, deren ummauerte Riesenrechtecke später die Entwicklung störten. Keinesfalls durfte das für Militarismus gehalten werden, dessen man das alte Kakanien leichtfertig beschuldigt hat; es war nur Lebensweisheit und Vorsicht: denn Ordnung kann gar nicht anders als in Ordnung sein, sie ist sozusagen schon ihrem Wesen nach in Ordnung, während das von jedem anderen staatlichen Verhalten ewig unsicher bleibt. Diese Ordnung war dem FranziskoJosefinischen Zeitalter in Kakanien zur Natur, ja fast schon zur Landschaft geworden, und ganz bestimmt hätten dort bei längerer Andauer der stillen Friedenszeit auch noch die Geistlichen lange Säbel bekommen, da nach den Fischinspektoren und Postbeamten schon die Universitätsprofessoren welche hatten, und wäre nicht eine Weltveränderung zu ganz anderen Auffassungen dazwischen gekommen, so hätte sich der Säbel vielleicht in Kakanien zu einer geistigen Waffe entwickelt.
Als die Unterhaltung, teils im Meinungsaustausch, teils in Erinnerungen, die sie stumm begleiteten, so weit gekommen war, schaltete General Stumm ein: »Das hat übrigens der Leinsdorf schon gesagt, daß nämlich die Priester eigentlich Säbel bekommen müßten, beim nächsten Konkordat und zum Zeichen, daß auch sie ein Amt im Staat bekleiden. Er hat es dann mit der weniger paradoxen Bemerkung eingeschränkt, daß auch kleine Degen genügen möchten, mit Perlmutter- und Goldgriff, weißt du, wie sie früher die Beamten getragen haben.«
»Ist das dein Ernst?«
»Seiner« gab der General zur Antwort. »Er ist halt sehr geärgert über die allgemeine Staatsfeindlichkeit und hat sich erinnert, daß im Dreißigjährigen Krieg in Böhmen die Priester in vergoldeten Meßgewändern geritten sind, die unterhalb aus Leder waren, also richtige Meß-Kürasse; in einer seiner Schloßkapellen bewahrt er so ein Gewand noch auf. Schau, du weißt doch, daß er immer davon redet, wie die Verfassung vom Jahre 61 dem Besitz und der Bildung bei uns die Führung gegeben hat und daß daraus eine große Enttäuschung geworden ist –«
»Wie bist du eigentlich zu ihm gekommen?« unterbrach ihn Ulrich lächelnd.
»Gott, das hat sich so gefügt, wie er von sei nen böhmischen Gütern zurückgekehrt ist« meinte Stumm, ohne darauf näher einzugehen. »Überdies hat er dich dreimal zu sich bitten lassen, ohne daß du hingegangen bist. In B. ist sein Auto auf der Rückfahrt gerade in die Unruhen hineingeraten und aufgehalten worden. Auf der einen Seite der Straße sind die Tschechen gestanden und haben ›Nieder mit den Deutschen!‹ geschrien, auf der andern Seite standen die Deutschen und brüllten ›Nieder mit den Tschechen!‹ Als er aber erkannt wurde, hörten sie damit auf und fragten im Sprechchor deutsch und tschechisch: ›Was ist mit der Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung, Herr Graf?‹ und die einen schrien: ›Pfui!‹ auf ihn, und die anderen: ›Schande!‹ Dieser dumme Beschluß, daß man sich für seine eigenen Ideen töten lassen soll, aber ja nicht für fremde, hat sich nämlich anscheinend herumgesprochen, und weil wir ihn verschwinden haben lassen, verdächtigt man uns jetzt, daß wir Volksmörder sein wollen! Deshalb hat Leinsdorf zu mir gesagt: ›Sie sind doch sein Freund, warum kommt er nicht, wenn ich ihn rufe?!‹ Und mir ist nichts anderes übriggeblieben als ihm anzubieten: ›Wenn Sie mir etwas anzuvertrauen wünschen, werde ich es ihm ausrichten!‹«
Stumm machte eine Pause.
»Und was –?« fragte Ulrich.
»Nun, du weißt, daß es nie ganz einfach zu verstehen ist, was er meint. Zuerst hat er mir von der Französischen Revolution erzählt. Die Französische Revolution hat bekanntlich vielen Adeligen die Köpfe abgeschlagen, und das findet er merkwürdigerweise richtig, obgleich er in B. beinahe mit Steinen beworfen worden wäre. Denn er sagt, das Ancien Régime hat seine Fehler gehabt und die Französische Revolution ihre wahren Gedanken. Aber was ist schließlich aus aller Anstrengung entstanden? Das fragt er sich. Und da sagt er Folgendes: Heute ist zum Beispiel die Post besser und schneller, aber früher, solange die Post noch langsam war, hat man bessere Briefe geschrieben. Oder: Heute ist die Kleidung praktischer und weniger lächerlich, aber früher, wo sie noch wie eine Maskerade war, hat man entschieden besseres Material darauf verwendet. Und er gibt zu, daß er für größere Fahrten selbst ein Automobil benützt, weil es schneller und bequemer ist als ein Pferdefuhrwerk, aber er behauptet, daß diese Federbüchse auf vier Rädern dem Fahren die wahre Vornehmheit genommen hat. Und alles das ist komisch, mein ich, aber es ist wahr. Hast du nicht selbst einmal gesagt, beim menschlichen Fortschritt rutscht immer ein Bein zurück, wenn das andere vorrutscht? Unwillkürlich hat heute jeder von uns etwas gegen den Fortschritt. Und der Leinsdorf hat zu mir gesagt: ›Herr General, früher haben unsere jungen Leute von Pferden und Hunden gesprochen, und heu te sprechen die Fabrikantensöhne von Pferdestärken und Chassis. So hat der Liberalismus seit der Verfassung von 61 den Adel auf die Seite geschoben, aber alles ist voll neuer Korruption, und wenn wider Erwarten doch einmal die Soziale Revolution kommen wird, so wird sie den Fabrikantensöhnen den Kopf abschlagen, aber besser wird es auch nicht werden!‹ Ist das nicht stark? Man hat den Eindruck, es kocht etwas in ihm über! Bei einem andern möchte man ja vielleicht meinen, er weiß nicht, was er will!«
»Weißt du, was er will?« fragte Ulrich.
»Die Drangsal hat nach der Geschichte in B. versucht, ihm sagen zu lassen: jetzt müßte man sich erst recht zum Menschen bedingungslos hinreißen lassen; und der Feuermaul soll geäußert haben, besser sei es, als Österreicher des Widerstandes der Nationalitäten nicht Herr zu werden, denn als Reichsdeutscher sein Land in einen Truppenübungsplatz zu verwandeln. Darauf erwidert er nur, daß das keine Realpolitik sei. Er verlangt eine Kraftkundgebung; das heißt, natürlich soll es auch eine Liebeskundgebung sein, das war ja die ursprüngliche Idee der Parallelaktion. ›Herr General,‹ das waren seine Worte ›wir müssen unsere Einigkeit kundgeben; das ist weniger widerspruchsvoll, als es den Anschein hat, aber auch weniger einfach!‹«
Bei dieser Mitteilung vergaß sich Ulrich und gab eine ernstere Antwort. »Sag einmal,« fragte er »kommt dir denn nie das Gerede um die Parallelaktion etwas kindlich vor?«
Stumm sah ihn erstaunt an. »Das schon« erwiderte er zögernd. »Wenn ich so mit dir spreche oder mit dem Leinsdorf, kommt es mir manchmal vor, ich rede wie ein Jüngling oder du philosophierst über die Unsterblichkeit der Maikäfer; aber das kommt doch von dem Thema? Wo es um erhabene Aufgaben geht, hat man ja nie das Gefühl, so reden zu dürfen, wie man wirklich ist!?«
Agathe lachte.
Stumm lachte mit. »Ich lache ja auch, Gnädigste!« versicherte er weltklug, doch dann kehrte in sein Gesicht wieder Wichtigkeit zurück, und er fuhr fort: »Aber streng genommen ist es gar nicht so falsch, was der erlauchtige Herr meint. Was verstehst du zum Beispiel unter Liberalismus?« – mit diesen Worten wandte er sich nun wieder an Ulrich, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr neuerlich fort: »Ich meine halt so, daß man die Leute sich selbst überläßt. Das hat man seit dem Jahr 48 versucht, aber es wird dir natürlich auch aufgefallen sein, daß das jetzt aus der Mode kommt. Es ist ein Pallawatsch daraus entstanden, wie man so sagt. Aber ist es nur das? Mir kommt vor, die Leute wollen noch etwas. Sie sind nicht mit sich zufrieden. Ich ja auch; ich war früher ein liebenswürdiger Mensch. Man hat eigentlich nichts getan, aber man war mit sich zufrieden. Der Dienst war nicht schlimm, und außer Dienst hat man Ekarté gespielt oder ist auf die Jagd gefahren, und bei dem allen war eine gewisse Kultur. Eine gewisse Einheitlichkeit. Kommt es dir nicht auch so vor? Und warum ist das heute nicht mehr so? Ich glaube, soweit ich nach mir urteilen darf, man fühlt sich zu gescheit. Will man ein Schnitzel essen, so fällt einem ein, daß es Leute gibt, die keins haben. Steigt einer einem schönen Mäderl nach, so fahrt ihm plötzlich durch den Kopf, daß er eigentlich über die Beilegung irgendeines Konflikts nachzudenken hätte. Das ist eben der unleidliche Intellektualismus, den man heute niemals los wird, und darum geht es nirgends vorwärts. Und ohne es selbst zu wissen, wollen die Leute wieder etwas. Das heißt also, sie wollen nicht mehr einen komplizierten Intellekt, sie wollen nicht tausend Möglichkeiten zu leben: sie wollen mit dem zufrieden sein, was sie ohnehin tun, und dazu braucht es einfach wieder einen Glauben oder eine Überzeugung oder – also, wie soll man das bezeichnen, was sie dazu brauchen? Zu dieser Frage möchte ich jetzt deine Meinung hören!«
Aber das war nur Selbstgenuß des lebhaft angeregten Stumm, denn ehe Ulrich auch nur das Gesicht verziehen konnte, kam schon seine Überraschung: »Man kann es natürlich ebensogut Glauben wie Überzeugung nennen, aber ich habe viel darüber nachgedacht und nenne es lieber: Eingeistigkeit!«
Stumm machte eine Pause, die der Einnahme des Beifalls dienen sollte, ehe er weiteren Einblick in seine Geisteswerkstatt gab, und dann mischte sich in den gewichtigen Ausdruck seines Gesichts noch ein ebensowohl überlegener als auch genußmüder. »Wir haben ja früher öfter über die Probleme der Ordnung gesprochen« erinnerte er seinen Freund »und brauchen uns infolgedessen heute nicht dabei aufzuhalten. Also Ordnung ist gewissermaßen ein paradoxer Begriff. Jeden anständigen Menschen verlangt es nach innerer und äußerer Ordnung, aber anderseits verträgt man auch nicht zuviel von ihr, ja eine vollkommene Ordnung wäre sozusagen der Ruin alles Fortschritts und Vergnügens. Das liegt sozusagen im Begriff der Ordnung. Und darum muß man sich fragen: was ist denn überhaupt Ordnung? Und wie kommt es denn, daß wir uns einbilden, ohne Ordnung nicht existieren zu können? Und was für eine Ordnung suchen wir denn? Eine logische, eine praktische, eine persönliche, eine allgemeine, eine Ordnung des Gefühls, eine des Geistes oder eine des Handelns? De facto gibt es ja eine Menge Ordnungen durcheinander; die Steuern und Zölle sind eine, die Religion eine andere, das Dienstregelement eine dritte, und man wird gar nicht fertig mit dem Aufsuchen und Aufzählen. Damit habe ich mich sehr beschäftigt, wie du weißt, und ich glaube nicht, daß es auf der Welt viele Generale geben wird, die ihren Beruf so ernst nehmen, wie ich es in diesem letzten Jahr habe tun müssen. Ich habe auf meine Weise nach einer umfassenden Idee suchen helfen, aber du selbst hast schließlich verkündet, daß man zur Ordnung des Geistes ein ganzes Weltsekretariat brauchen möchte, und auf eine solche Ordnung, das wirst du selbst zugeben, kann man nicht warten! Aber anderseits darf man auch nicht deshalb jeden gewähren lassen!«
Stumm lehnte sich zurück und schöpfte Luft. Das Schwerste war jetzt gesagt, und er fühlte das Bedürfnis, sich bei Agathe für die finstere Sachlichkeit seines Benehmens zu entschuldigen, was er mit den Worten tat: »Gnädigste verzeihen schon, aber ich habe mit Ihrem Bruder eine alte und schwe re Abrechnung gehabt; jetzt aber wird es auch für Damen geeigneter, denn jetzt bin ich wieder dort, wo ich gewesen bin, daß die Leute keinen komplizierten Intellekt brauchen können, sondern daß sie glauben und überzeugt sein möchten. Wenn man das nämlich analysiert, so kommt man darauf, daß es bei der Ordnung, die der Mensch anstrebt, das letzte ist, ob man sie mit der Vernunft billigen kann oder nicht; es gibt auch völlig unbegründete Ordnungen, zum Beispiel gleich, daß beim Militär, was immer behauptet wird, immer der Vorgesetzte recht hat, das heißt natürlich, solange nicht pnd0ein noch Höherer dabei ist: Wie habe ich mich, als ich ein junger Offizier war, darüber aufgehalten, daß das eine Schändung der Ideenwelt ist! Und was sehe ich heute? Heute nennt man es das Prinzip des Führers –«
»Wo hast du das her?« fragte Ulrich, den Vortrag unterbrechend, denn er hatte einen bestimmten Verdacht, daß diese Gedanken nicht nur aus einem Gespräch mit Leinsdorf geschöpft seien.
»Es verlangen doch alle nach starker Führung! Und außerdem aus dem Nietzsche natürlich und seinen Auslegern« entgegnete Stumm flink und wohlbeschlagen. »Da wird doch bereits eine doppelte Philosophie und Moral verlangt: für Führer und für Geführte! Aber wenn wir schon einmal beim Militär sind, muß ich überhaupt sagen, daß sich das Militär nicht nur an und für sich als ein Element der Ordnung auszeichnet, sondern daß es sich immer auch dann noch bewährt, wenn alle andere Ordnung versagt!«
»Die entscheidenden Dinge vollziehen sich eben über den Verstand hinweg, und die Größe des Lebens wurzelt im Irrationalen!« führte Ulrich an und ahmte aus dem Gedächtnis seine Kusine Diotima nach.
Der General verstand es sofort, nahm es aber nicht übel. »Ja, so hat sie gesprochen, Ihre Frau Kusine, ehe sie noch die Kundgebungen der Liebe sozusagen zu sehr im besonderen suchte.« Er wandte sich mit dieser Erklärung an Agathe.
Agathe schwieg und lächelte.
Stumm wandte sich wieder Ulrich zu. »Ich weiß nicht, ob es zu dir der Leinsdorf vielleicht auch schon gesagt hat, jedenfalls ist es hervorragend richtig; er behauptet nämlich, daß es an einem Glauben die Hauptsache ist, daß man immer dasselbe glaubt. Das ist ungefähr das, was ich eben Eingeistigkeit nenne. ›Kann das aber das Zivil?‹ habe ich ihn gefragt. ›Nein‹ habe ich gesagt, das Zivil trägt jedes Jahr andere Anzüge, und alle paar Jahre finden Parlamentswahlen statt, damit es jedesmal anders wählen kann: der Geist der Eingeistigkeit ist viel eher beim Militär zu finden!«
»Du hast also Leinsdorf überzeugt, daß ein gesteigerter Militarismus die wahre Erfüllung seiner Absichten wäre?«
»Aber Gott bewahre, ich habe kein Wort gesagt! Wir haben uns bloß geeinigt, daß wir auf den Feuermaul künftighin verzichten, weil seine Ansichten zu unbrauchbar sind. Und im übrigen hat mir der Leinsdorf eine Reihe Aufträge an dich mitgegeben –«
»Das ist überflüssig!«
»Du sollst ihm rasch eine Verbindung zu sozialistischen Kreisen verschaffen –«
»Der Sohn meines Gärtners ist eifriges Parteimitglied, mit dem kann ich dienen –!«
»Aber meinetwegen! Es muß ja ohnehin nur aus Gewissenhaftigkeit geschehn, weil er sich das einmal in den Kopf gesetzt hat. Das zweite ist, daß du ihn sobald wie möglich aufsuchen möchtest –«
»Ich reise nächster Tage ab!«
»Also eben gleich wenn du wieder zurück bist –«
»Ich komme wahrscheinlich überhaupt nicht zurück!«
Stumm von Bordwehr sah Agathe an; Agathe lächelte, und er fühlte sich dadurch ermuntert. »Verrückt?« fragte er.
Agathe zuckte ungewiß die Schultern.
»Also, ich fasse es noch einmal zusammen –« sagte Stumm.
»Unser Freund hat genug von der Philosophie!« unterbrach ihn Ulrich.
»Das kannst du doch von mir gewiß nicht behaupten!« verteidigte sich Stumm empört. »Wir können bloß nicht auf die Philosophie warten. Und natürlich habe ich, wenn ich Leinsdorf besuche, den Auftrag, ihn, wenn es geht, in einem bestimmten Sinn zu beeinflußen, das kannst du dir ja denken. Und wenn er sagt, daß an einem Glauben das wichtigste ist, daß man immer das gleiche glaubt, so denkt er vorderhand noch an die Religion; ich aber denke schon an die Eingeistigkeit, denn das ist das Umfassendere. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß eine wirklich gewaltige Lebensanschauung nicht erst auf den Verstand warten darf; im Gegenteil, eine wirkliche Lebensanschauung muß geradezu gegen den Verstand gerichtet sein, sonst kommt sie nicht in die Lage, daß sie ihn sich unterwerfen kann. Und eine solche Eingeistigkeit sucht das Zivil im beständigen Wechsel, das Militär hat aber sozusagen eine dauernde Eingeistigkeit! Gnädigste, –« unterbrach Stumm seinen Eifer »dürfen nicht glauben, daß ich ein Militarist bin; mir ist das Militär, ganz im Gegenteil, immer sogar ein bißl zu roh gewesen: Aber die Logik dieser Gedanken packt einen so, wie wenn man mit einem großen Hund spielt: erst beißt er im Spaß, und dann kommt er hinein und wird wild. Und ich möchte Ihrem Bruder sozusagen eine letzte Gelegenheit einräumen –«
»Und wie bringst du die Kundgebung der Kraft und Liebe damit in Zusammenhang?« fragte Ulrich.
»Gott, das habe ich inzwischen vergessen« erwiderte Stumm. »Aber natürlich sind diese nationalen Ausbrüche, die wir jetzt in unserem Vaterland erleben, irgendwie Kraftausbrüche einer unglücklichen Liebe. Und auch auf diesem Gebiet, in der Synthese von Kraft und Liebe ist das Militär gewissermaßen vorbildlich. Irgendeine Vaterlandsliebe muß der Mensch haben, und wenn er sie nicht zum Vaterland hat, so hat er sie eben zu etwas anderem. Das braucht man also bloß einzufangen. Als Beispiel dafür fällt mir in diesem Augenblick das Wort Einjährig-Freiwillig ein: Wer denkt daran, daß ein Einjähriger ein Freiwilliger ist. Er am allerwenigsten. Und doch war ers und ist ers nach dem Sinn des Gesetzes. In so einem Sinn muß man die Menschen eben alle wieder zu Freiwilligen machen!«


Unterhaltungen mit Schmeißer


Daß Graf Leinsdorf die Absicht äußerte, ein Realpolitiker müsse sich sogar der Sozialdemokratie bedienen, um in ihr einen Verbündeten gegen den Fortschritt wie gegen den Nationalismus zu finden, geschah nicht zum erstenmal, denn er hatte Ulrich schon wiederholt gebeten, diese Beziehungen zu pflegen, bei denen er sich in eigener Person aus politischen Gründen vorderhand nicht betreten lassen wollte. Darum hatte er auch selbst den Rat erteilt, anfangs nicht an die führenden, sondern lieber an jüngere Persönlichkeiten heranzutreten, die durch ihre Tatkraft und noch nicht vollendete Verdorbenheit hoffen ließen, daß man durch sie einen patriotisch verjüngenden Einfluß auf die Partei gewinne. Da hatte sich Ulrich bei guter Laune daran erinnert, daß in seinem Haus ein junger Mann wohne, der ihn nicht grüßte, sondern verstockt wegsah, wenn er ihm begegnete, was allerdings selten genug geschah. Das war der Kandidat der Technischen Wissenschaften Schmeißer, und sein Vater war ein Gärtner, der schon auf dem Grundstück gewohnt hatte, als Ulrich dieses übernahm, und der seither als Entgelt für freies Quartier und gelegentliche Zuwendungen den kleinen alten Park teils mit eigener Hand in Ordnung hielt, teils in der Weise, daß er die notwendig werdenden Arbeiten angab und überwachte. Ulrich billigte es, daß ihn der junge Mann, der bei seinem Vater lebte und sein Studiengeld durch Stundengeben und kleine literarische Leistungen erwarb, als einen reichen Müßiggänger ansah, dem man Geringschätzung zu erweisen habe; das Experiment der Untätigkeit, dem er unterworfen war, versetzte ihn manchmal vor sich selbst in diesen Anschein, und es bereitete ihm Vergnügen, seinen Tadler herauszufordern, als er ihn eines Tages ansprach. Es zeigte sich dabei, daß auch der Student, der übrigens, in der Nähe besehen, schon ungefähr sechsundzwanzig Jahre alt sein mochte, nur auf diesen Augenblick gewartet hatte und daß sich die Spannung solcher Nachbarschaft sofort in heftigen Angriffen entlud, die zwischen einem Bekehrungsversuch und der Darbringung persönlicher Verachtung die Mitte innehielten. Ulrich erzählte von der Parallelaktion und vermeinte es gut zu machen, wenn er seinen Auftrag so lächerlich, wie dieser war, hinstellte, aber zugleich die Vorteile andeutete, die ein entschlossener Mensch daraus zu schöpfen vermochte. Er erwartete, daß Schmeißer auf die Anzettelung eingehen werde, die sich dann mit Gottes Hilfe etwas seltsam weiter entwickeln mochte; aber dieser junge Mann war kein bürgerlicher Romantiker und Abenteurer, sondern hörte mit kniffligen Lippen zu, bis Ulrich nichts mehr zu sagen wußte. Er hatte eine schmale Brust zwischen Schultern, die breitknochig waren, und trug scharfe Brillengläser. Diese sehr scharfen Brillen waren die Schönheit in dem Gesicht, das eine fahle, fette, schlecht durchblutete Haut hatte; in harten Nächten über Büchern und Pflichtarbeiten notwendig geworden, und geschärft durch Armut, der nicht gleich bei den ersten Anzeichen ein Arzt zur Verfügung gestanden hatte, war die scharfe Brille für Schmeißers einfaches Gefühl zu einem Sinnbild der Selbstbefreiung geworden: wenn er sein finniges Gesicht mit der gesattelten Nase und den proletarisch spitzen Wangen, von ihr überglänzt, im Spiegel erblickte, erschien es ihm als die vom Geist gekrönte Armut, und besonders oft geschah das, seit er wider Willen Agathe von ferne bewunderte. Seither haßte er auch den athletisch gebauten Ulrich, den er früher wenig beachtet hatte, und dieser las nun seine Verdammung in den Brillengläsern und kam sich plaudernd wie ein spielendes Kind vor zwei Kanonenrohren vor. Als er geendet hatte, antwortete ihm Schmeißer, mit Lippen, die sich vor Wohlgefallen an dem, was sie sagten, kaum von einander trennen konnten: »Die Partei hat solche Abenteuer nicht nötig; wir kommen auf unserem eigenen Weg ans Ziel!«
Da hatte es nun der Bourgeois!
Es war schwer für Ulrich, nach dieser Ablehnung noch weitere Worte zu finden, aber er ging den Gegner gerade an und sagte schließlich lachend: »Wenn ich der wäre, für den Sie mich halten, sollten Sie mir Gift in die Wasserleitung tun oder die Bäume ansägen, unter denen ich lustwandle: warum wollen Sie so etwas nicht in einem Falle tun, wo es vielleicht wirklich am Platz wäre?«
»Sie haben keine Ahnung, worauf es in der Politik ankommt« erwiderte Schmeißer. »Denn Sie sind ein sozialromantischer Bürger, bestenfalls ein Individualanarchist! Ernsthafte Revolutionäre denken nicht an blutige Revolutionen!«
Seither hatte Ulrich öfter kleine Unterhaltungen mit diesem Revolutionär, der keine Revolution machen wollte. »Daß über kurz oder lang die Menschheit in irgendeiner Form sozialistisch organisiert sein wird,« sagte er ihm »das habe ich schon als Kavallerieleutnant gewußt; es ist sozusagen die letzte Chance, die ihr Gott gelassen hat. Denn der Zustand, daß Millionen Menschen auf das roheste hinabgedrückt werden, damit Tausende mit der Macht, die ihnen daraus erwächst, doch nichts Hohes anzufangen wissen, dieser Zustand ist nicht bloß ungerecht und verbrecherisch, sondern auch dumm, unzweckmäßig und selbstmörderisch!«
Und Schmeißer erwiderte ihm höhnisch: »Aber Sie haben sich immer damit begnügt, das zu wissen! Nicht wahr? Das ist der bürgerliche Intellektuelle! Sie haben einigemal zu mir von einem Bankdirektor gesprochen, mit dem Sie befreundet sind: ich versichere Ihnen, dieser Bankdirektor ist mein Feind, ich bekämpfe ihn, ich weise ihm nach, daß seine Überzeugungen nur Vorwände für seinen Profit sind, aber er hat doch wenigstens Überzeugungen! Er sagt ja, wo ich nein sage! Dagegen Sie? In Ihnen hat sich alles schon aufgelöst, in Ihnen hat sich die bürgerliche Lüge bereits zu zersetzen begonnen!«
Friedlich räumte Ulrich ein: »Es mag sein, daß meine Art zu denken bürgerlicher Herkunft ist; für einen Teil ist das sogar wahrscheinlich. Aber: Inter faeces et urinam nascimur – warum nicht auch unsere Meinungen? Was beweist das gegen ihre Richtigkeit?!«
Denn wenn Ulrich so sprach, höflichen Geistes, konnte Schmeißer nie an sich halten und zerbarst jedesmal von neuem: »Alles, was Sie sagen, entspringt der sittlichen Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft!« verkündete er dann, oder etwas Ähnliches, denn er haßte nichts so sehr wie die vernunftwidrige Form der Güte, die an der Liebenswürdigkeit ist; ja die Form überhaupt, selbst die der Schönheit, war ihm verdächtig. Niemals nahm er darum auch eine der Einladungen Ulrichs an und ließ sich höchstens mit Tee und Zigaretten bewirten wie in russischen Romanen. Ulrich liebte es, ihn zu reizen, obwohl diese Gespräche völlig sinnlos waren. Er fühlte keine Teilnahme an der Politik. Seit dem Freiheitsjahr Achtundvierzig und der Gründung des Deutschen Reichs, Ereignissen, deren sich nur noch eine Minderheit persönlich erinnerte, erschien wohl der Mehrzahl der Gebildeten Politik eher als ein Atavismus denn als eine Hauptsache. Fast an nichts war zu erkennen, daß sich hinter diesen gewohnheitsmäßig weitergehenden äußeren Vorgängen die geistigen schon auf jene Entstaltung vorbereiteten, auf jene Untergangsbereitschaft und aus Überdruß an sich selbst entstehende Selbstmordwilligkeit, die einen Zustand weich machen und wahrscheinlich immer die passive Vorbedingung der Zeitabschnitte gewaltsamer politischer Veränderungen bilden. So war auch Ulrich durch sein ganzes Leben daran gewöhnt worden, von der Politik nicht zu erwarten, daß sie das vollbringe, was geschehen müßte, sondern bestenfalls das, was längst schon hätte geschehen sein sollen. Das Bild, unter dem sie sich ihm darbot, war meistens das einer verbrecherischen Nachlässigkeit. Auch die Soziale Frage, die das eins und alles Schmeißers bildete, erschien ihm nicht als Frage, sondern bloß als eine unterlassene Antwort, aber er konnte ein Hundert anderer solcher »Fragen« anführen, über die im Geist die Akten abgeschlossen waren und die, wie sich sagen ließe, vergeblich auf die manipulative Behandlung im Büro der Expedition warteten. Und wenn er das tat und Schmeißer milde gestimmt war, so sagte dieser: »Lassen Sie bloß erst einmal uns an die Macht kommen!«
Dann aber sagte Ulrich: »Sie sind zu gütig gegen mich, denn es stimmt ja gar nicht, was ich behaupte. Fast alle geistigen Menschen haben dieses Vorurteil, daß die praktischen Fragen, von denen sie nichts verstehen, einfach zu lösen wären, aber bei der Durchführung zeigt sich natürlich, daß sie bloß nicht alles bedacht haben. Anderseits, darin gebe ich Ihnen recht – bedächte der Politiker alles, so käme er nie zum Handeln. Vielleicht hat die Politik darum ebensoviel vom Reichtum der Wirklichkeit wie von Mangel an Vorstellungen –«
Das gab Schmeißer Gelegenheit zu einer frohlockenden Unterbrechung mit den Worten: »Menschen wie Sie kommen nicht zum Handeln, weil sie die Wahrheit nicht wollen! Der bürgerliche sogenannte Geist ist in seiner Gänze nur eine Verzögerung und Ausrede!«
»Warum wollen Menschen wie ich aber nicht?« fragte Ulrich. »Sie könnten doch wollen. Reichtum, zum Beispiel, ist ja nichts, was sie wirklich begehren. Ich kenne zwar kaum einen wohlhabenden Mann, der nicht davon eine kleine Schwäche trüge, mich inbegriffen, aber ich kenne auch keinen, der das Geld um seiner selbst willen liebte, außer Geizhälse, und Geiz ist eine Störung des persönlichen Verhaltens, die es auch in der Liebe gibt, in der Macht und in der Ehre: die krankhafte Natur des Geizes beweist geradezu, daß Geben seliger ist als Nehmen. Glauben Sie übrigens, daß Geben seliger ist denn Nehmen …?« fragte er.
»Diese Frage können Sie in einem schöngeistigen Salon aufwerfen!« gab Schmeißer zur Antwort.
»Und ich befürchte« behauptete Ulrich: »alle Ihre Anstrengungen werden zwecklos bleiben, solange Sie nicht wissen, ob Geben oder Nehmen seliger ist oder wie sie sich ergänzen!«
Schmeißer höhnte: »Sie beabsichtigen wohl, die Menschheit in Güte zu überreden? Übrigens wird das rechte Verhältnis von Geben und Nehmen im Sozialen Staat eine Selbstverständlichkeit sein!«
»Dann behaupte ich,« ergänzte Ulrich lächelnd seinen Satz »daß Sie eben an etwas anderem scheitern werden, zum Beispiel daran, daß wir imstande sind, jemand Hund zu schimpfen, auch wenn wir unseren Hund mehr lieben als unsere Mitmenschen!?«
Ein Spiegel beruhigte Schmeißer, indem er ihm das Bild eines jungen Mannes zeigte, der eine scharfe Brille unter einer harten Stirn trug. Antwort gab er keine.


Warum die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen


Diesen jungen Mann hatte Ulrich für den General ausersehn und schlug ihm vor, mit dem General gemeinsam Meingast zu besuchen, denn Schmeißer wußte von diesem Propheten, und wenn es auch ein falscher war, so war es Schmeißer doch nichts Neues, auch die Versammlungen von Gegnern zu besuchen; von seinem Freund Stumm aber hatte Ulrich richtig erraten, daß er ohnehin zuweilen heimlich bei Clarisse Eindrücke sammelte und durch sie auch den Meister kennengelernt habe, von dem er keinen geringen Eindruck empfing. Als Ulrich seinen Plan Agathe mitteilte, wollte sie jedoch nichts davon wissen.
Ulrich begann zu scherzen. »Ich wette, daß dich dieser Schmeißer heimlich liebt« behauptete er »und von Lindner ist es ja kein Geheimnis. Beide sind Für-Männer. Und auch Meingast ist ein Für-Mann. Am Ende eroberst du ihn auch.«
Nun wollte Agathe natürlich doch wissen, was Für-Männer seien.
»Lindner ist ein guter Mensch, nicht wahr?« fragte Ulrich.
Agathe bejahte es, obwohl sie diese Überzeugung längst nicht mehr so begeisterte wie zu Anfang.
»Aber er lebt mehr für die Religion als im religiösen Zustand?«
Das bestritt nun Agathe vollends nicht mehr.
»Eben das ist ein Für-Mann« erläuterte Ulrich.
»Die ausgebreitete Tätigkeit, die er seinem Glauben angedeihen läßt, ist vielleicht das wichtigste Beispiel, aber eben doch nur eines der Technik, die immer angewendet wird, um Ideale für den Alltagsgebrauch verwendbar und haltbar zu machen.« So erklärte er ihr ausführlich seinen aus dem Stegreif erfundenen Begriff des Für und In etwas Lebens.
Das menschliche Leben ist anscheinend gerade so lang, daß man darin, wenn man für etwas lebt, die Laufbahn vom Nachläufer zum Vorgänger zurücklegen kann und dabei kommt es für die menschliche Zufriedenheit weniger darauf an, wofür man lebt, als daß man überhaupt für etwas zu leben hat: ein Nestor der deutschen Weinbranderzeugung und der Pionier einer neuen Weltanschauung genießen außer ähnlichen Ehren auch noch den gleichen Vorteil, der darin besteht, daß das Leben trotz seines fürchterlichen Reichtums keine einzige Frage enthält, die nicht einfacher würde, wenn man sie mit einer Weltanschauung, aber auch ebenso, wenn man sie mit der Weinbranderzeugung in Verbindung bringt. Ein solcher Vorteil ist genau das, was man mit einem neueren Wort Rationalisierung nennt, nur werden dabei nicht Handgriffe rationalisiert, sondern Ideen, und wer vermöchte nicht schon heute zu ermessen, was das bedeutet. Noch im geringsten Fall ist dieses Leben »Für etwas« mit dem Besitz eines Notizbuches zu vergleichen, worin alles eingetragen und Erledigtes ordentlich durchstrichen wird. Wer das nicht tut, lebt unordentlich, wird mit den Dingen nicht fertig, und wird von ihrem Kommen und Gehen geplagt; wer dagegen ein Notizbuch hat, gleicht dem ökonomischen Hausvater, der jeden Nagel, jedes Stück Gummi, jeden Fetzen Stoff aufhebt, weil er weiß, daß ihm solcher Fund eines Tags in der Wirtschaft dienen wird. Ein solches bürgerliches »Für etwas«, wie es als Zusammenfassung würdigen Schaffens, oft auch als Steckenpferd oder heimliches Pünktchen, das einer beständig im Auge hat, von der Väterzeit überliefert worden war, stellte aber damals eigentlich schon etwas Veraltetes dar, denn eine Neigung ins Große, ein Hang zur Entwicklung des Für etwas Lebens in mächtigen Verbänden hatte sich bereits an seine Stelle gesetzt.
Dadurch gewann das, was von Ulrich im Scherz begonnen war, unter dem Sprechen ernstere Bedeutung. Die Unterscheidung, die er getroffen hatte, verlockte ihn vor unerschöpfliche Aussichten und wurde für ihn in diesem Augenblick zu einer von jenen, an denen die Welt wie ein durchschnittener Apfel am Messer auseinanderfällt und ihr Inneres darbietet. Agathe wandte ihm ein, daß man doch oft auch sage, einer gehe ganz in etwas auf oder er lebe und webe in etwas, obgleich es sicher sei, daß nach Ulrichs Namengebung solche eifrige Leber und Weber es für ihre Sache täten; und Ulrich gab zu, daß man wohl genauer verführe, etwa zwischen den Begriffen »Sich im Zustand seines Ideals befinden« und »Sich im Zustand des Wirkens für sein Ideal befinden« zu unterscheiden, wobei aber das zweite In entweder ein uneigentliches sei, und in Wahrheit eben ein Für, oder das gemeinte Verhältnis zum Wirken ein ungewöhnliches und ekstatisches sein müßte. Im übrigen hat die Sprache ihre guten Gründe, so genau nicht zu verfahren, denn Für etwas leben ist der Zustand des weltlichen Daseins, In dagegen ist immer das, wofür man jenes zu leben vorgibt und vermeint, und das Verhältnis dieser beiden Zustände zueinander ist ein äußerst verstocktes. Weiß der Mensch doch im geheimen von der wunderbaren Tatsache, daß alles, »wofür es sich zu leben lohnt«, etwas Unwirkliches, wenn nicht gar Absurdes wäre, sobald man ganz darin eingehen wollte, ohne daß man es natürlich zugeben dürfte. Die Liebe stünde nimmermehr von ihrem Lager auf, in der Politik müßte der geringste Beweis von Aufrichtigkeit schon auf die tödliche Vernichtung des Gegners hinauskommen, der Künstler dürfte jeden Verkehr mit unvollkommeneren Wesen als Kunstwerken verschmähen, und die Moral müßte nicht aus perforierten Vorschriften bestehn, sondern in jenen kindlichen Zustand der Liebe zum Guten und des Abscheus vor dem Bösen zurückführen, der alles wörtlich nimmt. Denn wer die Idee seines Gegners wirklich verabscheut, dem wäre die Anstellung ausgebildeter Berufsteufel nicht zu wenig, die Gefangenen wie auf alten Bildern des Höllenfeuers zu martern, und wer die Tugend restlos liebte, der dürfte von nichts als vom Guten essen, bis ihm der Magen in die Kehle stiege. Das Bemerkenswerte ist, daß es ja wirklich zuweilen dahin kommt, daß aber solche Zeiten der Inquisition oder ihres Gegenteils, der menschenvertraulichen Schwärmerei, in schlechtem Gedenken bleiben.
Darum ist es das Lebenerhaltende schlechthin, daß es der Menschheit gelungen ist, anstatt dessen, »wofür es sich wirklich zu leben lohnt«, das »Dafür«leben zu erfinden oder mit andern Worten, an die Stelle ihres Idealzustands den ihres Idealismus zu setzen. Es ist ein Davor-Leben; anstatt zu leben »strebt« man nun, und ist seither ein Wesen, das mit allen Kräften ebensowohl zur Erfüllung hindrängt als es auch des Anlangens enthoben ist.
»Für etwas leben« ist der Dauerersatz des »In«. Alle Wünsche, und nicht nur die der Liebe, sind ja nach der Erfüllung traurig; aber in dem Augenblick, wo sich der Tausch des Wünschens mit der Tätigkeit Für den Wunsch vollzogen hat, wird das auf eine sinnreiche Weise aufgehoben, denn nun tritt das unerschöpfliche System der Mittel und Hindernisse an die Stelle des Ziels. Selbst wer ein Monomane ist, lebt da nicht eintönig, sondern hat beständig Neues zu tun, und gar wer in seinem Lebensinhalt überhaupt nicht leben könnte, – ein Fall, der heute häufiger ist als man denkt, so ein Professor der Landwirtschafts-Hochschule, von dem der Pflege des Stallmistes und der Jauche neue Wege gewiesen werden, – lebt für diesen Inhalt ohne Beschwerden und genießt das Anhören von Musik oder ähnliche Erlebnisse, wenn er ein tüchtiger Mann ist, immer gleichsam zu Ehren der Stallwirtschaft. Dieses »zu Ehren von etwas« etwas anderes tun ist oft nur noch ein beruhigendes Summen und stellt darum die am meisten angewandte, weil sozusagen billigste Methode dar, im Namen eines Ideals alles das zu tun, was sich mit ihm nicht vereinbaren läßt.
Denn der Vorteil alles Für und Zu Ehren von besteht nicht zuletzt darin, daß durch den Dienst am Ideal alles wieder ins Leben hineinkommt, was durch das Ideal selbst ausgeschlossen wird. Das klassische Beispiel dafür haben schon die fahrenden Ritter der Minne aufgestellt, die über jeden Gleichen, der ihnen begegnet ist, wie die tollen Hunde hergefallen sind, zu Ehren eines Zustands in ihren Herzen, der so weich und duftig war wie tropfendes Kirchenwachs. Aber auch die Gegenwart läßt an kleinen Eigenheiten keinen Mangel, die damit verwandt sind. So etwa, daß sie Prachtfeste veranstaltet zur Linderung der Not. Oder die große Zahl der strengen Menschen, die auf der Durchführung öffentlicher Grundsätze bestehn, von denen sie sich ausgenommen wissen. Auch das Scheinzugeständnis, daß der Zweck die Mittel heilige, gehört daher, denn in Wirklichkeit sind es die immer bewegten, abwechslungsreichen Mittel, denen zuliebe gewöhnlich die Zwecke in Kauf genommen werden, die moralisch und reizlos sind. Und mögen solche Beispiele noch spielerisch aussehn, so verstummt dieser Einwand vor der unheimlichen Beobachtung, daß das zivilisierte Leben zweifellos eine Neigung zu den rohesten Ausbrüchen hat, und daß diese nie roher sind als wenn sie zu Ehren großer und heiliger, ja sogar zarter Gefühle erfolgen! Werden sie da als entschuldigt gefühlt? Oder ist das Verhältnis nicht vielmehr das umgekehrte?
So kommt man auf vielerlei zusammenhängenden Wegen dahin, daß die Menschen nicht gut, schön und wahrhaftig sind, sondern es lieber sein wollen, und ahnt, wie sie unter dem einleuchtenden Vorwand, daß das Ideale seiner Natur nach unerreichbar sei, die schwere Frage verschleiern, warum es so ist. Und ungefähr so sprach auch Ulrich und sparte nicht mit Ausfällen gegen Lindner und den Lindnerschen Gutsinn, die sich daraus von selbst ergaben. Es sei sicher, behauptete er, daß jener zehnmal gewisser vom Einmaleins oder von den Regeln der Sittlichkeit überzeugt sei als von seinem Gott, aber sich, indem er für seine Gottesüberzeugung wirke, dieser Schwierigkeit größtenteils entziehe. Er bringe sich dazu in den Zustand des Glaubens, einer Verfassung, worin das, wovon er überzeugt sein möchte, so geschickt mit dem vermengt ist, wovon er überzeugt sein kann, daß er es selbst nicht mehr zu trennen vermöge. –
Hier bemerkte Agathe, daß alles Wirken fragwürdig sei. Sie erinnerte sich an die paradoxe Behauptung, daß wirklich und im Innersten gut nur solche Menschen bleiben, die nicht viel Gutes täten. Es schien ihr nun erweitert, und so neuerdings bestätigt zu sein, durch die ihr genehme Möglichkeit, daß der Zustand der Tätigkeit grundsätzlich die Verfälschung eines anderen Zustands sei, von dem er ausgehe und dem er zu dienen vorgebe.
Ulrich bejahte es noch einmal. »Auf der einen Seite haben wir nun« wiederholte er es zusammenfassend »die Menschen, die für und – ohne das Wort genau zu nehmen – in etwas leben, die sich beständig regen, die streben, die weben, ackern, säen und ernten, mit einem Wort die Idealisten, denn alle diese heutigen Idealisten leben doch wohl für ihre Ideale. Und auf der andern Seite befinden sich jene, die in einer Weise in ihren Göttern leben möchten, für die es noch nicht einmal ein Wort gibt –«
»Was istdieses In?«forschte Agathenachdrücklich. Ulrich zuckte die Achseln, dann machte er ein paar Andeutungen. »Man könnte Für und In mit dem in Beziehung bringen, was man Konvex- und Konkaverleben genannt hat. Vielleicht ist die psychoanalytische Legende, daß die Menschenseele in den zärtlich geschützten intrauterinen Zustand vor der Geburt zurückstrebe, ein Mißverständnis des In, vielleicht auch nicht. Vielleicht ist In die geahnte Herkunft alles Lebens von Gott. Vielleicht ist die Erklärung aber auch einfach in der Psychologie zu finden; denn jeder Affekt trägt den Totalitätsanspruch in sich, allein zu herrschen und gleichsam das In zu bilden, worin alles andere getaucht sei, kein Affekt vermag sich aber lange in der Herrschaft zu halten, ohne sich schon dadurch zu verändern, und so verlangt er geradezu nach widerstrebenden Affekten, sich an ihnen neu zu beleben, was ein ziemliches Spiegelbild unseres unentbehrlichen Für ist. – Genug! Gewiß ist das eine, daß alles gesellige Leben aus dem Für entsteht und die Menschheit ein Zweckverband ist, scheinbar für etwas zu leben; sie verteidigt diese Zwecke unerbittlich; was wir heute an politischer Entwicklung sehen, sind alles Versuche, an die Stelle der verlorenen religiösen Gemeinschaft andere Für zu bringen, das Für etwas Leben des einzelnen Menschen ist mit der Hausvater- und Goethezeit zurückgeblieben, die bürgerliche Religion der Zukunft wird sich vielleicht begnügen, die Massen zu einem Glauben zusammenzufassen, wobei der Inhalt des Glaubens völlig wird fehlen können, um desto mächtiger das Gleichgerichtetsein werden wird –«
Es war zweifellos, daß Ulrich einer Entscheidung der Frage auswich, denn was kümmerte Agathe die politische Entwicklung!


Stumm und die Propheten


Walter, Clarisse, Meingast, Schmeißer. Ulrich, eventuell Agathe.
Kapitalismus, das ist: das Entstehen der größten Verbrechen durch Gewährenlassen.
Aus Clarisse brach hervor, daß Meingast etwas Geheimes vorbereite. Dadurch geriet er in Verlegenheit. Darum erklärt er ihr jetzt sein Philosophieren.
Eine natürliche Anknüpfung ist durch die Reaktion gegen Besitz und Bildung gegeben.
General dabei.
Daß Meingast der Vater von Mussolini ist. In Meingast und Walter hat sich die Lust vom Menschlichen getrennt. Dadurch wird Lustphilosophie Meingasts wirkungsvoller. Grausamkeit und ähnliches als Vorstufe des Stechenden, Harten, Rücksichtslosen der Natur. Kriegerische Vorstellungen, die sich später in der Überlegung fortsetzen, wie sie ins Irrenhaus eindringen könnte, auch in Knappe, Hermaphrodit. Der hier vorkommende Hang zum Grausamen usw. gehört zur Attraktion, die der Wahnsinn auf Clarisse hat. Eventuell: Schönheit einer fixen Idee. Alle verwechseln den verrückten Menschen mit dem bedeutenden: eventuell etwas davon auch hieher.
Nimmt man – nach den Exzerpten – den Text für voll, so ergeben sich Hauptpunkte: Glück der Entschiedenheit, des Entschlusses, der Kraft (Analogon zu Tat, Gegensatz zu Ulrich / Agathe) berührt In-Leben, berührt: etwas Unangenehmes leben als Urgegensatz zu anderem Zustand. Unersättliche Unlust. Ist auch: starke Form des Mitmachens. Absolute Musik. = Realisieren – strikte fordern lassen! – eines höheren Seins (im Gegensatz zu Ulrichs Auffassung von solcher Realisierbarkeit als leben wie lesen, Generalsekretariat, usw.). Glaube: Alle unsere Erlebnisse sind mehr, als wir erleben. (Geradezu Prototyp des Glaubens.) Alle unsere Empfindungen sind unausdrückbar. Zusammenhängend damit: Antiempirismus und Antipositivismus. Gegen die Universitäts-Wissenschaft. Für die Abkehr vom Individualismus. Und zwar durch den Willen. Mit der Variante: Die Welt ist (siehe Nationalsozialismus) nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen; man kann sie nicht moralisch begründen. Zurückbleiben der gemeinschaftsbildenden Kräfte gegenüber den ausdehnenden. Anfälligkeit der Kultur. Wille als Tätigkeit ohne Unterbrechung. Die Art des Sprechens so: Wenn ich das machte, was man von mir erwartet … ergibt den guten Übergang von Musik zu Sozialem Streit. (Schmeißer: Wenn Sie die Geburt der Moral aus dem Geist der Musik ableiten, so vergessen Sie, daß alle Gefühle, von denen Sie sprechen, ihren Sinn erst aus bürgerlichen Voraussetzungen und Gewohnheiten empfangen.)
Aus dem Streit Hauptpunkte: Die Leistung der Sozialdemokratie ist Null geblieben, revolutionär lackierter Liberalismus. Die neue Kultur des Sozialismus ist das Solidaritätsgefühl. Gegen geistige Arbeit (Universität) mit revolutionären Phrasen (Altertümersturm und dergleichen), die wirklichen geistigen Arbeiter bildet die Arbeiterbewegung aus. Die werden die Grundlage einer neuen Kultur schaffen. Meingast: Die Abkehr vom Individualismus, von der Wissenschaft, ein neues Gemeinschaftsgefühl ist im Werden. Aber es wird nicht von selbst! Und nun kommt über Wille. Ergebnis: I) Ästhetisches Phänomen … 2) Unsere Staatsmänner müssen Musik lernen. 3) Die Humanitätsverblödung muß durch systematisch geübte Grausamkeit überwunden werden. (Wirkung auf Clarisse, auf Walter.) Feind der Demokratie. Aus der Arbeiterbewegung wird nie von selbst eine neue Kultur entstehn.
Ich rede nicht von Kunst. Ich rede davon, daß die bürgerliche Kultur zugrundegehn wird, und zwar an Ausbreitung ohne Willen. Ihr Zeitpunkt wird nie kommen. Die Demokratie erzieht Schwätzer. (Ihre Schöpfungen: Parlament und Zeitungen.) Die Masse kommt. Aber ihre Zusammenballung muß erst geschehn!
Eventuell General, Ulrich usw. kommen erst nachträglich zu Wort.
Dazu: Konfrontation zweier Für-Männer. Problem der Kultur. Ähnlichkeit mit Rotbart.
Gelegenheit, Ulrich in der Aporie der Exaktheit zu repetieren, gegen diesen Philosophentypus, der nicht ohne Einfluß auf die heutige ist. Ulrich weiß natürlich, was der Exaktheit fehlt.
Das Kapitel steht dadurch im Zusammenhang Liebesbeschluß – starke Hand. Ist Teil der Zeitschilderung. Dadurch, daß das Kapitel im Zusammenhang Sitzung – Besitz und Bildung steht, erhält es erhöhte Bedeutung und Aufgabe. Hier zum großen Teil Soziale Fragestellung.
Als alles so weit gediehen war, daß der Weg zu Clarisse angetreten werden sollte, weigerte sich Agathe mitzugehn, und der General hätte sich beinahe nach vergeblichen Gegenvorstellungen mit Schmeißer allein bei diesem Unternehmen befunden, so daß sich wenigstens Ulrich rühren ließ und mitging. Stumm von Bordwehr war in Zivil mit Brille.


Graf Leinsdorf bei Ulrich


Unerwartet und erst im letzten Augenblick angekündigt, fuhr Graf Leinsdorf bei Ulrich vor. Als er von ihm empfangen wurde, musterte er noch unverhohlen, aber sichtlich befriedigt die Einrichtung des Hauses, die der Ausdruck von Ulrichs Wunsch war, nicht über sie nachdenken zu müssen, und die ersten Worte Seiner Erlaucht waren: »Ich hab mir Ihre Wohnung ganz anders vorgestellt. Ich weiß nicht warum, aber viel verrückter. Es gefällt mir sehr gut bei Ihnen!« Und als sie einander gegenüber saßen, begann er mit den Worten das Gespräch, die auch viele andere an seiner Stelle gebraucht hätten: »Also wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muß der Prophet zum Berg kommen!«
»Ich bin überwältigt von Ihrer Nachsicht!« versicherte Ulrich.
»Wissen Sie überhaupt, was sich inzwischen ereignet hat?« fragte Leinsdorf und nachdem Ulrich seine Vermutung ausgedrückt hatte, es bejahen zu können, fügte Seine Erlaucht hinzu: »Also das doch!« Er lehnte aufgerichtet den Rücken an seinen Stuhl und kreuzte die Daumen.


Konferenz bei Graf Leinsdorf


Versuch Aufbau: Herkunft a

I) Begründung und Entstehung der Sitzung: (Muß General in seiner Tätigkeit bei Graf Leinsdorf zeigen.)
I) Graf Leinsdorf hat der Fortsetzung durch Vorlesung Feuermaul bei Frau Drangsal zugestimmt und ist wieder davon abgekommen.
2) Warum? a) Weil ihn die Erinnerung an die Küche ärgert. Die zuletzt eingerissene Führung führt zu Unmöglichkeiten. Diotima läßt die Zügel schleifen (dort hat sich aber General darüber beklagt). b) Er hat Feuermaul für ein Alibi gegen den Vorwurf des Germanisierens gehalten. Für ein schönes Wort zur starken Hand. Die Tschechen sagen, Feuermaul gebe selbst die Gefährlichkeit seines Volkstums zu. Das alles spräche aber für Feuermaul. c) Die Drangsal ist ihm zuwider. Eine fade Person. Warum weiß er nicht. (Sein richtiger Instinkt!) Der Feuermaul ist ihm zu jung. (Wie er es auch Regierungsrat Meseritscher war.) Diese jungen Leute glauben heutzutage…, statt daß sie etwas lernen …! d) Erfolg der Tätigkeit des Generals. Erlaucht! Wir haben jetzt einen Friedenskongreß, da ist doch eigentlich so ein Pazifist – überflüssig! (Oder ähnlich.) Oder: Wir haben jetzt einen Friedenskongreß, und wenn eine Idee soweit ist, dann verliert sie ihre Wichtigkeit als Idee. Der Kongreß soll nicht übertrieben sein. Man muß alle Übertreibungen fernhalten. Man muß jetzt gegen die Pazifisten sehr scharf sein.
II) Wie kommt es, daß Graf Leinsdorf den General akzeptiert hat? Ein Verwandter ist Oberstleutnat im Generalstab. Hat Wunsch des Kriegsministers überbracht, in engem Einvernehmen mit Seiner Erlaucht zu handeln. Und da General Stumm durch seine privaten Interessen ohnehin … Sei also als eine Art Verbindungs-Offizier geeignet anzusehn. Und so kam es, daß Seine Erlaucht Stumm empfing.
III) Leinsdorf hatte den General nicht gern in der Parallelaktion gesehn, aber wie alle hatte er sich an den freundlichen unmilitärischen Mann gewöhnt und als dieser bei ihm vorsprach, war er erstaunt, einen vielseitig gebildeten Menschen in ihm kennenzulernen.
Das erste war, daß ihm Stumm den Feuermaul ausredete: d) Es fehlte Leinsdorf, seit Ulrich ihn mied und Diotima ihn verstimmt hatte, an Aussprache. »Mit Ausnahme von Seiner Eminenz haben die Leute in meinem Kreis kein Interesse an Kunst und Philosophie.«
Zu der neuen Wendung der Dinge zeigte Graf Leinsdorf ein beruhigendes Verhalten. Er hat sie nur unter Vorbehalt mitgemacht. Daß der Kongreß nun amtlich bearbeitet wird, ist ihm durchaus lieb. »Wir hatten da nur eine Lücke ausgefüllt. Es war« erläuterte er dem General »uns ein schweres Amt zugefallen, und jeder Staatsbürger muß, was ihm zufällt, wie ein Amt behandeln.« Er ist willens, die bisher erzielten Ergebnisse den Ministerien zuzuführen und die Parallelaktion in einer würdigen Weise abzuschließen. Außerdem war die Parallelaktion ja schon nach Ministerien eingeteilt! (Band I!)
(Rede!)
IV) Da ergibt sich die Frage: welches sind die Ergebnisse? Diese Frage wird in dieser Sitzung nicht gelöst, und auch die solemne Beendigung der Parallelaktion kommt nicht zustande, sondern fällt dann mit Schlußsitzung zusammen. Das Ergebnis wird der Krieg sein oder der Zusammenbruch der Kultur: Parallelaktion hat geruht, aber Graf Leinsdorf hat gearbeitet. Diese Konferenz einberufen, damit sie Ergebnisse entgegennimmt. Zusammenbruch der Kultur zunächst als: Besitz und Bildung. Es war ihnen eine Chance gegeben, und sie haben nichts geleistet. Es gibt Ausschüsse und Unterausschüsse, und man hat im Augenblick gar keinen Überblick darüber. Aber außerdem werden Gelder gesammelt. Und Baron Wisnieczky existiert. Was soll mit dem Geld geschehn? Man kann es nicht zurückgeben, und nicht dem Finanzministerium abführen. Es wird von einem Ausschuß verwaltet, an dessen Spitze ein Beamter steht; man wird eine Form finden, aber Diotima weiß sie nicht. Es bleibt also der Zukunft überlassen. Man wird dem Geld wohl eine Widmung geben müssen; da tauchen wieder die alten Anregungen auf, von der Suppenanstalt angefangen: und man kann doch nicht für eine entscheiden und sie bevorzugen! Sonach träte nun wieder das Problem der größten und schönsten Idee auf: aber alle Beteiligten nehmen es nun so wenig ernst, wie es dies verdient, doch wissen sie nicht recht, warum. In dem Augenblick, wo man der Praxis zugewandt ist, weiß man, daß jede bevorzugte Idee Konkurrenten heraufruft; das kann man nur vergessen, wenn man ins Blaue gerichtet ist. Beinahe: ein Spuk ist zerflogen. Ausgenommen ist Graf Leinsdorf, der ja noch seine Reserveprojekte hat: diese Ausnahme ist schon nötig wegen »Schulprojekt«, das später kommen wird. Er kann seine Ideen andeuten oder wenigstens ihr Vorhandensein.
Eventuell könnte hier General seine Frage stellen: Wenn es schon Ideale gibt, müßte es doch ideal sein, ideal zu leben! Warum also nicht?! Aber warum kann man nicht nach dem Obersten Gut suchen? Ulrich und Agathe tun es.
Übrigens: Man darf sich bei diesen Geldsachen nicht zulange aufhalten. Wir werden das schon in einer anständigen Weise ordnen: Aristokratisches Prinzip. Finanz nimmt heute einen viel zu breiten Raum ein.
V) I) Besitz und Bildung ist das, was sich Graf Leinsdorf vor allem überlegt hat, und bildet den Inhalt einer kleinen Rede. (Oder, in Reserve: eines Gesprächs mit Ulrich, vor oder nach der ) Daß die radikalen Richtungen in der Politik das gemäßigte (liberale) Bürgertum überwinden, ist nichts Neues, sondern bloß eine Phase des Versagens von Besitz und Bildung. Besitz und Bildung hätten die Götter des Staats sein sollen. Sie hätten sich zusammenschließen sollen, um nicht von der demagogischen Flut ersäuft zu werden. Aber die hetzerischen Elemente finden in der zu wenig gebildeten Masse nicht die nötige Zurückweisung.
Ich habe geglaubt, die demagogischen Richtungen durch einen Appell, eine Kraftkundgebung aufhalten zu können. (Brave Völker. Friedenskaiser. Europäischer Markstein.) Aber es hat sich die vorschreitende Degenereszenz von Besitz und Bildung gezeigt (ergänze: denen das Vertrauen Seiner Majestät im Jahre …). Vielleicht dürfen wir uns sogar schmeicheln, daß wir da etwas für die ganze Welt Vorbildliches geleistet haben! Die junge Generation ist in dieser Phase schon geboren, ohne es zu wissen. Sie will gar keine Bildung. Die wissen alles schon besser. Das haben wir ja deutlich gesehen. Und warum sollte sie denn auch eine Bildung wollen?! Wir haben auf unseren Versammlungen viel gesehen. Und ich möchte Ihnen nicht verschweigen, daß ich mich manchmal gefragt habe, wie es zusammenhängen mag, daß Gott so eine moderne Malerei und Literatur zuläßt. Nicht, als ob ich die alte besser fände, obwohl mein Großvater und Vater diese Bilder gesammelt haben und ich selbst nach meinen bescheidenen Kräften noch etwas dafür tue. Aber damals hat man sich doch noch Mühe gegeben, gut zu malen und zu schreiben, und das drückt auch noch etwas aus, wogegen heute die Auflösung überall zu spüren ist. (Was soll er sagen, nach dem Prinzip, daß er in reaktionärer Form die Wahrheit ausspricht?) Können diese Leute einen Menschen malen oder beschreiben? Sieht die Welt so aus? Ist das schön? Das behaupten sie selbst nicht einmal. Irgendeinen neuen Geist soll es ausdrücken. (Dazu eventuell: Die fade Arroganz des geistigen Adels.) Nun, da sind wir ja einigermaßen kompetent: ein neuer Geist entsteht nicht so mir nichts, dir nichts. Das ist eine Gewissenlosigkeit, so zu reden. Aber die alten Werte sind uns fad, das gebe ich zu. Also warum sollten die neuen jungen Leute Bildung wollen?! Man kann sie ganz gut verstehn, aber man muß sie beklagen, und was daraus entstehen wird, das heißt, was an die Stelle der Kultur treten wird, das läßt sich nicht voraussagen. Ich persönlich habe wohl noch über vieles meine Ideen und werde vielleicht auch noch in ihrem Sinne wirken. Aber seien wir froh, als Unternehmen, daß man uns die Sorge und Verantwortung abgenommen hat. (Eine Andeutung über ›Mittelstand‹ anstelle der Bildung schlösse sich organisch an. Kann auch später folgen – wegen Umfang vorzuziehn!)
2) Es ist ja merkwürdig. Der alte Liberalis mus war korruptionistisch; aber warum kommt beim politischen Fortschritt immer etwas neu es Schlechtes? Warum kommt beim politischen Fortschritt immer etwas noch Schlechteres heraus? »Sehn Sie, ich wäre gar nicht gegen den wahren Fortschritt. Die französische Revolution zum Beispiel … Köpfe … aber man muß zugeben: ancien régime … Fehler … und Revolution einige wahre Gedanken. Aber was ist daraus schließlich entstanden? … Post … bessere Briefe … (Kommt das nicht schon vor? Band I, Debatte im Hause Leo Fischel?) … – Entschuldigen Sie, daß ich so lange vom Adel gesprochen habe, aber so ist der Adel beiseite geschoben worden, und wenn die soziale Revolution kommen sollte, wird sie ein paar wahre Gedanken enthalten und den Fabrikantensöhnen (oder irgendwem) den Kopf abschlagen. Aber besser wird es auch nicht werden.«
Nachtrag zu IV)ff: Das ist auszugleichen mit der Linie des Grafen Leinsdorf. Der Anfang – Ärger über Preußen und ein Gleichnis. Diesem Gleichnis sind wir treu geblieben, wenn wir auch die verschiedensten Standpunkte dazu haben einnehmen müssen – könnte den Anfang der Rede bilden oder in ihn hineingenommen werden. Schwierigkeit: Gleichnis ist ein Hauptthema und soll zusammengefaßt werden. Der Ort dazu kommt wahrscheinlich erst später. Voraussichtlich im Tagebuch. (Fortsetzung von ›Gefühl‹, Leben nach Gleichnissen. Vielleicht schon etwas Gartenszene; aber wahrscheinlicher erst bei Passivität.) Hier wurde es voreilig und schief aufgegriffen.
Fragwürdiger Ausweg: Es ließe sich (höchstens) hier einfügen. Was dort nicht recht ausgedrückt werden konnte, dieses Zerplatzen einer Illusion und Wiederinkrafttreten des Realitätsverhaltens, wäre eine Art Übergang vom Gleichnis zur Wirklichkeit. Unbestimmt allen spürbar in dem Augenblick, wo Graf Leinsdorf anschließend von Gleichnis spricht. Gleichnis vertritt hier ungefähr den unbestimmt gehobenen Zustand des Idealismus. Graf Leinsdorf kann darum anschließend auch von Realpolitik sprechen.

Versuch Aufbau: Herkunft B (Mit A zu verbinden.) Nach…wird die Geschichte Diotima – Arnheim – Tuzzi dort nur zusammenfassend referiert, und hier soll sie ergänzt werden. Ist Tuzzi anwesend? Korrektermaßen nein; aber er hat sonst überhaupt kein Kapitel bis Schlußsitzung: also ja! Er begleitet Diotima vorsichtshalber. Hat irgendeine Nebensächlichkeit angeblich unter vier Augen mit Graf Leinsdorf zu sprechen, wird eingeladen und spricht während der eigentlichen Sitzung kein Wort. Dann könnte er aber ebensogut ein kurzes Kapitel mit Diotima haben, in dem er sie hinbringt oder abholt. Abholen wäre sogar besser, weil nun ein Hindernis mehr zwischen den beiden gefallen ist. Eventuell vorsichtiges Gespräch über Arnheim, der auch nicht da ist. Sogar Ulrich könnte dabei sein. Wenn Graf Leinsdorf zur Rückkehr seinen Wagen Diotima und Tuzzi zur Verfügung stellt und dieser altmodisch geräumig ist. Ulrich könnte mit einiger Bosheit das Gespräch auf Arnheim bringen. Aber das ist nicht die kurze zum Ende führende Linie! Höchstens, wenn man anknüpft an …, die Verstimmung Diotimas gegen Ulrich. Und Ulrich beginnt von Arnheims »Unentschlossenheit« zu sprechen, die er dann freilich zu irgendeinem Stigma der Zeitschilderung oder eines anderen Hauptproblems machen müßte. In Zusammenhang damit zu Tuzzi: Erinnern Sie sich, was ich Ihnen einmal über ›Schreiben‹ gesagt habe? Nun, ich schreibe jetzt. – Und haben sich noch nicht getötet? In Verbindung damit steht der Vorschlag, den Ulrich Diotima gemacht hat (Gewährenlassen, Leben wie Lesen). Auch ‹Seele‹, die Erklärung, die Ulrich Tuzzi gegeben hat, könnte vorkommen. Diotima: Man muß auf die Seele verzichten, auf die Synthese, usw. Eine bittere Bemerkung über Liebe, die Tuzzi auf sich beziehen mag. Bonadea war anwesend; aber Diotima nimmt Ulrich in den Wagen. Mit einer kleinen Bosheit. Ulrich – im Zug mit Agathe – heftige Abneigung gegen die Frau, die mit Tuzzi schläft, von Seele spricht, usw.
An Liquidation des Problems der schönsten Ideen ließe sich natürlich anknüpfen. ›Gleichschaltung‹: I) Die Gefühle vertragen es nicht, dogmatisiert zu werden. 2) Anderseits braucht der Mensch Gleichschaltung; es gäbe geradezu die Erklärung. Mit dem Hintergrund von ›Seinesgleichen‹. Denn es kommt an allgemeinen Kapiteln nur noch Schlußsitzung. (Anderseits ist es das letzte Diotima – Ulrich-Kapitel vor Verführung! Worauf noch Rücksicht genommen werden muß.) Es müßte also Ulrich über Gleichschaltung sprechen, nachdem vorher in Sitzung General dieses Thema aufgebracht hat. Dazu etwa noch: Nichts ist dem Menschen so wichtig wie eine feste Geisteshaltung, ein Archimedischer Punkt; das Volk will ein aktiv gutes Gewissen. (= Nationalsozialismus) (Das wäre hier eine Wiederholung aus den Meinungskapiteln: Kreislauf des Gefühls und dergleichen) Hauptquelle aller Gewalttaten: daß man nicht weiß, wozu man da ist.
Anknüpfen könnte das an die Nationenkonflikte (die wohl auch schon in dieser Sitzung sehr deutlich sein müssen!): Kurz dazu: … Nationen haben einen unzurechnungsfähigen Geist … Ehe das näher ausgeführt wird, ist es wichtig, das gleiche von General aus in Angriff zu nehmen: ›Gleichschaltung‹ und ähnliches von General aus: Im Mittelpunkt steht da aber wohl das NationenProblem, und dieses soll erst gegen Ende ausführlicher kommen. Was davon hier? Vorauszuschicken: Daß dies zuviel ist für hier und zum Teil auch später gehört. Auch wenn hier nur ein Teil kommt, muß ein Vor- oder Zwischengespräch mit General gemacht werden. Dafür käme in Frage: Kakanien als Staat des Sowohl-als-auch oder des Wedernoch. Die Menschen, denen alles zugleich Unlust und Lust ist. Eine Kraftkundgebung, die zugleich eine der Liebe sein soll. Synthese von Kraft und Liebe im Militär (etwa als Kritik am Weltfriedenskongreß). These, daß Kultur eine Mischung aus Liebe und Roheit ist (eventuell zu Clarisse!). Aburteilung des Liberalismus. Das letzte, worauf es bei einer Ordnung ankommt, ist, ob die Vernunft sie billigen kann. Da nach einem solchen Gespräch Graf Leinsdorf wohl kaum von Malerei und ähnlichem sprechen kann, dürfte es am besten an Sitzung anschließen, bzw. deren Auflösung bilden.
Schmierblatt Nationen-Kapitel selbst: enthält – vorwaltend auf die Form Ulrich-Agathe-General-Tat gestimmt, und auf die Einleitung zur Beschreibung von B. als Herd des Weltkriegs – die bedeutendsten Ansätze – und zwar schon recht gut durchgearbeitet (zum Beispiel zum statistischen Weltbild anstelle des liberal gesetzlichen). Dieses Gespräch hätte den Kern zu bilden, an den sich das übrige angliedert, sofern dieses nicht relativ unabhängig ist wie Graf Leinsdorfs Rede. Das Material wäre zu teilen zwischen hier und Museum-Kapitel und liefert dann auch wichtige Bestimmungen für den Schlußteil. Hieran knüpft sich dann erst das Problem Ulrich und die Politik (Propheten. Schmeißer)