MoE 4 | Zweites Buch | Zweite Genfer Ersetzungsreihe 48-50

48.
Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber


Spricht einer von der zweiseitigen und unordentlichen Beschaffenheit des menschlichen Wesens, setzt es voraus, daß er meint, sich eine bessere vorstellen zu können.
Ein gläubiger Mensch kann das tun, und Ulrich war keiner. Im Gegenteil: Glaube stand bei ihm im Verdacht einer Neigung zum Vorschnellen, und ob der Inhalt dieses geistigen Verhaltens ein irdischer Einfall, ob er eine überirdische Idee war, schon als seelische Fortbewegungsart erinnerte es ihn an die ohnmächtigen Flugversuche eines Haushuhns. Nur Agathe bewirkte darin eine Ausnahme; an ihr behauptete er zu beneiden, daß sie voreilig und mit Eifer glauben konnte, und empfand die Weiblichkeit ihres Mangels an vernünftiger Zurückhaltung manchmal fast so körperlich wie einen der anderen Geschlechtsunterschiede, von denen zu wissen eine selige Verblendung erregt. Er verzieh ihr diese Unberechenbarkeit selbst dann, wenn sie ihm wie ein Rausch eigentlich unverzeihlich erschien, wie in der Verbindung mit der lächerlichen Person des Professors Lindner, von der ihm seine Schwester vieles verschwieg. Er spürte neben sich die Verschwiegenheit ihrer Körperwärme und erinnerte sich an eine leidenschaftliche Behauptung, die ungefähr den Sinn hatte, daß kein Mensch an sich selbst schön oder häßlich, gut oder schlecht, bedeutend oder geisttötend sei, sondern daß sein Wert immer davon abhänge, daß man an ihn glaube oder an ihm zweifle. Das war eine maßlose Bemerkung, voll Großmütigkeit, aber auch von Ungenauigkeit zersetzt, die allerhand Rückschlüsse zuließ; und die versteckte Frage, ob sie am Ende nicht gar auf diesen Ziegenbock der Gläubigkeit, diesen Mann Lindner, zurückzuführen sei, von dem er so gut wie nichts als den Schatten kannte, ließ in dem schnellen unterirdischen Fluß seiner Gedanken eifersüchtig eine Welle aufschäumen. Als Ulrich aber darüber nachdachte, wußte er sich nicht zu entsinnen, ob überhaupt Agathe diese Bemerkung getan hätte, oder nicht gar er selbst, und eines erschien ihm ebenso möglich wie das andere. Da zerfloß die Eifersuchtswelle in zärtlichen Schaum, wegen dieser Verwechselbarkeit über allen seelischen und körperlichen Unterschieden, und er hätte nun aussprechen mögen, was sein eigentlicher Vorbehalt gegen jede Glaubensbereitschaft war. Etwas zu glauben und an etwas zu glauben, sind seelische Zustände, die ihre Kraft einem anderen Zustand entnehmen und für sich verwenden oder auch verschwenden; aber dieser andere Zustand war nicht nur, wie es am nächsten lag, der feste des Wissens, sondern konnte, im Gegenteil, auch ein noch weniger stofflicher Zustand als das Glauben selbst sein: Und daß gerade in diese Richtung alles führe, was ihn und seine Schwester bewege, drängte Ulrich zur Aussprache; aber seine Gedanken waren noch weit von der Aussicht entfernt, sich dahin zu verbinden, und darum sprach er sich nicht aus, sondern wechselte lieber den Gegenstand, ehe er es tat.
Auch ein genialer Mensch trüge ja ein Maß in sich, das ihn zu dem Urteil ermächtigen könnte, es gehe in der Welt auf schier unerklärliche Weise alles so zurück wie vorwärts; aber wer ist ein solcher? Ulrich hatte ursprünglich nicht das mindeste Verlangen, darüber nachzudenken; aber die Frage hielt ihn fest, er wußte nicht warum.
»Man muß zwischen Genie als Art und als persönlichem Superlativ trennen« begann er und hatte noch nicht den rechten Ausdruck gefunden.
»Manchmal habe ich früher gedacht, daß es, als die einzigen wichtigen Menschenrassen, überhaupt nur die des Genies und die des Dummkopfs gebe, die sich nicht gut vermischen. Die Menschen der Genieart, oder die Genialen, müssen aber nicht schon ein Genie sein. Dieses, das bestaunte Genie, entsteht so recht erst an der Börse der Eitelkeiten; in seinem Glanz strahlen die Spiegel der umgebenden Dummheit; es ist immer mit etwas verbunden, das ihm noch ein Ansehen dazu gibt, wie Geld oder Auszeichnungen: mag sein Verdienst also wie immer groß sein, ist seine Erscheinung doch eigentlich die ausgestopfte Genialität –«
Agathe unterbrach ihn, neugierig auf das andere: »Gut, aber die Genialität selbst?«
»Wenn du aus dem ausgestopften Popanz herausziehst, was bloß Stroh ist, müßte sie wohl überbleiben« sagte Ulrich, besann sich aber und fügte mißtrauisch hinzu: »Ich werde nie recht wissen, was genial ist, und weiß auch nicht, wer das entscheiden sollte!«
»Ein Senat der Wissenden!« sagte Agathe lächelnd. Sie kannte ihres Bruders oft recht ideokratische Gesinnung, mit der er sie in manchem Gespräch geplagt hatte, und erinnerte ihn durch ihre Worte scheinheilig an die berühmte, aber in zweitausend Jahren nicht befolgte Forderung der Philosophie, daß die Leitung der Welt einer Akademie der Weisesten anvertraut werden sollte.
Ulrich nickte. »Das schreibt sich schon von Platon her. Und hätte es verwirklicht werden können, so wäre auf ihn an der Spitze des regierenden Geistes wahrscheinlich ein Platoniker gefolgt, und das so lange, bis eines Tages – Gott weiß warum – die Plotiniker für die wahren Philosophen gegolten hätten. So verhält es sich auch mit dem, was für genial gilt. Und was hätten die Plotiniker mit den Platonikern angefangen, und vorher diese mit ihnen, wenn nicht das, was jede Wahrheit mit dem Irrtum tut: ihn unerbittlich ausmerzen? Gott hat vorsichtig gehandelt, als er anordnete, daß aus einem Elefanten wieder nur ein Elefant hervorgeht, und aus einer Katze eine Katze: aus einem Philosophen geht aber ein Nachbeter und ein Gegenphilosoph hervor!«
»Also müßte Gott selbst entscheiden, was genial ist!« rief Agathe ungeduldig aus, nicht ohne einen leichten stolzen Graus bei dieser Vorstellung zu empfinden und sich deren Heftigkeit bewußt zu sein.
»Ich fürchte, daß es ihn langweilt!« sagte Ulrich. »Wenigstens den christlichen Gott. Er ist erpicht auf die Herzen, ohne zu achten, ob viel oder wenig Verstand bei ihnen ist. Übrigens glaube ich, daß die kirchliche Geringschätzung der bürgerlichen Genialität manches für sich hat!«
Agathe wartete etwas; dann erwiderte sie einfach: »Du hast früher anders gesprochen!«
»Ich könnte dir antworten, daß der heidnische Glaube, alle den Menschen bewegenden Ideen hätten zuvor im göttlichen Geiste geruht, sehr schön gewesen sein muß; aber daß es schwer ist, an göttliche Ausströmungen zu denken, seit sich unter dem, was uns viel bedeutet, Ideen befinden, die Schießbaumwolle oder Pneumatik heißen« entgegnete Ulrich auf der Stelle. Dann schien er aber zu zaudern und des scherzenden Tons zu viel zu haben; und plötzlich gestand er seiner Schwester zu, was sie wissen wollte.
Er sagte: »Ich habe immer, und fast von Natur, daran geglaubt, daß der Geist, weil man seine Macht in sich fühle, auch dazu verpflichte, ihm in der Welt Geltung zu verschaffen. Ich habe geglaubt, daß es sich nur lohne, bedeutend zu leben, und habe mir gewünscht, niemals etwas Gleichgültiges zu tun. Und was für die allgemeine Gesittung daraus folgt, mag hochmütig verzerrt aussehen, aber es ist unvermeidlich dies: Nur das Geniale ist erträglich, und die Durchschnittsmenschen müssen gepreßt werden, damit sie es hervorbringen oder gelten lassen! Mit tausend anderem vermischt, gehört etwas davon sogar zur allgemeinen Überzeugung: Es ist also wirklich beschämend für mich, dir die Antwort geben zu müssen, daß ich nie zu sagen gewußt hätte, was genial ist, und es auch jetzt nicht weiß, obgleich ich vor einigen Augenblicken erst unbefangen angedeutet habe, daß ich diese Eigenschaft weniger einem besonderen Menschen als einer menschlichen Artung zuschreiben möchte.«
Er schien es nicht so schlimm zu meinen, und Agathe hielt sorgsam das Gespräch im Gang, als er schwieg. »Kommt es dir nicht selbst leicht über die Lippen, von einem genialen Akrobaten zu sprechen?« fragte sie. »Es scheint also, daß heute gewöhnlich das Schwierige, Ungewöhnliche und besonders Gelungene zu dem Begriff gehört.«
»Bei den Sängern hat es angefangen; und wenn einer, der höher singt als die übrigen, genial heißt, warum soll es nicht einer tun, der höher springt! Schließlich kommt man aber so auch zu der Genialität eines Vorstehhunds; und Männer, die sich von nichts einschüchtern lassen, halten sie sogar für gediegener als die des Mannes, der sich die Stimmbänder aus dem Hals ziehen kann. Offenbar ist da ein zweifacher Sprachgebrauch im unklaren; außer der Genialität des Gelingens, die sich auf alles zu erstrecken vermag, so daß auch der dümmste Witz ›in seiner Art‹ genial sein kann, gibt es auch noch die Höhe, Würde oder Bedeutung dessen, was gelingt, also irgendeinen Genialitätsrang.« – Ein heiterer Ausdruck hatte den Ernst in Ulrichs Augen verdrängt, so daß Agathe nach der Fortsetzung fragte, die er zu verschweigen scheine.
»Mir fällt ein, daß ich die Frage Genie einmal mit unserem Freund Stumm erörtert habe« erzählte Ulrich. »Und er hat auf der Nützlichkeit bestanden, daß man einen militärischen und einen zivilen Begriff Genie unterscheide. Damit du ihn aber verstehst, muß ich dir vielleicht etwas aus der Kaiserlich und Königlichen Militärwelt erklären. Die Genietruppe – allein als Wortverbindung schon wunderbar! –« fuhr er fort – »dient zu Befestigungs- und ähnlichen Arbeiten und besteht aus Soldaten und Unteroffizieren und aus Offizieren, die keine besondere Zukunft haben, es sei denn, daß sie einen ›Höheren-Genie-Kurs‹ bestehen, wonach sie in den ›Genie-Stab‹ gelangen. ›Über dem Genie steht beim Militär also der Geniestäbler‹ sagt Stumm von Bordwehr. ›Und ganz darüber natürlich noch der Generalstab, weil der überhaupt das Gescheiteste ist, was Gott getan hat.‹ So hat er mich, wenngleich er sich noch immer mit Genuß als Antimilitaristen bezeichnet, darauf zu bringen gesucht, daß der rechte Gebrauch von Genie schließlich noch beim Militär zu finden sein wird und gestaffelt ist, während allem Zivilgerede davon gerade eine solche Ordnung bedauerlicherweise mangle. Und wie er alles so verdreht, daß man der Wahrheit ordentlich auf den Grund sieht, täten wir gar nicht schlecht daran, uns an seinen Leitfaden zu halten!«
Was Ulrich über die ungleichen Begriffe der Genialität dem folgen ließ, hatte es aber weniger auf die Höchststufe Genie abgesehen als auf die Grundform der Genialität oder des Bedeutenden, deren Zweifelhaftigkeit ihm verwirrender und schmerzlicher vorkam. Es schien ihm leichter zu sein, ein Urteil über das zu gewinnen, was überaus bedeutend sei als über das Bedeutende schlechthin. Jenes ist bloß ein Schritt über etwas hinaus, dessen Wert schon unbestritten ist, also etwas, das immer in einer mehr oder weniger herkömmlichen Ordnung geistiger Werte begründet ist; dieses hingegen verlangt, den ersten Schritt in einen unbestimmten und unendlichen Raum zu tun, und das bietet fast keine Aussicht, daß sich triftig unterscheiden lasse, was bedeutend ist, und was nicht. So ist es natürlich, daß sich der Sprachgebrauch lieber an die Genialität des Grades und Gelingens gehalten hat als an den Genialitätswert dessen, was gelingt; doch ist es auch verständlich, daß die entstandene Gewohnheit, jede schwer nachahmliche Geschicklichkeit genial zu nennen, mit einem schlechten Gewissen verbunden ist, und natürlich keinem anderen als dem einer eingegangenen Aufgabe und einer vergessenen Pflicht. Die Geschwister hatten scherzhaft-zufällig daran Anstoß genommen, sprachen aber ernst weiter. Am deutlichsten wird das,« sagte Ulrich zu seiner Schwester »wenn man, was fast nur durch Zufall geschieht, eines wenig beachteten äußeren Zeichens inne wird, nämlich der Gepflogenheit, daß wir die Worte Genie und genial verschieden aussprechen, und nicht so, als ob das zweite vom ersten käme.«
Wie es jedem ergeht, der auf eine unbeachtete Gewohnheit aufmerksam gemacht wird, verwunderte sich Agathe ein wenig.
»Ich habe damals, nach dem Gespräch mit Stumm, im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen« entschuldigte sich Ulrich. »Das Militärwort Genie, der Geniesoldat also, ist natürlich wie es viele militärische Ausdrücke getan haben, aus dem Französischen zu uns gekommen. Die Ingenieurkunst heißt dort le génie; und damit hängt zusammen Géniecorps, Arme du génie, Ecole du génie, aber auch das englische Engine, das französische Engin und das italienische Ingenio macchina, das kunstvolle Werkzeug; die ganze Sippschaft aber geht auf das spätlateinische Genium und Ingenium zurück, Worte, deren hartes G auf der Wanderung zu einem weichen Sch wird, und deren Grundbedeutung die Geschicklichkeit und das Können ist –: eine Zusammenfassung, ähnlich der etwas alterssteifen Redensart ›die Handwerke und Künste‹, mit der uns amtliche Inschriften und Schriften heute noch zuweilen beglücken. Von da ginge ein verrotteter Weg also auch zum genialen Fußballspieler, ja sogar zum genialen Stöberhund oder Springpferd, aber es wäre folgerichtig, dieses Genial so wie jenes Genie auszusprechen. Denn es gibt ein zweites Genie und Genial, deren Bedeutung ebenfalls in allen Sprachen anzutreffen ist und nicht auf Genium zurückgeht, sondern auf Genius, auf das Mehrals-Menschliche, oder wenigstens in Ehrfurcht auf Geist und Gemüt als das menschlich Höchste. Ich brauche wohl kaum noch zu sagen, daß diese beiden Bedeutungen allenthalben heillos verwechselt und vermischt worden sind, schon seit Jahrhunderten, und in der Sprache, wie im Leben, und nicht nur im Deutschen; aber bezeichnendermaßen da am meisten, so daß es besonders eine deutsche Angelegenheit zu nennen ist, das Geniale und das Ingeniöse nicht auseinanderzuhalten. Überdies hat sie im Deutschen eine Geschichte, die mir an einer Stelle sehr nahegeht –«
Agathe war dieser ausgedehnten Erklärung gefolgt, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, ein wenig mißtrauisch und bereit, sich zu langweilen, aber auf eine Wendung wartend, die von dieser Unsicherheit befreit. »Möchtest du mich für einen Sprachnörgler halten, wenn ich dir vorschlüge, daß wir zwei fortab das Wort ›genialisch‹ wieder in Gebrauch nehmen sollten?« fragte Ulrich.
Unwillkürlich deuteten ein Lächeln und eine Kopfbewegung seiner Schwester ihr Widerstreben gegen das veraltete Wort an, das ein Zeitgenosse von theatralisch, infernalisch, physikalisch und moralisch ist, aber mit sentimentalisch, idealisch, kolossalisch, kollegialisch, und anderen aus dem Gebrauch gekommen ist und dem nun ein Geruch von alten Truhen und Trachten anhaftet.
»Es ist ein veraltetes Wort,« gab Ulrich zu »aber es war ein guter Augenblick, da es gebraucht wurde! Und wie gesagt, habe ich doch darüber nachgelesen; und wenn es dich nicht stört, daß wir auf der Gasse sind, will ich noch einmal nachsehn, was ich dir darüber zu sagen vermag!« Er zog lächelnd einen Zettel aus der Tasche und entzifferte einzelne mit Bleistift beschriebene Stellen. »Goethe« verkündete er: »›Hier sah ich Reue und Buße bis zur Karrikatur getrieben, und wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt, wirklich genialisch.‹ An einem andern Ort: ›Ihre genialische Ruhe war mir oft in glänzender Begeisterung entgegengekommen.‹ Wieland: ›Die Frucht genialischer Stunden‹; Hölderlin: ›Die Griechen sind immer noch ein schönes, genialisches und frohes Volk.‹ Und ein ähnliches Genialisch findest du noch bei Schleiermacher in seinen jüngeren Jahren. Aber schon bei Immermann hast du die Worte: ›Geniale Wirtschaft‹ und: ›Geniale Lüderlichkeit‹. Da hast du also diese beschämende Wendung des Begriffs zum Kesselflickerhaft-Schlampigen, als was genialisch heute noch meist mit Spott verstanden wird.« Er drehte den Zettel hin und her, steckte ihn wieder ein, und nahm ihn nochmals zu Hilfe. »Aber die Vorgeschichte und Vorursache findet sich schon früher« trug er nach: »Bereits Kant tadelt ›den Modeton einer geniemäßigen Freiheit im Denken‹ und spricht ärgerlich von ›Geniemännern‹ und ›Genieaffen‹. Es ist ein ansehnliches Stück deutscher Geistesgeschichte, das ihn so ärgert. Denn sowohl vor ihm als auch bezeichnendermaßen nicht minder nach ihm ist in Deutschland teils mit Schwärmerei, teils mit Mißbilligung von ›Geniedrang‹, ›Geniefieber‹, ›Geniesturm‹, ›Geniesprüngen‹, ›Geniereisen‹ und ›Geniegeschrei‹ gesprochen worden und sogar die Philosophie hatte nicht immer saubere Fingernägel, und am wenigsten dann, wenn sie glaubte, sich die unabhängige Wahrheit aus den Fingern saugen zu können.«
»Und wie bestimmt Kant, was ein Genie ist?« fragte Agathe, die mit seinen berühmten Namen bloß die Erinnerung verband, gehört zu haben, daß er alles übersteige.
»Er hat am Wesen des Genies das Schöpferische und die Originalität, den ›Originalgeist‹ hervorgehoben, womit er denn bis auf den heutigen Tag von größtem Einfluß verblieben ist« erwiderte Ulrich. »Goethe lehnte sich später wohl an ihn an, als er sogar das Genialische mit den Worten ›viele Gegenstände gegenwärtig haben und die entferntesten leicht aufeinander beziehen. Dies frei von Selbstischkeit und Selbstgefälligkeit‹ beschrieb. Aber das ist eine Auffassung, die es sehr auf die Verstandesleistung abgesehen hat und zu der etwas turnerhaften Vorstellung vom Genialen führt, der wir erlegen sind.«
Agathe fragte ungläubig lachend: »Weißt du also jetzt, was Genie und genial und genialisch ist?«
Ulrich nahm den Spott achselzuckend hin. »Immerhin haben wir erfahren, daß unter Deutschen, wenn sich schon nicht der strenge kantische ›Originalgeist‹ zeigt, auch ein verstiegenes und auffallendes Benehmen als genial empfunden wird« meinte er.


49.
General von Stumm über die Genialität


Das von Ulrich erwähnte Gespräch mit Stumm hatte bei einer zufälligen Begegnung stattgefunden und nicht lange gedauert. Der General schien Sorgen zu haben, sprach sich aber nicht darüber aus, sondern begann über den Unfug zu schimpfen, daß es im Zivil so viele Genies gebe. »Was ist das eigentlich, ein Genie?« fragte er. »Einen General hat noch niemand ein Genie genannt!«
»Napoleon ausgenommen« warf Ulrich ein.
»Ihn vielleicht« gab Stumm zu. »Aber das geschieht wahrscheinlich mehr deshalb, weil sein ganzer Werdegang paradox ist!«
Darauf hatte Ulrich keine Antwort zu geben gewußt.
»Bei deiner Kusine habe ich viel Gelegenheit gehabt, solche Leute kennen zu lernen, die man als Genies bezeichnet« erklärte Stumm nachdenklich und fuhr fort: »Ich glaube, daß ich dir sagen kann, was ein Genie ist: Das ist nicht nur einer, der großen Erfolg hat, sondern er muß seine Sache gewissermaßen auch verkehrt anfangen!« Und Stumm führte es sogleich an den großen Beispielen der Psychoanalyse und der Relativitätstheorie aus:
»Daß man etwas nicht gewußt hat, hat es auch früher oft gegeben,« begann er in seiner Art »aber man hat sich eben demzufolge auch nichts dabei gedacht, und wenn das nicht gerade bei einer Prüfung geschehen ist, hat es auch niemand geschadet. Mit einemmal hat man aber das sogenannte Unbewußte daraus gemacht, und jetzt hat jeder so viel Unbewußtes wie er nicht weiß, und es gilt als viel wichtiger, zu wissen, warum man etwas nicht weiß, als was man nicht weiß! Das hat, wie man sagt, menschlich das Unterste zu oberst gekehrt; und ist wahrscheinlich auch viel einfacher.«
Da Ulrich die Wirkung noch vermissen ließ, fuhr Stumm fort: »Der Mann, der das erfunden hat, hat aber auch das folgende Gesetz aufgestellt: Du erinnerst dich, daß man früher beim Regiment den jüngeren Herren, wenn sie untereinander zuviel Saubarteleien geredet haben, mit den Worten abgewinkt hat: ›Das sagt man nicht, das tun man bloß!‹ Und was ist das Gegenteil davon? Irgendwie doch die Aufforderung: Wenn du, weil du ein zivilisierter Mensch bist, nicht tun kannst, was du möchtest, so sprich wenigstens mit einem gelehrten Mann darüber; der überzeugt dich nämlich, daß alles, was es gibt, auf etwas beruht, das es nicht geben soll! Ich mag das natürlich nicht wissenschaftlich beurteilen, aber jedenfalls sieht man auch an diesem Beispiel, daß die neuen Regeln senkrecht die Umkehrung von denen sind, die vor ihnen gegolten haben, und der Mann, der sie eingeführt hat, gilt heute für ein ganz großes Genie!«
Da Ulrich anscheinend noch immer nicht überzeugt war, und Stumm sich selbst noch nicht am Ziele fühlte, wiederholte er seine Beweisführung an der »Relativitätstheorie« so, wie diese sich ihm darstellte: »Du hast doch gleich mir auch in der Schule gelernt, daß alles, was sich bewegt, in ›Raum und Zeit‹ geschieht« war der Ausgangspunkt seines Denkens. »Aber wie steht es damit in der Praxis? Erlaube, daß ich etwas ganz Gewöhnliches sage: Du sollst mit der Tête deiner Eskadron um so und soviel Uhr an einem auf der Karte bestimmten Punkt gestellt sein. Oder du sollst deine Reiter aus einer Aufstellung auf Kommando in eine neue Front bringen, die schief zu allem steht, was es an geraden Linien auf dem Exerzierplatz gibt: Es geschieht in Raum und Zeit; aber es gelingt nie ohne Zwischenfall und stimmt nie so, wie du es haben willst. Ich wenigstens habe hundert Rüffel dafür bekommen, solange ich bei der Truppe war, ich sage es aufrichtig. Auch hat es mir schon in der Schule sozusagen immer widerstanden, wenn ich an der Tafel die Aufgabe gehabt habe, eine mechanische Bewegung in Raum und Zeit auszurechnen. Darum habe ich es sofort als einen wirklich genialen Einfall begriffen, als ich davon gehört habe, daß einer endlich herausgefunden hat, daß Raum und Zeit sehr relative Begriffe sind, die sich augenblicklich mitverändern, wenn ernsthaft Gebrauch von ihnen gemacht wird, obwohl sie seit Erschaffung der Welt für das Festeste vom Festen gegolten haben. Deshalb ist dieser Mann auch meiner Ansicht nach mit Recht mindestens ebenso berühmt wie der andere. Aber auch von ihm kann man sagen, daß er das Pferd beim Schwanz aufgezäumt hat, was also, wenigstens heute, fast so etwas wie die fixe erste Idee eines Genies zu sein scheint! Und das ist es, was ich dir zu erkennen geben möchte, wenn du auf meine Erfahrung Wert legen solltest« schloß Stumm.
Ulrich, in seiner Schwäche für ihn, hatte zugegeben, daß die wesentlichsten wissenschaftlichen Lehren der Gegenwart einen Zug ins Grelle erkenne ließen, oder zumindest keine Scheu davor zeigten. Es mochte nicht viel bedeuten; aber wenn man mag, läßt sich darin auch ein Zeichen sehen. Ungescheute Auffälligkeit, eine Vorneigung für das Paradoxe, Ehrgeiz auf eigene Faust, Überraschung und Umstimmung des Ganzen auf widerspruchsvolle, vorher kaum beachtete Einzelheiten gehörten unzweifelhaft seit einiger Zeit zum guten Ton des Denkens, denn sie hatten sich mit großen Erfolgen zu krönen begonnen, wo man es nicht erwartet hätte und an die sichere Verwaltung und Vermehrung eines großen geistigen Besitzes gewohnt war.
»Aber warum denn?« fragte Stumm. »Wie ist denn das gekommen?«
Ulrich zuckte die Achseln. Er entsann sich der verlassenen eigenen Wissenschaft, der Aufrollung ihrer Grundfragen, ihrer Aufspeilung in eine Überprüfung der Logik. Anderen Wissenschaften erging es nicht viel anders; sie fühlten ihr Gebäude durch Entdeckungen erschüttert, die sich schwer darin unterbringen ließen. Das war Schickung und Gewalt der Wahrheit. Trotzdem schien sich aber auch von einem Überdruß an dem alltäglichen, nie stillstehenden Fortschritt sprechen zu lassen, dem bisher durch die längste Zeit, im Lärm aller Gesinnungen, der stille eigentliche Glaube gegolten hatte. Ein leichter Zweifel an der Richtigkeit des baren, genauen Schritt vor Schritt Setzens war wohl auf keinem Gebiet zu leugnen. Auch das mochte eine Ursache sein. Schließlich gab Ulrich die Antwort: »Es ist vielleicht einfach das Gleiche, wie wenn man müde wird; man braucht einen Ausblick, der erfrischt, oder einen Stoß, der in die Beine fährt.«
»Warum setzt man sich denn nicht lieber nieder?« fragte Stumm.
»Ich weiß es nicht. Jedenfalls zieht man es nach längerem ruhigen Gedeihen des Geistes vor, mit dem Umsturz zu liebäugeln. So etwas scheint sich vorzubereiten. Erinnere dich zum Vergleich vielleicht an die überhandnehmende Sprunghaftigkeit in den Künsten. Vom Politischen verstehe ich wenig: Aber vielleicht wird man einmal sagen können, daß sich in dieser Ungeduld des Geistes schon eine Revolution angedeutet hat.«
»Pfui Teufel!« rief Stumm aus, der sich bei Künsten und revolutionärer Unruhe an die Eindrücke in Diotimas Haus erinnerte.
»Vielleicht nur als Übergang zu einer späteren neuen Stetigkeit!« beschwichtigte ihn Ulrich.
Das war Stumm gleichgültig. »Ich habe Diotimas Gesellschaften seit der taktlosen Geschichte gemieden, die in Anwesenheit des Kriegsministers vorgefallen ist« erzählte er. »Versteh mich recht, gegen die schon fixierten Genies, von denen wir bis jetzt gesprochen haben, möchte ich ja gar nichts einwenden; höchstens, daß es mir übertrieben erscheint, wie man sie verehrt. Aber auf all dieses andere Gesindel habe ich es scharf!« Und nach einem kurzen, aber anscheinend bitteren Augenblick überwand er sich zu der Frage: »Sag mir aufrichtig, ist Genialität denn wirklich ein solcher Wert?«
Ulrich mußte lächeln, und unerachtet dessen, was er zuvor gesagt hatte, hob er jetzt die ungeheure – er nannte sie sogar die feenglatte – Erlösung hervor, als die man die Lösung einer jeden Aufgabe empfange, an der sich schon die begabtesten, ja bedeutendsten Fachleute vergeblich abgemüht hätten. Genie sei der einzige unbedingte menschliche Wert, es sei der menschliche Wert schlechthin, sagte er. Ohne Einmischung der Genialität gäbe es nicht einmal die Tiergruppe der höheren Affen. In seinem Eifer rühmte er also heftig sogar die Genialität, die er später bloß die des Grades und der Geschicklichkeit nennen sollte, insofern als sie es nicht auch im Grundwesen sei.
Stumm nickte gesättigt. »Ich weiß: die Erfindung des Feuers und des Rades, des Pulvers, und der Buchdruckerkunst und so weiter! Kurz gesagt: Vom Einbaum zum Einstein!« Doch nachdem er sein Verständnis bezeugt hatte, fuhr er fort: »Jetzt werde ich dir aber auch etwas sagen, und zwar ist es aus den Gesprächen bei Diotima: ›Vom Sophokles zum Feuermaul!‹ Denn das hat dort einmal ganz im Ernst so ein junger Aff ausgerufen!«
»Was ist dir denn an Sophokles nicht recht?«
»Ah!! Von dem weiß ich doch nichts. Aber Feuermaul! Und da sagst du, Genie wäre ein unbedingter Wert!«
»Die Berührung des Genies ist der einzige Augenblick, wo der häßliche und verstockte Götterschüler Mensch schön und aufrichtig ist!« steigerte sich Ulrich. »Ich habe aber nicht gesagt, daß sich leicht entscheiden läßt, was Genie sei, und was bloß Einbildung. Ich sage bloß, wo immer wirklich ein neuer Wert ins menschliche Spiel kommt, steht Genialität dahinter!«
»Wie kann man denn wissen, ob etwas ›wirklich ein neuer Wert‹ ist?«
Ulrich zögerte lächelnd.
»Und dann überhaupt, ob der Wert auch wirklich etwas wert ist!« fügte Stumm mit bekümmerter Neugierde hinzu.
»Man spürt es oft auf den ersten Blick« meinte Ulrich.
»Ich habe mir sagen lassen, daß man sich auch schon auf den ersten Blick geirrt haben soll! –«
Der Wortwechsel stockte. Stumm bereitete vielleicht eine gründliche neue Frage vor.
Ulrich sagte: »Du hörst die ersten Takte von Bach oder Mozart; du liest eine Seite von Goethe oder Corneille: und weißt, daß du die Genialität berührt hast!«
»Bei Mozart und Goethe vielleicht, weil ich es da schon weiß; aber nicht bei einem Unbekannten!« verwahrte sich der General.
»Glaubst du, daß es dich auch als jungen Menschen nicht elektrisiert hätte? Der Enthusiasmus der Jugend ist doch an sich selbst mit dem Genialen verwandt!«
»Warum ›an sich selbst‹? Aber, wenn ich durchaus antworten muß: Eine Operndiva hat mich wahrscheinlich begeistern können. Und auch für Alexander den Großen, Cäsar und Napoleon habe ich einmal geschwärmt. Hingegen an sich selbst ist mir irgendein Schriftsteller oder Tonmaler immer ganz gleichgültig gewesen!«
Ulrich trat den Rückzug an, wiewohl er fühlte, eine rechte Sache bloß schief angefaßt zu haben. »Ich habe sagen wollen, daß der sich geistig entwickelnde junge Mensch das Geniale errät wie ein Zugvogel die Richtung. Aber wahrscheinlich wäre das eine Verwechslung. Denn er ist dem Bedeutenden nur in beschränktestem Umfang zugänglich. Er hat keinen besonderen Sinn für das Bedeutende, sondern nur einen für das, was ihn aufrührt. Er sucht nicht einmal das Geniale, sondern sucht sich selbst und das, was geeignet ist, den Umrissen seiner Vorurteile Gehalt zu geben. Was ihn anspricht,« erklärte er »ist seinesgleichen, in aller Undeutlichkeit, die dem genügt. Es ist ungefähr das, was er selbst sein zu können glaubt, und bedeutet für seine Erziehung das gleiche wie der Spiegel, worin er sich gerne, aber durchaus nicht bloß aus Eitelkeit betrachtet. Darum ist auch nichts weniger zu erwarten, als daß gerade geniale Werke diese Wirkung auf ihn ausübten; gewöhnlich sind es die zeitgemäßen, und unter ihnen mehr die an Stimmungen rührenden als die geistig klar geformten, wie er doch auch lieber als die getreuen, die Spiegel hat, die sein Gesicht verschmälern oder seine Schultern breitmachen …«
»So kann es wohl sein« pflichtete Stumm nachdenklich bei. »Glaubst du aber, daß der Mensch später gescheiter wird?«
»Ohne Zweifel ist der gereifte Mensch fähig und geübt, das Bedeutende in größerem Ausmaß zu erkennen; aber seine gereiften eigenen Zwecke und Kräfte zwingen ihn auch, vieles von sich auszuschließen. Er lehnt nicht aus Unverständnis ab, aber er läßt mehr beiseite!«
»So ist es!« rief Stumm erleichtert aus. »Er ist nicht so beschränkt wie ein junger Mensch; aber ich möchte sagen, er ist bornierter. Und das ist auch notwendig. Wenn unsereiner mit unreifen jungen Leuten verkehrt, wie sie deine Kusine begünstigt, muß er, weiß Gott, abgehärtet sein und die Fähigkeit haben, die Hälfte von dem, was sie sagen, gar nicht zu verstehn!«
»Man müßte vielleicht Kritik üben!«
»Aber deine Kusine sagt: Das sind Genies! Wie beweist man das Gegenteil?«
Ulrich wäre nicht abgeneigt gewesen, auch auf diese Frage einzugehen. »Ein Genie ist einer, der dort, wo viele vergeblich eine Lösung suchen, diese findet, indem er etwas tut, worauf keiner vor ihm verfallen ist« definierte er, um aus eigener Neugierde endlich weiterzukommen. Aber Stumm bedankte sich: »Ich kann mich ja an die Tatsachen selbst halten« bemerkte er. »Bei Frau von Tuzzi habe ich genug Kritiker und Professoren in Person kennengelernt, und jedesmal wenn eines von den Genies, die das Leben oder die Kunst verbessern, gar zu sonderbare Behauptungen aufgestellt hat, habe ich sie vorsichtig um Rat gebeten.«
Ulrich ließ sich ablenken. »Und welche Erfahrung hast du gemacht?«
»Oh, sie sind immer sehr respektvoll zu mir gewesen und haben gesagt: ›Das wäre nichts für sie, Herr General!‹ Natürlich ist das vielleicht auch eine Art Arroganz von ihnen; denn obzwar sie alle neueren Künstler geradezu ängstlich loben, scheinen sie nichtsdestoweniger darauf eingebildet zu sein, daß die, in ihren eigenen Behauptungen, einander gefährlich widersprechen, ja, selbst so etwas wie eine blinde Wut aufeinander haben und summa summarum vielleicht nicht wissen, was sie tun.«
»Aber wie erkennst du schließlich, wo so viel Widerspruch ist, ob du dich wirklich nach einem ›Genie‹ erkundigt hast, oder nicht?« fragte Ulrich folgerichtig.
Stumm gab darauf keine zwingende, aber wohl eine aufrichtige Antwort: »Es wird einem am Ende wurst!« meinte er.
Ulrich sah ihn schweigend an. Wollte er bloß ein Rückzugsgefecht führen und sich den Fragen entziehen, die schwieriger waren, als es den Umständen entsprach, so war es ein Fehler, daß er diesen Augenblick nicht dazu benutzte, »sich vom Gegner zu lösen«, wie es die richtige Taktik gewesen wäre. Aber er wußte selbst nicht, was seine Laune war. So sagte er schließlich: »Durch nichts haben die falschen Genies soviel Glück bei der Masse gewonnen wie durch das Unverständnis, das gewöhnlich die echten, und nach ihrem Beispiel gar die halb echten für einander haben; erst recht können aber nicht die Lampenputzer den Prometheus bürsten!« Stumm sah bei dieser Schlußziehung ebenso verständnislos wie verständnissinnig zu ihm auf. »Du mußt mich recht verstehen« trug er vorsichtig nach. »Erinnere dich an den Eifer, womit ich für Diotima eine große Idee gesucht habe. Ich weiß, was Geistesadel ist. Ich bin auch nicht der Graf Leinsdorf, für den das schließlich doch immer eine Art Kleinadel bleibt. Vorhin hast du zum Beispiel ganz hervorragend definiert, was ein Genie ist. Wie war das? Es findet eine Lösung, indem es etwas tut, worauf noch keiner verfallen ist! Eigentlich sagt das sogar das Gleiche, wie ich auch gesagt habe: das erste ist, daß ein Genie seine Sache verkehrt anfängt. Aber Geistesadel ist das noch nicht! Und warum ist es nicht Geistesadel? Weil der übliche Leitstern des Zeitalters ohnehin der ist, daß unter allen Umständen etwas Bedeutendes geschehen muß; aber ob man das Genialität heißt, oder Geistesadel, Fortschritt oder, wie man jetzt auch oft sagen hört, Rekord, ist dem Zeitalter eben weniger wichtig!«
»Aber warum hast du dann von Geistesadel gesprochen?« half Ulrich ungeduldig nach.
»Das kann ich eben darum nicht so genau wissen!« verteidigte sich Stumm. »Übrigens,« fuhr er, angeregt nachdenkend, fort »vielleicht könnte man ja quasi sagen, daß ein Geistesadel besonders auch den Charakter nicht in Ruh lassen darf. Da habe ich doch recht?«
»So ist es!« munterte ihn Ulrich auf, der übrigens ganz nebenbei in diesem Augenblick zum erstenmal daran gemahnt wurde, auf einen Unterschied wie den zwischen Genius und Genium achtzuhaben.
»Ja« wiederholte Stumm nachdenklich. Und dann fragte er: »Aber was ist der Charakter? Ist es das, was einem Mann zu den Ideen verhilft, die ihn auszeichnen, oder ist es das, was ihm solche Ideen verbietet? Denn ein charaktervoller Mann, der schwalbelt nicht viel herum!«
Ulrich zog es vor, die Achseln zu zucken und zu lächeln.
»Wahrscheinlich hängt das mit dem zusammen, was man große Ideen zu nennen pflegt. Und dann wäre Geistesadel nichts anderes als der Besitz großer Ideen« fuhr Stumm zweifelnd fort. »Aber woran erkennt man, ob eine Idee groß ist? Es gibt so viele Genies, in jeder Branche zumindest ein paar; es gehört sogar entschieden zu unserer Zeit, daß sie zu viele Genies hat: wie soll man da ein jedes verstehen und keines übersehen!« Die schmerzliche Vertrautheit mit der Frage nach einer ganz großen Idee hatte ihn wieder auf die Anteilnahme am Genie zurückgeführt.
Ulrich zuckte noch einmal die Achseln.
»Es gibt allerdings Leute, und ich habe solche kennengelernt,« meinte Stumm »die sich nicht die kleinste Genialität entgehen lassen, von der irgendwo zu hören ist!«
Ulrich erwiderte: »Das sind Snobs und geistige Vornehmtuer.«
Der General: »Aber auch Diotima ist einer von diesen Menschen.«
Ulrich: »Trotzdem. Ein Mensch, in den sich alles stopfen läßt, was er findet, muß ohne eigene Form gebaut sein wie ein Sack.«
»Es ist richtig,« erwiderte der General etwas vorwurfsvoll »daß du von Diotima schon oft gesagt hast, daß sie ein Snob ist. Und auch von Arnheim hast du es manchmal gesagt. Ich habe mir darum unter einem Snob eigentlich etwas sehr Anregendes vorgestellt! Ich habe mir sogar ehrlich Mühe gegeben, einer zu sein und mir nichts entgehen zu lassen. Und es fällt mir schwer zu hören, daß du plötzlich sagst, nicht einmal auf einen Snob ist Verlaß, daß er das Geniale begreift. Du hast nämlich schon vorher gesagt, die Jugend verbürgt es nicht und das Alter auch nicht. Und dann haben wir erhoben, daß es die Genies nicht tun und die Kritischen erst recht nicht. Ja, da müßte es ja von selbst kommen, daß sich am Ende die Genialität allen zu erkennen gibt!«
»Mit der Zeit kommt es!« beschwichtigte ihn Ulrich lachend. »Die meisten Menschen glauben, daß die Zeit ganz natürlich das Bedeutende hervorkehrt.«
»Ja, auch das hört man. Aber erklär es mir, wenn du kannst!« bat Stumm ungeduldig. »Ich kann verstehen, daß man mit fünfzig Jahren gescheiter ist als mit zwanzig. Aber um acht Uhr abends bin ich nicht gescheiter als um acht Uhr morgens; und daß man mit neunzehnhundertvierzehn Jahren gescheiter sein soll als mit achtzehnhundertvierzehn, vermag ich auch nicht einzusehen!« – Dadurch kam es, daß sie noch ein wenig das schwierige Kapitel der Genialität abhandelten, das einzige nach Ulrichs Meinung, das die Menschheit rechtfertigt; aber zugleich das aufregendste und beschämendste, weil man nie weiß, ob man Genialität vor sich hat oder eine ihrer halb entgeisteten Nachahmungen. Woran ist sie zu unterscheiden? Wie erbt sie sich fort? Könnte sie sich höher entwickeln, wenn sie nicht beständig gehindert würde? Ist sie überhaupt, wie Stumm gefragt hatte, so sehr zu wünschen? Das waren Fragen, die für Stumm zur Schönheit des Zivilen und zu deren schändlicher Unordnung gehörten, dagegen von Ulrich nun mit einer Wetterkunde verglichen wurden, die nicht bloß nicht wüßte, ob es morgen schön sein werde, sondern auch nicht, ob es gestern schön gewesen sei. Denn das Urteil darüber, was genial gewesen sei, wechselt mit dem Geist der Zeiten, gesetzt, daß überhaupt danach gefragt werde, was durchaus nicht schlechthin das Zeichen der Größe der Seele und des Geistes sein muß.
Solche Rätsel wären es wohl wert gelöst zu werden, und darum geschah es in diesem Teil des Gesprächs, daß Stumm schließlich nach einigem Kopfschütteln seine Betrachtung über den Geniestab zum Besten gab, von der Ulrich später seiner Schwester erzählte. Diese Andeutung, daß das Genie noch eines Geniestabs bedürfe, erinnerte übrigens ein wenig peinlich an das, was Ulrich selbst halb mit Ironie als das Generalsekretariat der Genauigkeit und der Seele bezeichnete, und Stumm verabsäumte auch nicht, ihn daran zu mahnen, daß er zuletzt in seiner eigenen und Graf Leinsdorfs Gegenwart während der unglücklichen Gesellschaft bei Diotima davon gesprochen habe. »Du hast damals etwas sehr Ähnliches gefordert« hielt er ihm vor Augen »und wenn ich mich nicht irre, ist es ein Büro für die Genialitäten und den Geistesadel gewesen.« Ulrich nickte schweigsam. »Denn der Geistesadel« fuhr Stumm fort »wäre ja schließlich doch das, was den gewöhnlichen Genies fehlt. Ganz gleich, was man unter ihm versteht: Unsere Genies sind Genies, nichts darüber hinaus, lauter Spezialisten! Habe ich recht? Ich kann sehr gut verstehen, daß viele Leute sagen: es gibt heute überhaupt kein Genie!«
Ulrich nickte wieder. Es trat eine Pause ein.
»Aber eines möchte ich wissen!« fragte Stumm mit dem Anflug von Eigensinn, der einem ratlos zurückkehrenden Gedanken anhaftet: »Ist es dann ein Vorwurf oder eine Auszeichnung, daß die Menschen von keinem General sagen: er ist ein Genie?«
»Beides.«
»Beides? Warum gleich beides!«
»Ich weiß es wirklich nicht.«
Stumm stutzte, aber nachdem er es sich überlegt hatte, meinte er: »Das sagst du ausgezeichnet! Ein Offizier ist nämlich beim Volk beliebt, sofern es nicht verhetzt ist; und er lernt das Volk kennen: dieses macht sich nichts aus Genies! Bis er aber General wird, muß er ein Spezialist sein, und wenn er selbst ein Spezialgenie ist, fällt er dann unter die Kategorie, daß es kein Genie gibt. Er kommt also, wie ich ausführlicher sagen möchte, gar nicht an den Punkt, wo es angebracht wäre, dieses fadiose Wort zu gebrauchen. Weißt du übrigens, daß ich neulich etwas wirklich Gescheites gehört habe? Ich war bei deiner Kusine, ganz im intimen Kreis, obwohl der Arnheim verreist ist, und wir sprechen von geistigen Fragen. Da stoßt mich einer an und klärt mich leise über ihn auf: ›Das ist ein Genie‹ sagt er. ›Mehr als alle andern. Ein universaler Spezialist!‹ Warum schweigst du?« – Ulrich fand nichts zu sagen. – »Die Möglichkeit, die in dieser Auffassung liegt, hat mich überrascht. Übrigens bist doch gerade du auch so eine Art universaler Spezialist. Du solltest deshalb den Arnheim nicht so vernachlässigen; denn am Ende empfängt dann die Parallelaktion noch von ihm eine rettende Idee, und das könnte gefährlich sein! Ich möchte es immer noch viel lieber sehen, wenn sie von dir käme!«
Und obwohl Stumm beiweitem mehr als Ulrich gesprochen hatte, verabschiedete er sich mit den Worten: »Es ist mir wie immer ein Genuß gewesen, mit dir zu reden, denn du verstehst das alles de facto viel besser als andere!«


50.
Genialität als Frage


Ulrich hatte also dieses Gespräch seiner Schwester erzählt.
Und schon zuvor hatte er von Schwierigkeiten gesprochen, mit denen der Begriff der Genialität verknüpft ist. Was verleitete ihn dazu? Er wollte sich weder für ein Genie ausgeben noch sich höflich nach den Bedingungen erkundigen, unter denen man es werden könnte. Im Gegenteil, er war eher davon überzeugt, daß der gewaltige zu seiner Zeit für den Ruf der Genialität verbrauchte Ehrgeiz kein Ausdruck der Geistes- und Seelengröße sei, sondern bloß der eines Mißverhältnisses. Aber wie sich alle Lebensfragen der Gegenwart schier in ein undurchdringliches Dickicht verstrüppen, so tun es auch die um das Geniale bestehenden; was teils die Gedanken einzudringen verlockte, teils an den Schwierigkeiten hängen bleiben ließ.
Ulrich war nach Beendigung seiner Erzählung sogleich wieder darauf zurückgekommen. Sicherlich muß, was genial ist, zumal bedeutend sein; denn genial ist die unter besonders auszeichnenden Umständen entstehende bedeutende Leistung, aber bedeutend ist nicht nur das geringere, sondern auch das allgemeinere. So war zuerst wieder nach diesem Begriff zu fragen. Schon die Worte Bedeutung und Bedeutend sind, wie alle, die viel benutzt werden, mehrsinnig. Einesteils sind sie mit den Begriffen des Denkens und Erkennens verbunden. Etwas bedeute etwas oder habe diese Bedeutung, besagt, daß es darauf hinweise, es zu verstehen gebe, anzeige, zu bestimmten Fällen oder gar schlechthin zu vertreten vermöge, daß es das gleiche sei wie etwas oder unter den gleichen Begriff falle und als das andere zu erkennen und aufzufassen sei. Allemal ist das eine vom Verstand erfaßbare und sein Wesen angehende Beziehung; und natürlich kann auf diese Art alles und jedes etwas bedeuten, wie es denn auch bedeutet werden kann.
Andernteils gibt es das Wort Etwas bedeuten aber auch in dem Gebrauch, daß etwas Bedeutung habe oder von Bedeutung sei. Auch in diesem Sinn ist nichts davon ausgeschlossen. Nicht nur ein Gedanke kann bedeutend sein, sondern auch eine Tat, ein Werk, eine Persönlichkeit, eine Stellung, eine Tugend, und selbst eine einzelne Gemütseigenschaft. Der Unterschied gegen das andere Bedeuten ist dann der, daß dem Bedeutenden noch besonders ein Rang und Wert zugeschrieben wird. Etwas sei bedeutend, heißt in diesem Sinn, es sei bedeutender als anderes, oder schlechthin, es sei ungewöhnlich bedeutend. Wonach wird das entschieden? Die Zuschreibung gibt zu verstehen, daß es einer Hierarchie angehört, einer angestrebten Ordnung geistiger Gewalten; möge auch das erreichbare Maß der Ordnung in vielem so unzuverlässig sein, wie es in manchem streng ist. Gibt es diese Hierarchie?
Sie ist der menschliche Geist selbst; und zwar nicht als Naturbegriff, sondern was der objektive Geist genannt wird.
Agathe fragte, was man darunter verstehe; es sei ein Begriff, womit Menschen, die wissenschaftlicher gebildet seien als sie, so herumwürfen, daß sie jedesmal den Kopf in die Schultern stecke.
Ulrich tat es ihr beinahe nach. Das Wort war ihm übermäßig geläufig. Es wurde in wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Auseinandersetzungen damals so viel verwendet, daß es sich schier um sich selbst drehte. »Du lieber Himmel! Du fängst an, gründlich zu werden!« erwiderte er. Ihm selbst war der Ausdruck eigentlich unbedacht über die Lippen geschlüpft.
Gewöhnlich versteht man unter objektivem Geist die Werke des Geistes, seinen durch die verschiedensten Zeichen verhältnismäßig beständig niedergelegten Anteil an der Welt, im Gegensatz zum subjektiven Geist als persönlicher Eigenschaft und persönlichem Erlebnis; oder man verstand, was nicht ganz vom ersten zu trennen war, den gültigen Geist darunter, den bewährbaren und wertbeständigen, im Gegensatz zu den Eingebungen der Laune und des Irrtums. Das berührte zwei Gegensätze, deren Bedeutung für Ulrichs Leben durchaus nicht bloß lehrhaft geblieben, sondern – was er wohl wußte und auch oft genug ausgesprochen hatte – höchst reizvoll-sorgenvoll geworden war. Was er gemeint hatte, hatte darum von beidem etwas.
Vielleicht hätte er seiner Schwester auch sagen können, daß man unter objektivem Geist alles verstehe, was der Mensch gedacht, geträumt und gewollt hat; es dabei aber nicht als Teile eines seelischen, geschichtlichen oder anderen zeitlichwirklichen Ablaufs ansehe, und gewiß auch nicht als etwas Geistig-Übersinnliches, sondern lediglich an sich selbst, nach seinem eigensten Gehalt und Zusammenhang. Auch was scheinbar dem widerspräche, am Ende aber das gleiche ist, hätte er sagen können, daß man es unter Vorbehalt aller Zusammenhänge und Ordnungen betrachte, deren es überhaupt fähig sei. Denn was etwas an und für sich bedeute oder sei, setzte er gleich dem Ergebnis, das aus den Bedeutungen zusammenwächst, die ihm unter allen möglichen Umständen zukommen können.
Man hat das aber bloß anders auszudrücken und hat bloß zu sagen, an und für sich wäre dann etwas gerade das, was es nie an und für sich, vielmehr je in Bezug auf seine Umstände sei, und ebenso auch, daß seine Bedeutung alles sei, was es bedeuten könne, man hat den Ausdruck also bloß auf die Spitze zu stellen, damit sogleich der Zweifel deutlich werde, der daran hängt. Denn natürlich ist es üblich, im Gegenteil vorauszusetzen, und wenn selbst nur aus sprachlicher Gepflogenheit, was etwas an und für sich sei, oder denn auch bedeute, bilde den Ursprung und Kern alles dessen, was sich in wechselnden Beziehungen von ihm aussagen läßt. Es war darum eine besondere Auffassung vom Wesen des Begriffs und des Bedeutens, von der sich Ulrich hatte führen lassen; und sie könnte denn auch, zumal weil sie nicht unbekannt ist, ungefähr so angegeben werden: Was immer unter dem Wesen des Begriffs von einer logischen Theorie verstanden werde, als Begriff von etwas ist er im Gebrauch nichts als der Gegenwert und die aufgespeicherte Bereitschaft zu allen wahren Aussagen von diesem Etwas, die möglich sind. Dieser Grundsatz, der das Verfahren der Logik umkehrt, ist »empiristisch«, das heißt, er gemahnt, wenn man einen abgestempelten Namen für ihn verwenden soll, an diese bekannte Richtung des philosophischen Denkens, ohne jedoch ganz ebenso gemeint zu sein. Hätte nun Ulrich einer Gefährtin erklären sollen, was Empirismus in seiner älteren Gestaltung sei, und was in seiner bescheideneren neuen, vielleicht verbesserten Fassung? Wie es oft geschieht, wenn ein Gedanke an Richtigkeit gewinnt, hat das schärfer werdende Denken auf falsche Antworten verzichtet, und auf einige Fragen auch.
Was in der philosophischen Sprache Empirismus getauft worden ist, ist eine Lehre gewesen, die das immerhin erstaunliche Vorhandensein und unveränderliche Walten von Gesetzen in der Natur und in den Regeln des Geistes kurzerhand für eine täuschende Ansicht erklärt hat, die aus der Gewöhnung an die häufige Wiederholung der gleichen Erfahrungen entstehe. Was sich oft genug wiederhole, scheine so sein zu müssen, ist ungefähr die klassische Formel dafür gewesen; und in dieser übertriebenen Gestalt, die ihr das 18. und 19. Jahrhundert gegeben hat, war sie eine Rückwirkung der langen vorhergegangenen theologischen Spekulation, das heißt des in Gott gesetzten Glaubens, seine Werke mit Hilfe dessen erklären zu können, was man sich in den Kopf setzt. Begriffe und Ideen zeigen, wenn sie Macht haben, dieselbe Neigung, sich anbeten zu lassen und willkürliche Entscheidungen auszusenden, wie Menschen; und also hat sich wohl in den Empirismus der Neuzeit bei seiner Entstehung ein etwas oberflächliches Widerspiel gegen den grundgläubigen Rationalismus eingemengt, das dann, selbst zur Macht gekommen, mit schuld daran war, daß eine flach materialistische natur- und gesellschaftsphilosophische Gesinnung zeitweilig fast volkstümlich geworden ist.
Ulrich lächelte, als er an ein Beispiel dachte, und sagte nicht weshalb. Denn man warf nicht ungern dem allzu schlichten, auf seine Regel beschränkten Empirismus vor, es geschähe nach ihm, daß die Sonne im Osten auf und im Westen untergehe, aus keiner anderen Notwendigkeit, als daß die Sonne es bisher immer getan habe. Und wenn er das nun seiner Schwester verraten und sie gefragt hätte, was sie davon halte, so würde sie wohl, ohne sich für die Gründe und Gegengründe zu erhitzen, kurzerhand zur Antwort gegeben haben, daß die Sonne es ja einmal auch anders tun könnte. Darum lächelte er, als er an dieses Beispiel dachte; denn die Verwandtschaft der Jugend mit dem Empirismus erschien ihm tief natürlich, und ihre Neigung, alles selbst erfahren zu wollen und die überraschendsten Erfahrungen zu erwarten, rührte ihn, diesen als die ihr zeitgemäße Philosophie anzusehen. Von der Behauptung, es hätte bloß die Sicherheit einer Gewohnheit, den Sonnenaufgang täglich im Osten zu erwarten, ist es aber nur ein Schritt zu der, daß alle menschliche Erkenntnis nur persönlich empfunden und zeitbedingt oder gar wohl nur der Dünkel einer Klasse oder Rasse ist, was alles dann in der europäischen Geistesgeschichte nach und nach auch zum Vorschein gekommen ist. Wahrscheinlich sollte man dazu sagen, daß eben eine neue Eigenart des Menschen ungefähr seit der Urgroßväterzeit zum Vorschein gekommen ist; und es wäre die des empirischen Menschen oder Empirikers, des sattsam zur offenen Frage gewordenen Erfahrungsmenschen, der aus hundert gemachten Erfahrungen tausend neue zu machen weiß, die doch immer nur im gleichen Erfahrungskreis verbleiben, und der damit das gewinnreich erscheinende riesenhafte Einerlei des technischen Zeitalters erzeugt hat. Der Empirismus als Philosophie könnte als die philosophische Kinderkrankheit dieser Art des Menschen gelten.