MoE 2 | Erstes Buch | Zweiter Teil | Kapitel 90-99

Es ist wahrscheinlich eine gut begründete Erscheinung, daß in Zeiten, deren Geist einem Warenmarkt gleicht, für den richtigen Gegensatz dazu Dichter gelten, die gar nichts mit ihrer Zeit zu tun haben. Sie beschmutzen sich nicht mit zeitgenössischen Gedanken, liefern sozusagen reine Dichtung und sprechen in ausgestorbenen Mundarten der Größe zu ihren Gläubigen, als wären sie soeben bloß zu vorübergehendem Erdaufenthalt aus der Ewigkeit zurückgekommen, genau so wie ein Mann, der vor drei Jahren nach Amerika ging und bei seinem Besuch in der Heimat schon gebrochen deutsch spricht. Diese Erscheinung ist ungefähr die gleiche, als ob man über ein hohles Loch zum Ausgleich eine hohle Kuppel setzen würde, und da die erhabene Hohlheit die gewöhnliche nur vergrößert, ist schließlich nichts natürlicher, als daß auf eine Zeit dieser Personenverehrung eine andere folgt, die sich von dem ganzen Wesen, das mit Verantwortung und Größe getrieben wird, gründlich abwendet.
Arnheim versuchte vorsichtig, probeweise und im behaglichen Gefühl, persönlich gegen Schaden versichert zu sein, sich in diese seiner Vermutung nach kommende Entwicklung hineinzufinden. Das war allerdings keine Kleinigkeit. Er dachte dabei an alles, was er in den letzten Jahren in Amerika und Europa gesehen hatte; an die neue Tanzleidenschaft, ob nun Beethoven tiefgetanzt wurde oder neue Sinnlichkeit rhythmisch; an die Malerei, wo ein Höchstmaß von geistigen Beziehungen durch ein Mindestmaß von Linien und Farben ausgedrückt werden sollte; an den Film, wo eine Gebärde, in ihrer Bedeutung aller Welt bekannt, durch eine kleine Neuheit in ihrer Erscheinung alle Welt hinriß; und schließlich einfach an den gewöhnlichen Menschen, wie er damals schon, vom Sport überzeugt, mit den Mitteln eines strampelnden Kindes sich des großen Busens der Natur zu bemächtigen glaubte. Das Auffällige aller dieser Erscheinungen ist ein gewisser Hang zur Allegorie, wenn man darunter eine geistige Beziehung versteht, wo alles mehr bedeutet, als ihm redlich zukommt. Denn so wie ein Helm und ein paar gekreuzte Schwerter die Gesellschaft des Barock an alle Götter und ihre Geschichten erinnerten und nicht ein Herr von Hinz die Komtesse Kunz küßte, sondern ein Kriegsgott die Göttin der Keuschheit, erleben Hinz und Kunz heute, wenn sie sich knutschen, das Zeittempo oder irgendetwas aus der Kollektion von zehn Dutzend neuen Mustervorstellungen, die nun freilich nicht mehr einen über Taxusalleen schwebenden Olymp bilden, sondern das ganze moderne Durcheinander selbst. Im Kino, auf dem Theater, auf der Tanzbühne, im Konzert, in Auto, Flugzeug, Wasser, Sonne, Schneiderwerkstätten und Kaufmannsbüros entsteht fortwährend eine ungeheure Oberfläche, die aus Ein- und Ausdrücken, Gebärden, Gehaben und Erlebnissen besteht. Im Einzelnen und Äußeren sehr gestaltet, gleicht dieses Geschehen einem lebhaft kreisenden Körper, wo alles an die Oberfläche drängt und sich dort untereinander verbindet, während das Innere ungestalt, wallend und drängend zurückbleibt. Und wenn Arnheim um einige Jahre vorauszublicken vermocht hätte, so würde er schon gesehen haben, daß neunzehnhundertzwanzig Jahre christlicher Moral, Millionen Toter eines erschütternden Kriegs und ein deutscher Wald von Poesien, der über dem weiblichen Schamgefühl gerauscht hatte, es auch nicht um eine Stunde zu verzögern vermochten, als eines Tags die Frauenröcke und -haare kürzer zu werden begannen und die Mädchen Europas aus tausendjährigen Verboten sich für eine Weile nackt herausschälten wie die Bananen. Auch andere Veränderungen würde er gesehen haben, die er kaum für möglich gehalten hätte, und es kommt nicht darauf an, was davon dauern oder wieder verschwinden wird, sofern man bedenkt, welche großen und wahrscheinlich vergeblichen Anstrengungen es erfordert haben würde, solche Revolutionen der Lebensumstände auf dem verantwortungsreichen Weg der geistigen Entwicklung über Philosophen, Maler und Dichter herbeizuführen, statt des Wegs über Schneider, Modegeschehnisse und Zufälle; denn man kann daraus ermessen, welche Schöpfungskraft der Oberfläche, verglichen mit dem unfruchtbaren Eigensinn des Gehirns, zukommt.
Das ist die Entthronung der Ideokratie, des Gehirns, die Verlegung des Geistes an die Peripherie, die letzte Problematik, wie es Arnheim vorkam. Freilich ist das Leben diesen Weg immer gegangen, es hat den Menschen beständig von außen nach innen umgebaut; aber früher mit dem Unterschied, daß man sich verpflichtet fühlte, von innen nach außen auch etwas hervorzubringen. Selbst der Hund des Generals, an den er sich in diesem Augenblick freundlich erinnerte, würde niemals imstande sein, eine andere Entwicklung zu begreifen, denn diesen treuen Begleiter des Menschen hat noch der stabile, gehorsame Mann des vorigen Jahrhunderts nach seinem Ebenbild geformt; aber sein Vetter, der wilde Steppenhahn, der stundenlang tanzt, würde schon alles verstehn. Wenn er die Federn sträubt und mit den Zehen scharrt, entsteht wahrscheinlich mehr Seele, als wenn ein Gelehrter an seinem Schreibtisch einen Gedanken mit dem nächsten verbindet. Denn letzten Endes kommen alle Gedanken aus den Gelenken, Muskeln, Drüsen, Augen, Ohren und den schattenhaften Gesamteindrücken, die der Hautsack, zu dem sie gehören, von sich im ganzen hat. Die vergangenen Jahrhunderte haben vielleicht einen schweren Irrtum begangen, indem sie auf Verstand und Vernunft, auf Überzeugung, Begriff und Charakter zu viel Wert legten; es war so, wie wenn man Registratur und Archiv für den wichtigsten Teil eines Amts halten wollte, weil sie ihr Büro in der Zentrale haben, obgleich sie nur Hilfsämter sind, die ihre Weisungen von außen empfangen.
Und plötzlich fand Arnheim, möglicherweise angeregt von leichten Auflösungserscheinungen, welche die Liebe in ihm hervorrief, die Gegend, wo der erlösende und diese Verwicklungen ordnende Gedanke zu suchen sei: er hing irgendwie in sympathischer Weise mit der Vorstellung gesteigerten Umsatzes zusammen. Ein gesteigerter Umsatz an Gedanken und Erlebnissen ließ sich dieser neuen Zeit nicht absprechen und mußte schon als natürliche Folge aus der Vermeidung zeitraubender geistiger Verarbeitung entstehen. Er dachte sich das Zeitgehirn durch Angebot und Nachfrage ersetzt, den umständlichen Denker durch den regelnden Kaufmann, und er genoß unwillkürlich das ergreifende Schauspiel einer ungeheuren Produktion von Erlebnissen, die sich frei verbinden und lösen, einer Art nervösen Puddings, der bei jeder Erschütterung in allen Teilen zitterte, eines riesigen Tam-Tams, das ungeheuer dröhnte, wenn man es auch nur im leisesten berührte. Daß diese Bilder nicht ganz zueinander stimmten, war schon die Folge einer träumerischen Verfassung, in die sie Arnheim versetzten; denn es schien ihm, daß man gerade ein solches Leben auch einem Traum vergleichen könnte, wo man gleichzeitig draußen bei den wunderlichsten Geschehnissen ist und still innen in der Mitte liegt, mit einem verdünnten Ich, durch dessen Vakuum alle Gefühle wie blaue Glühröhren strahlen. Es denkt das Leben um den Menschen herum und stiftet tanzend für ihn die Verbindungen, die er mühsam und lange nicht so kaleidoskopartig zusammenstoppelt, wenn er sich dazu der Vernunft bedient. Also sann Arnheim als Kaufmann und zugleich bis in die zwanzig Spitzen seiner Finger und Zehen erregt über den freien geistig-körperlichen Verkehr einer bevorstehenden Zeit, und es erschien ihm nicht ausgeschlossen, daß etwas Kollektives, Panlogisches im Entstehen sei und daß man sich, den veralteten Individualismus verlassend, mit der ganzen Überlegenheit und Erfindungsgabe der weißen Rasse auf dem Rückweg zu einer Reform des Paradieses befinde, um in die ländliche Zurückgebliebenheit des Gartens Eden ein abwechslungsreiches modernes Programm zu bringen.
Nur eines wirkte störend. Denn so wie man im Traum die Fähigkeit hat, daß man in ein Geschehen ein unerklärliches, die ganze Person durchschneidendes Gefühl hineinlegt, so hat man die gleiche Fähigkeit auch im Wachen, aber nur, wenn man fünfzehn oder sechzehn Jahre alt ist und auf die Schule geht. Auch dann sind bekanntlich große Wallungen im Menschen, antreibendes Drängen und ungestaltes Erleben; die Gefühle sind sehr bewegt, aber noch nicht sehr gesondert, Liebe und Zorn, Menschenglück und -hohn, kurz alle moralischen Abstrakta sind zuckende Geschehnisse, die bald die ganze Welt bedecken, bald in nichts zusammenschrumpfen; Traurigkeit, Zärtlichkeit, Größe und Edelmut wölben leere hohe Himmel. Und was geschieht? Von außen, aus der gegliederten Welt kommt eine fertige Form – ein Wort, ein Vers, ein dämonisches Lachen, kommen Napoleon, Cäsar, Christus oder vielleicht auch nur die Trän’ am Elterngrab – und es entsteht in blitzartiger Verbindung das Werk. Dieses Primanerwerk ist, was man allzuleicht übersieht, Zug um Zug ein vollendeter Ausdruck des Gefühls, die genaueste Deckung von Absicht und Erfüllung, und das vollkommene Hineingehn der Erlebnisse eines jungen Mannes in das Leben des großen Napoleon. Es scheint jedoch die Verbindung vom Großen zum Kleinen irgendwie nicht umkehrbar zu sein. Man erlebt es sowohl in Träumen wie in der Jugend, wenn man eine große Rede gehalten hat und beim Aufwachen unseligerweise noch die letzten Worte erhascht, daß diese eigentlich gar nicht so ungewöhnlich schön sind, wie es einem geschienen hat. Man kommt sich dann nicht ganz so schwerlos schillernd vor wie der tanzende Hahn, sondern hat bloß mit sehr viel Gefühl den Mond angeheult wie der mehrfach zur Würdigung gelangte Foxl des Herrn Generals.
Also konnte da doch nicht alles stimmen; – überlegte Arnheim, sich ermunternd – aber freilich muß man allen Ernstes mit seiner Zeit gehn, fügte er wachsam hinzu; denn was lag ihm schließlich näher, als diesen bewährten Fabrikationsgrundsatz auch auf die Herstellung des Lebens anzuwenden?

Die Zusammenkünfte nahmen bei Tuzzis jetzt ihren regelmäßigen und gedrängten Fortgang.
Sektionschef Tuzzi sprach auf dem »Konzil« den »Vetter« an. »Wissen Sie, daß es das alles schon einmal gegeben hat?«
Er wies mit den Augen auf den brodelnden Menscheninhalt seiner ihm entfremdeten Wohnung. »In den Anfängen des Christentums; in den Jahrhunderten um Christi Geburt. In dem christlich-levantinisch-hellenistisch-jüdischen Glutkessel hatten sich damals unzählige Sekten gebildet.« Und er begann aufzuzählen: »Die Adamiten, Kainiten, Ebioniten, Kollyridianer, Archontiker, Enkratiten, Ophiten…«; mit einer merkwürdigen, hastigen Langsamkeit, wie sie entsteht, wenn jemand eilende Geläufigkeit seines Tuns mäßigend verbergen will, führte er eine lange Liste früh- und vorchristlicher religiöser Bünde an; es erweckte den Eindruck, er wünsche den Vetter seiner Frau behutsam verstehen zu lassen, daß er mehr von den Vorgängen in seinem Hause wisse, als er aus besonderen Gründen zu zeigen pflege.
Er fuhr dann fort, unter Erläuterung der genannten Namen zu erzählen, daß sich die eine Sekte gegen die Ehe stellte, weil sie Keuschheit forderte, indes die andere Keuschheit forderte, aber komischerweise dieses Ziel durch Riten der Ausschweifung zu erreichen wünschte. Die Angehörigen der einen verstümmelten sich, weil sie das Frauenfleisch für eine Erfindung des Teufels hielten, bei anderen kamen in den Kirchenversammlungen Mann und Weib nackt zusammen. Gläubige Grübler, die zu dem Schluß gelangten, daß die Schlange, die im Paradies Eva verführt habe, eine göttliche Person gewesen sei, trieben Sodomie; und andere duldeten keine Jungfrauen, weil nach ihrer wissenschaftlichen Überzeugung die Gottesmutter außer Jesus noch andere Kinder geboren haben sollte, so daß Jungfräulichkeit ein gefährlicher Irrtum wäre. Immer taten die einen etwas, wovon die anderen das Gegenteil taten, und beide ungefähr aus den gleichen Gründen und Überzeugungen. – Tuzzi erzählte es mit dem Ernst, der historischen Vorkommnissen gebührt, auch wenn sie sonderbar sind, und einem Unterton von Herrenwitzen. Sie standen an der Wand; der Sektionschef warf mit einem kleinen ärgerlichen Lächeln seinen Zigarettenrest in eine Aschenschale, blickte noch immer zerstreut ins Gewühl und schloß, als hätte er genau nur so viel sagen wollen, wie die Dauer einer Zigarette es verlange, mit den Worten: »Ich finde, daß der Zustand der Meinungsverschiedenheiten und subjektiven Auffassungen, der damals geherrscht hat, nicht wenig an die Streitigkeiten unserer Literaten erinnert. Sie werden morgen verweht sein. Wenn nicht durch verschiedene geschichtliche Umstände zur rechten Zeit ein geistliches Beamtensystem mit politischer Wirksamkeit entstanden wäre, so würde heute vom christlichen Glauben kaum eine Spur übrig sein…«
Ulrich pflichtete bei. »Ordnungsmäßig von der Gemeinde bezahlte Glaubensbeamte lassen mit den Amtsvorschriften nicht spaßen. Ich meine überhaupt, daß wir gegen unsere gemeinen Eigenschaften ungerecht sind; ohne ihre Verläßlichkeit könnte niemals Geschichte entstehn, denn die geistigen Anstrengungen bleiben ewig strittig und windig.«
Der Sektionschef sah mißtrauisch auf und dann gleich wieder weg. Äußerungen dieser Art waren ihm zu ungebunden. Dennoch gab er sich zu diesem Vetter seiner Frau, obgleich er ihn erst seit kurzem kannte, auffallend freundschaftlich und verwandt. Er kam und ging und erweckte den Anschein, inmitten dessen, was sich in seinem Hause zutrug, in einer anderen, abgeschlossenen Welt zu leben, deren höhere Bedeutung er jedem Einblick entzog; zuweilen schien er aber doch nicht länger widerstehen zu können und mußte sich jemandem für einen Augenblick, wenn auch undeutlich zeigen, und es war dann jedesmal der Vetter, mit dem er ein Gespräch anknüpfte. Es war das eine menschliche Folge des Entzuges an Anerkennung, den er im Verhältnis zu seiner Gattin trotz gelegentlicher Zärtlichkeitsanfälle erdulden mußte. Diotima küßte ihn dann wie ein kleines Mädchen; ein Mädchen vielleicht von vierzehn Jahren, wenn es einen noch kleineren Knaben aus weiß Gott welcher Affektation mit Küssen bedeckt. Unwillkürlich zog sich Tuzzis Oberlippe unter dem gekräuselten Bärtchen schamvoll ein. Die neuen Verhältnisse, die in seinem Haus entstanden waren, brachten seine Frau und ihn in unmögliche Lagen. Er hatte Diotimas Klage über sein Schnarchen keineswegs vergessen, er hatte inzwischen auch Arnheims Schriften gelesen und war bereit, darüber zu sprechen; manches konnte er anerkennen, sehr vieles als unrichtig bezeichnen, und einiges verstand er nicht, mit jener sicheren Ruhe, die voraussetzt, daß das der Schaden des Autors sei: aber er war immer gewohnt gewesen, in solchen Fragen einfach das geachtete Urteil des erfahrenen Mannes abzugeben, und die jetzt vorhandene Aussicht darauf, daß ihm Diotima jedesmal widersprechen würde, die Notwendigkeit also, sich gemeinsam mit ihr auf diese weichliche Diskussion einlassen zu müssen, empfand er als eine so unrechte Veränderung seines Privatlebens, daß er sich nicht zu einer Aussprache entschließen konnte und in halbbewußten Wünschen sogar vorgezogen hätte, sich mit Arnheim zu schießen. Tuzzi zog plötzlich seine schönen, braunen Augen ärgerlich zusammen und sagte sich, daß er strenger auf seine Stimmungen achtgeben müsse. Der Vetter neben ihm (seiner Ansicht nach durchaus kein Mann, mit dem man sich zu sehr liieren durfte!) erinnerte ihn eigentlich nur durch die kaum von einem wirklichen Gehalt erfüllte Gedankenbindung der Verwandtschaftlichkeit an seine Frau; auch hatte er seit langem schon bemerkt, daß Arnheim diesen jüngeren Mann in einer gewissen, vorsichtigen Weise verwöhnte, wogegen der sich deutliche Abneigung anmerken ließ: das waren zwei wirklich nicht inhaltsreiche Beobachtungen, und doch genügten sie, um Tuzzi mit einer unerklärlichen Zuneigung zu beunruhigen. Er öffnete seine braunen Augen und sah eine Weile groß wie ein Uhu in das Zimmer, ohne etwas sehen zu wollen.
Der Vetter seiner Frau sah übrigens gerade so wie er, in gelangweilter Vertraulichkeit, vor sich hin und hatte die Pause des Gesprächs nicht einmal bemerkt. Tuzzi empfand, daß man etwas sagen müsse; er fühlte sich unsicher, so als ob einen Menschen, der an Einbildungen leidet, das Schweigen verraten könnte. »Sie denken gerne schlecht von allem,« bemerkte er lächelnd, als hätte der Ausspruch über die Glaubensbeamten bis jetzt vor seinem Ohr auf Eintritt warten müssen »und meine Frau tut wohl nicht unrecht, bei aller verwandtschaftlichen Sympathie Ihre Mithilfe etwas zu fürchten. Wenn ich so sagen darf, neigen Ihre Gedanken über den Mitmenschen zur Spekulation à la baisse.«
»Das ist ein ausgezeichneter Ausdruck,« gab Ulrich erfreut zurück »wenn ich mich auch bescheiden muß, ihm nicht zu genügen! Denn es ist die Weltgeschichte, die immer à la baisse oder à la hausse in Menschen spekuliert hat; auf Baisse-Weise durch List und Gewalt, à la hausse ungefähr so, wie es Ihre Frau Gemahlin hier versucht, durch den Glauben an die Kraft der Ideen. Auch Dr. Arnheim ist, soweit man seinen Worten trauen kann, ein Haussier. Dagegen müssen Sie als berufsmäßiger Baissier in diesem Chor der Engel Empfindungen haben, die ich gerne kennen würde.«
Er musterte den Sektionschef mit Teilnahme. Tuzzi zog seine Zigarettendose aus der Tasche und zuckte die Schultern. »Warum glauben Sie, daß ich anders darüber denken soll, als meine Frau?« antwortete er. Er wollte die persönliche Wendung des Gesprächs ablehnen, hatte sie aber durch seine Antwort verstärkt; der andere bemerkte es glücklicherweise nicht und fuhr fort: »Wir sind eine Masse, die jede Form annimmt, in die sie auf die eine oder die andere Weise hineingerät!«
»Das ist mir zu hoch« erwiderte Tuzzi ausweichend.
Ulrich freute sich darüber. Das war Gegensatz zu ihm selbst; er genoß es ordentlich, mit einem Mann zu sprechen, der auf geistige Reizung nicht antwortete, sondern kein anderes Mittel der Abwehr hatte oder gebrauchen wollte, als gleich seine ganze Person vorzuschützen. Seine ursprüngliche Abneigung gegen Tuzzi hatte sich unter dem Druck der viel größeren Abneigung gegen das Getue in dessen Haus längst umgekehrt; er verstand bloß nicht, warum Tuzzi dieses duldete, und machte sich allerhand Vermutungen darüber. Er lernte ihn nur sehr langsam und wie ein Tier, das man beobachtet, von außen kennen, ohne den erleichternden Einblick, den das Wort in Menschen gewährt, die aus offenem Bedürfnis reden. Zuerst hatte ihm das gedörrte Aussehen des knapp mittelgroßen Mannes gefallen, und das dunkle, starke, viel unsicheres Gefühl verratende Auge, das nicht im geringsten ein Beamtenauge war, aber auch in keiner Weise zu Tuzzis gegenwärtiger Person stimmte, wie sie sich in den Gesprächen zeigte; außer man nahm an, was ja nicht selten vorkommt, daß es ein Knabenauge war, das zwischen den andersgearteten Manneszügen durchblickte, wie ein Fenster, das zu einem unbenützten, abgesperrten und längst vergessenen Teil des Inneren führt. Das nächste, was dem Vetter auffiel, war dann Tuzzis Körpergeruch gewesen; es war ein Geruch an ihm wie von China oder von trockenen Holzschachteln oder ein Gemisch der Wirkungen von Sonne, See, Exotik, Hartleibigkeit und den diskreten Spuren des Raseurs. Dieser Geruch machte ihn nachdenklich; er hatte nur zwei Menschen mit persönlichem Geruch in seiner Bekanntschaft, diesen und Moosbrugger; wenn er sich Tuzzis scharf-zartes Aroma vergegenwärtigte und zugleich an Diotima dachte, über deren großer Oberfläche ein dünner Pudergeruch lag, der nichts zu verdecken schien, so kam man zu Gegensätzen der Leidenschaft, denen das etwas komische wirkliche Zusammenleben dieser beiden Personen in keiner Weise zu entsprechen schien. Ulrich mußte seine Gedanken zurückholen, bis sie wieder jener Distanz von den Dingen entsprachen, die man zulässig nennt, ehe er auf Tuzzis ablehnende Antwort erwidern konnte.
»Es ist anmaßend von mir,« begann er von neuem in jenem leicht gelangweilten, aber entschlossenen Ton, der gesellschaftlich das Bedauern ausdrückt, auch den anderen langweilen zu müssen, weil die Lage, in der sie sich augenblicklich befänden, nichts Besseres gestatte »es ist sicher anmaßend, wenn ich vor Ihnen zu definieren versuche, was Diplomatie sei; aber ich wünsche verbessert zu werden. Ich versuche also zu sagen: Diplomatie nimmt an, daß eine verläßliche Ordnung nur durch Benützung der Lügenhaftigkeit, der Feigheit, des Kannibalismus, kurz der soliden Niedrigkeiten der Menschheit erreichbar sei; sie ist Idealismus à la baisse, um Ihren trefflichen Ausdruck noch einmal zu gebrauchen. Und ich finde, daß dies bezaubernd melancholisch ist, weil es eben voraussetzt, daß die Unzuverlässigkeit unserer höheren Kräfte uns den Weg zum Menschenfressen ebenso gangbar macht wie den zur Kritik der reinen Vernunft.«
»Sie denken leider« verwahrte sich der Sektionschef »romantisch von der Diplomatie und verwechseln wie so viele Menschen Politik mit Intrige. Das mochte zur Not stimmen, als sie noch von fürstlichen Amateuren gemacht wurde; aber es stimmt nicht in einer Zeit, wo alles von bürgerlichen Rücksichten abhängt. Wir sind nicht melancholisch, sondern optimistisch. Wir müssen an eine gute Zukunft glauben, sonst könnten wir vor unserem Gewissen nicht bestehn, das doch keineswegs anders geartet ist als das anderer Menschen. Wenn Sie durchaus das Wort Menschenfresserei gebrauchen wollen, so kann ich nur sagen, daß es das Verdienst der Diplomatie ist, die Welt vom Menschenfressen abzuhalten; um das zu können, muß man aber an etwas Höheres glauben.«
»Woran glauben Sie?« unterbrach ihn der Vetter ohne Umschweife.
»Aber nun wissen Sie!« sagte Tuzzi. »Ich bin doch kein Knabe mehr, daß ich darauf so ohne weiteres antworten könnte! Ich habe nur sagen wollen, je mehr sich ein Diplomat mit den geistigen Strömungen seiner Zeit zu identifizieren weiß, desto leichter wird ihm sein Beruf fallen. Und umgekehrt hat sich in den letzten Menschenaltern gezeigt, daß man desto mehr Diplomatie braucht, je größer die Fortschritte des Geistes auf allen Seiten sind; aber das ist doch schließlich natürlich!?«
»Natürlich?! Aber damit sagen Sie ja das gleiche wie ich!« rief Ulrich so lebhaft aus, wie es das Bild zweier sich mäßig unterhaltender Herren, das sie abgeben wollten, nur gestattete. »Ich habe mit Bedauern hervorgehoben, daß das Geistige und Gute ohne Mithilfe des Bösen und Materiellen nicht dauernd existenzfähig sei, und Sie antworten mir ungefähr, je mehr Geist vorhanden, desto mehr Vorsicht nötig. Sagen wir also: Man kann den Menschen als einen gemeinen Kerl behandeln und auf diese Weise nicht ganz zu allem bringen; man kann ihn aber auch begeistern und damit nicht ganz zu allem bringen. Zwischen beiden Methoden schwanken wir darum, beide Methoden mischen wir; das ist das Ganze. Mir scheint, daß ich mich einer viel weitergehenden Übereinstimmung mit Ihnen erfreue, als Sie zugeben wollen.«
Sektionschef Tuzzi drehte sich dem unbequemen Frager zu; ein kleines Lächeln hob sein Bärtchen, seine glänzenden Augen blickten mit einem spöttisch nachgiebigen Ausdruck; er wünschte, diese Art von Gespräch zu beenden, sie war unsicher wie Glatteis und zwecklos kindisch, wie das Schlittern von Knaben auf Glatteis. »Schauen Sie, Sie werden das wahrscheinlich für eine Barbarei halten,« erwiderte er »aber ich werde es Ihnen erklären: Philosophieren sollten eigentlich nur Professoren dürfen! Ich nehme unsere anerkannten großen Philosophen davon natürlich aus, die schätze ich sehr hoch und habe sie sämtlich gelesen; aber die sind sozusagen nun einmal da. Und unsere Professoren sind angestellt dafür, da ist es ein Beruf und braucht weiter nichts auf sich zu haben; schließlich braucht man auch die Lehrer, damit die Sache nicht ausstirbt. Aber sonst hat die alt-österreichische Maxime, daß der Staatsbürger nicht über alles nachdenken soll, schon recht gehabt. Es kommt selten etwas Gutes dabei heraus, und es hat leicht etwas von Anmaßung.«
Der Sektionschef drehte sich eine Papyros und schwieg; er hatte weiter kein Bedürfnis, seine »Barbarei« zu entschuldigen. Ulrich sah seinen schlanken, braunhäutigen Fingern zu und war entzückt von der unverschämten Halbdummheit, die Tuzzi zum besten gegeben hatte. »Sie haben den gleichen, sehr modernen Grundsatz ausgesprochen, wie ihn seit Jahrtausenden die Kirchen gegenüber ihren Mitgliedern anwenden und neuerdings der Sozialismus« bemerkte er höflich. Tuzzi sah flüchtig auf, um zu erkennen, was der Vetter mit seiner Zusammenstellung meine. Dann erwartete er, daß dieser wieder eine lange Überlegung loslassen werde, und ärgerte sich im voraus über solche ewige geistige Indiskretion. Aber der Vetter tat nichts, als daß er den vormärzlich gesinnten Mann neben sich wohlgefällig betrachtete. Er nahm schon seit langem an, daß Tuzzi Gründe habe, die Beziehungen seiner Frau zu Arnheim innerhalb gewisser Grenzen gewähren zu lassen, und hätte gerne erfahren, was er dadurch zu erreichen wünschte? Es blieb ungewiß. Vielleicht verhielt sich Tuzzi nur so, wie die Banken von der Parallelaktion dachten, von der sie sich bisher nach Möglichkeit zurückhielten, ohne jedoch ganz darauf zu verzichten, wenigstens einen Finger der Hand mit im Spiel zu haben, und bemerkte dabei Diotimas zweiten Liebesfrühling nicht, obgleich dieser doch so sichtbar wurde. Es war kaum anzunehmen. Ulrich fand Vergnügen daran, die tiefen Falten und Risse in dem Gesicht seines Nachbarn zu betrachten und der harten Modelung der Kiefermuskeln zuzusehn, wenn die Zähne in die Zigarettenspitze bissen. Dieser Mensch erweckte in ihm eine Vorstellung reiner Männlichkeit. Er war des vielen Redens mit sich selbst ein wenig überdrüssig, und das Vergnügen, sich einen wortkargen Menschen auszumalen, war ihm sehr angenehm. Er stellte sich vor, daß Tuzzi gewiß schon als Knabe andere Knaben nicht habe leiden können, wenn sie viel redeten; aus denen entstehen später die schöngeistigen Männer, während die Knaben, die lieber zwischen den Zähnen durchspucken, als daß sie den Mund öffneten, Männer werden, die nicht gerne etwas Unnützes denken und in der Tat, in der Intrige, im einfachen Ertragen oder Abwehren eine Entschädigung für den unentbehrlichen Zustand des Fühlens und Denkens suchen, der sie irgendwie so sehr beschämt, daß sie Gedanken und Gefühle am liebsten nur benützen, um andere Menschen irrezuführen. Natürlich würde Tuzzi, wenn man ihm gegenüber eine derartige Bemerkung gemacht hätte, sie geradeso zurückgewiesen haben wie eine zu gefühlvolle; denn es war sein Grundsatz, nur keine Übertreibungen und Ungewöhnlichkeiten zuzulassen, weder in der einen noch in der anderen Richtung. Man durfte überhaupt mit ihm so wenig über das sprechen, was er als Person sehr gut darstellte, wie man einen Musiker, Schauspieler oder Tänzer fragen darf, was er eigentlich meint, und Ulrich würde in diesem Augenblick am liebsten den Sektionschef auf die Schulter geklopft haben oder ihm sanft in die Haare gefahren sein, um auf wortlos pantomimischem Wege das Einverständnis zwischen ihnen spielen zu lassen.
Was sich Ulrich nicht richtig vorstellte, war bloß das eine, daß Tuzzi nicht nur als Knabe, sondern auch jetzt in diesem Augenblick das Bedürfnis empfand, zwischen seinen Zähnen in männlichem Strahl hindurch zu spucken. Denn er spürte etwas von dem ungewissen Wohlwollen an seiner Seite, und die Situation war ihm unbehaglich. Er wußte selbst, daß sich in der Äußerung über Philosophie, die er abgegeben hatte, für einen fremden Hörer allerhand mischte, das nicht gerade willkommen war, und der Teufel mußte ihn geritten haben, daß er dem »Vetter« (denn aus irgendwelchen Gründen nannte er Ulrich immer nur so) diesen burschikosen Beweis seines Zutrauens gab. Er mochte schwätzende Männer nicht leiden und fragte sich bestürzt, ob er am Ende, ohne es zu wissen, diesen als Bundesgenossen bei seiner Frau gewinnen wollte; seine Haut wurde bei diesem Gedanken schamdunkel, denn solche Hilfe lehnte er ab, und unwillkürlich trat er mit einigen, schlecht durch einen zufälligen Vorwand maskierten Schritten weiter von Ulrich fort.
Aber dann überlegte er es sich anders, kehrte zurück und fragte: »Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, warum sich Dr. Arnheim so lange bei uns aufhält?« Er bildete sich plötzlich ein, durch eine solche Frage am besten zu zeigen, daß er jede Verbindung mit seiner Frau als ausgeschlossen behandle.
Der Vetter sah ihn unverschämt fassungslos an. Die richtige Antwort lag so nahe, daß es schwer war, eine andere zu finden. »Meinen Sie,« fragte er stockend »daß es wirklich einen besonderen Grund hat? Also dann doch nur einen geschäftlichen?«
»Ich vermag nichts zu behaupten« gab Tuzzi zur Antwort, der sich nun wieder als Diplomat fühlte. »Aber kann es einen anderen Grund geben?« »Natürlich kann es eigentlich keinen anderen Grund geben« räumte Ulrich höflich ein. »Sie haben eine ausgezeichnete Beobachtung gemacht. Ich muß gestehn, daß ich mir überhaupt nichts dabei gedacht habe; ich nahm ungefähr an, daß es mit seinen literarischen Neigungen zusammenhänge. Übrigens wäre das doch wohl auch möglich.«
Der Sektionschef gönnte dem bloß ein zerstreutes Lächeln. »Dann müßten Sie mir erklären, aus welchem Grund ein Mann wie Arnheim literarische Neigungen besitzt?« fragte er; aber er bereute es augenblicklich, denn der Vetter holte schon wieder zu einer breiten Antwort aus. »Ist Ihnen noch nicht aufgefallen,« sagte er »daß heutzutage merkwürdig viel Menschen auf der Straße mit sich selbst reden?«
Tuzzi zuckte gleichgültig die Achseln.
»Etwas stimmt mit ihnen nicht. Sie können offenbar ihre Erlebnisse nicht ganz erleben oder in sich einleben und müssen Reste davon abgeben. Und so, denke ich mir, entsteht auch ein übertriebenes Bedürfnis, zu schreiben. Vielleicht sieht man das nicht so deutlich am Schreiben selbst, denn da kommt je nach Talent und Übung etwas zustande, das weit über seinen Ursprung hinauswächst, aber am Lesen ist es ganz unzweideutig kenntlich: beinahe kein Mensch liest heute noch, jeder benützt den Schriftsteller nur, um in der Form von Zustimmung oder Ablehnung auf eine perverse Weise seinen eigenen Überschuß an ihm abzustreifen.«
»Sie meinen also, daß in Arnheims Leben etwas nicht stimmt?« fragte Tuzzi nun doch mit Aufmerksamkeit. »Ich habe in der letzten Zeit seine Bücher gelesen, rein aus Neugierde, weil ihm viele Leute so große politische Chancen geben; ich muß aber gestehn, daß ich weder ihre Notwendigkeit noch ihren Zweck einsehe.«
»Man könnte die Frage viel allgemeiner stellen« meinte der Vetter. »Wenn ein Mensch so reich an Geld und Einfluß ist, daß er alles wirklich haben kann, warum schreibt er dann? Eigentlich müßte ich ganz naiv fragen, warum alle Berufserzähler schreiben? Sie erzählen etwas, das es nicht gegeben hat; so, als ob es das gegeben hätte. Das ist offenbar. Aber bewundern sie nun das Leben wie die Schnorrer den reichen Mann, die sich nicht genug tun können, davon zu erzählen, wie wenig es ihm auf sie ankommt? Oder käuen sie wiederholend wieder? Oder treiben sie Glücksdiebstahl, indem sie etwas, das sie in Wirklichkeit nicht erreichen oder nicht ertragen können, in der Phantasie herstellen?«
»Haben Sie selbst nie geschrieben?« unterbrach ihn Tuzzi.
»Zu meiner Beunruhigung nie. Denn ich bin keineswegs so glücklich, daß ich es nicht tun müßte. Ich habe mir vorgenommen, wenn ich nicht bald das Bedürfnis danach empfinden sollte, mich wegen ganz und gar abnormer Veranlagung zu töten!«
Er sagte das mit einer so ernsten Liebenswürdigkeit, daß sich dieser Scherz aus dem Fluß des Gesprächs, ohne daß er es wollte, heraushob, wie ein überströmter Stein auftaucht.
Tuzzi bemerkte es, und sein Taktgefühl ließ ihn rasch den Zusammenhang wiederherstellen. »Also alles in allem« stellte er fest »sagen Sie damit das gleiche wie ich, wenn ich behaupte, daß Beamte erst zu schreiben anfangen, wenn sie in Pension gehn. Aber wie stimmt das auf Dr. Arnheim?«
Der Vetter schwieg.
»Wissen Sie, daß Arnheim vollkommen pessimistisch und gar nicht ›à la hausse‹ von dem Unternehmen hier denkt, an dem er sich so aufopfernd beteiligt?!« sagte Tuzzi plötzlich mit gesenkter Stimme. Er hatte sich mit einemmal erinnert, wie sich Arnheim ganz zu Beginn im Gespräch mit ihm und seiner Gattin sehr zweifelnd über die Aussichten der Parallelaktion ausgelassen hatte, und daß ihm das nach so langer Zeit gerade in diesem Augenblick einfiel, kam ihm, er wußte selbst nicht wie, aber es kam ihm als ein Erfolg seiner Diplomatie vor, obwohl er über die Gründe von Arnheims Aufenthalt bisher so gut wie noch nichts hatte in Erfahrung bringen können.
Der Vetter machte in der Tat ein überraschtes Gesicht.
Vielleicht nur aus Liebenswürdigkeit, weil er noch schweigen wollte. Aber jedenfalls behielten beide Herrn auf diese Weise, als sie unmittelbar danach durch Gäste, die sich ihnen näherten, getrennt wurden, den Eindruck eines anregenden Gesprächs.

Soviel Aufmerksamkeit und Bewunderung, wie Arnheim sie fand, hätte einen anderen Mann vielleicht mißtrauisch und unsicher gemacht; er hätte sich einbilden können, sie seinem Gelde zu verdanken. Aber Arnheim hielt Mißtrauen für ein Zeichen von unadeliger Gesinnung, das sich ein Mann auf seiner Höhe nur auf Grund eindeutiger kaufmännischer Auskünfte gestatten dürfe, und außerdem war er überzeugt, daß Reichtum eine Charaktereigenschaft sei. Jeder reiche Mann betrachtet Reichtum als eine Charaktereigenschaft. Jeder arme Mann gleichfalls. Alle Welt ist stillschweigend davon überzeugt. Nur die Logik macht einige Schwierigkeiten, indem sie behauptet, daß Geldbesitz vielleicht gewisse Eigenschaften verleihen, aber niemals selbst eine menschliche Eigenschaft sein könne. Der Augenschein straft das Lügen. Jede menschliche Nase riecht unweigerlich sofort den zarten Hauch von Unabhängigkeit, Gewohnheit, zu befehlen, Gewohnheit, überall das Beste für sich zu wählen, leichter Weltverachtung und beständig bewußter Machtverantwortung, der von einem großen und sicheren Einkommen aufsteigt. Man sieht es der Erscheinung eines solchen Menschen an, daß sie von einer Auslese der Weltkräfte genährt und täglich erneuert wird. Das Geld zirkuliert in seiner Oberfläche wie der Saft in einer Blüte; da gibt es kein Verleihen von Eigenschaften, kein Erwerben von Gewohnheiten, nichts Mittelbares und aus zweiter Hand Empfangenes: zerstöre Bankkonto und Kredit, und der reiche Mann hat nicht bloß kein Geld mehr, sondern er ist am Tag, wo er es begriffen hat, eine abgewelkte Blume. Mit der gleichen Unmittelbarkeit wie früher die Eigenschaft seines Reichseins bemerkt jetzt jeder die unbeschreibliche Eigenschaft des Nichts an ihm, die wie eine brenzliche Wolke von Unsicherheit, Unverläßlichkeit, Untüchtigkeit und Armut riecht. Reichtum ist also eine persönliche, einfache, nicht ohne Zerstörung zerlegbare Eigenschaft.
Aber Wirkung und Beziehungen dieser seltenen Eigenschaft sind außerordentlich verwickelt und erfordern große seelische Kraft, um sie zu beherrschen. Nur Leute, die kein Geld haben, stellen sich Reichtum wie einen Traum vor; Menschen, die ihn besitzen, beteuern dagegen bei jeder Gelegenheit, wo sie mit Leuten zusammentreffen, die ihn nicht besitzen, welche Unannehmlichkeit er bedeute. Arnheim hatte zum Beispiel oft darüber nachgedacht, daß ihn doch eigentlich jeder technische oder kaufmännische Abteilungsleiter seines Hauses an besonderem Können beträchtlich übertreffe, und er mußte es sich jedesmal versichern, daß, von einem genügend hohen Standpunkt betrachtet, Gedanken, Wissen, Treue, Talent, Umsicht und dergleichen als Eigenschaften erscheinen, die man kaufen kann, weil sie in Hülle und Fülle vorhanden sind, wogegen die Fähigkeit, sich ihrer zu bedienen, Eigenschaften voraussetzt, welche nur die wenigen besitzen, die eben schon auf der Höhe geboren und aufgewachsen sind. Eine andere, nicht geringere Schwierigkeit für reiche Leute ist die, daß alle Leute Geld von ihnen wollen. Geld spielt keine Rolle; das ist richtig, und einige tausend oder zehntausend Mark sind etwas, dessen Dasein oder Fehlen ein reicher Mann nicht empfindet. Reiche Leute versichern denn auch mit Vorliebe bei jeder Gelegenheit, daß das Geld am Werte eines Menschen nichts ändere; sie wollen damit sagen, daß sie auch ohne Geld soviel wert wären wie jetzt, und sind immer gekränkt, wenn ein anderer sie mißversteht. Leider widerfährt ihnen das gerade im Verkehr mit geistvollen Menschen nicht selten. Solche besitzen merkwürdig oft kein Geld, sondern nur Pläne und Begabung, aber sie fühlen sich dadurch in ihrem Wert nicht gemindert, und nichts scheint ihnen näher zu liegen, als einen reichen Freund, für den das Geld keine Rolle spielt, zu bitten, daß er sie aus seinem Überfluß zu irgendeinem guten Zweck unterstütze. Sie begreifen nicht, daß der reiche Mann sie mit seinen Ideen unterstützen möchte, mit seinem Können und seiner persönlichen Anziehungskraft. Man bringt ihn auf diese Weise außerdem in einen Gegensatz zu der Natur des Geldes, denn diese will die Vermehrung genau so, wie die Natur des Tieres die Fortpflanzung anstrebt. Man kann Geld in schlechte Anlagen stecken, dann geht es auf dem Feld der Geldehre zugrunde; man kann damit einen neuen Wagen kaufen, obgleich der alte noch so gut wie neu ist, in Begleitung seiner Polopferde in den teuersten Hotels der Weltkurorte absteigen, Renn- und Kunstpreise stiften oder für hundert Gäste an einem Abend soviel ausgeben, daß davon hundert Familien ein Jahr lang leben könnten: mit alledem wirft man das Geld wie ein Sämann zum Fenster hinaus, und es kommt vermehrt bei der Türe wieder herein. Es aber im stillen für Zwecke und Menschen verschenken, die ihm nichts nützen, das läßt sich nur mit einem Meuchelmord am Geld vergleichen. Es kann sein, daß diese Zwecke gut und diese Menschen unvergleichlich sind; dann soll man sie mit allen Mitteln fördern, nur nicht mit Geldmitteln. Das war ein Grundsatz Arnheims, und seine beharrliche Anwendung hatte ihm den Ruf eingebracht, an der geistigen Entwicklung der Zeit schöpferisch und tätig Anteil zu haben.
Arnheim konnte auch von sich sagen, daß er wie ein Sozialist denke, und viele reiche Leute denken wie Sozialisten. Sie haben nichts dagegen, daß es ein Naturgesetz der Gesellschaft sei, dem sie ihr Kapital verdanken, und sind fest überzeugt, daß es der Mensch ist, der dem Besitz seine Bedeutung leiht, und nicht der Besitz dem Menschen. Sie diskutieren ruhig darüber, daß in der Zukunft der Besitz aufhöre, wenn sie nicht mehr da sind, und werden in der Meinung, daß sie einen sozialen Charakter besäßen, noch dadurch bestärkt, daß nicht selten charaktervolle Sozialisten, in überzeugter Erwartung des ohnehin unausbleiblichen Umsturzes, bis dahin lieber bei reichen Leuten verkehren als bei armen. Man könnte auf diese Weise lange fortfahren, wenn man alle Beziehungen des Geldes schildern wollte, die Arnheim bemeisterte. Die wirtschaftliche ist eben keine Tätigkeit, die sich von den übrigen geistigen Tätigkeiten absondern ließe, und es war wohl natürlich, daß er seinen geistigen und künstlerischen Freunden, wenn sie ihn dringend darum baten, außer Ratschlägen auch Geld gab; aber er gab ihnen nicht immer und niemals viel. Sie versicherten ihm, daß sie auf der ganzen Welt nur ihn darum zu bitten vermöchten, weil er allein auch die dazu nötigen geistigen Eigenschaften besäße, und er glaubte es ihnen, denn er war überzeugt, daß das Bedürfnis nach Kapital alle menschlichen Beziehungen durchdringe und so natürlich sei wie das Bedürfnis nach Atemluft, während er andererseits auch ihrer Auffassung, daß das Geld eine spirituelle Macht sei, entgegenkam, indem er diese nur mit feinfühliger Zurückhaltung anwandte.
Und weshalb wird man überhaupt bewundert und geliebt? Ist das nicht ein schwer zu ergründendes Mysterium, rund und zart wie ein Ei? Wird man wahrer geliebt, wenn es wegen eines Schnurrbarts geschieht, als wenn es wegen eines Automobils geschieht? Ist die Liebe, die man erregt, weil man ein sonnengebräunter Sohn des Südens ist, persönlicher als die, die man dadurch erregt, daß man ein Sohn eines der größten Unternehmer ist? Arnheim trug in jener Zeit, wo fast alle modischen Männer sich glatt rasieren ließen, genau so wie früher einen kleinen, spitzen Kinn- und einen kurz geschorenen Schnurrbart: dieses kleine, fremd ansitzende und doch zu ihm gehörende Gefühl in seinem Gesicht erinnerte ihn, aus Gründen, die ihm selbst nicht klar waren, wenn er allzu selbstvergessen vor eifrigen Zuhörern sprach, in einer angenehmen Weise an sein Geld.

Der General saß schon lange Zeit auf einem der Stühle, die man rings um den geistigen Turnierplatz an die Wand gerückt hatte, sein »Gönner«, wie er Ulrich gerne nannte, neben ihm, und zwischen beiden war ein Stuhl frei, auf dem zwei labende Kelchgläser standen, die sie am Büfett erbeutet hatten. Des Generals hellblauer Rock hatte sich im Sitzen emporgeschoben und bildete über dem Bauch Runzeln wie eine besorgte Stirn. Die beiden Männer schwiegen und hörten einem Gespräch zu, das vor ihnen geführt wurde. »Beauprés Spiel« sagte jemand »muß man genial nennen; ich habe ihn im Sommer hier und im Winter zuvor an der Riviera spielen gesehn. Wenn er einen Fehler macht, hilft ihm das Glück. Er macht sogar oft Fehler, sein Spiel widerspricht im Aufbau einem realen Tenniswissen; aber dieser gottbegnadete Mensch steht außerhalb normaler Tennisgesetze.«
»Ich ziehe wissenschaftliches Tennis dem intuitiven vor,« wurde eingewendet »Braddock zum Beispiel. Vielleicht gibt es keine Vollkommenheit, aber Braddock ist nahe dabei.«
Der erste Redner entgegnete: »Das Genie Beauprés, sein planloses, geniales Durcheinander ist auf dem Höhepunkt, wenn das Wissen versagt!«
Ein dritter Mann: »Genie ist vielleicht doch etwas zu viel gesagt.«
»Wie wollen Sie es nennen? Es ist das Genie, das einem Mann im unwahrscheinlichsten Moment die richtige Art der Ballbehandlung eingibt!«
»Ich würde auch sagen,« half der Braddockianer »Persönlichkeit muß sich zeigen, ob ein Tennisschläger in der Hand gehalten wird oder Völkerschicksale.«
»Nein, nein; Genie ist zuviel!« verwahrte sich der Dritte.
Der Vierte war ein Musiker. Er sagte: »Sie haben ganz unrecht. Sie übersehen das reale Denken, das im Sport liegt, weil Sie offenbar noch an die Überschätzung des logisch-systematischen gewöhnt sind. Das ist ungefähr ebenso veraltet wie das Vorurteil, daß Musik eine Gefühlsbereicherung sei und der Sport eine Willensschule. Aber reine Bewegungsleistung ist so magisch, daß der Mensch sie nicht ungeschützt vertragen kann; das sehen Sie im Kino, wenn die Musik fehlt. Und Musik ist innere Bewegung, sie fördert die Bewegungsphantasie. Wenn man das Magische an der Musik erfaßt hat, wird man sich nicht eine Sekunde bedenken, dem Sport Genie zuzusprechen; nur Wissenschaft hat kein Genie, das ist Gehirnakrobatik!«
»Also habe ich recht,« sagte der Anhänger Beauprés »wenn ich Braddocks wissenschaftlichem Spiel das Genie abspreche.«
»Sie übersehen,« verteidigte diesen sein Anhänger »daß man da von einer neuen Belebung des Begriffes Wissenschaft ausgehen muß!«
»Welcher von beiden schlägt eigentlich den anderen?« fragte jemand.
Niemand wußte es; beide hatten einander schon öfters besiegt, aber niemand hatte die genauen Zahlen im Kopf.
»Fragen wir Arnheim« schlug jemand vor.
Die Gruppe löste sich auf. Das Schweigen auf den drei Stühlen dauerte an. Endlich sagte General Stumm nachdenklich: »Entschuldige, ich habe die ganze Zeit zugehört, aber alles das könnte man doch auch von einem siegreichen General sagen, die Musik ausgenommen? Warum finden sie es eigentlich an einem Tennisspieler genial und an einem General barbarisch?« Er hatte, seit ihm sein Gönner den Rat gab, es bei Diotima mit Körperkultur zu versuchen, verschiedene Male darüber nachgedacht, wie er diesen hoffnungsvollen Zugang zu den Zivilideen, trotz seiner ursprünglichen Abneigung dagegen, doch benutzen könnte, aber die Schwierigkeiten waren, wie er leider jedesmal wahrnehmen mußte, auch in dieser Richtung ungewöhnlich groß.

Diotima wunderte sich darüber, daß Arnheim alle diese Leute sichtlich mit Wohlgefallen ertrug, denn der Zustand ihrer Gefühle entsprach allzu sehr dem, was sie einigemale mit den Worten ausgedrückt hatte, Weltgeschäfte seien nicht mehr als un peu de bruit autour de notre âme.
Es wurde ihr manchmal wirr zumute, wenn sie um sich sah und ihr Haus voll vom Adel der Welt und des Geistes erblickte. Von der Geschichte ihres Lebens war nur der äußerste Gegensatz zwischen Tiefe und Höhe übrig geblieben, ihre Lage als Mädchen, voll banger Mittelstandsbeengtheit, und jetzt der die Seele blendende Erfolg. Und sie fühlte die Forderung, obgleich sie schon auf schwindelnd schmaler Stufe stand, den Fuß noch einmal zu heben, in der Erwartung, daß es noch höher gehe. Die Unsicherheit zog sie an. Sie rang mit dem Beschluß, in ein Leben einzutreten, wo Tätigkeit, Geist, Seele und Traum eins sind. Sie machte sich im Grunde keine Sorgen mehr darüber, daß sich keine krönende Idee der Parallelaktion zeigen wollte; auch Weltösterreich war ihr gleichgültiger geworden; selbst das Erlebnis, daß es zu jedem großen Entwurf des menschlichen Geistes einen Gegenentwurf gibt, hatte keine Schrecken mehr für sie. Der Gang der Dinge ist dort, wo sie wichtig sind, nicht logisch; eher erinnert er an Blitz und Feuer, und sie hatte sich daran gewöhnt, daß sie sich über die Größe, von der sie sich umgeben fühlte, nichts denken konnte. Am liebsten würde sie ihre Aktion stehen gelassen und Arnheim geheiratet haben, sowie für ein kleines Mädchen alle Schwierigkeiten gut sind, wenn es sie fallen läßt und an die Brust des Vaters stürzt. Aber das unsagbare äußere Wachstum ihrer Tätigkeit hielt sie fest. Sie fand nicht die Zeit, sich zu entscheiden. Die äußere Verknüpfung der Geschehnisse und die innere liefen als zwei unabhängige Reihen nebeneinander weiter, mit vergeblichen Versuchen, sie zu verbinden. Es war das gleiche wie in ihrer Ehe, die sogar scheinbar glücklicher als früher weiterlief, indes sich alles Seelische in Auflösung befand.
Ihrem Charakter nach hätte Diotima offen mit ihrem Gatten reden müssen; aber es gab nichts, was sie ihm sagen konnte. Liebte sie Arnheim? Ihrer Beziehung zu ihm konnte man so viele Namen geben, daß dieser sehr triviale ausnahmsweise auch unter ihren Gedanken vorkam. Sie hatten sich noch nicht einmal geküßt, und äußerste Umarmungen der Seelen würde Tuzzi nicht verstehen, auch wenn sie ihm gebeichtet würden. Diotima wunderte sich zuweilen selbst darüber, daß nicht mehr Erzählbares zwischen ihr und Arnheim vor sich ging. Aber sie hatte niemals die Gewohnheit des braven, jungen Mädchens, das zu älteren Männern ehrgeizig aufblickt, ganz abgelegt, und sie hätte sich eher noch mit ihrem Vetter, der ihr jünger vorkam, als sie es selbst war, und von ihr ein wenig verachtet wurde, wenn nicht handgreifliche, so doch erzählerisch greifbare Vorgänge vorstellen können als mit dem Mann, den sie liebte und der es so sehr zu würdigen wußte, wenn sie ihre Gefühle in allgemeine Betrachtungen von großer geistiger Höhe auflöste. Diotima wußte, daß man in grundstürzende Veränderungen der Lebensumstände hineintaumeln und zwischen seinen neuen vier Wänden erwachen muß, ohne sich recht erinnern zu können, wie man hineingekommen ist, aber fühlte sich Einflüssen ausgesetzt, die sie wachsam erhielten. Sie war nicht ganz frei von der Abneigung, die der Durchschnittsösterreicher ihrer Zeit gegen den deutschen Bruder empfand. Diese Abneigung entsprach in ihrer klassischen, inzwischen selten gewordenen Form ungefähr einer Vorstellung, die arglos die verehrten Köpfe Goethes und Schillers auf einen Leib setzte, der mit klibbrigen Puddings und Tunken ernährt wurde und etwas von deren unmenschlicher Innerlichkeit hatte. Und so groß Arnheims Erfolg in ihrem Kreise war, entging ihr nicht, daß sich nach der ersten Zeit der Überraschung auch Widerstände regten, die nirgends Form annahmen oder zu Tage traten, aber sie doch raunend unsicher machten und ihr den Unterschied zu Bewußtsein brachten, der zwischen ihrer eigenen Haltung und der Zurückhaltung mancher Personen bestand, nach denen sie ihr Benehmen sonst zu richten gewohnt war. Nun sind völkische Abneigungen gewöhnlich nichts anderes als Abneigung gegen sich selbst, tief aus der Dämmerung eigener Widersprüche geholt und an ein geeignetes Opfer geheftet, ein seit den Urzeiten bewährtes Verfahren, wo der Medizinmann mit einem Stäbchen, das er zum Sitz des Dämons erklärte, die Krankheit aus dem Leib des Kranken gezogen hat. Daß ihr Geliebter ein Preuße war, verwirrte Diotimas Herz zu allem anderen also auch noch mit Schrecknissen, von denen sie sich keine rechte Vorstellung machen konnte, und es war wohl nicht ganz unberechtigt, wenn sie diesen unentschlossenen Zustand, der sich so deutlich von der einfachen Derbheit des Ehelebens unterschied, Leidenschaft nannte.
Diotima hatte schlaflose Nächte; in diesen Nächten schwankte sie zwischen einem preußischen Industriechef und einem österreichischen Sektionschef. In der Verklärung des Halbtraums zog Arnheims großes, durchglänztes Leben an ihr vorüber. Sie flog an der Seite des geliebten Mannes durch einen Himmel neuer Ehrungen, aber dieser Himmel hatte ein unangenehmes Preußischblau. In der schwarzen Nacht lag der gelbe Körper des Sektionschefs Tuzzi inzwischen noch neben dem ihren. Sie ahnte es bloß, wie ein schwarz-gelbes Symbol alter kakanischer Kultur, wenn er von solcher auch nur wenig besaß. Die Barockfassade am Palast des Grafen Leinsdorf, ihres erlauchten Freundes, war dahinter, die Nähe Beethovens, Mozarts, Haydns, des Prinzen Eugen schwebte wie Heimweh darum, das sich schon vor der Flucht wieder zurücksehnt. Diotima konnte sich zu dem Schritt aus dieser Welt hinaus nicht ohneweiters entschließen, obgleich sie ihren Gatten deshalb beinahe haßte. In ihrem schönen, großen Leib saß die Seele hilflos wie in einem weiten blühenden Land.
»Ich darf nicht ungerecht sein« sprach Diotima zu sich. »Der Amts- und Berufsmensch ist wohl nicht mehr wach und weit und empfangend, aber in seiner Jugend hätte er vielleicht doch die Möglichkeit dazu gehabt.« Sie erinnerte sich an Stunden aus der Bräutigamszeit, obgleich Sektionschef Tuzzi schon damals kein Jüngling mehr gewesen war. »Er hat durch Fleiß und Pflichttreue seine Stellung und Persönlichkeit errungen« dachte sie gutmütig; »er ahnt doch selbst nicht, daß dies auf Kosten des Lebens seiner Persönlichkeit geschehen ist.«
Seit ihrem gesellschaftlichen Sieg dachte sie nachsichtiger von ihrem Gatten, und ihre Gedanken machten darum noch ein Zugeständnis. »Niemand ist reiner Verstandes- und Nützlichkeitsmensch; jeder begann damit, daß er mit einer lebenden Seele lebte« überlegte sie. »Aber der Alltag versandet ihn, die gewöhnlichen Leidenschaften ziehen über ihn hin wie ein Brand, und die kalte Welt ruft in ihm jene Kälte hervor, in der seine Seele dahinsiecht.« Vielleicht war sie zu bescheiden gewesen, um ihm das rechtzeitig mit Strenge vorzuhalten. Es war so traurig. Es kam ihr vor, daß sie niemals den Mut finden werde, Sektionschef Tuzzi in den Skandal einer Scheidung zu verwickeln, der ihn, mit seinem Amt verflochten wie er war, aufs tiefste erschüttern mußte.
»Dann lieber Ehebruch!« sagte sie sich plötzlich.
Ehebruch, diesen Gedanken hatte Diotima seit einiger Zeit gefaßt.
Es ist ein unfruchtbarer Begriff, seine Pflicht dort zu tun, wohin man gestellt worden ist; man verausgabt Kraftsummen um nichts; die wahre Pflicht ist es, seinen Platz zu wählen und die Verhältnisse bewußt zu gestalten! Wenn sie sich schon dazu verurteilte, an der Seite ihres Gatten auszuharren, so gab es doch ein unnützes und ein fruchtbares Unglück, und sie hatte die Pflicht, sich zu entscheiden. Allerdings, Diotima hatte bisher noch nie über jenes peinlich Kokottenhafte und unschön Leichtsinnige hinwegkommen können, das an allen Ehebruchsschilderungen haftete, die sie kannte. Sie vermochte sich selbst in einer solchen Lage nicht recht vorzustellen. Die Klinke eines Absteigequartiers zu berühren, erschien ihr wie das Tauchen in einen Pfuhl. Mit rauschenden Röcken fremde Stiegen hinaufzuhuschen: eine gewisse moralische Geruhsamkeit ihres Körpers wehrte sich dagegen. In Eile gegebene Küsse widersprachen ihrer Natur genau so wie flüchtig flatternde Liebesworte. Eher war sie für Katastrophen. Letzte Gänge, in der Kehle ersterbende Abschiedsworte, tiefe Konflikte zwischen der Pflicht der Geliebten und der Mutter, das entsprach viel besser ihrer Anlage. Aber sie besaß wegen der Sparsamkeit ihres Gatten keine Kinder, und die Tragödie sollte gerade vermieden werden. So entschloß sie sich, wenn es so weit käme, für Renaissancemuster. Eine Liebe, die mit dem Dolch im Herzen lebt. Das konnte sie sich nicht genau vorstellen, aber es war zweifellos etwas Aufrechtes; mit geborstenen Säulen, über denen Wolken fliegen, als Hintergrund. Schuld und Überwindung des Schuldgefühls, Lust, gesühnt durch Leid, zitterte in diesem Bild und erfüllte Diotima mit einer unerhörten Steigerung und Andacht. »Wo ein Mensch seine höchsten Möglichkeiten findet und seine reichste Kraftentfaltung erfährt, dort gehört er auch hin,« dachte sie »denn dort nützt er zugleich der tiefsten Lebenssteigerung des Ganzen!«
Sie sah, so gut es die Nacht erlaubte, ihren Gatten an. Wie das Auge die ultravioletten Strahlen des Spektrums nicht wahrnimmt, würde dieser Intelligenzmensch gewisse seelische Wirklichkeiten überhaupt nicht bemerken!
Sektionschef Tuzzi atmete ahnungslos, ruhig und eingewiegt von dem Gedanken, daß während seiner verdienten Geistesabwesenheit von acht Stunden in Europa nichts von Wichtigkeit vor sich gehen könne. Dieser Frieden verfehlte nicht, auch auf Diotima Eindruck zu machen, und nicht nur einmal erwog sie dann den Gedanken: Entsagung! Abschied von Arnheim, große, edle Worte des Leids, himmelstürmender Verzicht, Beethovensches Scheiden: der kräftige Muskel ihres Herzens spannte sich unter solchen Anforderungen. Zitternde, herbstlich glänzende Gespräche, voll von der Wehmut ferner blauer Berge, erfüllten die Zukunft. Aber Entsagen und eheliches Doppelbett?! Diotima fuhr in den Polstern empor, ihr schwarzes Haar ringelte sich wild. Sektionschef Tuzzis Schlaf war jetzt nicht mehr jener der Unschuld, sondern der der Schlange, die ein Kaninchen in ihrem Leibe hat. Es fehlte nicht viel, so hätte Diotima ihn geweckt und ihm angesichts dieser neuen Frage ins Gesicht geschrien, daß sie ihn verlassen müsse, müsse, wolle!! Eine solche Flucht in eine hysterische Szene wäre in ihrer zwiespältigen Lage gut zu verstehen gewesen; aber ihr Leib war zu gesund dazu, sie fühlte, daß er einfach nicht mit äußerstem Entsetzen auf Tuzzis Nähe antwortete. Vor diesem fehlenden Entsetzen fühlte sie ein trockenes Grauen. Tränen versuchten dann vergeblich, über ihre Wange zu rinnen, aber merkwürdigerweise bedeutete ihr gerade in diesem Zustand der Gedanke an Ulrich einen gewissen Trost. Sie dachte in dieser Zeit sonst nie an ihn, aber seine wunderlichen Äußerungen, er möchte die Wirklichkeit abschaffen und Arnheim überschätze sie, hatten einen unverständlichen Nebenton, einen schwebenden, über den Diotima seinerzeit weggehört hatte, der aber in diesen Nächten wieder zum Vorschein kam. »Das heißt doch nichts anderes, als daß man sich nicht zu sehr um das kümmern soll, was geschehen wird« sagte sie sich ärgerlich; »es ist das Gewöhnlichste von der Welt!« Und während sie diesen Gedanken so schlecht und einfach übersetzte, wußte sie, daß sie etwas daran nicht verstand, und gerade davon ging die Beruhigung aus, die wie ein Schlafpulver war, das ihre Verzweiflung samt dem Bewußtsein lähmte. Die Zeit huschte wie ein dunkler Strich davon, sie fühlte getröstet, daß man irgendwie ihren Mangel an anhaltender Verzweiflung auch anerkennenswert finden könne, aber es wurde ihr nicht mehr klar.
In der Nacht fließen die Gedanken bald im Hellen, bald durch Schlaf, wie Wasser im Karst, und wenn sie nach einer Weile wieder ruhig zum Vorschein kamen, hatte Diotima den Eindruck, sie habe das vorangegangene Schäumen bloß geträumt. Der kochende kleine Fluß, der hinter dem dunklen Gebirgsstock lag, war nicht der gleiche wie der stille Strom, in den Diotima schließlich hineinglitt. Zorn, Abscheu, Mut, Angst waren verronnen, es durfte solche Gefühle nicht geben, es gab sie nicht: in den Kämpfen der Seelen hat niemand Schuld! Auch Ulrich war dann wieder vergessen. Denn es waren nun bloß noch die letzten Geheimnisse, das ewige Sehnen der Seele vorhanden. Ihre Sittlichkeit liegt nicht in dem, was man tut. Sie liegt nicht in den Bewegungen des Bewußtseins noch in denen der Leidenschaft. Auch die Leidenschaften sind nur un peu de bruit autour de notre âme. Man kann Königreiche gewinnen oder verlieren, aber die Seele rührt sich nicht, und man kann nichts tun, um sein Schicksal zu erreichen, aber zuweilen wächst es aus der Tiefe des Wesens, still und täglich, wie der Gesang der Sphären. Diotima lag dann so wach wie zu keiner anderen Stunde, aber voll Vertrauen. Diese Gedanken, mit ihrem dem Auge entzogenen Schlußpunkt, hatten den Vorzug, sie selbst in den schlaflosesten Nächten nach ganz kurzer Weile einzuschläfern. Wie eine samtene Vision spürte sie ihre Liebe in das unendliche Dunkel übergehen, das über die Sterne hinausreicht, untrennbar von ihr, untrennbar von Paul Arnheim, durch keine Pläne und Absichten zu berühren. Sie fand kaum noch Zeit, nach dem Glas Zuckerwasser zu greifen, das sie zur Bekämpfung ihrer Schlaflosigkeit auf dem Nachttischlein stehen hatte, aber immer erst in diesem letzten Augenblick benutzte, weil sie es in denen der Aufregung vergaß. Der leise Laut des Trinkens perlte wie das Flüstern von Liebenden hinter einer Wand neben dem Schlaf ihres Gatten, der nichts davon hörte; dann legte sich Diotima andächtig in die Polster zurück und versank in das Schweigen des Seins.

Es ist fast zu bekannt, um davon zu sprechen: Seit ihre berühmten Gäste sich davon überzeugt hatten, daß der Ernst des Unternehmens keine großen Anstrengungen von ihnen fordere, gaben sie sich als Menschen, und Diotima, die ihr Haus von Lärm und Geist erfüllt sah, war enttäuscht. Sie kannte als eine hohe Seele das Gesetz der Vorsicht nicht, ] wonach man sich als Privatmann entgegengesetzt benimmt wie in seinem Beruf. Sie wußte nicht, daß Politiker, nachdem sie sich im Sitzungssaal Spitzbuben und Betrüger genannt haben, im Erfrischungssaal freundlich nebeneinander frühstücken. Daß Richter, die als Juristen einen Unglücklichen zu schwerer Strafe verurteilt haben, ihm nach Schluß der Verhandlung als Menschen teilnehmend die Hand drücken, wußte sie wohl, aber sie hatte nie daran etwas auszusetzen gefunden. Daß Tänzerinnen außerhalb ihres zweideutigen Berufs oft einen hausmütterlich einwandfreien Lebenswandel führen, hatte sie manchmal erzählen gehört und fand es sogar rührend. Auch erschien es ihr als schönes Sinnbild, daß Fürsten zu Zeiten die Krone ablegen, um nichts als Mensch zu sein. Aber als sie wahrnahm, daß auch Fürsten des Geistes sich inkognito ergehen, kam ihr dieses Doppelverhalten sonderbar vor. Welche Leidenschaft ist es und welches Gesetz liegt dieser allgemeinen Neigung zugrunde und bewirkt, daß Männer außerhalb des Berufs sich nichts wissen machen von den Männern, die sie innerhalb des Berufs sind? Sie sehen nach Schluß ihrer Arbeit, wenn sie aufgeräumt sind, genau so aus wie ein aufgeräumtes Büro, wo das Schreibzeug in den Laden verwahrt ist und die Sessel auf den Tischen stehn. Sie bestehen aus zwei Männern, und man weiß nicht, ob sie nun eigentlich am Abend oder am Morgen zu sich zurückkehren?
So sehr es ihr darum schmeichelte, daß ihr Seelengeliebter allen Männern gefiel, die sie um sich versammelt hatte, und namentlich mit den jüngeren unternehmend verkehrte, entmutigte es sie doch zuweilen, ihn in diese Betriebsamkeit verflochten zu sehn, und sie fand, daß sich ein Geistesfürst weder den Verkehr mit dem gewöhnlichen Geistesadel so angelegen sein lassen dürfte, noch dem beweglichen Markten der Gedanken zugänglich sein sollte.
Die Ursache lag darin, daß Arnheim kein Geistesfürst war, sondern ein Großschriftsteller.
Der Großschriftsteller ist der Nachfolger des Geistesfürsten und entspricht in der geistigen Welt dem Ersatz der Fürsten durch die reichen Leute, der sich in der politischen Welt vollzogen hat. So wie der Geistesfürst zur Zeit der Fürsten, gehört der Großschriftsteller zur Zeit des Großkampftages und des Großkaufhauses. Er ist eine besondere Form der Verbindung des Geistes mit großen Dingen. Das mindeste, was man von einem Großschriftsteller verlangt, ist darum, daß er einen Kraftwagen besitzt. Er muß viel reisen, von Ministern empfangen werden, Vorträge halten; den Chefs der öffentlichen Meinung den Eindruck machen, daß er eine nicht zu unterschätzende Gewissensmacht darstelle; er ist chargé d'affaires des Geistes der Nation, wenn es gilt, im Ausland Humanität zu beweisen; empfängt, wenn er zu Hause ist, notable Gäste und hat bei alledem noch an sein Geschäft zu denken, das er mit der Geschmeidigkeit eines Zirkuskünstlers machen muß, dem man die Anstrengung nicht anmerken darf. Denn der Großschriftsteller ist keineswegs einfach das gleiche wie ein Schriftsteller, der viel Geld verdient. Das »gelesenste Buch« des Jahres oder Monats braucht er niemals selbst zu schreiben, es genügt, daß er gegen diese Art der Bewertung nichts einzuwenden hat. Denn er sitzt in allen Preisgerichten, unterzeichnet alle Aufrufe, schreibt alle Vorworte, hält alle Geburtstagsreden, äußert sich zu allen wichtigen Ereignissen und wird überall gerufen, wo es zu zeigen gilt, wie weit man es gebracht hat. Denn der Großschriftsteller vertritt bei allen seinen Tätigkeiten niemals die ganze Nation, sondern gerade nur ihren fortschrittlichen Teil, die große, beinahe schon in der Mehrheit befindliche Auserlesenheit, und das umgibt ihn mit einer bleibenden geistigen Spannung. Es ist natürlich das Leben in seiner heutigen Ausbildung, das zur Großindustrie des Geistes führt, so wie es umgekehrt die Industrie zum Geist, zur Politik, zur Beherrschung des öffentlichen Gewissens drängt; in der Mitte berühren sich beide Erscheinungen. Darum weist die Rolle des Großschriftstellers auch nicht etwa auf eine bestimmte Person hin, sondern stellt eine Figur am gesellschaftlichen Schachbrett dar, mit einer Spielregel und Obliegenheit, wie sie die Zeit ausgebildet hat. Die des Guten beflissenen Menschen dieser Zeit stehen auf dem Standpunkt, daß es ihnen wenig nützt, wenn irgendwer Geist habe (es ist davon so viel vorhanden, daß es auf etwas mehr oder weniger nicht ankommt, jedenfalls glaubt jeder für seine Person genug zu haben), sondern daß man den Ungeist bekämpfen müsse, wozu es nötig ist, daß der Geist gezeigt, gesehen, zur Wirkung gebracht werde, und weil sich dazu ein Großschriftsteller besser eignet als selbst ein größerer Schriftsteller, den vielleicht nicht mehr so viele verstehen könnten, trägt man nach Kräften dazu bei, daß die Größe recht ins Große gerät.
Wenn man das so versteht, war Arnheim daraus, daß er eine der ersten, probeweisen, wenn auch schon sehr vollkommenen Verkörperungen dieser Verhältnisse bedeutete, kein schwerer Vorwurf zu machen, doch gehörte immerhin eine gewisse Anlage dazu. Denn die meisten Schriftsteller würden gerne Großschriftsteller sein, wenn sie es nur könnten, aber das ist so wie mit den Bergen: zwischen Graz und Sankt Pölten gibt es viele, die genau so auszusehen vermöchten wie der Monte Rosa, bloß stehen sie zu niedrig. Die unerläßlichste Voraussetzung, um ein Großschriftsteller zu werden, bleibt also die, daß man Bücher oder Theaterstücke schreibt, die sich für hoch und niedrig eignen. Man muß wirken, ehe man das Gute wirken kann; dieser Grundsatz ist der Boden eines jeden Großschriftstellerdaseins. Und das ist ein wundersames, gegen die Versuchungen der Einsamkeit gerichtetes Prinzip, geradezu das Goethesche Prinzip des Wirkens, daß man sich nur in der freundlichen Welt regen müsse, so komme dann alles andere von selbst. Denn wenn ein Schriftsteller einmal zu wirken anfängt, so tritt eine bedeutsame Wandlung in seinem Leben ein. Sein Verleger hört auf, zu bemerken, daß ein Kaufmann, der Verleger werde, einem tragischen Idealisten gleiche, weil er doch mit Tuch oder unverdorbenem Papier ganz anders verdienen könnte. Die Kritik entdeckt in ihm einen würdigen Gegenstand für ihr Schaffen, denn Kritiker sind sehr oft keine bösen Menschen, sondern, dank den ungünstigen Zeitumständen, gewesene Lyriker, die ihr Herz an etwas hängen müssen, um sich aussprechen zu können; sie sind Kriegs- oder Liebeslyriker, je nach dem inneren Erträgnis, das sie günstig anbringen müssen, und es ist begreiflich, daß sie dazu lieber das Buch eines Großschriftstellers als das eines gewöhnlichen Schriftstellers wählen. Nun hat natürlich jeder Mensch nur eine begrenzte Arbeitsfähigkeit, deren beste Ergebnisse verteilen sich leicht auf die jährlichen Neuerscheinungen aus Großschriftstellerfedern, und so werden diese zu Sparkassen des nationalen Geisteswohlstandes, indem jede von ihnen kritische Interpretationen nach sich zieht, die keineswegs nur Auslegungen, vielmehr geradezu Einlagen sind, während für alles übrige entsprechend wenig übrig bleibt. Ins Größte wächst das aber erst durch die Essayisten, Biographen und Schnellhistoriker, die ihr Bedürfnis an einem großen Mann verrichten. Mit Respekt zu sagen, Hunde ziehen zu ihren recht gemeinen Zwecken eine belebte Ecke einem einsamen Felsen vor; wie sollten da nicht Menschen, die den höheren Drang haben, ihren Namen öffentlich zu hinterlassen, einen Fels wählen, der offenkundig einsam ist?! Ehe er sich dessen versieht, ist so der Großschriftsteller kein Wesen mehr für sich allein, sondern eine Symbiose, das Ergebnis nationaler Arbeitsgemeinschaft im zartesten Sinn und erlebt die schönste Versicherung, die das Dasein zu geben vermag, daß sein Gedeihen mit dem Gedeihen zahlloser anderer Menschen auf das innigste verflochten ist.
Und wahrscheinlich ist das der Grund, warum man oft als einen allgemeinen Zug im Charakter der Großschriftsteller auch ein ausgeprägtes Wohlverhaltensgefühl findet. Von den kämpferischen Mitteln des Schreibens machen sie nur Gebrauch, wenn sie ihre Geltung bedroht fühlen; in allen übrigen Fällen zeichnet sich ihr Verhalten durch Ausgeglichenheit und Wohlwollen aus. Sie sind vollendet tolerant gegen Nichtigkeiten, die zu ihrem Lobe gesagt werden. Sie lassen sich nicht leicht dazu herab, andere Autoren zu besprechen; aber wenn sie es tun, dann schmeicheln sie selten einem Mann von hohem Rang, sondern ziehen es vor, eines jener unaufdringlichen Talente zu ermuntern, die aus neunundvierzig Prozent Begabung und einundfünfzig Prozent Unbegabung bestehen und vermöge dieser Mischung so geschickt zu allem sind, wo man eine Kraft braucht, aber ein starker Mann schaden könnte, daß über kurz oder lang ein jedes von ihnen einen einflußreichen Posten in der Literatur hat. Aber ist damit diese Beschreibung nicht schon über das hinausgegangen, was nur dem Großschriftsteller eigentümlich ist? Ein gutes Sprichwort sagt, wo Tauben sind, fliegen Tauben zu, und man macht sich schwer eine Vorstellung davon, wie bewegt es heutzutage schon um einen gewöhnlichen Schriftsteller zugeht, lange ehe er Großschriftsteller, schon wenn er Buchbesprecher, Feuilletonredakteur, Funkverweser, Filmmixer oder Herausgeber eines Literaturblättchens ist; manche von ihnen gleichen jenen kleinen Eselchen und Schweinchen aus Gummi, die hinten ein Loch haben, wo man sie aufbläst. Wenn man die Großschriftsteller solche Umstände sorgsam erwägen und sie bemüht sieht, daraus das Bild eines tüchtigen Volks zu machen, das seine Großen ehrt, muß man es ihnen nicht danken? Sie veredeln das Leben, wie es ist, durch ihre Teilnahme. Man versuche, sich das Gegenteil vorzustellen, einen schreibenden Mann, der alles das nicht täte. Er müßte herzliche Einladungen ablehnen, Menschen zurückstoßen, Lob nicht wie ein Belobter, sondern wie ein Richter bewerten, natürliche Gegebenheiten zerreißen, große Wirkungsmöglichkeiten als verdächtig behandeln, nur weil sie groß sind, und hätte als Gegengabe nichts zu bieten als schwer ausdrückbare, schwer zu bewertende Vorgänge in seinem Kopf und die Leistung eines Schriftstellers, worauf ein Zeitalter, das schon Großschriftsteller besitzt, wirklich nicht viel Wert zu legen braucht! Würde ein solcher Mann nicht außerhalb der Gemeinschaft stehen und sich mit allen Folgen, die das hat, der Wirklichkeit entziehen müssen?! – Es war jedenfalls die Meinung Arnheims.

Die eigentliche Schwierigkeit im Dasein eines Großschriftstellers entsteht erst dadurch, daß man im geistigen Leben zwar kaufmännisch handelt, aber aus alter Überlieferung idealistisch spricht, und diese Verbindung von Handel und Idealismus war es auch, die in Arnheims Lebensbemühungen eine entscheidende Stelle innehatte.
Man findet solche unzeitgemäße Verbindungen heute überall. Während zum Beispiel die Toten schon im Benzintrab auf den Friedhof befördert werden, verzichtet man doch noch nicht darauf, bei einer schönen Kraftleiche oben auf dem Wagendeckel einen Helm und zwei gekreuzte Ritterschwerter anzubringen, und so ist es auf allen Gebieten; die menschliche Entwicklung ist ein lang auseinandergezogener Zug, und so, wie man sich vor ungefähr zwei Menschenaltern noch in Geschäftsbriefen mit blauen Redeblümlein geschmückt hat, könnte man heute schon alle Beziehungen von der Liebe bis zur reinen Logik in der Sprache von Angebot und Nachfrage, Deckung und Eskompte ausdrücken, jedenfalls ebenso gut, wie man sie psychologisch oder religiös ausdrücken kann, aber man tut es doch nicht. Der Grund liegt darin, daß die neue Sprache noch zu unsicher ist. Der ehrgeizige Geldmann ist heute in einer schwierigen Lage. Wenn er den älteren Mächten des Seins ebenbürtig sein will, so muß er seine Tätigkeit an große Ideen knüpfen; große Gedanken, die widerspruchslos geglaubt würden, gibt es aber heute nicht mehr, denn diese skeptische Gegenwart glaubt weder an Gott noch an die Humanität, weder an Kronen noch an Sittlichkeit – oder sie glaubt an alles zusammen, was auf das gleiche hinauskommt. Also mußte der Kaufmann, der des Großen so wenig entbehren will wie eines Kompasses, den demokratischen Kunstgriff anwenden, die unmeßbare Wirkung der Größe durch die meßbare Größe der Wirkung zu ersetzen. Groß ist nun, was für groß gilt; allein das heißt, daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird, und es ist nicht jedermann gegeben, diesen innersten Kern der Zeit ohne Beschwernis zu schlucken, und Arnheim hatte viele Versuche darüber angestellt, wie das zu machen sei.
Ein gebildeter Mann kann da zum Beispiel an das Verhältnis von Forschung und Kirche im Mittelalter denken. Es mußte sich dazumal der Philosoph mit der Kirche vertragen, wenn er Erfolg haben und das Denken seiner Zeitgenossen beeinflussen wollte, und billiges Freidenkertum könnte darum meinen, daß diese Fesseln seinen Aufstieg zur Größe behindert hätten; aber das Gegenteil war der Fall. Nach der Kundigen Meinung ist bloß eine unvergleichliche gotische Schönheit des Denkens daraus entstanden, und wenn man solche Rücksicht ohne Schaden des Geistes auf die Kirche hatte nehmen können, weshalb sollte man sie nicht auch auf die Reklame nehmen dürfen? Kann, wer wirken will, nicht auch unter dieser Bedingung wirken? Arnheim war überzeugt, daß es ein Zeichen von Größe ist, an seiner eigenen Zeit nicht zuviel Kritik zu üben! Der beste Reiter mit dem besten Pferd kommt, wenn er mit ihm hadert, schlechter über ein Hindernis als ein Reiter, der sich den Bewegungen seines Kleppers anpaßt.
Ein anderes Beispiel: Goethe! – Er war ein Genie, wie die Erde leicht kein zweites hervorbringen mag, aber er war auch der geadelte Sohn einer deutschen Kaufmannsfamilie und, so wie ihn Arnheim empfand, der allererste Großschriftsteller, den diese Nation hervorgebracht hat. Arnheim nahm sich an ihm in vielem ein Beispiel. Seine Lieblingsgeschichte war aber die bekannte Affäre, wie Goethe, obgleich er heimlich mit ihm sympathisierte, den armen Johann Gottlieb Fichte im Stich ließ, als er in Jena als Philosophieprofessor gemaßregelt wurde, weil er sich »mit Großheit, aber vielleicht nicht ganz gehörig« über Gott und göttliche Dinge geäußert hatte und in seiner Verteidigung »leidenschaftlich zu Werke ging«, statt sich »auf das Gelindeste« herauszuhelfen, wie der weltfähige Dichter-Meister in seinen Memoiren bemerkt. Arnheim würde sich nun nicht nur gerade so verhalten haben wie Goethe, sondern er würde, unter Berufung auf ihn, sogar die Welt zu überzeugen versucht haben, daß es einzig das Goethesche und Bedeutsame sei. Er hätte sich kaum mit der Wahrheit begnügt, daß man merkwürdigerweise wirklich mehr Sympathie empfindet, wenn ein großer Mann etwas Schlechtes tut, als wenn ein weniger großer sich recht beträgt, sondern würde dazu übergegangen sein, daß der bedingungslose Kampf für seine Überzeugung sowohl unfruchtbar wie auch ein Verhalten ohne Tiefe und historische Ironie sei, und was diese letztere angeht, so würde er sie eben auch die Goethesche genannt haben, das heißt die Ironie des ernsten Sich-in-die-Umstände-Bequemens, mit handelndem Humor, dem die Distanz der Zeit recht gibt. Wenn man bedenkt, daß heute, nach knapp zwei Menschenaltern, das Unrecht, das dem wackeren, aufrechten und etwas übertriebenen Fichte widerfuhr, längst eine Privatangelegenheit geworden ist, die seiner Bedeutung nichts hinzutut, hingegen die Bedeutung Goethes, obgleich er sich schlecht betrug, auf die Dauer nichts Wesentliches verlor, so muß man zugeben, daß die Weisheit der Zeit tatsächlich mit der Weisheit Arnheims übereinstimmte.
Ein drittes Beispiel, das zugleich – Arnheim war immer von guten Beispielen umgeben – den tiefen Sinn der beiden ersten eröffnet: Napoleon. Heine schildert ihn in den Reisebildern in einer so sehr mit Arnheims Begriffen übereinstimmenden Weise, daß man es am besten in seinen eigenen Worten wiedergibt, die dieser auswendig wußte. »Ein solcher Geist« sagt Heine, also von Napoleon sprechend, aber er hätte es ebensogut auf Goethe anwenden können, dessen diplomatische Natur er stets mit dem Scharfsinn des Liebhabers verteidigte, der sich heimlich mit dem Gegenstand seiner Bewunderung nicht einverstanden weiß, »ein solcher Geist ist es, worauf Kant hindeutet, wenn er sagt, daß wir uns einen Verstand denken können, der nicht wie der unsrige, sondern intuitiv ist. Was wir durch langsames analytisches Nachdenken und lange Schlußfolgen erkennen, das hatte jener Geist im selben Momente angeschaut und tief begriffen. Daher sein Talent, die Zeit, die Gegenwart zu verstehen, ihren Geist zu cajoliren, ihn nie zu beleidigen und immer zu benutzen. – Da aber dieser Geist der Zeit nicht bloß revolutionär ist, sondern durch den Zusammenfluß beider Ansichten, der revolutionären und contrerevolutionären, gebildet worden, so handelte Napoleon nie ganz revolutionär und nie ganz contrerevolutionär, sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Principien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden, und demnach handelte er beständig naturgemäß, einfach, groß, nie krampfhaft barsch, immer ruhig milde. Daher intriguierte er nie im Einzelnen, und seine Schläge geschahen immer durch seine Kunst, die Massen zu begreifen und zu lenken. – Zur verwickelten, langsamen Intrigue neigen sich kleine analytische Geister, hingegen synthetische, intuitive Geister wissen auf wunderbar geniale Weise die Mittel, die ihnen die Gegenwart bietet, so zu verbinden, daß sie dieselben zu ihrem Zwecke schnell benutzen können.«
Heine dürfte das vielleicht ein wenig anders gemeint haben, als sein Bewunderer Arnheim es auffaßte, aber dieser fühlte sich geradezu durch seine Worte mitbeschrieben.

Clarisse im Zimmer; Walter war ihr abhanden gekommen, sie hat einen Apfel und ihren Schlafrock. Das sind, Apfel und Schlafrock, die zwei Quellen, aus denen ein unbeachteter, dünner Strahl von Wirklichkeit in ihr Bewußtsein fließt. Warum erschien ihr Moosbrugger musikalisch? Sie wußte es nicht. Vielleicht sind alle Mörder musikalisch. Sie weiß, daß sie einen Brief an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf geschrieben hat, wegen dieser Frage; sie erinnert sich auch ungefähr an den Inhalt, doch hat sie keinen Zugang dazu.
Aber der Mann ohne Eigenschaften war unmusikalisch?
Da ihr keine rechte Antwort einfiel, ließ sie diesen Gedanken stehn und ging weiter.
Nach einer Weile fiel ihr jedoch ein: Ulrich ist der Mann ohne Eigenschaften. Ein Mann ohne Eigenschaften kann natürlich auch nicht musikalisch sein. Er kann aber auch nicht unmusikalisch sein?
Sie ging weiter.
Er hatte von ihr gesagt: Du bist mädchen- und heldenhaft.
Sie wiederholte: »mädchen- und heldenhaft!« Die Wärme stieg ihr in die Wangen. Es erwuchs daraus eine Pflicht, die ihr nicht klar wurde.
Ihre Gedanken drängten in zwei Richtungen, wie bei einem Handgemenge. Sie fühlte sich angezogen und abgestoßen, wußte aber nicht, wohin und wovon; schließlich lockte sie eine leise Zärtlichkeit, die davon, sie wußte nicht wie, übriggeblieben war, Walter suchen zu gehn. Sie stand auf und legte den Apfel weg.
Es tat ihr leid, daß sie Walter immer quälte. Sie war erst fünfzehn Jahre alt gewesen, da hatte sie schon bemerkt, daß sie ihn zu quälen vermochte. Sie brauchte bloß entschieden auszurufen, etwas sei in Wahrheit nicht so, wie er behaupte, da zuckte er zusammen, und wenn es noch so richtig war, was er gesagt hatte! Sie wußte, daß er sich vor ihr fürchtete. Er fürchtete, daß sie verrückt werden könnte. Er hatte es sich einmal entschlüpfen lassen, schnell wieder verredet; sie aber wußte seither, daß er daran dachte. Sie fand das sehr schön. Nietzsche sagt: »Gibt es einen Pessimismus der Stärke? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse? Eine Tiefe des widermoralischen Hangs? Das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind?« – Solche Worte bereiteten ihr, wenn sie sie dachte, eine sinnliche Erregung im Mund, die so sanft und stark wie Milch war, sie konnte kaum schlucken.
Sie dachte an das Kind, das Walter von ihr wollte. Auch davor fürchtete er sich. Begreiflich, wenn er glaubte, daß sie einmal verrückt werden könnte. Es gab ihr Zärtlichkeit für ihn, auch wenn sie sich heftig weigerte. Sie hatte aber vergessen, daß sie Walter suchen wollte. Es ging jetzt etwas in ihrem Körper vor. Die Brüste füllten sich, durch die Adern an Armen und Beinen rollte ein dickerer Blutstrom, sie spürte ein unbestimmtes Drängen gegen Blase und Darm. Ihr schmaler Körper wurde nach innen tief, empfindlich, lebendig, fremd, eins nach dem andern; ein Kind lag licht und lächelnd in ihrem Arm; von ihren Schultern strahlte das Goldkleid der Gottesmutter zu Boden, und die Gemeinde sang. Es war außer ihr, der Herr war der Welt geboren!
Aber kaum war das vor sich gegangen, so schnellte ihr Körper über dem klaffenden Bild wieder zusammen, wie Holz einen Keil aus sich herausschleudert; sie war schlank, bei sich, ekelte sich, fühlte eine grausame Heiterkeit. So einfach wollte sie es Walter nicht machen. »Ich will, daß dein Sieg und deine Freiheit sich nach einem Kinde sehnen!« sagte sie sich vor. »Lebendige Denkmäler sollst du über dich selbst hinausbauen. Aber erst mußt du mir selber gebaut sein an Leib und Seele!« Clarisse lächelte; es war ihr Lächeln, das so schmal züngelte wie ein Feuer, das mit einem großen Stein zugedeckt ist.
Dann fiel ihr ein, daß ihr Vater sich vor Walter gefürchtet hatte. Sie begab sich um Jahre zurück. Das war sie gewohnt; Walter und sie fragten einander gern: erinnerst du dich? und dann floß vergangenes Licht zauberhaft aus der Weite zurück auf die Gegenwart. Es ist das schön, sie hatten es gern. Es ist vielleicht das gleiche, wie wenn man unlustig stundenlang gegangen ist und kehrt sich um, und die ganze durchwanderte Leere liegt, mit einemmal in Fernsicht verwandelt, als schöne Befriedigung da; aber so faßten sie es nie auf, sondern nahmen ihre Erinnerungen sehr wichtig. Darum kam es ihr auch ungemein anregend und verwickelt vor, daß ihr Vater, der alternde Maler, damals Gewaltperson für sie, sich vor Walter, der ihm die neue Zeit ins Haus gebracht hatte, fürchtete, während Walter sich vor ihr fürchtete. Es war dem ähnlich, wenn sie den Arm um ihre Freundin Lucy Pachhofen legte, »Papa« sagen mußte und dabei wußte, daß Papa Lucys Geliebter war, denn das ereignete sich in der gleichen Zeit.
Clarisse schoß nun wieder die Hitze in die Wangen. Es beschäftigte sie auf das lebhafteste, sich das eigenartige Winseln zu vergegenwärtigen, dieses fremde Winseln, von dem sie ihrem Freund erzählt hatte. Sie nahm einen Spiegel und suchte das Gesicht mit den angstvoll zusammengepreßten Lippen wiederzufinden, das sie in jener Nacht gemacht haben mußte, wo ihr Vater an ihr Bett kam. Es gelang ihr nicht, den Laut hervorzubringen, der sich unter der Versuchung aus ihrer Brust gelöst hatte. Sie überlegte, daß dieser Laut heute noch genau so in ihrer Brust drinnen sein müsse wie damals. Es war ein Laut ohne Schonung und Rücksicht; aber er war niemals wieder zur Oberfläche emporgekommen. Sie legte den Spiegel weg und sah sich vorsichtig um, das Bewußtsein, daß sie allein sei, mit tastendem Auge bekräftigend. Dann suchte sie, mit den Fingerspitzen durch ihr Kleid fühlend, das samtschwarze Muttermal, mit dem es eine so sonderbare Bewandtnis hatte. In der Gegend der Leistenbeuge, halb versteckt im Schenkelschluß und am Rande der Haare, die dort ein wenig unregelmäßig auswichen, lag es; sie ließ ihre Hand darauf ruhen, wehrte jeden Gedanken ab und lauerte auf die Veränderung, die vor sich gehen sollte. Sofort spürte sie diese. Es war nicht das weiche Strömen der Wollust, sondern ihr Arm wurde steif, starr wie ein Männerarm; sie hatte den Eindruck, wenn sie ihn einmal richtig heben würde, könnte sie alles mit ihm niederschmettern! Sie nannte diese Stelle an ihrem Leib das Auge des Teufels. An dieser Stelle war ihr Vater umgekehrt. Das Auge des Teufels hatte einen Blick, der durch die Kleider drang; dieser Blick »faßte« die Männer »ins Auge«, zog sie gebannt an, aber erlaubte ihnen nicht, sich zu rühren, solange Clarisse wollte. Clarisse dachte manche Worte in Anführungszeichen, herausgehoben, so wie sie beim Schreiben manche Worte mit dicken Tintenbalken unterfuhr; solche herausgehobenen Worte hatten dann einen gespannten Sinn, ähnlich gespannt, wie es ihr Arm war; wer hat je daran gedacht, daß man mit dem Auge wirklich etwas fassen könne? Aber sie war der erste Mensch, der dieses Wort in der Hand hielt wie einen Stein, den man auf ein Ziel schleudern kann. Es war ein Teil der schmetternden Kraft ihres Arms. Und über all dem hatte sie das Winseln, worüber sie nachdenken wollte, vergessen und dachte an ihre jüngere Schwester Marion. Mit vier Jahren hatte man Marion nachts die Hände festbinden müssen, weil sie sonst ahnungslos, aus bloßer Freude am Angenehmen, unter die Decke gingen, wie zwei junge Bären in einen Honigbaum. Und später hatte sie, Clarisse, einmal Walter von Marion wegreißen müssen. Die Sinnlichkeit ging in ihrer Familie um, wie der Wein unter Weinbauern. Es war ein Schicksal. Sie trug schwere Last. Aber trotzdem gingen ihre Gedanken nun in der Vergangenheit spazieren, die Spannung im Arm löste sich zu einem natürlichen Zustand auf, und ihre Hand blieb vergessen im Schoß liegen. Sie sagte damals noch Sie zu Walter. Sie verdankte ihm eigentlich sehr viel. Er brachte die Botschaft, daß es neue Menschen gebe, die nur kühle, klare Möbel vertrügen und Bilder in ihre Zimmer hängten, auf denen die Wahrheit dargestellt sei. Er las ihr vor: Peter Altenberg, kleine Geschichten von kleinen Mädchen, die zwischen liebestollen Tulpenbeeten Reifen werfen und Augen besitzen, die so hell-süß unschuldig sind wie Marons glacés; und Clarisse wußte von diesem Augenblick an, daß ihre schlanken Beine, die ihr noch kindisch vorgekommen waren, ebensoviel bedeuteten wie ein Scherzo von »ich weiß nicht wem«.
Sie lebten gerade alle in einem Sommerquartier, ein großer Kreis, mehrere Familien aus der Bekanntschaft hatten Villen an einem See gemietet, und alle Schlafzimmer waren doppelt besetzt mit Freunden und Freundinnen, die man eingeladen hatte. Clarisse schlief mit Marion, und um elf Uhr kam manchmal Dr. Meingast auf einer heimlichen Mondscheinrunde zu ihnen ins Zimmer, um zu plaudern, der jetzt in der Schweiz ein berühmter Mann war und damals den Vergnügungsmeister und Abgott aller Mütter abgab. Wie alt war sie damals? Fünfzehn oder sechzehn Jahre oder zwischen vierzehn und fünfzehn, als sein Schüler Georg Gröschl mitkam, der nur um weniges älter war als Marion und Clarisse? Und Dr. Meingast war an jenem Abend zerstreut, hielt bloß eine kurze Rede über Mondstrahlen, empfindungslos schlafende Eltern und neue Menschen, verschwand plötzlich und schien nur gekommen zu sein, um den stämmigen kleinen Georg, der sein Bewunderer war, bei den Mädchen zurückzulassen. Georg sagte nun nichts, fühlte sich wahrscheinlich eingeschüchtert, und die beiden Mädchen, die bis dahin Meingast geantwortet hatten, schwiegen auch. Aber dann biß wohl Georg im Dunkel die Zähne zusammen und trat an Marions Bett. Das Zimmer war von außen ein wenig erleuchtet, aber in den Ecken, wo die Betten standen, ragten undurchdringliche Schattenmassen, und Clarisse konnte nicht ausnehmen, was geschah; sie gewahrte nur, daß Georg aufrecht neben dem Bett zu stehen schien und auf Marion hinabsah, jedoch kehrte er Clarisse den Rücken zu, und Marion gab keinen Laut von sich, so als wäre sie nicht im Zimmer. Das dauerte sehr lange. Schließlich aber löste sich, während Marion sich so wenig wie vorher regte, Georg wie ein Mörder aus dem Schatten los, wurde in der mondhellen Zimmermitte einen Augenblick lang an Schulter und Seite bleich sichtbar und kam zu Clarisse, die sich rasch wieder niedergelegt und die Decke bis ans Kinn gezogen hatte. Sie wußte, nun würde sich das Heimliche wiederholen, das bei Marion geschehen war, und war starr vor Erwartung, indes Georg stumm neben ihrem Bett stand und, wie es ihr schien, die Lippen unheimlich fest aufeinander preßte. Endlich kam seine Hand, wie eine Schlange, und machte sich an Clarisse zu schaffen. Was er sonst tat, blieb ihr unklar; sie hatte keine Vorstellung davon und konnte das wenige, was sie trotz ihrer Erregung von seinen Bewegungen wahrnahm, nicht zusammenreimen. Sie selbst empfand da gar keine Wollust, die kam erst später, im Augenblick war nur eine starke, namenlose, ängstliche Aufregung vorhanden; sie verhielt sich still wie ein zitternder Stein in einer Brücke, über die endlos langsam ein schweres Fuhrwerk rollt, vermochte nichts zu sagen und ließ alles mit sich geschehen. Nachdem Georg sie losgelassen hatte, verschwand er ohne Abschied, und keine der beiden Schwestern wußte sicher, ob der anderen das gleiche widerfahren war wie ihr selbst; sie hatten einander ebensowenig zu Hilfe gerufen wie zur Teilnahme eingeladen, und es vergingen Jahre, ehe sie das erste Wort über den Vorfall wechselten.
Clarisse hatte wieder ihren Apfel gefunden, benagte ihn und zerkaute kleine Stückchen. Georg hatte sich nie verraten oder zu dem Geschehenen bekannt, außer daß er vielleicht in der allerersten Zeit hie und da steinern bedeutungsvolle Augen machte; er war heute ein aussichtsvoller und eleganter Regierungsjurist, und Marion war verheiratet. Mit Dr. Meingast aber war mehr vor sich gegangen; er hatte den Zyniker abgelegt, als er ins Ausland ging, wurde, was man außerhalb der Universitäten einen berühmten Philosophen nennt, hielt beständig eine Schar von Schülern und Schülerinnen um sich versammelt und hatte Walter und Clarisse vor kurzem einen Brief geschrieben, worin er ankündigte, daß er demnächst die Heimat besuchen wolle, um dort eine Weile ungestört von seinen Anhängern arbeiten zu können; er hatte auch angefragt, ob sie ihn bei sich aufzunehmen vermöchten, da er gehört habe, daß sie »an der Grenze von Natur und Großstadt« lebten. Und vielleicht war das überhaupt der Ursprung aller Wege, die Clarissens Gedanken an diesem Tage gingen. »O Gott, war jene Zeit sonderbar!« dachte sie. Und nun wußte sie auch das: es war der Sommer vor dem Sommer mit Lucy gewesen. Meingast küßte sie damals, wann es ihm beliebte. »Sie erlauben, daß ich Sie jetzt küsse!« sagte er höflich, ehe er es tat, und er küßte auch alle ihre Freundinnen, und Clarisse wußte sogar von einer, deren Rock sie seither nicht anschauen konnte, ohne an scheinheilig niedergeschlagene Augen denken zu müssen. Meingast hatte es ihr selbst erzählt, und Clarisse – sie war damals doch erst fünfzehn Jahre alt gewesen! – sagte zu dem völlig erwachsenen Dr. Meingast, wenn er ihr seine Abenteuer mit ihren Freundinnen berichtete: »Sie sind ein Schwein!« Es bereitete ihr ein Vergnügen, das wie Stiefel und Sporn war, dieses niedrige Wort zu gebrauchen und ihn zu beschimpfen; aber sie hatte trotzdem Angst davor, daß sie am Ende auch nicht widerstehen könnte, und wenn er sie um einen Kuß bat, getraute sie sich nicht zu widersprechen, weil sie sich fürchtete, einen blöden Eindruck zu machen.
Als ihr aber Walter zum erstenmal einen Kuß gab, sagte sie sehr ernst: »Ich habe Mama versprochen, so etwas nie zu tun.« Das war eben der Unterschied; Walter sprach so schön wie das Evangelium, und er sprach sehr viel, Kunst und Philosophie umgaben ihn wie eine weite Wolkenschar den Mond. Er las ihr vor. Aber in der Hauptsache sah er sie bloß immerzu an, sie unter allen ihren Freundinnen, darin bestand anfangs ihre Beziehung, und das war eben so, wie wenn der Mond herschaut, man faltet die Hände. Wirklich ging ihre Beziehung zueinander dann auch durch Händedrücke weiter; stille Händedrücke, jetzt ohne Worte, in denen eine einzigartig bindende Kraft lag. Clarisse fühlte ihren ganzen Körper gereinigt durch seine Hand; gab er ihr diese einmal zerstreut und kühl, so war sie unglücklich. »Du weißt nicht, was ich daran hab!« bat sie ihn. Sie sagten sich doch schon heimlich Du, damals. Er entwickelte in ihr das Verständnis für Berge und Käfer, während sie bisher in der Natur nur eine Landschaft gesehen hatte, die Papa oder einer seiner Kollegen malte und verkaufte. Ihre Kritik an der Familie war urplötzlich erwacht; sie fühlte sich neu und anders. Nun erinnerte sich Clarisse auch genau, wie sich die Sache mit dem Scherzo verhielt: »Ihre Beine, Fräulein Clarisse,« sagte Walter »haben mit wirklicher Kunst mehr zu tun als alle Bilder, die Ihr Papa malt!« Es gab ein Klavier in der Sommerfrische, und sie spielten vierhändig. Clarisse lernte von ihm; sie wollte über ihre Freundinnen und ihre Familie hinauskommen; niemand begriff, wie man an schönen Sommertagen Klavier spielen könne, statt zu rudern oder ins Bad zu kommen, sie aber hatte ihre Hoffnung an Walter geknüpft, sie hatte sich sofort und schon damals vorgenommen, »Sein Weib« zu werden, ihn zu heiraten, und wenn er sie wegen eines Spielfehlers anherrschte, so kochte alles in ihr, doch die Lust überwog. Und Walter herrschte sie wirklich manchmal an, denn der Geist kennt keine Zugeständnisse; aber nur am Klavier. Außerhalb der Musik kam es noch vor, daß sie von Meingast geküßt wurde, und bei einer Mondscheinfahrt, wo Walter ruderte, legte sie ganz aus eigenem ihren Kopf an Meingasts Brust, der neben ihr am Steuerplatz saß. Meingast war unheimlich geschickt in solchen Dingen, sie wußte nicht, was daraus werden sollte; als Walter sie dagegen das zweitemal, nach der Klavierstunde, im letzten Augenblick, als sie schon in der Tür standen, von hinten faßte und abküßte, hatte sie nur das ganz unangenehme Empfinden, keine Luft zu bekommen, und entwand sich ihm ungestüm; trotzdem stand es in ihr fest, was immer mit dem anderen noch kommen möge, diesen dürfe sie nicht loslassen!
Es geht ja sonderbar zu in solchen Dingen; Dr. Meingasts Atem hatte etwas, worin der Widerstand schmolz, etwas wie reine leichte Luft, in der man sich glücklich fühlt, ohne sie zu merken, wogegen Walter, der immer, wie Clarisse längst wußte, an zögernder Verdauung litt, genau so, wie seine Entschlüsse zögernd waren, auch etwas Gestocktes im Atem hatte, teils war dieser zu heiß, teils brandig und lähmend. Solches Körperlich-Geistige hatte von Anfang an seltsam mitgespielt, und Clarisse wunderte sich auch gar nicht darüber, denn nichts erschien gerade ihr natürlicher als dieses, was Nietzsche sagt, daß der Körper eines Menschen seine Seele ist. Ihre Beine hatten nicht mehr Genie als ihr Kopf, sie hatten genau das gleiche, sie waren es selbst; ihre Hand, von Walter berührt, setzte augenblicklich einen Strom von Vorsätzen und Versicherungen in Bewegung, der vom Scheitel bis zur Sohle floß, aber keine Worte mit sich führte; und ihre Jugend, sobald sie nur einmal zum Selbstbewußtsein geführt worden war, lehnte sich gegen die Überzeugungen und anderen Torheiten ihrer Eltern einfach mit der Frische eines harten Körpers auf, der alle Gefühle verachtet, die im entferntesten an üppige Ehebetten und türkische Prunkteppiche erinnern, wie sie bei der sittenstrengen Vorgeneration so beliebt waren. Und darum spielte das Körperliche auch weiterhin eine Rolle, die sie anders ansah, als es andere vielleicht tun werden. Aber hier gebot Clarisse ihren Erinnerungen halt; oder eigentlich war es nicht ganz so, vielmehr setzten sie ihre Erinnerungen mit einemmal und ganz ohne Landungsstoß wieder in der Gegenwart ab. Denn alles das und was noch folgte, hatte sie ihrem Freund ohne Eigenschaften mitteilen wollen. Vielleicht nahm Meingast augenblicklich einen zu großen Raum darin ein, denn er war ja bald nach jenem bewegten Sommer verschwunden, in die Fremde geflüchtet, jene ungeheure Verwandlung hatte in ihm begonnen, die aus dem leichtfertigen Lebemann einen berühmten Denker machte, und Clarisse hatte ihn seither nur flüchtig wiedergesehen, ohne daß sie dabei der Vergangenheit gedachten. Aber wie sie es bei sich betrachtete, war ihr der Anteil klar, den sie an seiner Verwandlung hatte. Es war noch viel zwischen ihr und ihm in den Wochen vor seinem Verschwinden geschehn; ohne Walter und unter eifersüchtiger Teilnahme Walters, Walter verdrängend, Walter anspornend und hochtreibend, geistige Gewitter, noch verrücktere Stunden, wie sie vor einem Gewitter Mann und Frau von Sinnen bringen, und ausgetobte Stunden, die alle Leidenschaft ausgeschieden haben und wie Wiesengrün nach Regen in der reinen Luft der Freundschaft liegen. Clarisse hatte mancherlei über sich ergehen lassen müssen und nicht ungern ergehen lassen, aber das neugierige Kind hatte sich in seiner Art hinterdrein gewehrt, indem es dem zügellosen Freund seine Meinung sagte, und weil Meingast schon in der letzten Zeit, ehe er fortging, freundschaftlich ernster geworden war, fast edel- und schwermütig im Wettkampf mit Walter, war sie heute fest davon überzeugt, daß sie alles, was sein Wesen trübte, ehe er in die Schweiz ging, auf sich gezogen und es ihm dadurch ermöglicht hatte, sich so unerwartet zu verwandeln. In dieser Auffassung wurde sie durch das bestärkt, was sich anschließend zwischen ihr und Walter vollzogen hatte; Clarisse konnte diese lange vergangenen Jahre und Monate nicht mehr genau auseinanderhalten, aber es war schließlich auch gleich, wann das eine oder das andere geschehen war, im ganzen war nach der widerstrebensvollen Annäherung an Walter dann eine schwärmerische Zeit, mit Spaziergängen und Geständnissen und geistiger Besitzergreifung gekommen, die zugleich von jenen unzähligen kleinen, unendlich qualseligen Ausschweifungen ausgefüllt war, zu denen zwei Liebende hingerissen werden, denen noch ebensoviel zum ganz entschlossenen Mut fehlt, wie ihnen von der Keuschheit schon abhanden gekommen ist. Das war nicht anders, als ob ihnen Meingast seine Sünden zurückgelassen hätte, damit sie in einem höheren Sinn noch einmal durchlebt und bis zum höchsten Sinn zerlebt würden, und sie faßten es beide so auf. Und heute, wo Clarisse sich so wenig aus Walters Liebe machte, daß sie oft von ihr angewidert wurde, sah sie es noch deutlicher, daß der Rausch des Liebesdurstes, der sie in solchem Ausmaß toll gemacht hatte, nichts gewesen sein konnte als eine Inkarnation, was, wie sie wußte, Einfleischung hieß, von etwas Unfleischlichem, einem Sinn, einer Aufgabe, einem Schicksal, wie sie für Auserwählte zwischen den Sternen vorbereitet werden.
Sie schämte sich nicht, sie hätte eher weinen mögen, wenn sie Damals und Jetzt verglich; aber Clarisse konnte auch niemals weinen, sondern sie preßte die Lippen aufeinander, und es wurde etwas daraus, das ihrem Lächeln ähnlich sah. Ihr Arm, geküßt bis zur Achselhöhle, ihr Bein, bewacht von dem Auge des Teufels, ihr biegsamer Leib, tausendfach gedreht vom Verschmachten des Geliebten und wie ein Seil sich zurückdrehend, bewahrten das wunderbare Begleitgefühl der Liebe: in allen Gebärden, die man tut, von geheimnisvoller Wichtigkeit zu sein. Clarisse saß da und kam sich wie eine Schauspielerin in der Pause vor. Allerdings wußte sie nicht, was kommen sollte; aber sie war überzeugt, daß es die unendliche Aufgabe aller Liebenden sei, sich als das zu erhalten, was man für einander in den höchsten Augenblicken gewesen ist. Und ihr Arm war da, ihre Beine waren da, ihr Kopf saß auf dem Leib, mit einer unheimlichen Bereitschaft, als erster das Zeichen wahrzunehmen, das nicht ausbleiben konnte. Es ist vielleicht schwer zu begreifen, was Clarisse meinte, aber ihr bereitete es keine Mühe. Sie hat einen Brief an den Grafen Leinsdorf geschrieben, mit der Forderung eines Nietzsche-Jahrs und zugleich der Befreiung des Frauenmörders und vielleicht seiner öffentlichen Ausstellung, zur Erinnerung an die Passionswege derer, die die verstreuten Sünden aller auf sich vereinigen müssen; und nun weiß sie auch, warum sie es getan hat. Man muß das erste Wort sprechen. Wahrscheinlich hat sie sich nicht gut ausgedrückt, aber das tut nichts;
die Hauptsache ist, daß man beginnt und mit dem Dulden und Gewährenlassen Schluß macht. Es ist historisch bewiesen, daß die Welt von Zeit zu Zeit – dahinter klang das Wort »Aeon zu Aeon«, wie zwei Glocken, die man nicht sieht, obgleich sie nahe sind – solcher Menschen bedarf, die nicht mitwirken und mitlügen können und dadurch unliebsames Aufsehen erregen. Soweit war die Sache klar.
Und es ist auch klar, daß Menschen, die unliebsames Aufsehen erregen, den Druck der Welt zu spüren bekommen. Clarisse weiß, daß die großen aus der Menschheit hervorgegangenen Genies fast immer zu leiden hatten, und sie wundert sich nicht darüber, daß manche Tage und Wochen in ihrem Leben unter einem bleiernen Druck stehen, so als ob eine schwere Platte darüberhin gezogen würde; aber es ging noch jedesmal vorbei, und alle Menschen sind so, die Kirche hat in ihrer Weisheit sogar Trauerzeiten eingeführt, um die Trauer zusammenzuziehn und zu verhindern, daß halbe Jahrhunderte von Mutlosigkeit und Gefühllosigkeit überflutet werden, was auch schon vorgekommen ist. Schwieriger sind in Clarissens Leben gewisse andere Augenblicke zu behandeln, allzu befreite und gegendrucklose, wo manchmal ein Wort genügt, um sie gleichsam aus den Schienen springen zu machen; sie ist dann außer sich, sie kann nicht angeben, wo; aber keineswegs ist sie abwesend, im Gegenteil, man könnte eher sagen, sie sei inwesend, in einem tieferen Raum, der in einer den gewöhnlichen Vorstellungen unfaßbaren Weise in dem Raum steckt, den ihr Körper in der Welt einnimmt; aber wozu Worte für etwas suchen, das nicht an der Straße der Worte liegt, sie landet nach einer Weile ohnedies wieder bei den anderen und ist nur noch ein wenig hell gekitzelt im Kopf, so wie nach Nasenbluten. Clarisse versteht, daß das gefährliche Augenblicke sind, die sie manchmal erlebt. Es sind offenbar Vorbereitungen und Proben. Sie besaß ohnehin die Gewohnheit, mehreres zugleich zu denken, so wie sich ein Fächer auf- und zuschiebt, und eines halb neben, halb unter dem anderen ist, und wenn das zu verwirrt wird, ist das Bedürfnis begreiflich, daß man mit einem Ruck hinausschlüpfen möchte; das hätten viele Leute, nur treffen sie es eben nicht.
Clarisse erlebt also Vorbereitungen und Vorboten so, wie andere Leute sich etwas auf ihr Gedächtnis oder ihre eiserne Verdauung zugute tun; sie könnten Glassplitter essen, sagen sie. Clarisse hat aber schon einigemal bewiesen, daß sie wirklich etwas auf sich nehmen kann; ihre Kraft hat sich an ihrem Vater gezeigt, an Meingast, an Georg Gröschl, und mit Walter waren noch Anstrengungen nötig, da waren die Dinge, wenn auch stockend, noch in Fluß; aber Clarisse hatte seit einiger Zeit die Absicht, ihre Kraft an dem Mann ohne Eigenschaften zu beweisen. Sie hätte nicht genau angeben können, seit wann; es hing mit diesem Namen zusammen, den Walter aufgebracht und Ulrich gebilligt hatte; vorher, das mußte sie sagen, in den früheren Jahren, hatte sie ihm nie ernste Beachtung geschenkt, wenn sie auch ganz gute Freunde waren. Aber »Mann ohne Eigenschaften«, das erinnerte sie zum Beispiel an Klavierspielen, das heißt an alle diese Melancholien, Freudensprünge, Zornausbrüche, die man dabei durchrast, ohne daß es doch ganz wirkliche Leidenschaften wären. Damit fühlte sie sich verwandt. Von da ging es ganz ohne Umwege zu der Behauptung, daß man sich alles zu tun weigern müsse, was nicht mit ganzer Seele geschieht, und damit war sie mitten in der aufgewühlten tiefen Wirklichkeit ihrer Ehe. Ein Mann ohne Eigenschaften sagt nicht Nein zum Leben, er sagt Noch nicht! und spart sich auf; das hatte sie mit dem ganzen Körper verstanden. Vielleicht war es der Sinn aller der Augenblicke, wo sie aus sich hinaustrat, daß sie Gottesmutter werden sollte. Sie erinnerte sich an das Gesicht, das sie, es war noch keine Viertelstunde her, heimgesucht hatte. »Vielleicht kann jede Mutter Gottesmutter werden,« dachte sie »wenn sie nicht gewähren läßt, nicht lügt noch wirkt, sondern das, was zutiefst in ihr ist, als Kind außer sich bringt! Vorausgesetzt, daß sie für sich selbst nichts erreicht!« fügte sie traurig hinzu. Denn der Gedanke bereitete ihr keineswegs reine Annehmlichkeit, sondern erfüllte sie mit der zwischen Qual und Seligkeit geteilten Empfindung, für etwas geopfert zu werden. War jedoch ihre Vision so gewesen, wie wenn in den Zweigen eines Baumes zwischen Blättern, die mit einemmal wie Kerzen flackern, ein Bild hervorträte, während gleich nachher das Holz wieder zusammenschlug, so blieb jetzt ihre Stimmung andauernd verändert. Ein Zufall schenkte ihr im nächsten Augenblick die für jeden anderen Menschen bedeutungslose Entdeckung, daß das Wort Mutter in dem Wort Muttermal enthalten sei; für sie bedeutete das so viel, als ob ihr Schicksal plötzlich in den Sternen geschrieben stünde. Der wundervolle Gedanke, daß die Frau den Mann sowohl als Mutter wie als Geliebte in sich aufnehmen müsse, machte sie weich und aufgeregt. Sie wußte nicht, wie er dahergekommen sei, aber er schmolz ihre Widerstände und gab ihr doch Macht.
Aber sie traute dem Mann ohne Eigenschaften noch keineswegs. Er meinte vieles nicht so, wie er es sagte. Wenn er behauptete, daß man seine Gedanken nicht ausführen könne oder daß er nichts ganz ernst nehme, so war das nur ein Versteck, das verstand sie deutlich; sie hatten einander ausgewittert und erkannten sich an Zeichen, während Walter meinte, Clarisse sei zuweilen verrückt! Und doch war in Ulrich etwas bitter Böses, teuflisch dem Schlendergang der Welt Anhängendes. Man mußte ihn lösen. Sie mußte ihn holen.
Sie hatte zu Walter gesagt: Töte ihn. Es hatte nicht viel bedeutet, sie hatte nicht recht gewußt, was sie damit meinte; aber es hieß soviel wie, es müsse etwas getan werden, um ihn aus sich herauszureißen, und man dürfe vor nichts haltmachen.
Sie mußte mit ihm ringen.
Sie lachte, sie rieb ihre Nase. Sie ging im Dunkel hin und her. Es mußte mit der Parallelaktion etwas geschehen. Was, wußte sie nicht.

Der Zug der Zeit ist ein Zug, der seine Schienen vor sich her rollt. Der Fluß der Zeit ist ein Fluß, der seine Ufer mitführt. Der Mitreisende bewegt sich zwischen festen Wänden auf festem Boden; aber Boden und Wände werden von den Bewegungen der Reisenden unmerklich auf das lebhafteste mitbewegt. Es war ein unschätzbares Glück für Clarissens Seelenruhe, daß unter ihren Gedanken dieser noch nicht vorgekommen war.
Aber auch Graf Leinsdorf war gegen ihn geschützt. Er war gegen ihn durch die Überzeugung geschützt, daß er Realpolitik mache.
Die Tage schaukelten und bildeten Wochen. Die Wochen blieben nicht stehn, sondern verkränzten sich. Es geschah unaufhörlich etwas. Und wenn unaufhörlich etwas geschieht, hat man leicht den Eindruck, daß man etwas Reales bewirkt. So sollten die Prunkgemächer des Leinsdorfschen Palais dem Publikum bei einem großen Fest zugunsten lungenleidender Kinder geöffnet werden, und diesem Ereignis liefen eingehende Unterredungen zwischen Sr. Erlaucht und deren Hausverwalter voraus, in denen bestimmte Tage genannt wurden, an denen bestimmte Leistungen vollzogen sein mußten. Die Polizei veranstaltete in der gleichen Zeit eine Jubiläumsausstellung, zu deren Eröffnung die ganze Gesellschaft erschien, und der Polizeipräsident hatte persönlich bei Sr. Erlaucht vorgesprochen, um ihm die Einladung zu überbringen, und als Graf Leinsdorf eintraf und empfangen wurde, erkannte der Polizeipräsident den »freiwilligen Helfer und Ehrensekretär« an seiner Seite, der mit ihm überflüssigerweise noch einmal bekannt gemacht wurde, was dem Präsidenten Gelegenheit gab, sein sagenhaftes Personengedächtnis zu zeigen, denn er stand im Ruf, jeden zehnten Staatsbürger persönlich zu kennen oder mindestens über ihn unterrichtet zu sein. Auch Diotima kam in Begleitung ihres Gemahls, und alle, die erschienen waren, warteten auf ein Mitglied des Kaiserhauses, dem ein Teil von ihnen vorgestellt wurde, und es gab nur eine Stimme, daß die Ausstellung sehr gelungen und fesselnd sei. Sie bestand aus dem innigen Ineinander von Bildern, die an den Wänden hingen, und Erinnerungsgegenständen an große Verbrechen, die in Glasschränken und -pulten aufgestellt waren. Zu diesen gehörten Einbruchsgerät, Fälscherwerkstätten, verlorene Knöpfe, die auf Spuren geführt hatten, und das tragische Werkzeug bekannter Mörder samt den dazugehörigen Legenden, während die Bilder an den Wänden, im Gegensatz zu diesem Schreckensarsenal, erbauliche Vorwürfe aus dem Leben der Polizei darstellten. Da waren der brave Wachmann zu sehen, der das alte Mütterchen über die Straße geleitet, der ernste Wachmann vor der vom Fluß angeschwemmten Leiche, der tapfere Wachmann, der sich scheuenden Pferden in die Zügel wirft, eine »Allegorie der Sicherheitsbehörde als Hüterin der Stadt«, das verirrte Kind zwischen den mütterlichen Schutzleuten auf der Wachstube, der brennende Wachmann, der auf seinen Armen ein Mädchen aus Feuersnot trägt, und dann noch viele solche Bilder wie »Erste Hilfe«, »Auf einsamem Posten«, nebst den Photographien wackerer Schutzleute, bis auf das Dienstjahr 1869 zurück, den Beschreibungen ihrer Lebensläufe und eingerahmten Gedichten, die das Wirken der Polizei oder einzelner ihrer Funktionäre verherrlichten. Ihr höchster Vorgesetzter, der Chef jenes Ministeriums, das in Kakanien den psychologischen Titel »für innere Angelegenheiten« führte, wies in seiner Eröffnungsansprache auf diese Darstellungen hin, die den Geist der Polizei als etwas wahrhaft Volkstümliches zeigten, und nannte die Bewunderung für solchen Geist der Hilfsbereitschaft und Strenge einen Jungbrunnen der Moral, in einer Zeit, wo Kunst und Leben nur zu sehr zum feigen Kultus sinnlicher Sorglosigkeit neigen. Diotima, die neben Graf Leinsdorf stand, fühlte sich in ihren Bestrebungen zur Förderung moderner Kunst beunruhigt und verwandte Sorgfalt darauf, mit einem sanften, aber unnachgiebigen Gesicht in die Luft zu blicken, um dieses verbindliche Element fühlen zu lassen, daß es in Kakanien auch andere Köpfe gebe als den dieses Ministers. Und ihr Vetter, der sie während der Rede mit den achtbaren Gedanken eines Ehrensekretärs der Parallelaktion aus einiger Entfernung beobachtete, fühlte plötzlich in der dichtgedrängten Menge eine vorsichtig leichte Hand auf seinem Arm ruhen und erkannte zu seiner Überraschung Bonadea an seiner Seite, die mit ihrem Gatten, dem hohen Gerichtsbeamten, zu der Eröffnung gekommen war und den Augenblick, wo sich alle Hälse dem Minister und dem vor ihm stehenden Erzherzog zuwandten, benutzte, um sich ihrem ungetreuen Freund zu nähern. Diesem kühnen Angriff war langes Planen vorangegangen; unglücklich getroffen durch die Abwendung ihres Geliebten, in einem Augenblick, wo sie von dem schwermütigen Bedürfnis erfaßt worden war, die flatterhafte Fahne ihrer Lust, bildlich gesprochen, auch am freien Ende festzubinden, hatte sich ihr Denken in den letzten Wochen nur mit seiner Wiedergewinnung beschäftigt. Er wich ihr aus, und Aussprachen, gewaltsam erzwungen, setzten sie nur in den Nachteil des Verlangenden gegenüber dem, der lieber allein bleiben möchte; so hatte sie sich vorgenommen, ihren Eintritt in den Kreis zu erzwingen, wo ihr Geliebter täglich verkehrte, und aufgehoben in dieser Absicht war die zweite, die fachlichen Beziehungen, die ihr Gatte zu dem scheußlichen Mörder Moosbrugger hatte, und die Absicht ihres Freundes, das Schicksal dieses Mörders auf irgendeine Weise zu erleichtern, für sich, zur inneren Anknüpfung nach beiden Seiten, zu benutzen. Sie hatte darum ihrem Gemahl zuletzt nicht wenig mit der Anteilnahme zugesetzt, die einflußreiche Kreise an der Fürsorge für kriminelle Geisteskranke nähmen, und als die Schaffung der Polizeiausstellung und deren festliche Eröffnung bekannt wurde, ihn bewogen, sie dahin mitzunehmen, denn ihr Instinkt sagte ihr, daß dies die lange gesuchte Wohltätigkeitsveranstaltung sei, bei der sie Diotima kennenlernen werde. Als der Minister seine Ansprache geschlossen hatte und die Gesellschaft sich in Umlauf setzte, wich sie nicht von der Seite ihres bestürzten Geliebten und begann in seiner Begleitung die fürchterlichen blutbefleckten Werkzeuge zu besichtigen, trotz ihres fast unüberwindlichen Abscheus vor ihnen. »Du hast gesagt, daß man das alles verhindern könnte, wenn man nur wollte« lispelte sie und erinnerte ihn damit wie ein gutes Kind, das seine Aufmerksamkeit zeigen will, an ihre letzte eingehendere Aussprache über diesen Gegenstand. Etwas später lächelte sie, ließ sich vom Gedränge eng an ihn heben und benutzte diesen Augenblick, um ihm zuzuflüstern: »Du hast einmal gesagt, daß jeder Mensch unter den richtigen Umständen zu jeder Schwäche fähig ist!« Ulrich sah sich durch diese nachdrückliche Art, neben ihm zu gehen, in große Verlegenheit gebracht, und weil seine Geliebte trotz der Ablenkungsversuche, an denen er es nicht fehlen ließ, auf Diotimas Nähe hinsteuerte und er ihr nicht gut vor allen Leuten auch noch ernsthafte Vorhaltungen dagegen machen konnte, wußte er, daß ihm an diesem Tag nichts anderes übrigbleiben werde, als die Bekanntschaft zwischen den beiden Frauen zu stiften, der er sich bisher widersetzt hatte. Sie standen schon dicht neben einer Gruppe, deren Mittelpunkt Diotima und Se. Erlaucht waren, als Bonadea ganz laut vor einer der Vitrinen ausrief: »Sehen Sie doch, da liegt Moosbruggers Messer!« In der Tat, es lag da, und Bonadea sah es begeistert an, so als ob sie in einer Lade Großmamas ersten Kotillonorden entdeckt hätte; da entschloß sich ihr Freund hastig und bat unter einem schicklichen Vorwand seine Kusine um die Gunst, sie mit einer Dame bekannt machen zu dürfen, die sich das wünsche und ihm als eine leidenschaftliche Verehrerin aller guten, wahren und schönen Bestrebungen bekannt sei.
Man konnte also nicht gerade sagen, daß im Schaukeln der Tage und Wochen wenig vor sich ging, und die Polizeiausstellung, mitsamt allem, was sich an sie knüpfte, war ja eigentlich das wenigste davon.   In England zum Beispiel hatte man etwas weit Großartigeres, wovon man sich hier in der Gesellschaft viel erzählte; ein Puppenhaus, das der Königin geschenkt worden, von einem berühmten Architekten erbaut, mit einem Speisesaal von einem Meter Länge, worin Miniaturporträts von berühmten modernen Malern hingen, Stuben, in denen warmes und kaltes Wasser aus Hähnen floß, und einer Bibliothek, mit einem kleinen Buch, das ganz aus Gold war, worein die Königin die Photographien der königlichen Familie klebte, einem mikroskopisch gedruckten Eisenbahn- und Schiffskursbuch und an die zweihundert winzigen Bändchen, in die berühmte Autoren mit eigener Hand Gedichte und Geschichten für die Königin geschrieben hatten. Diotima besaß das zweibändige englische, soeben erschienene Prachtwerk darüber, das alles Sehenswerte in kostbaren Abbildungen wiedergab, und sie verdankte dieser Ausgabe eine verstärkte Beteiligung der höchsten Gesellschaftskreise an ihrem Salon. Aber auch sonst ereignete sich unaufhörlich allerlei, wofür man nicht schnell die Worte fand, so daß es wie ein Trommelwirbel in der Seele einem Etwas voranging, das hinter der Ecke noch nicht sichtbar war. Da streikten kaiserlich königliche Telegraphenbeamte zum erstenmal und auf eine außerordentlich beunruhigende Weise, die den Namen Passive Resistenz bekam und aus nichts anderem bestand, als daß sie alle ihre dienstlichen Vorschriften mit dem pünktlichsten Gewissen beobachteten; es zeigte sich, daß die genaue Befolgung des Gesetzes rascher alle Arbeit zum Stillstand brachte, als es die zügelloseste Anarchie vermocht hätte. Gemeinsam mit dem Hauptmann von Köpenick in Preußen, der sich, wie heute noch erinnerlich, durch eine beim Trödler gekaufte Uniform zum Offizier gemacht hatte, auf der Straße eine Patrouille anhielt und mit ihrer und des königlich preußischen Gehorsams Hilfe eine städtische Kasse aushob, war die passive Resistenz etwas, das den Mund kitzelte, aber zugleich in unterirdischer Weise die Ideen ins Schwanken brachte, auf die sich die Mißbilligung stützte, die man aussprechen wollte. Man las gleichzeitig unter den Neuigkeiten, daß die Regierung Sr. Majestät mit der Regierung einer anderen Majestät einen Vertrag eingegangen sei, der Sicherung des Friedens, wirtschaftliche Hebung, herzliche Zusammenarbeit und Achtung vor den Rechten aller zum Inhalt habe, aber auch Maßnahmen für den Fall, daß diese bedroht seien oder bedroht werden könnten. Sektionschef Tuzzis vorgesetzter Minister hatte wenige Tage darauf eine Rede gehalten, worin er die dringende Notwendigkeit eines engen Zusammenhaltens der drei kontinentalen Kaiserreiche bewies, die an der modernen sozialen Entwicklung nicht vorbeisehen dürften, sondern im gemeinsamen Interesse der Dynastien gegen soziale Neubildungen Front machen müßten; Italien war in ein bewaffnetes Unternehmen in Libyen verwickelt; Deutschland und England hatten eine Bagdadfrage; Kakanien traf im Süden gewisse militärische Vorbereitungen, um der Welt zu zeigen, daß es Serbiens Ausdehnung ans Meer nicht erlauben, sondern nur eine Eisenbahnverbindung gestatten werde; und ebenbürtig mit allen Ereignissen von solcher Art, gestand die weltberühmte schwedische Schauspielerin Fräulein Vogelsang, daß sie noch nie so gut geschlafen habe wie diese erste Nacht nach ihrem Eintreffen in Kakanien und sich über den Schutzmann gefreut habe, der sie vor der Begeisterung der Menge rettete, aber dann selbst um die Erlaubnis bat, ihre Hand mit seinen beiden Händen dankbar drücken zu dürfen. Damit wären also die Gedanken wieder bei der Polizeiausstellung angelangt. Es geschah viel, und man merkte es auch. Man fand es gut, wenn man es selbst tat, und war bedenklich, wenn es andere taten. Im einzelnen konnte es jeder Schuljunge verstehen, aber im ganzen wußte niemand recht, was eigentlich vor sich ging, bis auf wenige Personen, und die waren nicht sicher, ob sie es wußten. Einige Zeit später hätte alles auch in geänderter oder umgekehrter Reihenfolge gekommen sein können, und man würde keinen Unterschied gefunden haben, mit Ausnahme gewisser Veränderungen, die auf die Dauer der Zeit eben unbegreiflicherweise zurückbleiben und die Schleimspuren der historischen Schnecke bilden.
Es ist verständlich, daß eine fremde Gesandtschaft unter solchen Umständen vor einer schweren Aufgabe steht, wenn sie herausbringen möchte, was eigentlich vor sich geht. Die diplomatischen Vertreter hätten ihre Klugheit gerne aus Graf Leinsdorf geschöpft, aber Se. Erlaucht bereitete ihnen Schwierigkeiten. Er fand täglich von neuem in seinem Wirken jene Befriedigung, die feste Gediegenheit zu verleihen vermag, und sein Gesicht zeigte den fremden Beobachtern die strahlende Ruhe in Ordnung fortschreitender Vorgänge. Stelle Eins schrieb, Stelle Zwei antwortete; wenn Stelle Zwei geantwortet hatte, mußte man Stelle Eins davon Mitteilung machen, und am besten war es, man regte eine mündliche Aussprache an; wenn Stelle Eins und Zwei sich geeinigt hatten, wurde festgestellt, daß nichts veranlaßt werden könne; so gab es unaufhörlich etwas zu tun. Es gab außerdem unzählig viele Nebenrücksichten zu beachten. Man arbeitete ja mit allen verschiedenen Ministerien Hand in Hand; man wollte die Kirche nicht verletzen; man mußte gewissen Personen und gesellschaftlichen Beziehungen Rechnung tragen: mit einem Wort, auch an Tagen, wo man nichts besonderes tat, durfte man so vieles nicht tun, daß man den Eindruck großer Tätigkeit hatte. Se. Erlaucht wußte das richtig zu schätzen. »Je höher ein Mann vom Schicksal gestellt wird,« pflegte er zu sagen »desto deutlicher erkennt er, daß es nur auf wenige, einfache Grundsätze, aber auf festen Willen und ein planmäßiges Tun ankommt.« Und einmal ließ er sich seinem »jungen Freund« gegenüber auch näher über diese Erfahrung aus. Er knüpfte an die deutschen Einheitsbestrebungen an und gab zu, daß zwischen Achtzehnhundertachtundvierzig und -sechsundsechzig eine Menge der gescheitesten Leute in die Politik dareingeredet hätten; »aber dann« fuhr er fort »ist dieser Bismarck gekommen, und das eine Gute hat er jedenfalls gehabt, daß er gezeigt hat, wie man Politik machen muß: Nicht mit Reden und Gescheitheit! Trotz seiner Schattenseiten hat er erreicht, daß seit seiner Zeit, so weit die deutsche Zunge reicht, jeder Mensch weiß, daß in der Politik von Gescheitheit und Reden nichts zu erhoffen ist, sondern nur von schweigender Überlegung und Tat!« Ähnliche Äußerungen tat Graf Leinsdorf auch auf dem Konzil, und die Vertreter der auswärtigen Mächte, die dort zuweilen ihre Beobachter hatten, fanden es schwer, sich von seinen Absichten ein zutreffendes Bild zu machen. Man maß der Teilnahme Arnheims Wichtigkeit bei so wie der Stellung des Sektionschefs Tuzzi und schloß im allgemeinen daraus, daß unter diesen beiden Männern und dem Grafen Leinsdorf ein geheimes Einvernehmen bestehe, dessen politisches Ziel vorläufig hinter lebhaften Ablenkungen der Aufmerksamkeit verborgen werde, die Frau Sektionschef Tuzzi durch ihre pankulturellen Bestrebungen liefere. Bedenkt man diesen Erfolg, durch den Graf Leinsdorf, ohne sich auch nur im geringsten anzustrengen, sogar gewiegte Beobachter in ihrer Neugierde täuschte, so läßt sich ihm jene realpolitische Begabung, die er zu besitzen glaubte, keineswegs absprechen.
Aber auch die Herren, die bei festlichen Anlässen goldgesticktes Laubwerk und ähnliche Bukolika auf den Fräcken tragen, hielten sich an die realpolitischen Vorurteile ihres Metiers, und da sie auf der Suche in den Hintergründen der Parallelaktion keine greiflichen Erscheinungen fanden, richteten sie bald ihr Augenmerk auf das, was die Ursache der meisten ungeklärten Erscheinungen in Kakanien war und »die nicht erlösten Nationen« genannt wurde. Man tut heute so, als ob der Nationalismus lediglich eine Erfindung der Armeelieferanten wäre, aber man sollte es auch einmal mit einer erweiterten Erklärung versuchen, und zu einer solchen lieferte Kakanien einen wichtigen Beitrag. Die Bewohner dieser kaiserlich und königlichen kaiserlich königlichen Doppelmonarchie fanden sich vor eine schwere Aufgabe gestellt; sie hatten sich als kaiserlich und königlich österreichisch-ungarische Patrioten zu fühlen, zugleich aber auch als königlich ungarische oder kaiserlich königlich österreichische. Ihr begreiflicher Wahlspruch angesichts solcher Schwierigkeiten war »Mit vereinten Kräften!« Das hieß viribus unitis. Die Österreicher brauchten aber dazu weit größere Kräfte als die Ungarn. Denn die Ungarn waren zuerst und zuletzt nur Ungarn, und bloß nebenbei galten sie bei anderen Leuten, die ihre Sprache nicht verstanden, auch für Österreich-Ungarn; die Österreicher dagegen waren zuerst und ursprünglich nichts und sollten sich nach Ansicht ihrer Oberen gleich als Österreich-Ungarn oder Österreicher-Ungarn fühlen, – es gab nicht einmal ein richtiges Wort dafür. Es gab auch Österreich nicht. Die beiden Teile Ungarn und Österreich paßten zu einander wie eine rot-weiß-grüne Jacke zu einer schwarz-gelben Hose; die Jacke war ein Stück für sich, die Hose aber war der Rest eines nicht mehr bestehenden schwarz-gelben Anzugs, der im Jahre achtzehnhundertsiebenundsechzig zertrennt worden war. Die Hose Österreich hieß seither in der amtlichen Sprache »Die im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder«, was natürlich gar nichts bedeutete und ein Name aus Namen war, denn auch diese Königreiche, zum Beispiel die ganz Shakespeareschen Königreiche Lodomerien und Illyrien gab es längst nicht mehr und hatte es schon damals nicht mehr gegeben, als noch ein ganzer schwarz-gelber Anzug vorhanden war. Fragte man darum einen Österreicher, was er sei, so konnte er natürlich nicht antworten: Ich bin einer aus den im Reichsrate vertretenen Königreichen und Ländern, die es nicht gibt, – und er zog es schon aus diesem Grunde vor, zu sagen: Ich bin ein Pole, Tscheche, Italiener, Friauler, Ladiner, Slowene, Kroate, Serbe, Slowake, Ruthene oder Wallache, und das war der sogenannte Nationalismus. Man stelle sich ein Eichhörnchen vor, das nicht weiß, ob es ein Eichhorn oder eine Eichkatze ist, ein Wesen, das keinen Begriff von sich hat, so wird man verstehn, daß es unter Umständen vor seinem eigenen Schwanz eine heillose Angst bekommen kann; in solchem Verhältnis zu einander befanden sich aber die Kakanier und betrachteten sich mit dem panischen Schreck von Gliedern, die einander mit vereinten Kräften hindern, etwas zu sein. Seit Bestehen der Erde ist noch kein Wesen an einem Sprachfehler gestorben, aber man muß wohl hinzufügen, der österreichischen und ungarischen österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie widerfuhr es trotzdem, daß sie an ihrer Unaussprechlichkeit zugrunde gegangen ist.
Es ist für den Fremden nicht ohne Wert, zu erfahren, in welcher Weise ein gewiegter und hochstehender Kakanier wie Graf Leinsdorf sich mit diesen Schwierigkeiten abfand. Er trennte zunächst in seinem wachenden Geist sorgfältig Ungarn ab, von dem er als weiser Diplomat niemals sprach, so wie man von einem Sohn, der sich gegen den Willen der Eltern selbständig gemacht hat, niemals spricht, wenn man auch hofft, daß es ihm noch einmal schlecht gehen werde; das Übrigbleibende aber bezeichnete er als die Nationalitäten oder auch als die österreichischen Stämme. Es war das eine sehr feinsinnige Erfindung. Se. Erlaucht hatte Staatsrecht studiert und dort als eine ziemlich über die ganze Welt verbreitete Definition gefunden, daß ein Volk nur dann Anspruch habe, für eine Nation zu gelten, wenn es eine eigene Staatsform besitze, und daraus folgte für ihn, daß die kakanischen Nationen eben höchstens Nationalitäten seien. Andererseits wußte Graf Leinsdorf, daß der Mensch erst in dem ihm übergeordneten Gemeinschaftsleben einer Nation seine volle und wahre Bestimmung finden könne, und weil er das niemand vorenthalten wissen wollte, schloß er daraus auf die Notwendigkeit, den Nationalitäten und Stämmen einen Staat überzuordnen. Er glaubte überdies an eine göttliche Ordnung, wenn diese auch für das menschliche Auge nicht jederzeit durchsichtig sei, und in den revolutionär modernen Stunden, die er manchmal hatte, war er sogar zu dem Gedanken imstande, daß die in der Neuzeit so sehr bekräftigte Idee des Staats vielleicht nichts anderes sein könnte als die von Gott eingesetzte Idee der Majestät, in einer eben erst beginnenden verjüngten Erscheinungsform. Wie dem immer sei – als Realpolitiker lehnte er zu weit getriebenes Denken ab und würde sich auch mit Diotimas Auffassung abgefunden haben, daß die Idee des kakanischen Staats die gleiche sei wie die des Weltfriedens –, die Hauptsache war, daß es einen kakanischen Staat nun einmal gab, wenn auch ohne richtigen Namen, und daß ein kakanisches Staatsvolk dazu erfunden werden mußte. Er pflegte das durch das Beispiel zu verdeutlichen, daß niemand ein Schüler sei, der nicht in eine Schule gehe, daß die Schule aber eine Schule bleibe, auch wenn sie leer stehe. Je mehr sich die Völkerschaften gegen die kakanische Schule sträubten, die aus ihnen ein Volk machen sollte, desto notwendiger erschien ihm gegebenermaßen die Schule. Sie betonten kräftig, daß sie Nationen seien, verlangten verlorengegangene historische Rechte zurück, liebäugelten mit Stammesbrüdern und -verwandten jenseits der Grenzen und nannten das Reich ganz öffentlich ein Gefängnis, aus dem sie erlöst sein wollten. Graf Leinsdorf dagegen nannte sie desto beschwichtigender Stämme; er betonte ebenso sehr wie sie selbst das Unfertige ihres Zustandes, nur wollte er ihn ergänzen, indem er aus den Stämmen das österreichische Staatsvolk erzeugte, und was nicht zu seinem Plan paßte oder gar zu aufgewiegelt war, erklärte er sich in der an ihm schon bekannten Weise als Folgen noch nicht überwundener Unreife und hielt dafür, daß gegen solches am besten eine weise Mischung aus kluger Nachgiebigkeit und strafender Milde anzuwenden sei.
Als Graf Leinsdorf die Parallelaktion ins Leben rief, galt diese darum bei den Nationalitäten sofort als ein geheimnisvoller pangermanischer Anschlag, und die Anteilnahme, die Se. Erlaucht der Polizeiausstellung bezeigte, wurde in Zusammenhang mit der politischen Polizei gebracht und als Bekräftigung einer Sinnesverwandtschaft gedeutet. Alles das wußten die fremden Beobachter und hatten so viele schreckliche   Dinge über die Parallelaktion gehört, wie sie nur wollten. Sie hatten sie im Sinn, während man ihnen vom Empfang der Schauspielerin Vogelsang, vom Puppenhaus der Königin und den streikenden Beamten erzählte oder sie nach ihrer Auffassung der jüngst veröffentlichten Staatsverträge fragte; und obzwar man das Wort vom Geist der Strenge, das der Minister in seiner Ansprache gebraucht hatte, als eine Ankündigung auffassen konnte, wenn man wollte, hatten sie wohl den Eindruck, daß an der Eröffnung der vielberedeten Polizeiausstellung bei unvoreingenommener Prüfung nicht das geringste zu bemerken sei, worüber etwas zu bemerken wäre, aber sie hatten doch auch den Eindruck wie alle anderen, daß etwas Allgemeines und Ungewisses vor sich gehe, das sich der Prüfung augenblicklich noch entziehe.

Es war jedoch auch unmöglich, von den Vorgängen in den Sitzungen des Konzils eine geordnete Auffassung zu gewinnen. Im allgemeinen war man damals unter vorgeschrittenen Leuten für aktiven Geist; man hatte die Pflicht der Hirnmenschen erkannt, die Führung der Bauchmenschen an sich zu reißen. Außerdem gab es etwas, was man Expressionismus nannte; man konnte nicht genau angeben, was das sei, aber es war, wie das Wort sagte, eine Hinauspressung; vielleicht von konstruktiven Visionen, jedoch waren diese, mit der künstlerischen Überlieferung verglichen, auch destruktiv, darum kann man sie auch einfach struktiv nennen, es verpflichtet zu nichts, und eine struktive Weltauffassung, das klingt ganz respektabel. Es ist jedoch nicht alles. Man war damals tag- und weltzugewandt von innen nach außen, aber auch schon von außen nach innen; das Intellektuelle und der Individualismus galten bereits für überlebt und egozentrisch, die Liebe war wieder einmal unten durch, und man stand im Begriff, die gesunde Massenwirkung der Kitschkunst neu zu entdecken, wenn sie in die Seelen gereinigter Tatmenschen fällt. »Man ist« wechselt, wie es scheint, ebenso schnell wie »Man trägt« und hat mit ihm gemeinsam, daß niemand, wahrscheinlich nicht einmal die an der Mode beteiligten Geschäftsleute, das eigentliche Geheimnis dieses »Man« kennt. Wer sich dagegen auflehnte, würde jedoch unfehlbar den etwas lächerlichen Eindruck eines Mannes machen, der zwischen die Pole einer Faradisationsmaschine geraten ist und gewaltig zuckt und rüttelt, ohne daß man seinen Gegner wahrnehmen kann. Denn der Gegner ist nicht durch die Leute gegeben, welche die vorhandene Geschäftslage mit schnellem Witz ausnützen, sondern ihn bildet die flüssig-luftartige Unfestheit des allgemeinen Zustandes selbst, sein Zusammenströmen aus unzähligen Gebieten, seine unbegrenzte Verbindungs- und Wandlungsfähigkeit, wozu auf seiten der Empfänger noch der Mangel oder das Versagen von geltenden, haltenden und ordnenden Grundsätzen kommt.
In diesem Wechsel der Erscheinungen Halt finden zu wollen, ist so schwer wie einen Nagel in einen Brunnenstrahl zu schlagen; dennoch gibt es etwas darin, das sich gleich zu bleiben scheint. Denn was geschieht zum Beispiel, wenn die bewegliche Art Mensch einen Tennisspieler genial nennt? Sie läßt etwas aus. Wenn sie ein Rennpferd genial nennt? Sie läßt noch etwas mehr aus. Sie läßt etwas aus, ob sie einen Fußballspieler wissenschaftlich, einen Fechter geistvoll nennt, oder ob sie von der tragischen Niederlage eines Boxers spricht; sie läßt überhaupt immer etwas aus. Sie übertreibt; aber es ist die Ungenauigkeit, welche die Übertreibung verursacht, so wie in einer kleinen Stadt die Ungenauigkeit der Vorstellungen die Ursache davon ist, daß man den Sohn des Kaufhausbesitzers für einen Weltmann hält. Irgendetwas wird schon daran stimmen; und warum sollten nicht auch die Überraschungen eines Champions an die eines Genies und seine Überlegungen an die eines erfahrenen Forschers erinnern? Irgendetwas anderes und noch dazu weit mehr stimmt natürlich nicht; aber dieser Rest wird im Gebrauch gar nicht oder nur unwillig empfunden. Er gilt für unsicher; er wird übergangen und ausgelassen, und es ist wahrscheinlich weniger ihr Begriff von Genie, den diese Zeit hat, wenn sie ein Rennpferd oder einen Tennisspieler genial nennt, als ihr Mißtrauen gegen die ganze höhere Sphäre.
Hier wäre nun der Ort, um von Tante Jane zu reden, an die sich Ulrich dadurch erinnerte, daß er in alten Familienalben blätterte, die ihm Diotima geliehen hatte, und die Gesichter darin mit den Gesichtern verglich, die er in ihrem Hause sah. Denn als Knabe hatte Ulrich oft lange Zeit bei einer Großtante zugebracht, und deren Freundin war Tante Jane vor undenklichen Zeiten geworden. Sie war ursprünglich auch keine Tante; sie war als Klavierlehrerin der Kinder ins Haus gekommen und da hatte sie nicht gerade viel Ehre aufgesteckt, wohl aber viel Liebe gewonnen, denn ihr Grundsatz war, daß es wenig Sinn habe, Klavieraufgaben zu üben, wenn man doch nicht für die Musik geboren sei, wie sie sagte. Ihre Freude war größer, wenn die Kinder auf Bäume kletterten, und auf diese Weise wurde sie ebensowohl Tante zweier Generationen wie durch die rückwirkende Kraft der Jahre die Jugendfreundin ihrer enttäuschten Brotgeberin.
»Ja, der Mucki!« konnte Tante Jane zum Beispiel voll zeitunlöslichen Gefühls, mit einer solchen Nachsicht und Bewunderung für den kleinen Onkel Nepomuk sagen, der damals schon vierzig Jahre alt war, daß ihre Stimme heute noch für den, der sie einmal gehört hatte, lebte. Diese Stimme von Tante Jane war wie mit Mehl bestaubt gewesen; geradezu wie wenn man den nackten Arm in ganz feines Mehl getaucht hätte. Eine belegte, eine mild panierte Stimme; es kam davon, daß sie sehr viel schwarzen Kaffee trank und dazu lange, dünne, schwere Virginiazigarren rauchte, die zusammen mit dem Alter ihre Zähne schwarz und klein gemacht hatten. Sah man ihr ins Gesicht, so konnte man übrigens auch glauben, daß der Klang ihrer Stimme mit den unzählbaren kleinen, feinen Strichen zusammenhängen müsse, von denen ihre Haut wie eine Radierung überzogen war. Ihr Gesicht war lang und sanft, und es hatte sich für die späteren Generationen niemals geändert, so wenig wie irgend etwas anderes an Tante Jane. Sie trug nur ein einziges Kleid durchs Leben, wenn es auch, wie das immerhin wahrscheinlich zu sein scheint, mehrfach vorhanden war; es war ein enges Futteral aus rilliger schwarzer Seide, das bis zum Boden reichte, keinerlei körperlichen Ausschweifungen huldigte und mit vielen kleinen schwarzen Knöpfen zu schließen ging wie die Sutane eines Priesters. Oben kam knapp ein niederer steifer Stehkragen daraus hervor, mit umgebrochenen Ecken, zwischen denen die Gurgel in der fleischlosen Haut des Halses bei jedem Zug an der Zigarre tätige Rinnen bildete; die engen Ärmel wurden von steifen, weißen Stulpen abgeschlossen, und das Dach bestand aus einer rötlichblonden, ein wenig gekräuselten Männerperücke, die in der Mitte gescheitelt war. Mit den Jahren wurde in diesem Scheitel ein wenig die Leinwand sichtbar, aber rührender waren noch die beiden Stellen, wo man die greisen Schläfen neben dem farbigen Haar sah, als einziges Zeichen davon, daß Tante Jane während ihres Lebens nicht immer gleich alt geblieben war.
Man könnte glauben, daß sie die männliche Frauenart um viele Jahrzehnte vorweggenommen hatte, die seither in Mode gekommen ist; aber dem war doch nicht so, denn in ihrer männlichen Brust ruhte ein sehr weibliches Herz. Man konnte auch glauben, daß sie einmal eine sehr berühmte Pianistin gewesen sei, die später den Zusammenhang mit ihrer Zeit verloren hatte, denn so sah sie aus; aber auch das war nicht so, sie war nie mehr als eine Klavierlehrerin gewesen, und der Männerkopf wie die Sutane kamen nur davon, daß Tante Jane als Mädchen für Franz Liszt geschwärmt hatte, dem sie während kurzer Zeit einigemal in Gesellschaft begegnet war, und auf irgendeine Weise hatte da ihr Name seine englische Form angenommen. Denn dieser Begegnung hielt sie die Treue, wie ein verliebter Ritter die Farben seiner Dame bis ins Greisenalter trägt, ohne je mehr begehrt zu haben; und an Tante Jane war das rührender, als wenn sie die Uniform ihrer eigenen Ruhmestage in Pension weiter getragen hätte. Auch das Geheimnis ihres Lebens, das man in der Familie den Herangewachsenen nur nach ernster Ermahnung zur Achtung wie bei einer Jünglingsweihe weitergab, hatte etwas von dieser Art. Jane war kein junges Mädchen mehr gewesen (denn eine anspruchsvolle Seele wählt lange), als sie den Mann fand, den sie liebte und gegen den Willen ihrer Angehörigen heiratete, und dieser Mann war natürlich ein Künstler gewesen, wenn auch durch schnödes Mißgeschick provinzstädtischer Verhältnisse nur Photograph. Aber er machte schon nach kurzer Ehe Schulden wie ein Genie und trank leidenschaftlich. Tante Jane entbehrte für ihn, sie holte ihn aus dem Wirtshaus zu den Göttern zurück, sie weinte heimlich und vor ihm, zu seinen Knien. Er sah wie ein Genie aus, mit mächtigem Mund und stolzem Haar, und wenn Tante Jane die Fähigkeit besessen hätte, die Leidenschaft ihrer Verzweiflung auf ihn zu übertragen, so wäre er mit dem Unglück seiner Laster groß wie Lord Byron gewesen. Aber der Photograph machte der Übertragung von Gefühlen Schwierigkeiten, er verließ Jane nach einem Jahr mit ihrer bäurischen Magd, die er geschwängert hatte, und starb bald darauf ziemlich verkommen. Jane schnitt eine Locke von seinem gewaltigen Haupt und bewahrte sie auf; sie nahm das uneheliche Kind, das er hinterließ, an eigen Statt und zog es unter Opfern groß; sie sprach selten von dieser vergangenen Zeit, denn man kann vom Leben, wenn es gewaltig ist, nicht auch noch fordern, daß es gut sein soll.
In Tante Janes Leben war also nicht gar wenig romantische Unnatur. Aber später, als der Photograph in seiner irdischen Unvollkommenheit schon längst keinen Zauber mehr auf sie ausübte, war gewissermaßen auch die unvollkommene Substanz ihrer Liebe zu ihm verwest, und die ewige Form der Liebe und Begeisterung blieb übrig; es wirkte in weiter Ferne dieses Erlebnis kaum anders, als es ein wirklich gewaltiges getan hätte. So aber war Tante Jane überhaupt. Ihr geistiger Inhalt war vermutlich nicht groß, aber seine seelische Form war so schön. Ihre Gebärde war heroisch, und solche Gebärden sind nur unangenehm, solange sie falsche Inhalte haben; wenn sie ganz leer sind, werden sie wieder wie Flammenspiel und Glaube. Tante Jane lebte nur von Tee, schwarzem Kaffee und zwei Tassen Fleischbrühe täglich, aber auf den Straßen der kleinen Stadt blieben die Leute nicht stehen und sahen ihr nach, wenn sie in ihrer schwarzen Sutane vorbeikam, weil man wußte, daß sie ein ordentlicher Mensch war; ja mehr als das, man hatte eine gewisse Ehrfurcht vor ihr, weil sie ein ordentlicher Mensch war und sich trotzdem die Fähigkeit bewahrt hatte, so auszusehen, wie es ihr offenbar ums Herz war, wenn man gleich nichts Näheres davon wußte.
Das wäre also wohl die Geschichte von Tante Jane, die längst in hohem Alter gestorben ist, und die Großtante ist tot, und Onkel Nepomuk ist tot, und warum haben sie eigentlich alle gelebt? fragte sich Ulrich. Aber er würde zu dieser Zeit etwas darum gegeben haben, wenn er noch einmal mit Tante Jane hätte sprechen dürfen. Er blätterte in den dicken, alten Alben mit Lichtbildern seiner Familie, die irgendwie zu Diotima gekommen waren, und je näher er den Anfängen dieser neuen Bildkunst zu blätterte, desto stolzer, kam ihm vor, hatten sich die Menschen ihr dargeboten. Sie setzten, wie man sah, den Fuß auf Felsblöcke aus Karton, die von Efeu aus Papier umsponnen waren; wenn sie Offiziere waren, stellten sie die Beine auseinander und den Säbel dazwischen; wenn sie Mädchen waren, legten sie die Hände in den Schoß und öffneten weit die Augen; wenn sie freie Männer waren, stiegen ihre Hosen in kühner Romantik, ohne Bügelfalte, gleich gekräuseltem von der Erde auf, und ihre Röcke hatten einen runden Schwung, etwas Stürmisches, das die steife Würde des bürgerlichen Gehrocks verdrängt hatte. Das mag so zwischen achtzehnhundertsechzig und -siebzig gewesen sein, nachdem die Anfänge des Verfahrens überwunden waren. Die Revolution der Vierzigerjahre lag als wüste Zeit längst zurück, und es gab neue Lebensinhalte, man weiß heute nicht mehr recht, welche; auch die Tränen, Umarmungen und Geständnisse, in denen das neue Bürgertum zu Beginn seiner Zeit seine Seele gesucht hatte, gab es nicht mehr; aber wie eine Welle auf Sand ausläuft, war dieser Edelmut nun bei den Kleidern angelangt und einer gewissen privaten Schwunghaftigkeit, wofür es wohl ein besseres Wort geben mag, von dem aber vorläufig nur die Photographien da sind. Das war die Zeit, wo die Photographen Samtjoppen und Knebelbärte trugen und wie die Maler aussahen, und die Maler große Kartons entwarfen, auf denen sie kompagnieweise mit bedeutsamen Figuren exerzierten; und den Privatmenschen schien es zu dieser Zeit gerade an der Zeit zu sein, daß auch für sie ein Verewigungsverfahren erfunden wurde. Es bleibt nur noch hinzuzufügen, daß sich nicht leicht Menschen einer anderen Zeit so genialisch und großartig gefühlt haben wie gerade die Menschen dieser Zeit, unter denen es so wenig ungewöhnliche Menschen gab – oder es gelang ihnen so selten, zwischen den anderen hochzukommen – wie noch nie.
Und oft frug sich Ulrich dabei, ob es einen Zusammenhang gebe zwischen dieser Zeit, wo sich ein Photograph für genial halten konnte, weil er trank, einen offenen Halskragen trug und den seelischen Adel, den er besaß, mit Hilfe des modernsten Verfahrens auch an allen Zeitgenossen nachwies, die sich vor sein Objektiv stellten, und einer gewissen anderen Zeit, wo man nur noch Rennpferde, wegen ihrer alles übersteigenden Fähigkeit, sich zu strecken und zusammenzuziehen, aufrichtig für genial hält. Sie sehen verschieden aus; die Gegenwart sieht stolz auf die Vergangenheit herab, und wenn die Vergangenheit zufällig später gekommen wäre, so würde sie stolz auf die Gegenwart herabsehen, aber in der Hauptsache kommen beide auf etwas sehr Ähnliches hinaus, denn es spielen da wie dort Ungenauigkeit und Auslassung der entscheidenden Unterschiede die größte Rolle. Es wird ein Teil des Großen für das Ganze genommen, eine entfernte Analogie für die Erfüllung der Wahrheit, und der leergewordene Balg eines großen Worts wird nach der Mode des Tags ausgestopft. Das geht großartig, wenn es auch nicht lange hält. Die Menschen, die in Diotimas Salon sprachen, hatten in nichts ganz unrecht, weil ihre Begriffe so unscharf waren wie Gestalten in einer Waschküche. »Diese Begriffe, in denen das Leben hängt wie der Adler in seinen Schwingen!« dachte Ulrich. »Diese unzähligen moralischen und künstlerischen Begriffe des Lebens, die ihrem Wesen nach so zart sind wie harte Gebirge in undeutlicher Ferne!« Auf ihren Zungen vermehrten sie sich durch Drehung, und man konnte von keiner ihrer Ideen eine Weile sprechen, ohne unversehens schon in die nächste zu geraten.
Diese Art Menschen hat sich zu allen Zeiten die neue Zeit genannt. Es ist das ein Wort wie ein Sack, in dem man die Winde des Aeolus fangen möchte; dieses Wort ist die beständige Entschuldigung dafür, die Dinge nicht in Ordnung zu bringen, das heißt, nicht in ihre eigene, eine sachliche Ordnung, sondern in den eingebildeten Zusammenhang eines Undings. Und doch liegt ein Bekenntnis darin. Die Überzeugung, daß sie die Aufgabe hätten, Ordnung in die Welt zu tragen, lebte in der sonderbarsten Weise in diesen Menschen. Wenn man das, was sie zu diesem Zweck unternahmen, Halbklugheit nennen wollte, so wäre bemerkenswert, daß gerade die andere, ungenannte, oder, um sie zu nennen, die dumme, niemals genaue und richtige Hälfte dieses Halbklugseins eine unerschöpfliche Erneuerungskraft und Fruchtbarkeit besaß. Es war Leben in ihr, Wandelbarkeit, Ruhelosigkeit, Standpunktwechsel. Aber sie spürten wohl selbst, wie das war. Es rüttelte an ihnen, es blies durch ihren Kopf, sie gehörten einem nervösen Zeitalter an, und es stimmte etwas nicht, jeder hielt sich für klug, aber alle zusammen fühlten sich unfruchtbar. Hatten sie noch dazu Talent – und ihre Ungenauigkeit schloß das ja keineswegs aus – so war es in ihrem Kopf, als ob man das Wetter und die Wolken, die Eisenbahnen, Telegraphendrähte, Bäume und Tiere und das ganze bewegte Bild unserer lieben Welt durch ein schmales, verkrustetes Fenster sähe; und keiner merkte es so leicht an seinem eigenen, aber jeder am Fenster des andren.
Ulrich hatte sich einmal den Scherz gemacht, von ihnen genaue Angaben über das zu verlangen, was sie meinten; sie sahen ihn darauf mißbilligend an, nannten sein Begehren mechanische Lebensauffassung und Skepsis und stellten die Behauptung auf, daß das Komplizierteste nur auf das einfachste gelöst werden dürfe, so daß die neue Zeit, sobald sie sich erst aus der Gegenwart herauserlöst habe, ganz einfach ausschauen werde. Ulrich machte, im Gegensatz zu Arnheim, gar keinen Eindruck auf sie, und Tante Jane würde ihm das Gesicht gestreichelt und gesagt haben: »Ich verstehe sie sehr gut; du störst sie mit deinem Ernst.«