MoE 2 | Erstes Buch | Zweiter Teil | Kapitel 100-109

General Stumm hatte den Mißerfolg seines »Kameraden« beobachtet und machte Miene, ihn zu trösten. »Was ist das für ein zweckloses Durcheinanderreden!« tadelte er die Konzilleute entrüstet, und nach einer Weile, obzwar er keine Aufmunterung fand, begann er, sich aufgeregt und doch mit einem gewissen Behagen zu eröffnen. »Du erinnerst dich,« sagte er »daß ich mir in den Kopf gesetzt habe, den erlösenden Gedanken, den Diotima sucht, ihr zu Füßen zu legen. Es gibt, wie sich zeigt, sehr viele bedeutende Gedanken, aber einer muß schließlich der bedeutendste sein; das ist doch nur logisch? Es handelt sich also bloß darum, Ordnung in sie zu bringen. Du hast selbst gesagt, daß das ein Entschluß ist, der eines Napoleon würdig wäre. Erinnerst du dich? Dann hast du mir noch eine Reihe ausgezeichneter Ratschläge gegeben, wie es von dir nicht anders zu erwarten war, aber es ist nicht dazu gekommen, daß ich sie benütze. Also, um es kurz zu sagen, ich habe die Sache selbst in die Hand genommen!«
Er trug eine Hornbrille, die er jetzt statt des Kneifers aus der Tasche zog und auf die Nase setzte, wenn er eine Person oder eine Sache scharf ins Auge fassen wollte.
Eine der wichtigsten Bedingungen der Feldherrnkunst ist es, sich über die Stärke des Gegners Klarheit zu verschaffen. »Ich habe mir also« erzählte der General »einen Eintrittsschein in unsere weltberühmte Hofbibliothek besorgen lassen und bin unter Führung eines Bibliothekars, der sich mir liebenswürdig zur Verfügung stellte, als ich ihm sagte, wer ich bin, in die feindlichen Linien eingedrungen. Wir sind den kolossalen Bücherschatz abgeschritten, und ich kann sagen, es hat mich weiter nicht erschüttert, diese Bücherreihen sind nicht schlimmer als eine Garnisonsparade. Nur habe ich nach einer Weile anfangen müssen, im Kopf zu rechnen, und das hatte ein unerwartetes Ergebnis. Siehst du, ich hatte mir vorher gedacht, wenn ich jeden Tag da ein Buch lese, so müßte das zwar sehr anstrengend sein, aber irgendwann müßte ich damit zu Ende kommen und dürfte dann eine gewisse Position im Geistesleben beanspruchen, selbst wenn ich ein oder das andere auslasse. Aber was glaubst du, antwortet mir der Bibliothekar, wie unser Spaziergang kein Ende nimmt und ich ihn frage, wieviel Bände denn eigentlich diese verrückte Bibliothek enthält? Dreieinhalb Millionen Bände, antwortet er!! Wir sind da, wie er das sagte, ungefähr beim siebenhunderttausendsten Buch gewesen, aber ich habe von dem Augenblick an ununterbrochen gerechnet; – ich will es dir ersparen, ich habe es im Ministerium noch einmal mit Bleistift und Papier nachgerechnet: Zehntausend Jahre würde ich auf diese Weise gebraucht haben, um mich mit meinem Vorsatz durchzusetzen!
In diesem Augenblick sind mir die Beine auf der Stelle stecken geblieben, und die Welt ist mir wie ein einziger Schwindel vorgekommen. Ich versichere dir noch jetzt, wo ich mich beruhigt habe: da stimmt etwas ganz grundlegend nicht!
Du kannst sagen, man braucht nicht alle Bücher zu lesen. Ich werde dir darauf erwidern: Man braucht auch im Krieg nicht jeden einzelnen Soldaten zu töten, und doch ist jeder notwendig! Du wirst mir sagen: Auch jedes Buch ist notwendig. Aber siehst du, da stimmt schon etwas nicht, denn das ist nicht wahr; ich habe den Bibliothekar gefragt!
Lieber Freund, ich habe mir einfach gedacht, dieser Mensch lebt doch zwischen diesen Millionen Büchern, kennt jedes, weiß von jedem, wo es steht: der müßte mir also helfen können. Natürlich habe ich ihn nicht ohne weiteres fragen wollen: wie finde ich den schönsten Gedanken von der Welt? Das würde ja geradezu wie der Anfang von einem Märchen klingen, und so schlau bin ich schon, daß ich das merke, und überdies habe ich Märchenerzählen schon als Kind nicht leiden können; aber was willst du tun, irgend etwas Ähnliches mußte ich ihn schließlich fragen! Andererseits hat mir mein Gefühl für das Schickliche auch verboten, ihm die Wahrheit zu sagen, etwa meinem Anliegen Auskünfte über unsere Aktion vorauszuschicken und den Mann zu bitten, mich auf die Spur des würdigsten Ziels für sie zu setzen; dazu habe ich mich nicht ermächtigt gesehn. Also, ich hab schließlich eine kleine List angewendet. ›Ach‹ – habe ich ganz harmlos zu sagen angefangen – ›ach, ich habe mich zu unterrichten vergessen,   wie Sie es eigentlich beginnen, in diesem unendlichen Bücherschatz immer das richtige Buch zu finden?!‹ – weißt du, genau so habe ich das gesagt, wie ich mir dachte, daß Diotima es sagen würde, und für ein paar Kreuzer Bewunderung für ihn habe ich auch in den Ton gelegt, damit er mir auf den Leim geht.
Und richtig fragt er mich sehr gehonigelt und diensteifrig, was der Herr General denn zu wissen wünschen. Nun, das hat mich ein wenig in Verlegenheit gebracht. – ›Oh, sehr vieles‹ – sage ich gedehnt.
›Ich meine, mit welcher Frage oder welchem Autor beschäftigen Sie sich? Kriegsgeschichtliches?‹ sagte er.
›Nein, gewiß nicht; eher Friedensgeschichtliches.‹
›Historisch? Oder aktuelle pazifistische Literatur?‹
Nein, sage ich, das ließe sich durchaus nicht so einfach sagen. Zum Beispiel eine Zusammenstellung aller großen Menschheitsgedanken, ob es das gibt, frag ich ihn listig; du erinnerst dich ja, was ich auf dem Gebiet schon hab arbeiten lassen.
Er schweigt. ›Oder ein Buch über die Verwirklichung des Wichtigsten?‹ sag ich.
›Also eine theologische Ethik?‹ meint er.
›Es kann auch eine theologische Ethik sein, aber es muß darin auch etwas über die alte österreichische Kultur und über Grillparzer vorkommen‹ verlange ich. Weißt du, es muß offenbar in meinen Augen ein solcher Wissensdurst gebrannt haben, daß der Kerl plötzlich Angst bekommen hat, er könnte bis auf den Grund ausgetrunken werden; ich sage noch etwas von etwas wie von Eisenbahnfahrplänen, die es gestatten müssen, zwischen den Gedanken jede beliebige Verbindung und jeden Anschluß herzustellen, da wird er geradezu unheimlich höflich und bietet mir an, mich ins Katalogzimmer zu führen und dort allein zu lassen, obgleich das eigentlich verboten ist, weil es nur von den Bibliothekaren benützt werden darf. Da war ich dann also wirklich im Allerheiligsten der Bibliothek. Ich kann dir sagen, ich habe die Empfindung gehabt, in das Innere eines Schädels eingetreten zu sein; rings herum nichts wie diese Regale mit ihren Bücherzellen, und überall Leitern zum Herumsteigen, und auf den Gestellen und den Tischen nichts wie Kataloge und Bibliographien, so der ganze Succus des Wissens, und nirgends ein vernünftiges Buch zum Lesen, sondern nur Bücher über Bücher: es hat ordentlich nach Gehirnphosphor gerochen, und ich bilde mir nichts ein, wenn ich sage, daß ich den Eindruck hatte, etwas erreicht zu haben! Aber natürlich war mir, wie der Mann mich allein lassen will, auch ganz sonderbar zumute, ich möchte sagen, unheimlich; andächtig und unheimlich. Er fährt wie ein Affe eine Leiter hinauf und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf diesen einen, holt ihn mir herunter, sagt: ›Herr General, hier habe ich für Sie eine Bibliographie der Bibliographien‹ – du weißt, was das ist? – also das alphabetische Verzeichnis der alphabetischen Verzeichnisse der Titel jener Bücher und Arbeiten, die sich in den letzten fünf Jahren mit den Fortschritten der ethischen Fragen, ausschließlich der Moraltheologie und der schönen Literatur, beschäftigt haben – oder so ähnlich erklärt er es mir und will verschwinden. Aber ich packe ihn noch rechtzeitig an seinem Jackett und halte mich an ihm fest. ›Herr Bibliothekar,‹ rufe ich aus ›Sie dürfen mich nicht verlassen, ohne mir das Geheimnis verraten zu haben, wie Sie sich in diesem‹ – also ich habe unvorsichtigerweise Tollhaus gesagt, denn so war mir plötzlich zumute geworden – ›wie Sie sich‹, sage ich also, ›in diesem Tollhaus von Büchern selbst zurechtfinden.‹ Er muß mich mißverstanden haben; nachträglich ist mir eingefallen, daß man behauptet, Wahnsinnige sollen mit Vorliebe anderen Menschen vorwerfen, daß sie wahnsinnig seien; jedenfalls hat er immerzu auf meinen Säbel geschaut und war nicht zu halten. Und dann hat er mir einen ordentlichen Schrecken eingejagt. Wie ich ihn nicht gleich loslasse, richtet er sich plötzlich auf, er ist förmlich aus seinen schwankenden Hosen herausgewachsen, und sagt mit einer Stimme, die jedes Wort bedeutungsvoll gedehnt hat, als ob er jetzt das Geheimnis dieser Wände aussprechen müßte: ›Herr General,‹ sagt er ›Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!‹
Weißt du, das war mir nun beinahe wirklich zu viel! Aber er hat es mir, wie er meine Bestürzung gesehen hat, auseinandergesetzt. Es ist das Geheimnis aller guten Bibliothekare, daß sie von der ihnen anvertrauten Literatur niemals mehr als die Büchertitel und das Inhaltsverzeichnis lesen. ›Wer sich auf den Inhalt einläßt, ist als Bibliothekar verloren!‹ hat er mich belehrt. ›Er wird niemals einen Überblick gewinnen!‹
Ich frage ihn atemlos: ›Sie lesen also niemals eines von den Büchern?‹
›Nie; mit Ausnahme der Kataloge.‹
›Aber Sie sind doch Doktor?‹
›Gewiß. Sogar Universitätsdozent; Privatdozent für Bibliothekswesen. Die Bibliothekswissenschaft ist eine Wissenschaft auch allein und für sich‹ erklärte er.
›Wieviele Systeme, glauben Sie, Herr General,‹ frägt er ›gibt es, nach denen man Bücher aufstellt, konserviert, ihre Titel ordnet, die Druckfehler und falschen Angaben auf ihren Titelseiten richtigstellt und so weiter?‹
Ich muß dir gestehn, wie er mich danach allein gelassen hat, hat es nur zweierlei gegeben, was ich gern getan hätte: entweder in Tränen ausbrechen oder mir eine Zigarette anzünden; aber beides war mir an diesem Ort nicht gestattet! Und was glaubst du, ist geschehen?« fuhr der General vergnügt fort. »Wie ich so verdutzt dastehe, nähert sich mir ein alter Diener, der uns wahrscheinlich schon beobachtet hatte, und er schlurft ein paarmal höflich um mich herum und bleibt dann auch stehn, schaut mich an und fängt mit einer Stimme zu sprechen an, die entweder vom Bücherstaub oder vom Trinkgeldgeschmack ganz mild war. ›Was brauchen der Herr General?‹ fragt er mich. Ich wehre ab, aber der Alte fährt fort: ›Es kommen oft Herren von der Kriegsschule zu uns: der Herr General brauchen mir nur zu sagen, für welches Thema Herr General augenblicklich Interesse haben? Julius Caesar, Prinz Eugen, Graf Daun? Oder soll es etwas Modernes sein? Wehrgesetz? Budgetverhandlungen?‹ Ich versichere dir, der Mann hat so vernünftig gesprochen und hat so viel gewußt, was in den Büchern drinsteht, daß ich ihm ein Trinkgeld gegeben und ihn gefragt habe, wie er das macht. Also was glaubst du? Er erzählt mir wieder, daß die Kriegsschüler, wenn sie eine schriftliche Aufgabe haben, manchmal zu ihm kommen und Bücher verlangen; ›und dann schimpfen sie halt oft ein bißl, wenn ich ihnen die Bücher bring,‹ fährt er fort ›was das für ein Unsinn ist, den sie lernen müssen, und dabei erfährt unsereiner allerhand. Oder es kommt der Herr Abgeordnete, der den Bericht über das Schulbudget abzufassen hat, und fragt mich, was der Herr Abgeordnete, der den Bericht im vergangenen Jahr abgefaßt hat, dazu für Unterlagen benutzt hat. Oder es kommt der Herr Prälat, der schon seit fünfzehn Jahren über bestimmte Käfer schreibt, oder einer von den Herrn Universitätsprofessoren beschwert sich, daß er schon drei Wochen lang ein bestimmtes Buch verlangt, ohne daß er es bekommt, und da müssen alle Nachbarregale durchsucht werden, ob es nicht verstellt worden ist, bis sich herausstellt, daß er es schon seit zwei Jahren bei sich zu Haus und nicht zurückgegeben hat. Und das geht jetzt schon so fast vierzig Jahre; da merkt man sich ganz von selbst, was der Mensch will und was er dazu liest.‹
›Na,‹ sag ich ihm ›mein Lieber, was ich zu lesen suche, das kann ich Ihnen trotzdem nicht ganz so einfach auseinandersetzen!‹
Und was glaubst du, antwortet er mir? Er schaut mich bescheiden an, nickt und sagt: ›Ich bitte gehorsamst, Herr General, das kommt natürlich vor. Erst unlängst hat eine Dame mit mir gesprochen, die genau das gleiche gesagt hat; vielleicht kennen sie Herr General, es ist die Frau Gemahlin vom Herrn Sektionschef Tuzzi aus dem Ministerium des Äußern?‹
Also was sagst du? Ich denke, mich trifft der Schlag! Und wie der Alte das merkt, bringt er mir richtig alle Bücher herbei, die sich Diotima dort reservieren läßt, und wenn ich jetzt in die Bibliothek komme, ist das geradezu wie eine heimliche geistige Hochzeit, und hie und da mach ich vorsichtig mit dem Blei an den Rand einer Seite ein Zeichen oder ein Wort und weiß, daß sie es am nächsten Tag finden wird, ohne eine Ahnung zu haben, wer da in ihrem Kopf drinnen ist, wenn sie darüber nachdenkt, was das heißen soll!«
Der General machte eine selige Pause. Aber danach riß er sich zusammen, bitterer Ernst strömte in sein Gesicht, und er fuhr von neuem fort: »Nimm dich jetzt, so gut du kannst, einen Augenblick zusammen, ich will dich etwas fragen. Wir alle sind doch überzeugt, daß unser Zeitalter so ziemlich das geordnetste ist, das es je gegeben hat. Ich habe das zwar einmal vor Diotima als ein Vorurteil bezeichnet, aber natürlich habe ich dieses Vorurteil selbst. Und nun habe ich sehen müssen, daß die einzigen Menschen, die eine wirklich verläßliche geistige Ordnung besitzen, die Bibliotheksdiener sind, und frage dich – nein, ich frage dich nicht; wir haben ja schon seinerzeit darüber gesprochen, und ich habe seit meinen letzten Erfahrungen natürlich von neuem darüber nachgedacht und ich sage dir: Stell dir vor, du trinkst Schnaps, ja? Gut in gewissen Lagen. Aber du trinkst noch und noch und noch Schnaps; kannst du mir folgen? So bekommst du zuerst einen Rausch, später das Delirium tremens und schließlich den Ehrenkondukt, und der Kurat spricht irgendetwas von eiserner Pflichterfüllung an deinem Grab. Hast du dir das vorgestellt? Also, wenn du dir das vorgestellt hast, da ist ja weiter nichts dabei, so stell dir jetzt Wasser vor. Und stell dir vor, du mußt immer mehr davon trinken, so bist du schließlich ersoffen. Und stell dir Essen vor bis zur Darmverschlingung. Und jetzt die Heilmittel, Chinin oder Arsen oder Opium. Wozu? wirst du fragen. Aber lieber Kamerad, jetzt mache ich dir erst den hervorragendsten Vorschlag: Stell dir Ordnung vor. Oder stell dir lieber zuerst einen großen Gedanken vor, dann einen noch größeren, dann einen, der noch größer ist, und dann immer einen noch größeren; und nach diesem Muster stell dir auch immer mehr Ordnung in deinem Kopf vor. Zuerst ist das so nett wie das Zimmer eines alten Fräuleins und so sauber wie ein ärarischer Pferdestall; dann großartig wie eine Brigade in entwickelter Linie; dann toll, wie wenn man nachts aus dem Kasino kommt und zu den Sternen ›Ganze Welt, habt acht; rechts schaut!‹ hinaufkommandiert. Oder sagen wir, im Anfang ist Ordnung so, wie wenn ein Rekrut mit den Beinen stottert und du bringst ihm das Gehen bei; dann so, wie wenn du im Traum außer der Tour zum Kriegsminister avancierst; aber jetzt stell dir bloß eine ganze, universale, eine Menschheitsordnung, mit einem Wort eine vollkommene zivilistische Ordnung vor: so behaupte ich, das ist der Kältetod, die Leichenstarre, eine Mondlandschaft, eine geometrische Epidemie!
Ich habe mich mit meinem Bibliotheksdiener darüber unterhalten. Er hat mir vorgeschlagen, daß ich Kant lesen soll oder so etwas dergleichen, über die Grenzen der Begriffe und des Erkenntnisvermögens. Aber ich will eigentlich nichts mehr lesen. Ich habe so etwas Komisches im Gefühl: ein Verständnis dafür, warum wir beim Militär, die wir die größte Ordnung haben, gleichzeitig bereit sein müssen, in jedem Augenblick unser Leben hinzugeben. Ich kann nicht ausdrücken, warum. Irgendwie geht Ordnung in das Bedürfnis nach Totschlag über. Und ich bin jetzt ehrlich besorgt, daß deine Kusine mit ihren Bestrebungen am Ende noch etwas anrichtet, das ihr sehr schaden kann, während ich ihr weniger helfen kann als je! Kannst du mir folgen? Was so die Wissenschaft und Kunst nebenbei leistet, an großen und bewundernswerten Gedanken, das natürlich in Ehren, dagegen will ich nichts gesagt haben!«

Auch Diotima sprach in dieser Zeit wieder einmal ihren Vetter an. Es war hinter den Wirbeln, die sich zäh und unablässig durch ihre Zimmer drehten, eines Abends eine Lagune von Stille an der Wand entstanden, wo er auf einem Bänkchen saß, und Diotima kam wie eine ermüdete Tänzerin und setzte sich neben ihn. Das war lange nicht geschehen. Seit jenen Spazierfahrten und als ob es ihre Folge gewesen wäre, hatte sie den »außerdienstlichen« Verkehr mit ihm gemieden.
Diotimas Gesicht war von Hitze oder Ermüdung leicht gefleckt.
Sie stützte die Hände auf die Bank, sagte »Wie geht es Ihnen?« und sonst nichts, obgleich sie doch unbedingt anderes hätte sagen müssen, und blickte mit etwas geneigtem Kopf geradeaus. Es erweckte den Eindruck, daß sie stark »angeschlagen« sei, so es erlaubt ist, das boxerisch auszudrücken. Sie verwandte nicht einmal Sorgfalt darauf, daß ihr Kleid gute Figur mache, wie sie da hockte.
Ihr Vetter dachte an zerzaustes Haar, einen Bauernkittel und blanke Beine. Es blieb, wenn man den falschen Putz von ihr herunterschlug, ein kräftiges und schönes Stück Mensch übrig, und er mußte sich zurückhalten, um nicht einfach ihre Hand in seine Faust zu nehmen, wie es die Bauern tun.
»Arnheim macht Sie also nicht glücklich« stellte er ruhig fest.
Sie hätte diese Zumutung vielleicht zurückweisen sollen, fühlte sich aber recht sonderbar bewegt und schwieg; erst nach einer Weile entgegnete sie: »Seine Freundschaft macht mich sehr glücklich.«
»Ich hatte den Eindruck, daß Sie seine Freundschaft etwas quält.«
»Oh, was Sie sagen!?« Diotima richtete sich auf und war wieder Dame. »Wissen Sie, wer mich quält?« fragte sie und war bemüht, den Ton einer leichten Unterhaltung zu finden »Ihr Freund, der General! Was will dieser Mensch? Warum kommt er her? Warum starrt er mich immer an?«
»Er liebt Sie!« entgegnete der Vetter.
Diotima lachte nervös. Sie setzte fort: »Wissen Sie, daß ich vom Kopf bis zum Fuß erschauere, wenn ich ihn sehe? Er erinnert mich an den Tod!«
»Ein ungewöhnlich lebensfreundlich aussehender Tod, wenn man ihn unbefangen betrachtet!«
»Ich bin offenbar nicht unbefangen. Ich kann es mir nicht erklären. Aber mich ergreift eine Panik, wenn er mich anspricht und mir auseinandersetzt, daß ich ›hervorragende‹ Ideen bei einer ›hervorragenden‹ Gelegenheit ›hervorragen‹ mache. Mich beschleicht eine unbeschreibliche, unbegreifliche, traumhafte Angst!«
»Vor ihm?«
»Wovor sonst?! Er ist eine Hyäne!«
Der Vetter mußte lachen. Sie schmälte hemmungslos wie ein Kind weiter. »Er schleicht herum und wartet, bis unsere schönen Bemühungen tot zusammenbrechen werden!«
»Und wahrscheinlich ist es das, was Sie fürchten! Große Kusine, erinnern Sie sich daran, daß ich Ihnen diesen Zusammenbruch seit je vorhergesagt habe? Er ist unvermeidlich; Sie müssen sich auf ihn gefaßt machen!«
Diotima sah Ulrich hoheitsvoll an. Sie erinnerte sich recht gut; mehr als das, sie erinnerte sich in diesem Augenblick an die Worte, die sie zu ihm gesagt hatte, als er seinen ersten Besuch machte, und diese waren wohlgeeignet, sie jetzt zu schmerzen. Sie hatte ihm vorgehalten, daß es ein großer Vorzug sei, eine Nation, ja eigentlich die Welt aufrufen zu dürfen, damit sie sich inmitten der Materie auf den Geist besinne. Sie hatte nichts Verbrauchtes, Altgeistiges gewollt; dennoch war der Blick, mit dem sie heute ihren Vetter ansah, eher schon überhoben zu nennen, als noch überheblich. Sie hatte ein Weltjahr erwogen, einen Aufschwung, einen krönenden Kulturinhalt gesucht; sie war bald nahe daran gewesen, bald wieder weit weg; sie hatte viel geschwankt und viel gelitten; die letzten Monate kamen ihr vor, wie eine lange Überfahrt, wo man von Wogen ungeheuer gehoben und fallen gelassen wird, die sich in gleicher Weise wiederholen, so daß sie, was früher oder später war, kaum noch unterscheiden konnte. Nun saß sie hier, wie ein Mensch, der nach ungeheuren Anstrengungen auf einer Bank sitzt, die sich, Gott sei Dank, nicht bewegt, und augenblicklich nichts tun will, als etwa dem Rauch seiner Pfeife nachzuschaun; ja so lebhaft beherrschte eine solche Stimmung Diotima, daß sie selbst diesen Vergleich wählte, der an einen alten Mann im Spätsonnenschein erinnerte. Sie kam sich wie ein Mensch vor, der große, leidenschaftliche Kämpfe hinter sich hat. Mit einer müden Stimme sprach sie zu ihrem Vetter: »Ich habe sehr viel mitgemacht; ich habe mich sehr verändert.« »Wird es mir zugute kommen?« fragte der.
Diotima schüttelte den Kopf und lächelte, ohne ihn anzusehn.
»Dann will ich Ihnen verraten, daß Arnheim hinter dem General steckt, nicht ich; Sie haben ja doch die Schuld an seinem Vorhandensein allezeit nur mir gegeben!« sagte Ulrich plötzlich. „Erinnern Sie sich aber, was ich Ihnen geantwortet habe, als Sie mich deshalb zur Rede stellten?«
Diotima erinnerte sich. Fernhalten, hatte der Vetter gesagt. Aber Arnheim, der hatte gesagt, sie solle den General nur freundlich aufnehmen! Sie fühlte in diesem Augenblick etwas, das ließ sich nicht beschreiben; so, als ob sie in einer Wolke säße, die ihr rasch über die Augen stieg. Aber gleich war das Bänkchen unter ihr wieder hart und fest, und sie sagte: »Ich weiß nicht, wie dieser General zu uns gekommen ist, ich selbst habe ihn nicht eingeladen. Und Doktor Arnheim, den ich gefragt habe, weiß selbstverständlich auch nichts davon. Es muß irgendein Versehen unterlaufen sein.«
Der Vetter lenkte nur wenig ein. »Ich kenne den General von früher, aber wir haben uns zum erstenmal wieder bei Ihnen gesehn« erklärte er. »Es ist natürlich sehr wahrscheinlich, daß er hier im Auftrag des Kriegsministeriums ein wenig herumspioniert, aber er möchte Ihnen auch ehrlich helfen. Und ich habe es aus seinem Mund, daß sich Arnheim auffallend viel Mühe mit ihm gibt!«
»Weil Arnheim an allem Teil nimmt!« entgegnete Diotima. »Er hat mir geraten, den General nicht zurückzustoßen, da er an seinen guten Willen glaubt und in seiner einflußreichen Stellung eine Gelegenheit sieht, unseren Bestrebungen zu nützen.«
Ulrich schüttelte heftig den Kopf. »Hören Sie sich das Gegacker rings um ihn an!« sagte er so unvermittelt, daß die Umstehenden es hören konnten und die Hausfrau in Verlegenheit geriet. »Er läßt es sich gefallen, weil er reich ist. Er hat Geld, gibt allen recht und weiß, daß sie freiwillig Reklame für ihn machen!«
»Warum sollte er das denn tun?!« erwiderte Diotima ablehnend.
»Weil er eitel ist!« fuhr Ulrich fort. »Maßlos eitel! Ich weiß nicht, wie ich Ihnen den ganzen Inhalt dieser Behauptung begreiflich machen soll. Es gibt eine Eitelkeit im biblischen Sinn: man macht aus der Leere eine Schelle! Eitel ist ein Mensch, der sich beneidenswert vorkommt, wenn zu seiner Linken der Mond über Asien aufgeht, während zu seiner Rechten Europa im Sonnenuntergang verdämmert; so hat er mir einmal eine Reise über das Marmarameer beschrieben! Wahrscheinlich geht der Mond hinter dem Blumentopf eines verliebten kleinen Mädchens schöner auf als über Asien!«
Diotima suchte nach einem Platz, wo man nicht von den Leuten, die herumstreiften, gehört würde. Sie sagte leise: »Sie sind durch seinen Erfolg gereizt« und leitete ihn durch die Zimmer; dann richtete sie es mit einer klugen Bewegung so ein, daß sie unauffällig durch die Türe schritten und ins Vorzimmer traten. Alle anderen Räume waren von Gästen besetzt. »Warum« hub sie dort an »sind Sie ihm feindlich gesinnt? Sie bringen mich dadurch in Schwierigkeiten.«
»Ich bringe Sie in Schwierigkeiten?« fragte Ulrich erstaunt.
»Es könnte mich doch vielleicht verlangen, mich mit Ihnen auszusprechen? Aber solange Sie sich so verhalten, darf ich Ihnen nichts anvertraun!«
Sie war in der Mitte des Vorzimmers stehengeblieben. »Bitte, vertrauen Sie mir ruhig an, was Sie zu sagen haben« bat Ulrich. »Sie haben sich ineinander verliebt, das weiß ich. Wird er Sie heiraten?«
»Er hat es mir angetragen« erwiderte Diotima, ohne Rücksicht auf den unsicheren Platz, wo sie sich befanden. Sie war von ihren eigenen Gefühlen überwältigt und stieß sich nicht an ihres Vetters unziemlicher Geradheit.
»Und Sie?« fragte dieser.
Sie wurde rot wie ein ausgefragtes Schulkind. »Oh, das ist eine Frage voll schwerer Verantwortung!« entgegnete sie zögernd. »Man darf sich zu keiner Ungerechtigkeit hinreißen lassen. Bei wirklich großen Erlebnissen kommt es auch nicht so sehr darauf an, was man tut!«
Diese Worte waren Ulrich unverständlich, da er die Nächte nicht kannte, in denen Diotima die Stimme der Leidenschaft überwand und bis zur reglosen Gerechtigkeit der Seelen gelangte, deren Liebe wie ein nach zwei Seiten ausgerichteter Wagbalken schwebt. Darum hatte er den Eindruck, daß es vorläufig besser sei, den schnurgeraden Weg der Aussprache zu verlassen, und er sagte: »Ich möchte über mein Verhältnis zu Arnheim gern mit Ihnen sprechen, weil es mir unter diesen Umständen leid tut, daß Sie den Eindruck von Feindseligkeit haben. Ich glaube Arnheim gut zu verstehen. Sie müssen sich vorstellen: Was sich in Ihrem Haus vollzieht, ich will es nach Ihrem Wunsch eine Synthese nennen, das hat er schon unzähligemale mitgemacht. Die geistige Bewegung, wo sie in der Form von Überzeugungen auftritt, tritt sogleich auch in der Form entgegengesetzter Überzeugungen auf. Und wo sie sich in einer sogenannten großen geistigen Persönlichkeit verkörpert, dort fühlt sie sich so unsicher wie in einer ins Wasser geworfenen Pappschachtel, sobald dieser Persönlichkeit nicht freiwillig von allen Seiten Bewunderung erwiesen wird. Wir sind, wenigstens in Deutschland, von der Liebe zu anerkannten Persönlichkeiten wie die Betrunkenen gerührt, die einem neuen Mann um den Hals fallen und ihn aus ebenso dunklen Gründen nach einer Weile umstoßen. Ich kann mir also lebhaft vorstellen, was Arnheim empfindet: Es muß wie eine Seekrankheit sein; und wenn er sich in solcher Umgebung erinnert, was man mit Reichtum, durch geschickte Anwendung, ausrichten kann, so hat er nach langer Wasserreise zum erstenmal wieder festen Boden unter den Füßen. Er wird bemerken, wie Vorschlag, Anregung, Wunsch, Bereitwilligkeit, Leistung in die Nähe des Reichtums streben, und das ist durchaus ein Abbild des Geistes selbst. Denn auch Gedanken, die Macht gewinnen wollen, hängen sich an Gedanken, die schon Macht haben. Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll; der Unterschied zwischen einem strebenden und einem streberischen Gedanken läßt sich kaum fassen. Ist aber diese falsche Verknüpfung mit dem Großen einmal anstelle der weltlichen Armut und Reinheit des Geistes getreten, so drängt sich, und natürlich mit Recht, auch das für groß Geltende und schließlich das ein, was durch Reklame für groß gilt und durch kaufmännisches Geschick. Dann haben Sie Arnheim in aller Unschuld und Schuld!«
»Sie denken sehr heilig heute!« erwiderte Diotima spitz.
»Ich gebe zu, daß er mich wenig angeht; aber die Art und Weise, wie er die gemischten Wirkungen der äußeren und inneren Größe hinnimmt und eine vorbildliche Humanität daraus machen möchte, könnte mich allerdings zu wilder Heiligkeit reizen!«
»Oh, wie Sie irren!« unterbrach ihn nun Diotima heftig. »Sie stellen sich einen blasierten reichen Mann vor. Aber für Arnheim ist Reichtum eine unglaublich durchdringende Verantwortung. Er sorgt sich um sein Geschäft, wie es ein anderer um einen Menschen täte, der ihm anvertraut ist. Und Wirken ist für ihn eine tiefe Notwendigkeit; er begegnet der Welt freundlich, weil man sich regen muß, um, wie er sagt, geregt zu werden! Oder sagt das Goethe? Er hat es mir einmal eingehend auseinandergesetzt. Er steht auf dem Standpunkt, daß man Gutes erst dann zu wirken beginnen könne, wenn man überhaupt zu wirken begonnen hat; denn ich gestehe, daß auch ich manchmal den Eindruck hatte, er lasse sich zu sehr mit jedermann ein.«
Sie waren unter diesen Worten in dem leeren Vorzimmer auf und ab gegangen, wo nur Spiegel und Kleider hingen. Jetzt blieb Diotima stehn und legte die Hand auf den Arm ihres Vetters. »Dieser in jeder Weise vom Schicksal ausgezeichnete Mensch« sagte sie »hat den bescheidenen Grundsatz, daß der Einzelne nicht stärker ist als ein verlassener Kranker! Können Sie ihm nicht beipflichten: Wenn ein Mensch einsam ist, so gerät er in tausend Übertreibungen!« Sie blickte zu Boden, als ob sie dort etwas suchte, während sie den Blick ihres Vetters auf ihren gesenkten Augenlidern ruhen fühlte. »Oh, ich könnte von mir selbst sprechen, ich bin in der letzten Zeit sehr einsam gewesen,« fuhr sie fort »aber ich sehe es auch an Ihnen. Sie sind verbittert und nicht glücklich. Sie stehen in einem Mißverhältnis zu Ihrer Umgebung, das man an allen Ihren Ansichten merkt. Ein eifersüchtiges Naturell, stellen Sie sich allem entgegen. Ich will Ihnen offen gestehn, daß sich Arnheim bei mir darüber beklagt hat, daß Sie seine Freundschaft zurückweisen.«
»Er hat Ihnen erzählt, daß er meine Freundschaft wünscht? Da lügt er!«
Diotima sah auf und lachte. »Gleich sind Sie wieder übertrieben! Beide wünschen wir Ihre Freundschaft. Vielleicht gerade deshalb, weil Sie so sind. Aber da muß ich etwas weiter ausholen; Arnheim hat folgende Beispiele dafür gebraucht: –« Sie zögerte einen Augenblick, dann verbesserte sie sich: »Nein, es würde zu weit führen. Also kurz: Arnheim sagt, man müsse die Mittel gebrauchen, die einem seine Zeit an die Hand gebe; man soll sogar immer im Sinne zweier Ansichten handeln, nie ganz revolutionär und nie ganz gegenrevolutionär, nie völlig liebend, noch völlig hassend, nie einem Hang folgend, sondern alles entfaltend, was man in sich hat: Das ist aber nicht klug, wie Sie es ihm zumuten, sondern das Zeichen einer umfassenden, Oberflächenunterschiede durchstoßenden synthetisch-einfachen Natur, einer Herrennatur!«
»Und was hat das mit mir zu tun?« fragte Ulrich.
Der Einwand hatte die Wirkung, daß er die Erinnerung an ein Gespräch über Scholastik, Kirche, Goethe und Napoleon und den Nebel von Bildung zerriß, der sich um Diotimas Kopf verdickt hatte, und sie sah sich plötzlich sehr deutlich neben ihrem Vetter auf dem länglichen Schuhkasten sitzen, auf den sie ihn im Eifer niedergezogen hatte; sein Rücken wich eigensinnig den hinter ihm hängenden fremden Mänteln aus, während sich ihr Haar darinnen verwirrt hatte und gerichtet werden mußte. Indes sie es tat, antwortete sie: »Sie sind doch das Gegenteil davon! Sie möchten die Welt nach Ihrem Ebenbild umschaffen! Sie machen immer irgendwie passive Resistenz, wie dieses schreckliche Wort lautet!« Sie war sehr glücklich darüber, daß sie ihm so ausgiebig ihre Meinung sagen konnte. Aber sie durften nicht da sitzen bleiben, wo sie saßen, das überlegte sie zwischendurch, denn jeden Augenblick konnten Gäste aufbrechen oder aus anderen Gründen ins Vorzimmer kommen. »Sie sind voll Kritik, ich erinnere mich nicht, daß Sie je etwas gut gefunden hätten« fuhr sie fort; »aus Opposition loben Sie alles, was heute unerträglich ist. Wenn man angesichts der toten Wüste unserer entgötterten Zeit sich ein wenig Gefühl und Intuition retten möchte, kann man sicher sein, daß Sie das Spezialistentum, die Unordnung, das negative Sein schwärmerisch verteidigen!« Sie stand dabei lächelnd auf und gab ihm zu verstehen, daß sie einen anderen Platz suchen müßten. Sie konnten nur in die Zimmer zurück kehren oder, wenn sie das Gespräch fortsetzen wollten, sich vor den anderen verstecken; das Tuzzische Schlafzimmer wäre wohl durch eine Tapetentüre auch von dieser Seite zu erreichen gewesen, aber es kam Diotima doch zu vertraut vor, ihren Vetter dorthin zu führen, zumal beim Ausräumen der Wohnung für den Empfang jedesmal eine unberechenbare Unordnung in diesem Raum angehäuft wurde, und so blieben als Zuflucht nur die beiden Mägdekammern übrig. Der Gedanke, daß es eine lustige Mischung von Zigeunerei und Aufsichtspflicht sei, Rachels Zimmer, das sie sonst nie betrat, einmal unerwartet zu besichtigen, entschied. Im Gehen und während sie den Vorschlag entschuldigte und dann in der Kammer sprach sie weiter auf Ulrich ein: »Man gewinnt den Eindruck, daß Sie Arnheim bei jeder Gelegenheit konterminieren wollen. Ihr Widerspruch schmerzt ihn. Er ist ein großer Fall des heutigen Menschen. Er hat und braucht darum den Anschluß an die Wirklichkeit. Sie sind dagegen immer auf dem Sprung ins Unmögliche. Er ist Bejahung und ganz ausgeglichen; Sie sind eigentlich asozial. Er strebt nach Einheit, ist bis in die Fingernägel um Entscheidung bemüht; Sie setzen eine formlose Gesinnung dagegen. Er hat Sinn für Gewordenes; Sie aber? Was tun Sie? Sie tun, als ob die Welt erst morgen anfangen sollte. So sprechen Sie doch?! Vom ersten Tag an, gleich als ich Ihnen sagte, daß uns eine Gelegenheit geboten sei, Großes zu tun, haben Sie sich so gegeben. Und wenn man diese Gelegenheit als ein Schicksal ansieht und im entscheidenden Augenblick zusammengeführt worden ist und sozusagen mit schweigend fragendem Auge auf Antwort wartet, gebärden Sie sich recht wie ein böser Junge, der stören will!« Sie hatte das Bedürfnis, durch gescheite Worte die verfängliche Situation in dieser Kammer zu unterdrücken, und indem sie ihren Vetter etwas übertrieben auszankte, gewann sie Mut zu dieser Situation.
»Und wenn ich so bin, wozu können Sie mich verwenden?« fragte Ulrich. Er saß auf Rachels, der kleinen Zofe, kleinem Eisenbett, und Diotima saß auf dem kleinen Strohstuhl, eine Armlänge vor ihm. Aber da erhielt er von Diotima eine bewundernswerte Antwort. »Wenn ich mich einmal vor Ihnen« sagte sie unvermittelt »ganz gemein und schlecht benehmen könnte, würden Sie sicher wundervoll wie ein Erzengel sein!« Sie erschrak selbst darüber. Sie hatte bloß seine Widerspruchslust bezeichnen und den Scherz machen wollen, daß er gut und lieb sein würde, wenn man es nicht verdiente; aber unbewußt war dabei eine Quelle aufgesprungen und hatte Worte zum Vorschein gebracht, die ihr, nachdem sie ausgesprochen waren, sofort etwas sinnlos vorkamen und doch überraschenderweise ihr und ihrer Beziehung zu diesem Vetter anzugehören schienen.
Dieser fühlte es; er sah sie schweigend an, und nach einer Pause erwiderte er mit der Frage: »Sind Sie sehr, sind Sie maßlos in ihn verliebt?«
Diotima blickte zu Boden. »Was gebrauchen Sie für ungehörige Worte! Ich bin doch kein Backfisch, der sich verschossen hat!«
Aber ihr Vetter beharrte. »Ich frage aus einem Grund, den ich ungefähr angeben kann: ich will wissen, ob Sie schon das Verlangen kennengelernt haben, daß alle Menschen – ich denke dabei auch an die ärgsten Scheusale, die nebenan in Ihrem Zimmer sind – sich nackt ausziehen, einander die Arme um die Schultern schlingen und statt zu reden singen möchten; Sie aber müßten sodann von einem zum andern gehen und ihn schwesterlich auf die Lippen küssen. Wenn Sie es für zu anstößig halten, kann ich vielleicht Nachthemden zugestehen.«
Diotima erwiderte auf jeden Fall: »Sie geben sich mit netten Vorstellungen ab!«
»Aber sehen Sie, ich, ich kenne dieses Verlangen, wenn es auch lange her ist! Es hat doch sehr angesehene Leute gegeben, die behauptet haben, so sollte es eigentlich auf der Welt zugehen!«
»Dann sind Sie selbst schuld, wenn Sie es nicht tun!« fiel ihm Diotima ins Wort. »Man braucht es außerdem nicht so lächerlich auszumalen!« Sie hatte sich daran erinnert, daß ihr Abenteuer mit Arnheim unbezeichenbar sei und das Verlangen nach einem Leben weckte, wo die sozialen Unterschiede verschwinden und Tätigkeit, Seele, Geist und Traum eines sein sollten.
Ulrich erwiderte nichts. Er bot seiner Kusine eine Zigarette an. Sie nahm sie. Wie die Duftwolken das »enge Kämmerlein« füllten, überlegte Diotima, was sich Rachel denken werde, wenn sie die verhauchten Spuren dieses Besuchs finden wird. Sollte man lüften? Oder am kommenden Morgen der Kleinen Aufklärung geben? Merkwürdigerweise bewog sie gerade der Gedanke an Rachel zum Bleiben; sie war schon nahe daran gewesen, das allzu sonderbar werdende Beisammensein aufzuheben, aber die Vorrechte geistiger Überlegenheit und der für ihre Zofe unerklärliche Zigarettenduft eines geheimnisvollen Besuchs wurden irgendwie das gleiche und bereiteten ihr Vergnügen.
Ihr Vetter betrachtete sie. Es wunderte ihn, daß er so zu ihr gesprochen hatte, aber er fuhr fort; er sehnte sich nach Gesellschaft. »Ich will Ihnen sagen,« nahm er wieder das Wort »unter welchen Bedingungen ich so seraphisch sein könnte; denn seraphisch ist wohl kein zu großer Ausdruck dafür, daß man seinen Nebenmenschen nicht bloß körperlich erträgt, sondern sich ihm sozusagen bis unter den psychologischen Lendenschurz auch anfühlen kann, ohne einen Schauder zu empfinden.«
»Ausgenommen, er ist eine Frau!« schaltete Diotima in Erinnerung des üblen Rufes ein, den ihr Vetter in der Familie genoß.
»Auch das nicht ausgenommen!«
»Sie haben recht! Was ich den Menschen in der Frau lieben nenne, kommt ungeheuer selten vor!« Ulrich hatte nach Diotimas Auffassung seit einiger Zeit die Eigenschaft, daß seine Ansichten den ihren nahe kamen, aber es blieb doch immer verfehlt und nicht ganz ausreichend, was er sagte.
»Ich will es Ihnen ernst beschreiben« sagte er diesmal hartnäckig. Er saß vorgebeugt, hatte die Unterarme auf die muskulösen Schenkel gelegt und blickte finster zu Boden. »Wir sagen heute noch: ich liebe diese Frau, und ich hasse jenen Menschen, statt zu sagen, sie ziehen mich an oder stoßen mich ab. Und um einen Schritt genauer müßte man hinzufügen, daß ich es bin, der in ihnen die Fähigkeit erweckt, mich anzuziehen oder abzustoßen. Und noch um einen Schritt genauer müßte man dem hinzufügen, daß sie in mir die Eigenschaften hervorkehren, die dazu gehören. Und so weiter; man kann nicht sagen, wo da der erste Schritt geschieht, denn das ist eine gegenseitige, eine funktionale Abhängigkeit so wie zwischen zwei elastischen Bällen oder zwei geladenen Stromkreisen. Und wir wissen natürlich längst, daß wir auch so fühlen müßten, aber wir ziehen es noch immer beiweitem vor, die Ursache und Ur-Sache in den Kraftfeldern des Gefühls zu sein, die uns umgeben; selbst wenn unsereiner zugibt, er mache einen anderen nach, drückt er es so aus, als ob das eine aktive Leistung wäre! Darum habe ich Sie gefragt und frage Sie noch einmal, ob Sie schon je maßlos verliebt oder zornig oder verzweifelt gewesen sind. Denn dann begreift man bei einiger Beobachtungsgabe ganz genau, daß es einem mitten in der höchsten Erregung seiner selbst nicht anders geht wie einer Biene am Fenster oder einem Infusorium in vergiftetem Wasser: man erleidet einen Bewegungssturm, man fährt blind nach allen Seiten, man schlägt hundertmal gegen das Undurchdringliche und einmal, wenn man Glück hat, durch eine Pforte ins Freie, was man sich natürlich hinterdrein, in erstarrtem Bewußtseinszustand, als planvolle Handlung auslegt.«
»Ich muß Ihnen einwenden,« bemerkte Diotima »daß das eine trostlose und unwürdige Auffassung von Gefühlen wäre, die das ganze Leben eines Menschen zu entscheiden vermögen.«
»Es schwebt Ihnen vielleicht die alte, langweilig gewordene Streitfrage vor, ob der Mensch Herr seiner selbst sei oder nicht« entgegnete Ulrich, rasch aufblickend. »Wenn alles eine Ursache hat, dann kann man für nichts, und dergleichen? Ich muß Ihnen gestehn, daß mich das in meinem ganzen Leben nicht eine Viertelstunde lang interessiert hat. Es ist die Fragestellung einer Zeit, die unmerklich überholt worden ist; sie kommt von der Theologie, und außer Juristen, die noch sehr viel Theologie und Ketzerverbrennung in der Nase haben, fragen nach Ursachen heute nur noch Familienmitglieder, die sagen: Du bist die Ursache meiner schlaflosen Nächte, oder: der Kurssturz in Getreide war die Ursache seines Unglücks. Aber fragen Sie einen Verbrecher, nachdem Sie sein Gewissen aufgerüttelt haben, wie er dazu gekommen ist! Er weiß es nicht; auch dann nicht, wenn sein Bewußtsein nicht während eines einzigen Augenblicks der Tat abwesend war!«
Diotima richtete sich höher auf. »Warum sprechen Sie so oft von Verbrechern? Sie lieben das Verbrechen besonders. Das muß doch etwas bedeuten?«
»Nein« entgegnete der Vetter. »Es bedeutet nichts. Höchstens eine gewisse Angeregtheit. Das gewöhnliche Leben ist ein Mittelzustand aus allen uns möglichen Verbrechen. Aber da wir schon das Wort Theologie gebraucht haben, möchte ich Sie etwas fragen.«
»Gewiß wieder, ob ich schon einmal maßlos verliebt oder eifersüchtig war!?«
»Nein. Überlegen Sie einmal: Wenn Gott alles vorher bestimmt und weiß, wie kann der Mensch sündigen? So wurde ja früher gefragt, und sehen Sie, es ist noch immer eine ganz moderne Fragestellung. Eine ungemein intrigante Vorstellung von Gott hatte man sich da gemacht. Man beleidigt ihn mit seinem Einverständnis, er zwingt den Menschen zu einer Verfehlung, die er ihm übelnehmen wird; er weiß es ja nicht nur vorher – für solche resignierte Liebe hätten wir immer Beispiele –, sondern er veranlaßt es! In einer ähnlichen Lage zu einander befinden wir uns heute alle. Das Ich verliert die Bedeutung, die es bisher gehabt hat, als ein Souverän, der Regierungsakte erläßt; wir lernen sein gesetzmäßiges Werden verstehn, den Einfluß seiner Umgebung, die Typen seines Aufbaus, sein Verschwinden in den Augenblicken der höchsten Tätigkeit, mit einem Wort, die Gesetze, die seine Bildung und sein Verhalten regeln. Bedenken Sie: die Gesetze der Persönlichkeit, Kusine! Es ist das wie ein gewerkschaftlicher Zusammenschluß der einsamen Giftschlangen oder eine Handelskammer für Räuber! Denn da Gesetze wohl das Unpersönlichste sind, was es auf der Welt gibt, wird die Persönlichkeit bald nicht mehr sein als ein imaginärer Treffpunkt des Unpersönlichen, und es wird schwerhalten, für sie jenen ehrenvollen Standpunkt zu finden, den Sie nicht entbehren mögen ...«
So sprach ihr Vetter, und Diotima wandte gelegentlich ein: »Aber lieber Freund, man soll doch alles gerade so persönlich tun wie nur möglich!« – Schließlich sagte sie: »Sie sind wirklich sehr theologisch heute; von dieser Seite habe ich Sie ja gar nicht gekannt!« Sie saß wieder wie eine ermüdete Tänzerin da. Ein kräftiges und schönes Stück Weib; irgendwie fühlte sie das selbst in ihren Gliedern. Sie hatte ihren Vetter wochenlang gemieden, vielleicht waren es sogar schon Monate. Aber sie mochte den Gleichaltrigen. Er sah lustig aus, im Frack, in der schwach beleuchteten Kammer, schwarz und weiß wie ein Ordensritter; dieses Schwarz und Weiß hatte etwas von der Leidenschaft eines Kreuzes. Sie sah sich in der bescheidenen Kammer um, die Parallelaktion war weit, große leidenschaftliche Kämpfe lagen hinter ihr, dieses Zimmer war einfach wie die Pflicht, gemildert durch Palmkätzchen und unbeschriebene ausgemalte Ansichtskarten in den Spiegelecken; zwischen diesen, von der Pracht der Großstadt umkränzt, erschien also Rachels Gesicht, wenn die Kleine sich im Spiegel betrachtete. Wo wusch sie sich eigentlich? In jenem schmalen Kästchen mußte, wenn man es aufklappte, eine Blechschüssel stehn – erinnerte sich Diotima, und dann dachte sie: dieser Mann will und will nicht.
Sie sah ihn ruhig an, eine freundliche Zuhörerin. »Will mich Arnheim wirklich heiraten?« fragte sie sich. Er hat es gesagt. Aber er hat dann weiter nicht darauf gedrungen. Er hat so viel anderes zu reden. Aber auch ihr Vetter hätte eigentlich, statt von abliegenden Dingen zu reden, fragen müssen: Wie steht es also? Warum frug er nicht?! Es kam ihr vor, daß er sie verstehen müßte, wenn sie ihm ausführlich von ihren inneren Kämpfen erzählen würde. »Wird es mir zugute kommen?« hatte er gewohnheitsgemäß gefragt, als sie ihm erzählte, daß sie sich geändert habe. Frech! Diotima lächelte.
Diese beiden Männer waren im Grunde gemeinsam recht sonderbar. Warum war ihr Vetter auf Arnheim so schlecht zu sprechen? Sie wußte, daß Arnheim seine Freundschaft suchte; aber auch Ulrich, nach seinen eigenen heftigen Bemerkungen zu schließen, wurde von Arnheim beschäftigt. »Und wie er ihn mißversteht,« dachte sie noch einmal »man kann nicht dagegen aufkommen!« Übrigens lehnte sich jetzt nicht nur ihre Seele gegen ihren an Sektionschef Tuzzi verheirateten Körper auf, sondern zuweilen lehnte sich auch ihr Körper gegen die Seele auf, die durch Arnheims zögernde und übersteigernde Liebe am Rand einer Wüste schmachtete, über der vielleicht nur eine täuschende Spiegelung der Sehnsucht zitterte. Sie hätte ihr Leid und ihre Schwäche mit ihrem Vetter teilen mögen; die entschlossene Einseitigkeit, die er gewöhnlich an den Tag legte, gefiel ihr. Arnheims ausgeglichene Vielseitigkeit war ja gewiß höher zu stellen, aber Ulrich würde im Augenblick einer Entscheidung nicht so schwanken, trotz seiner Theorien, die alles am liebsten ins völlig Unbestimmte aufgelöst hätten. Das fühlte sie und wußte nicht, woran; wahrscheinlich gehörte es zu dem, was sie von Anfang ihrer Bekanntschaft an für ihn gefühlt hatte. Wenn ihr in diesem Augenblick Arnheim als eine ungeheure Anstrengung, eine königliche Bürde ihrer Seele vorkam, eine Bürde, die ihre Seele nach allen Richtungen überragte, so schien ihr alles, was Ulrich sagte, einzig und allein die Wirkung zu haben, daß man über hunderterlei Beziehungen die der Verantwortung verlor und in einen verdächtigen Zustand der Freiheit geriet. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis, sich schwerer zu machen, als sie war; und nicht recht zu sagen wodurch, aber es erinnerte sie gleichzeitig daran, wie sie als Mädchen einmal einen kleinen Knaben auf ihren Armen aus einer Gefahr getragen, und er hatte sie eigensinnig mit den Knien immerzu gegen den Bauch gestoßen, um sich dagegen zu wehren. Die Kraft dieser Erinnerung, die ihr so unvorhergesehen eingefallen war, als wäre sie durch den Schornstein in das einsame kleine Zimmer gefahren, brachte sie ganz aus dem Gleichgewicht. »Maßlos?« dachte sie. Warum frug er sie immerzu danach? Als ob sie nicht maßlos sein könnte?! Sie hatte vergessen, ihm zuzuhören, sie wußte nicht, ob es am Platz sei oder nicht, sie unterbrach ihn einfach, schob alles fort, was er sprach, und gab ihm auf alles und ein für allemal und lachend (nur daß ihr vorkam, sie lache, war in der plötzlichen planlosen Aufregung nicht ganz verläßlich) die Antwort: »Aber ich bin ja maßlos verliebt!«
Ulrich lächelte ihr ins Gesicht. »Das können Sie gar nicht« sagte er.
Sie war aufgestanden, hatte die Hände am Haar, sah ihn mit erstaunt stehenbleibenden Augen an.
»Um maßlos zu sein,« erklärte er ruhig »muß man ganz genau und sachlich sein. Zwei Ich, die es wissen, wie fraglich Ich heute ist, halten sich aneinander, so stelle ich mir das vor, wenn es durchaus Liebe sein muß, und nicht bloß eine übliche Betätigung; sie sind so ineinander verkettet, daß eines die Ursache des anderen ist, wenn sie fühlen, ins Große verändert zu werden, und treiben wie ein Schleier. Da ist es ungeheuer schwer, keine falschen Bewegungen zu machen, selbst wenn man eine Zeitlang schon die richtigen hat. Es ist einfach schwer, in der Welt das Richtige zu fühlen! Ganz entgegen einem allgemeinen Vorurteil, gehört beinahe Pedanterie dazu. Übrigens habe ich Ihnen gerade das sagen wollen. Sie haben mir sehr geschmeichelt, Diotima, als Sie mir die Möglichkeit eines Erzengels zusprachen; bei aller Bescheidenheit, wie Sie gleich sehen werden. Denn nur wenn Menschen ganz sachlich wären – und das ist ja beinahe dasselbe wie unpersönlich –, dann wären sie auch ganz Liebe. Weil sie nur dann auch ganz Empfindung und Gefühl und Gedanke wären; und alle Elemente, die den Menschen bilden, sind zärtlich, denn sie streben zueinander, nur der Mensch selbst ist es nicht. Maßlos verliebt sein, ist also etwas, das Sie vielleicht gar nicht möchten...!«
Er hatte versucht, das möglichst unfeierlich zu sagen; er zündete sich zur Regelung des Gesichtsausdrucks sogar eine neue Zigarette an, und auch Diotima nahm aus Verlegenheit eine, die er ihr anbot. Sie machte eine spaßhaft trotzige Miene und blies den Rauch in die Luft, um ihre Unabhängigkeit zu zeigen, denn sie hatte ihn nicht ganz verstanden. Aber in seiner Gänze als Geschehnis wirkte es doch lebhaft auf sie, daß ihr Vetter alles das mit einemmal gerade in dieser Kammer, wo sie allein waren, zu ihr sagte und sich dabei nicht die kleinste gewöhnliche Mühe gab, ihre Hand zu fassen oder ihr Haar zu berühren, obgleich sie die Anziehung, die die Körper auf einander in dieser Enge ausübten, wie einen magnetischen Strom spürten. – Wenn sie sich nun...? dachte sie. – Aber was konnte man überhaupt in dieser Kammer tun? Sie sah sich um. Wie eine Dirne benehmen? Aber wie macht man das? Wenn sie flennen würde? Flennen, das war ein Schulmädelwort, das ihr plötzlich einfiel. Wenn sie plötzlich täte, was er verlangt, sich ausziehen, den Arm um seine Schulter legen und singen, was singen? Harfe spielen? Sie sah ihn lächelnd an. Er kam ihr wie ein ungezogener Bruder vor, in dessen Gesellschaft man treiben könnte, was man wollte. Auch Ulrich lächelte. Aber sein Lächeln war wie ein blindes Fenster; denn nachdem er der Verführung unterlegen war, dieses Gespräch mit Diotima zu führen, fühlte er sich bloß davon beschämt. Dennoch ahnte ihr dabei etwas von der Möglichkeit, diesen Mann zu lieben; es kam ihr so vor, wie ihrer Ansicht nach die moderne Musik war, ganz unbefriedigend, aber voll einer aufregenden Andersartigkeit. Und obgleich sie annahm, daß sie natürlich mehr davon ahne als er selbst, begannen, wie sie vor ihm stand, ihre Beine heimlich zu glühen, so daß sie mit einer Miene, als ob das Gespräch schon zu lange gedauert hätte, ihrem Vetter etwas plötzlich sagte: »Lieber Freund, wir tun etwas ganz Unmögliches; bleiben Sie noch einen Augenblick hier allein, ich werde vorausgehn, um mich wieder unseren Gästen zu zeigen.«

Gerda wartete vergeblich auf Ulrichs Besuch. Die Wahrheit war, er hatte dieses Versprechen vergessen oder erinnerte sich in Augenblicken daran, wo er anderes vorhatte.
»Laß ihn!« sagte Frau Klementine, wenn Direktor Fischel murrte. »Früher waren wir ihm gut genug, und jetzt ist er wahrscheinlich anmaßend geworden. Wenn du ihn aufsuchst, machst du es noch schlechter; du bist viel zu ungeschickt dazu.«
Gerda sehnte sich nach dem älteren Freund. Sie wünschte ihn herbei und wußte, daß sie ihn fortwünschen würde, wenn er käme. Sie hatte trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch nichts erlebt, außer einem Herrn Glanz, der sich, von ihrem Vater unterstützt, vorsichtig um sie bewarb, und ihren christ-germanischen Freunden, die ihr manchmal nicht wie Männer, sondern wie Schulbuben vorkamen. »Warum kommt er nie?« frug sie sich, wenn sie an Ulrich dachte. Es galt im Kreis ihrer Freunde für sicher, daß die Parallelaktion den Ausbruch einer geistigen Vernichtung des deutschen Volks bedeute, und sie schämte sich seiner Beteiligung; sie würde gerne gehört haben, wie er selbst darüber denke, und hoffte, daß er Gründe habe, die ihn entlasteten.
Ihre Mutter sagte zu ihrem Vater: »Du hast den Anschluß an diese Sache versäumt. Es wäre für Gerda gut gewesen und hätte sie auf andere Gedanken gebracht; eine Menge Leute verkehren bei Tuzzis.« Es war herausgekommen, daß er die Einladung Sr. Erlaucht zu beantworten verabsäumt hatte. Er hatte zu leiden.
Die jungen Leute, die Gerda ihre Freundgeister nannte, hatten sich in seinem Haus festgesetzt wie die Freier der Penelope und berieten darin, was ein junger und deutscher Mensch angesichts der Parallelaktion zu tun habe. »Ein Finanzmann muß unter Umständen den Sinn eines Mäzens zeigen!« verlangte Frau Klementine von ihm, wenn er heftig beteuerte, daß er Hans Sepp, den »Seelenführer« Gerdas, nicht für sein gutes Geld seinerzeit als Hauslehrer aufgenommen habe, damit nun das daraus entstünde! – Denn so war es: Hans Sepp, der Student, der nicht die geringste Aussicht auf eine Versorgung bot, war als Lehrer ins Haus gekommen und hatte sich durch nichts als die darin herrschenden Gegensätze zum Tyrannen aufgeworfen; nun beriet er mit seinen Freunden, die Gerdas Freunde geworden waren, bei Fischels, wie man den deutschen Adel retten solle, der bei Diotima (von der es hieß, daß sie keinen Unterschied zwischen rasseneigenen und rassenfremden Personen mache) in die Netze des Judengeistes fiel. Und wenn das auch in Leo Fischels Gegenwart gewöhnlich nur mit einer gewissen schonenden Sachlichkeit erörtert wurde, zeitigte es noch genug Worte und Grundsätze, die ihm auf die Nerven fielen. Man beunruhigte sich darüber, daß in einem Jahrhundert, dem es nicht gegeben sei, große Symbole hervorzubringen, ein solcher Versuch gemacht werde, der zur vollendeten Katastrophe führen müsse, und die Worte hochbedeutsam, Empormenschlichung und freie Menschbarkeit machten allein schon den Zwicker auf Fischels Nase erzittern, jedesmal wenn er sie hörte. In seinem Hause wuchsen Begriffe wie Lebensdenkkunst, geistiges Wuchsbild und Tatschwebung. Er kam darauf, daß alle vierzehn Tage bei ihm eine »Läuterungsstunde« abgehalten wurde. Er drang auf Aufklärung. Es stellte sich heraus, daß dabei gemeinsam Stefan George gelesen wurde. Leo Fischel suchte vergeblich in seinem alten Konversationslexikon, wer das sei. Was ihn, den alten Liberalen, aber am meisten ärgerte, war, daß diese Grünschnäbel, wenn sie von der Parallelaktion sprachen, alle beteiligten Ministerialreferenten, Bankpräsidenten und Gelehrten »aufgestutzte Menschlein« nannten; daß sie blasiert behaupteten, es gebe heutzutage keine großen Ideen mehr oder es sei niemand mehr da, der sie verstünde; daß sie sogar die Humanität für eine Phrase erklärten und nur noch die Nation oder, wie sie es nannten, das Volkstum und Brauchtum für etwas Wirkliches gelten ließen.
»Ich kann mir unter Menschheit nichts vorstellen, Papa« erwiderte Gerda, wenn er ihr Vorhaltungen machte, »das hat heute keinen Inhalt mehr; aber meine Nation, das ist körperlich!«
»Deine Nation!« begann dann Leo Fischel und wollte etwas von den großen Propheten sagen und von seinem eigenen Vater, der Rechtsanwalt in Triest gewesen war.
»Ich weiß« unterbrach ihn Gerda. »Aber meine Nation ist die geistige; von der spreche ich.«
»Ich werde dich solange in dein Zimmer sperren, bis du Vernunft annimmst!« sagte dann Papa Leo. »Und deinen Freunden werde ich das Haus verbieten. Das sind undisziplinierte Menschen, die sich unausgesetzt mit ihrem Gewissen beschäftigen, statt zu arbeiten!«
»Ich weiß, Papa,« erwiderte Gerda »wie du denkst. Ihr älteren Menschen glaubt, daß ihr uns entwürdigen dürft, weil Ihr uns ernährt. Ihr seid patriarchalische Kapitalisten.«
Solche Gespräche ereigneten sich durch väterliche Sorge nicht selten.
»Und wovon wolltest du leben, wenn ich nicht Kapitalist wäre?!« fragte der Herr des Hauses.
»Ich kann nicht alles wissen« schnitt Gerda gewöhnlich eine solche Erweiterung des Gesprächs ab. »Aber ich weiß, daß Wissenschafter, Erzieher, Seelsorger, Politiker und andere Werkmenschen schon daran sind, neue Glaubenswerte zu schaffen!«
Vielleicht bemühte sich Direktor Fischel noch, ironisch zu fragen »Diese Seelsorger und Politiker seid Ihr wohl selbst?!« aber er tat es nur, um das letzte Wort zu behalten; er war am Ende immer froh, daß Gerda nicht merkte, wie sehr ihm etwas, das unvernünftig war, schon durch Gewohnheit die Befürchtung nahelegte, daß er werde nachgeben müssen. Es kam so weit, daß er am Schluß solcher Unterredungen einigemal sogar die Ordnung der Parallelaktion vorsichtig zu loben anfing, als Gegensatz zu den wilden Gegenbemühungen in seinem Haus; aber es geschah nur, wenn Klementine nicht in Hörweite war.
Was Gerdas Widerstand gegen die Ermahnungen ihres Vaters einen stillen Märtyrereigensinn verlieh und auch von Leo und Klementine verwirrt empfunden wurde, war ein durch dieses Haus schwebender Hauch von unschuldiger Wollust. Es wurde unter den jungen Menschen über vielerlei gesprochen, wovon die Eltern erbittert schwiegen. Selbst was sie nationales Gefühl nannten, diese Verschmelzung ihrer Ichs, die sich immerzu stritten, in eine erträumte Einigkeit, die bei ihnen germanische Christbürgergemeinschaft hieß, hatte im Gegensatz zu den wurmenden Liebesbeziehungen der Älteren etwas von geflügeltem Eros an sich. Sie verachteten altklug die »Gier«, die »aufgestutzte Lüge des plumpen Daseinsgenusses«, wie sie es nannten, aber von Übersinnlichkeit und Inbrunst sprachen sie so viel, daß in der Seele des betroffenen Zuhörers unwillkürlich und durch Kontrast ein zartes Gedenken an Sinnlichkeit und Brunst entstand, und sogar Leo Fischel mußte zugeben, daß der rückhaltlose Eifer, mit dem sie sprachen, zuweilen den Zuhörer die Wurzeln ihrer Ideen bis in die Beine fühlen mache, was er jedoch tadelte, denn er verlangte, daß man angesichts großer Ideen ein Aufschauen empfinden müsse.
Klementine dagegen sagte: »Du solltest nicht einfach alles von dir weisen, Leo!«
»Wie können sie behaupten: Besitz entgeistigt!« fing er dann mit ihr zu streiten an. »Bin ich entgeistigt?! Vielleicht bist du es schon zur Hälfte, weil du ihre Redereien ernst nimmst!«
»Das verstehst du nicht, Leo; sie meinen es christlich, sie wollen an diesem Leben vorbei, zu einem höheren Leben auf Erden gelangen.«
»Das ist nicht christlich, sondern verdreht!« verwahrte sich Leo.
»Die wahre Wirklichkeit sehen am Ende vielleicht doch nicht die Realisten, sondern die, welche nach innen schaun« meinte Klementine.
»Ich lache!« behauptete Fischel. Aber er irrte sich, er weinte; innerlich, vor Unmacht, der geistigen Veränderungen in seiner Umgebung Herr zu werden.
Direktor Fischel empfand jetzt öfter als früher das Bedürfnis nach frischer Luft; nach Schluß der Arbeit drängte es ihn nicht, nach Hause zu eilen, und wenn er noch bei Tag aus seinem Büro kam, liebte er es, sich ein wenig in einem der Stadtgärten herumzutreiben, obgleich es Winter war. Er hatte noch aus seiner Praktikantenzeit eine Vorliebe für diese Gärten. Aus einem Grund, den er nicht einsehen konnte, hatte die Stadtverwaltung im Spätherbst die eisernen Klappstühle darin neu anstreichen lassen; nun standen sie frischgrün, aneinander gelehnt auf den schneeweißen Wegen und erregten die Phantasie mit Frühlingsfarben. Leo Fischel ließ sich zuweilen auf einem solchen Stuhl nieder, ganz allein und eingemummt, am Rand eines Spielplatzes oder einer Promenade, und sah den Kinderfräulein zu, die sich mit ihren Pfleglingen in der Sonne ein Ansehen von Wintergesundheit gaben. Sie spielten Diavolo oder warfen kleine Schneeballen, und die kleinen Mädchen machten große Frauenaugen; – ach, – dachte Fischel – es sind gerade jene Augen, die im Antlitz einer erwachsenen schönen Frau den herrlichen Eindruck hervorrufen, daß sie Kinderaugen habe. Es tat ihm wohl, den kleinen spielenden Mädchen zuzusehen, in deren Augen die Liebe noch im Märchenteich schwamm, aus dem sie später der Storch holt; und zuweilen auch den Erzieherinnen. In seinen jungen Jahren hatte er oft diesen Anblick genossen, als er noch vor der Auslagenscheibe des Lebens stand und kein Geld besaß, um einzutreten, sondern nur darüber nachdenken durfte, was ihm sein Schicksal später bescheren würde. Es sei kläglich genug ausgefallen, fand er und glaubte einen Augenblick voll der Spannung der Jugend wieder zwischen weißem Krokus und grünem Gras zu sitzen. Kehrte danach sein Wirklichkeitsbewußtsein zu der Feststellung von Schnee und grünem Eisenlack zurück, so dachte er, merkwürdig genug, jedesmal an sein Einkommen; Geld gibt Unabhängigkeit, aber derzeit ging sein Gehalt ganz für die Bedürfnisse der Familie und die von der Vernunft geforderten Rücklagen auf; man müßte also wohl – überlegte er – neben seinem Dienst noch irgendetwas anderes tun, um sich unabhängig zu machen, vielleicht die Kenntnis der Börse ausnutzen, die man besitzt, so wie es die Hauptdirektoren taten. Solche Gedanken nahten Leo aber nur, wenn er den spielenden Mädchen zusah, und er wies sie zurück, weil er keineswegs das zur Spekulation nötige Temperament in sich fühlte. Er war Prokurist, trug bloß den Titel Direktor, hatte keine Aussicht, darüber hinauszukommen, und schüchterte sich sofort geflissentlich mit dem Gedanken ein, daß ein solcher armer Arbeitsrücken wie der seine schon zu gebückt sei, um sich frei aufzurichten. Er wußte nicht, daß er das bloß dachte, um zwischen sich und den schönen Kindern und Kinderfräulein, die in diesen Gartenaugenblicken die Stelle der Lebenslockung bei ihm vertraten, ein unübersteigliches Hindernis aufzurichten; denn er war, selbst in der mißmutigen Stimmung, die ihn abhielt, nach Hause zu gehn, ein unverbesserlicher Familienmensch und würde alles darum gegeben haben, wenn er bloß den Höllenkreis daheim in einen um Gottvater-Titulardirektor schwebenden Kreis von Engeln hätte verwandeln können.
Auch Ulrich hatte die Gärten gern und kreuzte sie, wenn sein Weg es erlaubte; so kam es, daß er in dieser Zeit wieder mit Fischel zusammenstieß, und diesem fiel augenblicklich alles ein, was er wegen der Parallelaktion zu Hause schon erlitten hatte. Er äußerte sich unbefriedigt darüber, daß sein junger Freund die Einladungen seiner alten Freunde nicht besser schätze, was er sich um so viel ehrlicher einreden konnte, als auch flüchtige Freundschaften mit der Zeit ebenso zu alten werden wie die lebhaftesten.
Der alte junge Freund behauptete, daß es ihm wirklich die größte Freude bereite, Fischel wiederzusehn, und klagte über seine lächerliche Tätigkeit, die ihn bisher daran verhindert habe.
Fischel klagte über schlechte Zeitentwicklung und schweres Geschäft. Überhaupt Lockerung der Moral. Es sei alles so materiell und überhastet.
»Und ich dachte gerade, daß ich Sie beneiden könnte!« gab Ulrich zurück. »Der Beruf des Kaufmanns muß doch ein wahres Sanatorium der Seele sein! Zumindest ist er der einzige Beruf mit einer ideell sauberen Grundlage!«
»Das ist er!« bekräftigte Fischel. »Der Kaufmann dient dem menschlichen Fortschritt und begnügt sich mit einem erlaubten Nutzen. Er hat es dabei genau so schlecht wie jeder andere!« fügte er dunkel melancholisch hinzu.
Ulrich hatte sich bereit erklärt, ihn nach Hause zu begleiten.
Als sie dort eintrafen, fanden sie schon eine aufs äußerste gespannte Stimmung vor.
Alle Freunde hatten sich eingefunden, und es war eine große Wortschlacht im Gange. Diese jungen Leute besuchten noch das Gymnasium oder sie waren in den ersten Semestern der Hochschulen, einige von ihnen hatten auch eine Anstellung als Kaufleute. Wie ihr Kreis sich zusammengeschlossen hatte, wußten sie selbst nicht mehr. Von Mann zu Mann. Die einen hatten sich in nationalen Studentenverbindungen kennengelernt, andere in sozialistischen oder in der katholischen Jugendbewegung, dritte in einer Wandervogelhorde.
Man geht nicht ganz fehl, wenn man annimmt, daß das einzige ihnen allen Gemeinsame Leo Fischel war. Eine geistige Bewegung braucht, wenn sie dauern soll, einen Körper, und das war die Fischelsche Wohnung, samt Verpflegung und einer gewissen Regelung des Verkehrs durch Frau Klementine. Zu dieser Wohnung gehörte Gerda, zu Gerda gehörte Hans Sepp, und Hans Sepp, der Student mit dem unreinen Teint und der umso reineren Seele, war zwar nicht der Führer, weil die jungen Leute keinen Führer anerkannten, aber er war die stärkste Leidenschaft unter ihnen. Gelegentlich kamen sie wohl auch anderswo zusammen, und es hospitierten dann auch andere Frauen als Gerda; aber so, wie geschildert, war der Kern der Bewegung beschaffen.
Trotz alledem war es so merkwürdig, woher der Geist dieser jungen Leute kam, wie es das Auftreten einer neuen Krankheit oder das einer langen Trefferreihe im Glücksspiel ist. Als die Sonne des alten europäischen Idealismus zu verlöschen begann und der weiße Geist sich verdunkelte, wurden viele Fackeln von Hand zu Hand gereicht – Ideenfackeln; weiß Gott, wo sie gestohlen oder erfunden worden waren! – und bildeten da und dort den auf und nieder tanzenden Feuersee einer kleinen Geistesgemeinschaft. So war in den letzten Jahren, ehe der große Krieg die Folgerung daraus zog, unter jungen Menschen auch viel von Liebe und Gemeinschaft die Rede, und besonders die jungen Antisemiten im Haus des Bankdirektors Fischel standen im Zeichen alles umfassender Liebe und Gemeinschaft. Wahre Gemeinschaft ist das Wirken eines inneren Gesetzes, und das tiefste, einfachste, vollkommenste und erste ist das Gesetz der Liebe. Wie schon bemerkt worden, nicht Liebe im niederen, sinnlichen Sinn; denn körperlicher Besitz ist eine mammonistische Erfindung und wirkt nur trennend und entsinnend. Und natürlich kann man auch nicht jeden Menschen lieben. Aber vor eines jeden Charakter kann man Achtung haben, sofern er als wahrhafter Mensch strebt, unter strengster eigener Verantwortlichkeit. So stritten sie im Namen der Liebe gemeinsam über alles.
An diesem Tag aber hatte sich eine einige Front gegen Frau Klementine gebildet, die sich so gern noch einmal jung fühlte und innerlich zugab, daß die eheliche Liebe wirklich viel mit dem Zinsendienst eines Kapitals gemeinsam habe, aber keineswegs erlauben wollte, daß man über die Parallelaktion aburteile, weil die Arier nur dann fähig seien, Symbole zu schaffen, wenn sie rein unter sich sind. Frau Klementine hielt nur noch mit Mühe an sich, und Gerda hatte kreisrunde rote Flecken unter den Backen, vor Wut über ihre Mutter, die nicht zu bewegen war, das Zimmer zu verlassen. Als Leo Fischel mit Ulrich die Wohnung betreten hatte, machte sie Hans Sepp heimlich bittende Zeichen, daß er abbrechen möge, und Hans sagte versöhnlich: »Menschen unserer Zeit gelingt es überhaupt nicht, etwas Großes zu schaffen!« womit er die Sache auf eine unpersönliche Formel gebracht zu haben glaubte, an die man schon gewöhnt war.
In diesem Augenblick mischte sich aber Ulrich unglücklicherweise in das Gespräch und fragte Hans, mit ein wenig Bosheit gegen Fischel, ob er denn in gar keiner Weise an einen Fortschritt glaube?
»Fortschritt?!« antwortete Hans Sepp von oben. »Vergleichen Sie bloß, was für Menschen vor hundert Jahren dagewesen sind, ehe es zum Fortschritt kam: Beethoven! Goethe! Napoleon! Hebbel!«
»Hm,« meinte Ulrich »der letzte war vor hundert Jahren gerade ein Säugling.«
»Zahlengenauigkeit verachten die jungen Herrschaften!« erklärte Direktor Fischel vergnügt. Ulrich ging nicht darauf ein; er wußte, daß Hans Sepp ihn eifersüchtig verachte, aber er selbst hatte mancherlei für die wunderlichen Freunde Gerdas übrig. Er setzte sich darum in den Kreis und fuhr fort: »Wir machen in den einzelnen Zweigen des menschlichen Könnens unleugbar so viele Fortschritte, daß wir ordentlich das Gefühl haben, ihnen nicht nachkommen zu können; wäre es nicht möglich, daß daraus auch das Gefühl entsteht, wir erlebten keinen Fortschritt? Schließlich ist Fortschritt doch das, was sich aus allen Anstrengungen gemeinsam ergibt, und man kann eigentlich von vornherein sagen, der wirkliche Fortschritt wird immer gerade das sein, was keiner wollte.«
Hans Sepps dunkler Schopf richtete sich wie ein zitterndes Horn gegen ihn. »Da sagen Sie es doch selbst: Was keiner wollte! Ein gackerndes Hin und Her; hundert Wege, aber kein Weg! Gedanken also, aber keine Seele! Und kein Charakter! Der Satz springt aus der Seite, das Wort springt aus dem Satz, das Ganze ist kein Ganzes mehr – sagt schon Nietzsche; ganz abgesehen davon, daß Nietzsches Ichsucht auch ein Daseinsunwert ist! Nennen Sie mir einen einzigen festen, letzten Wert, nach dem zum Beispiel Sie sich in Ihrem Leben richten!«
»Ausgerechnet sofort!« protestierte Direktor Fischel; aber Ulrich fragte Hans: »Sind Sie wirklich niemals imstande, ohne einen letzten Wert zu leben?«
»Nein« sagte Hans. »Aber ich gebe Ihnen zu, daß ich deshalb unglücklich sein muß.«
»Der Teufel soll Sie holen!« lachte Ulrich. »Alles, was wir können, beruht darauf, daß wir nicht allzu streng sind und auf die höchste Erkenntnis warten; das Mittelalter hat das getan und ist unwissend geblieben.«
»Das ist sehr die Frage« antwortete Hans Sepp. »Ich behaupte, daß wir unwissend sind!«
»Aber Sie müssen zugeben, daß unsere Unwissenheit offenbar eine äußerst glückliche und abwechslungsreiche ist.«
Aus dem Hintergrund brummte eine gelassene Stimme: »Abwechslungsreich! Wissen! Relativer Fortschritt! Das sind Begriffe der mechanischen Denkweise einer vom Kapitalismus zerfaserten Zeit! Mehr brauche ich Ihnen nicht zu sagen –«
Auch Leo Fischel brummte; soviel zu verstehen war, fand er, daß Ulrich mit diesen respektlosen Jungen sich viel zu sehr einlasse; er verschanzte sich hinter einer Zeitung, die er aus der Tasche zog.
Aber Ulrich machte es nun einmal Vergnügen. »Ist das moderne Bürgerhaus mit Sechszimmerwohnung, Dienstbotenbad, Vacuum Cleaner und so weiter, wenn man es mit den alten Häusern vergleicht, die hohe Zimmer, dicke Mauern und schöne Gewölbe haben, ein Fortschritt oder nicht?« fragte er.
»Nein!« schrie Hans Sepp.
»Ist das Flugzeug ein Fortschritt gegenüber der Postkutsche?«
»Ja!« schrie Direktor Fischel.
»Die Kraftmaschine gegenüber der Handarbeit?«
»Handarbeit!« schrie Hans, »Maschine!« Leo.
»Ich denke,« sagte Ulrich »jeder Fortschritt ist zugleich ein Rückschritt. Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinn. Und da unser Leben im Ganzen keinen Sinn hat, hat es im Ganzen auch keinen Fortschritt.«
Leo Fischel ließ die Zeitung sinken: »Halten Sie es für besser, in sechs Tagen über den Atlantik zu fahren oder sechs Wochen dazu zu brauchen?!«
»Ich würde wahrscheinlich sagen, es sei unbedingt ein Fortschritt, beides zu können. Unsere jungen Christen bestreiten jedoch auch das.«
Der Kreis blieb reglos wie ein gespannter Bogen. Ulrich hatte das Gespräch gelähmt, aber nicht die Angriffslust. Er fuhr ruhig fort: »Aber man kann auch das Umgekehrte sagen: Wenn unser Leben Fortschritte im einzelnen hat, hat es Sinn im einzelnen. Wenn es aber einmal einen Sinn gehabt hat, zum Beispiel den Göttern Menschen zu opfern oder Hexen zu verbrennen oder das Haar zu pudern, dann bleibt das doch ein sinnvolles Lebensgefühl, auch wenn hygienischere Sitten und Humanität Fortschritte sind. Der Fehler ist, daß der Fortschritt immer mit dem alten Sinn aufräumen will.«
»Sie wollen vielleicht sagen,« fragte Fischel »daß wir wieder zu den Menschenopfern zurückkehren sollen, nachdem wir ihre verabscheuenswürdige Finsternis glücklich überwunden haben?!«
»Finsternis ist gar nicht so sicher zu behaupten!« antwortete Hans Sepp an Ulrichs Stelle. »Wenn Sie einen unschuldigen Hasen verschlingen, ist das finster; wenn aber ein Kannibale unter religiösen Zeremonien ehrfürchtig einen Stammesfremden verspeist, wissen wir einfach nicht, was in ihm vorgeht!«
»Es muß wirklich an überwundenen Zeiten etwas daran gewesen sein,« schloß sich ihm Ulrich an »sonst wären doch nicht so viele nette Menschen einst mit ihnen einverstanden gewesen. Vielleicht ließe sich das für uns ausnützen, ohne große Opfer zu bringen? Und vielleicht opfern wir heute gerade deshalb noch viele Menschen, weil wir uns die Frage der richtigen Überwindung früherer Menschheitseinfälle nie deutlich gestellt haben!? Es sind das schwer auszudrückende und undurchsichtige Beziehungen.«
»Aber für Ihre Denkweise bleibt das Wunschziel trotzdem immer nur eine Summe oder eine Bilanz!« platzte da Hans Sepp, nun gegen Ulrich, heraus. »Sie glauben geradeso an den bürgerlichen Fortschritt wie Direktor Fischel, nur drücken Sie das möglichst verwickelt und pervers aus, damit man Ihnen nicht darauf kommen soll!« Hans hatte die Meinung seiner Freunde ausgesprochen. Ulrich suchte Gerdas Gesicht. Er wollte nachlässig seine Gedanken noch einmal aufnehmen, ohne zu beachten, daß Fischel und die jungen Leute ebenso bereit waren, sich auf ihn wie auf einander zu stürzen.
»Aber Sie streben doch ein Ziel an, Hans?« sagte er von neuem.
»Es strebt. In mir. Durch mich.« erwiderte Hans Sepp kurz.
»Und wird es das erreichen?« Leo Fischel hatte sich zu dieser spöttischen Frage hinreißen lassen und trat damit, wie es alle bis auf ihn selbst verstanden, Ulrich zur Seite.
»Das weiß ich nicht!« antwortete Hans finster.
»Sie sollten Ihre Examen machen: das wäre ein Fortschritt!« Leo Fischel hatte es sich nicht versagen können, auch das zu bemerken, so sehr war er gereizt; aber nicht minder durch seinen Freund wie durch die unreifen Buben.
In diesem Augenblick flog das Zimmer in die Luft. Frau Klementine warf ihrem Gatten einen beschwörenden Blick zu; Gerda suchte Hans zuvorzukommen, und Hans rang nach Worten, die sich schließlich wieder auf Ulrich entluden: »Seien Sie sicher,« rief er ihm zu »im Grunde denken auch Sie nicht einen einzigen Gedanken, den nicht Direktor Fischel denken könnte!«
Damit stürzte er hinaus, und seine Freunde drängten mit zorniger Verbeugung hinter ihm drein. Direktor Fischel, von Klementine mit Blicken gestoßen, tat so, als ob er sich nachträglich seiner Hausherrnpflicht besänne, und verzog sich brummig ins Vorzimmer, um den jungen Leuten noch ein gutes Wort zu geben. Im Zimmer waren nur Gerda, Ulrich und Frau Klementine zurückgeblieben, die einigemale beruhigt atmete, weil die Luft nun geklärt war. Dann stand sie auf, und Ulrich fand sich zu seiner Überraschung mit Gerda allein.

Gerda war sichtbar erregt, als sie allein zurückblieben. Er faßte ihre Hand; ihr Arm begann zu zittern, und sie machte sich los. »Sie wissen nicht,« sagte sie »was das für Hans bedeutet: ein Ziel! Sie spötteln darüber; das ist freilich billig. Ich glaube, Ihre Gedanken sind noch unflätiger geworden!« Sie hatte nach einem möglichst starken Wort gesucht und erschrak nun darüber. Ulrich trachtete danach, wieder ihre Hand zu fangen; sie zog den Arm an sich. »Wir wollen eben nicht bloß so!« stieß sie hervor; sie stieß diese Worte mit heftiger Verachtung aus, aber ihr Körper schwankte.
»Ich weiß« spottete Ulrich; »alles, was zwischen euch geschieht, soll den höchsten Ansprüchen genügen. Das ist es gerade, was mich zu einem Verhalten hinreißt, das Sie so freundlich kennzeichnen. Und Sie glauben nicht, wie gern ich früher anders mit Ihnen gesprochen habe!«
»Sie sind nie anders gewesen!« erwiderte Gerda rasch.
»Ich bin immer schwankend gewesen« sagte Ulrich einfach und forschte in ihrem Gesicht. »Macht es Ihnen Vergnügen, wenn ich Ihnen ein wenig von den Vorgängen bei meiner Kusine erzähle?«
In Gerdas Augen war etwas zu bemerken, das sich von der Ungewißheit, in die sie Ulrichs Nähe versetzte, deutlich abhob; denn sie erwartete brennend diese Mitteilung, um sie Hans weiterzugeben, und suchte es zu verbergen. Mit einiger Genugtuung fing ihr Freund das auf, und so wie ein Tier, das dicke Luft wittert, instinktiv die Fährte wechselt, begann er mit etwas anderem. »Erinnern Sie sich noch an die Geschichte vom Mond, die ich Ihnen erzählt habe?« fragte er sie. »Ich möchte Ihnen erst einmal etwas Ähnliches anvertrauen.«
»Sie werden mich wieder anlügen!« versetzte Gerda.
»So weit es möglich ist, nicht! Sie erinnern sich wohl aus den Kollegs, die Sie gehört haben, wie es in der Welt zugeht, wenn man wissen möchte, ob etwas ein Gesetz ist oder nicht? Entweder man hat von vornherein seine Gründe, daß es eines sei, wie zum Beispiel in der Physik oder Chemie, und wenn die Beobachtungen auch nie den gesuchten Wert ergeben, so liegen sie doch in einer bestimmten Weise um ihn herum und man berechnet ihn daraus. Oder man hat diese Gründe nicht, wie so oft im Leben, und steht vor einer Erscheinung, von der man nicht recht weiß, ob sie Gesetz oder Zufall ist, dann wird die Sache menschlich spannend. Denn dann macht man zunächst aus seinem Haufen von Beobachtungen einen Zahlenhaufen; man macht Abschnitte – welche Zahlen liegen zwischen diesem und jenem, dem nächsten und dem übernächsten Wert? und so weiter – und bildet daraus Verteilungsreihen; es zeigt sich, daß die Häufigkeit des Vorkommens eine systematische Zu- oder Abnahme hat oder nicht; man erhält eine stationäre Reihe oder eine Verteilungsfunktion, man berechnet das Maß der Schwankung, die mittlere Abweichung, das Maß der Abweichung von einem beliebigen Wert, den Zentralwert, den Normalwert, den Durchschnittswert, die Dispersion und so weiter und untersucht mit allen solchen Begriffen das gegebene Vorkommen.«
Ulrich erzählte das in einem ruhig erklärenden Ton, und es hätte sich schwer unterscheiden lassen, ob er sich selbst erst besinnen wollte oder ob es ihm Spaß machte, Gerda mit Wissenschaft zu hypnotisieren. Gerda hatte sich von ihm entfernt; vornübergebeugt, saß sie in einem Fauteuil, hatte eine Anstrengungsfalte zwischen den Augenbrauen und blickte zur Erde. Wenn jemand so sachlich sprach und sich an den Ehrgeiz ihres Verstandes wandte, wurde ihr Unmut eingeschüchtert; sie fühlte die einfache Sicherheit, die er ihr verliehen hatte, dahinschwinden. Sie war durch ein Realgymnasium und einige Semester der Universität gegangen; sie hatte eine Unmenge neuen Wissens berührt, das nicht mehr in den alten Fassungen des klassischen und humanistischen Geistes unterzubringen war; in vielen jungen Leuten hinterläßt solcher Bildungsgang heute das Gefühl, daß er gänzlich ohnmächtig sei, während vor ihnen die neue Zeit wie eine neue Welt liegt, deren Boden mit den alten Werkzeugen nicht bearbeitet werden kann. Sie wußte nicht, wohin das führe, was Ulrich sprach; sie glaubte ihm, weil sie ihn liebte, und glaubte ihm nicht, weil sie um zehn Jahre jünger war als er und einer anderen Generation angehörte, die sich unverbraucht dünkte, und beides verrann in einer höchst unbestimmten Weise ineinander, indes er ihr weiter erzählte. »Und nun gibt es« fuhr er fort »Beobachtungen, die aufs Haar so aussehen wie ein Naturgesetz, doch ohne daß ihnen etwas zugrundeläge, was wir als ein solches ansehen könnten. Die Regelmäßigkeit statistischer Zahlenfolgen ist bisweilen ebenso groß wie die von Gesetzen. Sie kennen sicher diese Beispiele aus irgendeiner Vorlesung über Gesellschaftslehre. Etwa die Statistik der Ehescheidungen in Amerika. Oder das Verhältnis zwischen Knaben- und Mädchengeburten, das ja eine der konstantesten Verhältniszahlen ist. Und dann wissen Sie, daß sich jedes Jahr eine ziemlich gleichbleibende Zahl von Stellungspflichtigen durch Selbstverstümmelung dem Militärdienst zu entziehen sucht. Oder daß jedes Jahr ungefähr der gleiche Bruchteil der europäischen Menschheit Selbstmord begeht. Auch Diebstahl, Notzucht und, soviel ich weiß, Bankerott haben alljährlich ungefähr die gleiche Häufigkeit...«
Hier machte Gerdas Widerstand einen Durchbruchsversuch. »Wollen Sie mir etwa den Fortschritt erklären?!« rief sie aus und bemühte sich, in diese Ahnung recht viel Hohn zu legen.
»Aber natürlich ja!« erwiderte Ulrich, ohne sich unterbrechen zu lassen. »Man nennt das etwas schleierhaft das Gesetz der großen Zahlen. Meint ungefähr, der eine bringt sich aus diesem, der andere aus jenem Grunde um, aber bei einer sehr großen Anzahl hebt sich das Zufällige und Persönliche dieser Gründe auf, und es bleibt – ja, aber was bleibt übrig? Das ist es, was ich Sie fragen will. Denn es bleibt, wie Sie sehen, das übrig, was jeder von uns als Laie ganz glatt den Durchschnitt nennt und wovon man also durchaus nicht recht weiß, was es ist. Lassen Sie mich hinzufügen, daß man dieses Gesetz der großen Zahlen logisch und formal zu erklären versucht hat, sozusagen als eine Selbstverständlichkeit; man hat im Gegensatz dazu auch behauptet, daß solche Regelmäßigkeit von Erscheinungen, die untereinander nicht ursächlich verknüpft seien, auf die gewöhnliche Weise des Denkens überhaupt nicht erklärt werden könne; und man hat, noch neben vielen anderen Analysen des Phänomens, die Behauptung aufgestellt, daß es sich dabei nicht nur um einzelne Ereignisse handle, sondern auch um unbekannte Gesetze der Gesamtheit. Ich will Ihnen mit den Einzelheiten nicht zusetzen, habe sie auch selbst nicht mehr gegenwärtig, aber ohne Zweifel wäre es mir persönlich sehr wichtig, zu wissen, ob dahinter unverstandene Gesetze der Gemeinschaft stecken oder ob einfach durch Ironie der Natur das Besondere daraus entsteht, daß nichts Besonderes geschieht, und der höchste Sinn sich als etwas erweist, das durch den Durchschnitt der tiefsten Sinnlosigkeit erreichbar ist. Es müßte das eine wie das andere Wissen auf unser Lebensgefühl doch einen entscheidenden Einfluß haben! Denn wie dem auch sei, jedenfalls ruht auf diesem Gesetz der großen Zahl die ganze Möglichkeit eines geordneten Lebens; und gäbe es dieses Ausgleichsgesetz nicht, so würde in einem Jahr nichts geschehen, während im nächsten nichts sicher wäre, Hungersnöte würden mit Überfluß wechseln, Kinder würden fehlen oder zu viele sein, und die Menschheit würde zwischen ihren himmlischen und höllischen Möglichkeiten von einer Seite zur andern flattern wie kleine Vögel, wenn man sich ihrem Käfig nähert.«
»Ist das alles wahr?« fragte Gerda zögernd.
»Das müssen Sie doch selbst wissen.«
»Natürlich; im einzelnen weiß ich auch manches davon. Aber ob Sie das vorhin, als alle stritten, gemeint haben, weiß ich nicht. Was Sie über den Fortschritt sagten, klang bloß so, als ob Sie alle ärgern wollten.«
»Das denken Sie immer. Aber was wissen wir über das, was unser Fortschritt ist; gar nichts! Es gibt viele Möglichkeiten, wie es sein könnte, und ich habe eben noch eine genannt.«
»Wie es sein könnte! So denken Sie immer; nie werden Sie die Frage zu beantworten suchen, wie es sein müßte!«
»Ihr seid so vorschnell. Immer muß ein Ziel, ein Ideal, ein Programm da sein, ein Absolutes. Und was am Ende herauskommt, ist ja doch ein Kompromiß, ein Durchschnitt! Wollen Sie nicht zugeben, daß es auf die Dauer ermüdend und lächerlich ist, immer das Äußerste zu tun und wollen, nur damit etwas Mittleres hervorkommt?«
Im Grunde war es das gleiche Gespräch wie das mit Diotima; nur das Äußere war verschieden, aber dahinter hätte man aus dem einen in das andere fortfahren können. So offensichtlich gleichgültig war es auch, welche Frau da saß; ein Körper, der, in ein schon vorhandenes geistiges Kraftfeld eingesetzt, bestimmte Vorgänge in Gang brachte! Ulrich betrachtete Gerda, die ihm auf seine letzte Frage keine Antwort gab. Mager saß sie da, eine kleine Unmutsfalte zwischen den Augen. Auch der Brustansatz, den man im Blusenausschnitt sah, bildete eine hohle senkrechte Falte. Arme und Beine waren lang und zart. Schlaffer Frühling, durchglüht von vorzeitiger Sommerstrenge; diesen Eindruck empfing er, zugleich mit dem ganzen Anprall des Eigensinns, der in so einem jungen Körper eingesperrt ist. Eine sonderbare Vermengung von Abneigung und Gefaßtheit bemächtigte sich seiner, denn er hatte plötzlich das Gefühl, daß er näher an einer Entscheidung stehe, als er denke, und daß dieses junge Mädchen berufen sei, daran mitzuwirken. Unwillkürlich begann er nun wirklich von den Eindrücken zu erzählen, die er durch die sogenannte Jugend in der Parallelaktion empfangen hatte, und schloß mit Worten, die Gerda überraschten. »Sie sind auch dort sehr radikal und sie mögen mich dort auch nicht. Ich vergelte es aber mit gleichem, denn in meiner Art bin ich auch radikal, und ich kann jede Art Unordnung eher ausstehen als die geistige. Ich möchte Einfälle nicht nur entfaltet sehen, sondern auch zusammengebracht. Ich möchte nicht nur die Oszillation, sondern auch die Dichte der Idee. Das ist es, was Sie, unentbehrliche Freundin, mit den Worten tadeln, daß ich immer nur erzähle, was sein könnte, statt dessen, was sein müßte. Ich verwechsle diese beiden nicht. Und wahrscheinlich ist das die unzeitgemäßeste Eigenschaft, die man haben kann, denn nichts ist heute so fremd, wie es Strenge und Gefühlsleben einander sind, und unsere mechanische Genauigkeit hat es leider so weit gebracht, daß ihr als die richtige Ergänzung die lebendige Ungenauigkeit erscheint. Warum wollen Sie mich nicht verstehen? Wahrscheinlich sind Sie gänzlich unfähig dazu, und es ist lasterhaft von mir, daß ich mir die Mühe nehme, Ihren zeitgemäßen Kopf zu verwirren. Aber wahrhaftig, Gerda, manchmal frage ich mich, ob ich nicht unrecht habe. Vielleicht tun gerade jene, die ich nicht leiden kann, das, was ich einmal gewollt habe. Sie tun es vielleicht falsch, sie tun es hirnlos, einer rennt dahin, der andere dorthin, jeder mit einem Gedanken im Schnabel, den er für den einzigen auf der Welt hält; jeder von ihnen kommt sich furchtbar klug vor, und alle zusammen glauben sie, daß die Zeit zur Unfruchtbarkeit verdammt ist. Aber vielleicht ist es umgekehrt, und jeder von ihnen ist dumm, aber alle zusammen sind sie fruchtbar? Es scheint, daß jede Wahrheit heute in zwei einander entgegengesetzte Unwahrheiten zerlegt auf die Welt kommt, und es kann auch das eine Art sein, zu einem überpersönlichen Ergebnis zu gelangen! Der Ausgleich, die Summe der Versuche entsteht dann nicht mehr im Individuum, das unerträglich einseitig wird, aber das Ganze ist wie eine Experimentalgemeinschaft. Mit einem Wort, seien Sie nachsichtig mit einem alten Mann, den seine Einsamkeit manchmal zu Ausschreitungen veranlaßt!«
»Was haben Sie mir nicht schon alles erzählt!« erwiderte Gerda darauf finster. »Warum schreiben Sie nicht ein Buch über Ihre Anschauungen, Sie könnten vielleicht sich und uns damit helfen?«
»Aber wie komme ich denn dazu, ein Buch schreiben zu müssen?!« meinte Ulrich. »Mich hat doch eine Mutter geboren und kein Tintenfaß!«
Gerda überlegte, ob ein Buch von Ulrich jemandem wirklich helfen könnte? Wie alle jungen Leute aus ihrer Freundschaft überschätzte sie die Kraft des Buchs. Es war völlig still geworden in der Wohnung, seit die beiden schwiegen; es schien, daß das Ehepaar Fischel hinter den empörten Gästen das Haus verlassen hatte. Und Gerda spürte den Druck der Nähe des mächtigeren Manneskörpers, sie spürte ihn immer, gegen alle ihre Überzeugungen, wenn sie allein waren; sie lehnte sich dagegen auf und begann zu zittern. Ulrich bemerkte es, stand auf, legte seine Hand auf Gerdas schwache Schulter und sagte zu ihr: »Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Gerda. Nehmen wir an, daß es im Moralischen genau so zugehe wie in der kinetischen Gastheorie: alles fliegt regellos durcheinander, jedes macht, was es will, aber wenn man berechnet, was sozusagen keinen Grund hat, daraus zu entstehen, so ist es gerade das, was wirklich entsteht! Es gibt merkwürdige Übereinstimmungen! Nehmen wir also auch an, eine bestimmte Menge von Ideen fliegt in der Gegenwart durcheinander; sie ergibt irgendeinen wahrscheinlichsten Mittelwert; der verschiebt sich ganz langsam und automatisch, und das ist der sogenannte Fortschritt oder der geschichtliche Zustand; das Wichtigste aber ist, daß es dabei auf unsere persönliche, einzelne Bewegung gar nicht ankommt, wir können rechts oder links, hoch oder tief denken und handeln, neu oder alt, unberechenbar oder überlegt: es ist für den Mittelwert ganz gleichgültig, und Gott und Welt kommt es nur auf ihn an, nicht auf uns!«
Er machte unter diesen Worten Miene, sie in seine Arme zu schließen, obgleich er fühlte, daß es ihn Überwindung koste.
Gerda wurde zornig. »Zuerst fangen Sie immer nachdenklich an,« rief sie aus »und dann kommt das ganz gewöhnliche Gegockel eines Hahns heraus!« Ihr Gesicht war heiß und hatte kreisrunde Flecke, ihre Lippen schienen zu schwitzen, aber irgend etwas war an ihrer Empörung schön. »Gerade das, was Sie daraus machen, ist es, was wir nicht wollen!« Da konnte Ulrich nicht der Versuchung widerstehen, sie leise zu fragen: »Besitz tötet?«
»Ich will nicht mit Ihnen darüber sprechen!« gab Gerda ebenso leise zurück.
»Es ist das gleiche, ob es der Besitz eines Menschen oder einer Sache ist« fuhr Ulrich fort. »Ich weiß das auch. Gerda, ich verstehe Sie und Hans besser, als Sie glauben. Was wollen Sie also und Hans? Sagen
Sie es mir.«
»Sehen Sie: nichts!« rief Gerda triumphierend aus. »Man kann es nicht sagen. Auch Papa sagt immerzu: ›Mach dir doch klar, was du willst. Du wirst sehen, daß es Unsinn ist‹. Alles ist Unsinn, wenn man es sich klar macht! Wenn wir vernünftig sind, kommen wir nie über Gemeinplätze hinaus! Jetzt werden Sie wieder etwas einwenden, in Ihrem Rationalismus!«
Ulrich schüttelte den Kopf. »Und was ist eigentlich mit der Demonstration gegen Graf Leinsdorf?« fragte er sanft, als ob das noch dazugehören würde.
»Ah, Sie spionieren!« rief Gerda aus.
»Nehmen Sie an, daß ich spioniere, aber sagen Sie es mir, Gerda. Meinethalben können Sie gern auch das noch annehmen.«
Gerda wurde verlegen. »Nichts Besonderes. Nun eben irgend eine Demonstration der deutschen Jugend. Vielleicht Vorbeizug, Schmährufe. Die Parallelaktion ist eine Schmählichkeit!«
»Weshalb?«
Gerda zuckte die Achseln.
»Setzen Sie sich doch wieder!« bat Ulrich. »Sie überschätzen das. Lassen Sie uns einmal ruhig reden.«
Gerda gehorchte. »Hören Sie einmal zu, ob ich Ihre Lage begreife:« fuhr Ulrich fort. »Sie sagen also, daß Besitz töte. Sie denken dabei zuerst an Geld und an Ihre Eltern. Es sind natürlich getötete Seelen –«
Gerda machte eine hochmütige Bewegung.
»Also sprechen wir statt von Geld gleich von jeder Art Besitz. Der Mensch, der sich besitzt; der Mensch, der seine Überzeugungen besitzt; der Mensch, der sich besitzen läßt, von einem anderen oder von seinen eigenen Leidenschaften oder bloß von seinen Gewohnheiten oder von seinen Erfolgen; der Mensch, der etwas erobern will; der Mensch, der überhaupt etwas will: alles das lehnen Sie ab? Sie wollen Wanderer sein. Schweifende Wanderer, hat Hans es einmal genannt, wenn ich nicht irre. Zu einem anderen Sinn und Sein? Stimmt das?«
»Alles, was Sie sagen, stimmt entsetzlich gut; die Intelligenz kann die Seele nachmachen!«
»Und die Intelligenz gehört zur Gruppe des Besitzes? Sie mißt, sie wägt, sie teilt, sie sammelt wie ein alter Bankier? Aber habe ich Ihnen denn nicht heute eine Menge Geschichten erzählt, an denen bemerkenswert viel von unserer Seele hängt?«
»Das ist eine kalte Seele!«
»Sie haben vollkommen recht, Gerda. Nun brauche ich Ihnen also bloß zu sagen, warum ich auf seiten der kalten Seelen oder sogar der Bankiers stehe.«
»Weil Sie feig sind!« Ulrich bemerkte, daß sie im Sprechen die Zähne entblößte wie ein kleines Tier in Todesangst.
»In Gottes Namen, ja« erwiderte er. »Aber Sie trauen mir, wenn schon nichts anderes, so doch das eine zu, daß ich Manns genug wäre, um an einem Blitzableiter, selbst am kleinsten Mauergesims auszubrechen, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß alle Fluchtversuche doch wieder zu Papa zurückführen!«
Gerda weigerte sich, dieses Gespräch mit Ulrich zu führen, seit ein ähnliches zwischen ihnen stattgefunden hatte; die Gefühle, von denen darin die Rede war, gehörten nur ihr und Hans, und sie fürchtete mehr noch als Ulrichs Spott seine Zustimmung, die sie wehrlos ihm ausgeliefert haben würde, ehe sie noch wüßte, ob er glaube oder lästere. Von dem Augenblick an, wo sie vorhin von seinen schwermütigen Worten überrascht worden war, deren Folgen sie nun dulden mußte, konnte man deutlich bemerken, wie heftig sie innerlich schwankte. Aber auch für Ulrich hatte es damit eine ähnliche Bewandtnis. Eine verderbte Freude an seiner Macht über das Mädchen lag ihm ganz ferne; er nahm Gerda nicht ernst, und da dies eine geistige Abneigung einschloß, sagte er ihr gewöhnlich Unangenehmes, aber seit einiger Zeit wurde er, je lebhafter er ihr gegenüber den Anwalt der Welt abgab, desto wunderlicher von dem Wunsch angezogen, sich ihr anzuvertrauen und ihr sein Inneres gleichsam ohne Arg und ohne Schönheit zu zeigen, oder das ihre anzuschaun, als wäre es so nackt wie eine Wegschnecke. Nachdenklich sah er ihr darum ins Gesicht und sagte: »Ich könnte mein Auge zwischen Ihren Wangen ruhen lassen, wie die Wolken im Himmel ruhn. Ich weiß nicht, ob die Wolken im Himmel gerne ruhen, aber am Ende weiß ich ebensoviel wie alle Hanse von den Augenblicken, wo uns Gott wie einen Handschuh packt und ganz langsam über seinen Fingern umstülpt! Ihr macht es euch zu leicht; ihr spürt ein Negativ zu der positiven Welt, in der wir leben, und behauptet kurz, die positive Welt gehöre den Eltern und Älteren, die Welt des schattenhaften Negativs der neuen Jugend. Ich will nun nicht gerade der Spion Ihrer Eltern sein, liebe Gerda, aber ich gebe Ihnen zu bedenken, daß bei der Wahl zwischen einem Bankier und einem Engel die reellere Natur des Bankierberufs auch etwas zu bedeuten hat!«
»Wollen Sie Tee?!« sagte Gerda scharf »Darf ich Ihnen unser Haus behaglich machen? Sie sollen die tadellose Tochter meiner Eltern vor sich haben.« Sie hatte sich wieder zusammengenommen.
»Nehmen wir an, Sie werden Hans heiraten.«
»Aber ich will ihn gar nicht heiraten!«
»Irgend ein Ziel muß man haben; Sie können nicht auf die Dauer von dem Gegensatz zu Ihren Eltern leben.«
»Ich werde einmal aus dem Haus gehn, selbständig sein, und wir werden Freunde bleiben!«
»Ich bitte Sie aber, liebe Gerda, nehmen wir an, daß Sie mit Hans verheiratet sein werden oder etwas Ähnliches; es läßt sich bestimmt nicht vermeiden, wenn alles so weitergeht. Und nun machen Sie sich einen Plan, wie Sie sich in weltabgewandtem Zustand morgens die Zähne putzen und Hans eine Steuervorschreibung empfangen wird.«
»Muß ich das wissen?«
»Ihr Papa würde Ja sagen, wenn er von weltabgekehrten Zuständen eine Ahnung hätte; die gewöhnlichen Menschen verstehen es leider, die ungewöhnlichen Erlebnisse in ihrem Lebensschiff so tief am Kiel zu verstauen, daß sie sie niemals bemerken. Aber nehmen wir eine einfachere Frage: Werden Sie von Hans verlangen, daß er Ihnen treu sei? Treue gehört zum Komplex des Besitzes! Ihnen müßte es recht sein, wenn Hans an einer anderen Frau seine Seele steigert. Ja Sie müßten das, nach den Gesetzen, die Sie ahnen, sogar als eine Bereicherung Ihres eigenen Zustands empfinden!«
»Glauben Sie nur nicht,« antwortete Gerda »daß wir über solche Fragen nicht selbst sprechen! Man kann nicht mit einem Schritt ein neuer Mensch sein; aber es ist sehr bürgerlich, daraus einen Gegengrund zu machen!«
»Ihr Vater verlangt eigentlich etwas ganz anderes von Ihnen, als Sie glauben. Er behauptet nicht einmal, daß er in diesen Fragen gescheiter sei als Sie und Hans; er sagt einfach, daß er nicht verstehe, was Sie tun. Aber er weiß, daß Gewalt eine sehr vernünftige Sache ist; er glaubt daran, daß sie mehr Vernunft hat als Sie und er und Hans zusammen. Wenn er Hans nun Geld böte, damit der ohne alle Sorgen seine Studien endlich vollende? Ihm nach einer Probezeit wenn schon nicht die Heirat so doch den Wegfall eines grundsätzlichen Nein verspräche? Und nur die Bedingung daran knüpfte, daß bis zum Schluß der Probezeit jeder Verkehr zwischen Ihnen unterbleibe, ganz und gar jeder, also auch der, den Sie jetzt haben?!«
»Und dazu haben Sie sich hergegeben?!«
»Ich habe Ihnen Ihren Papa erklären wollen. Er ist eine finstere Gottheit von unheimlicher Überlegenheit. Er glaubt, daß Geld Hans dorthin bringen würde, wo er ihn haben will, zur Vernunft der Wirklichkeit. Ein Hans mit einem umgrenzten Monatseinkommen könnte nach seiner Meinung unmöglich mehr grenzenlos töricht sein. Aber vielleicht ist Ihr Papa ein Phantast. Ich bewundere ihn, so wie ich Kompromisse, Durchschnitte, Trockenheit, tote Zahlen bewundere. Ich glaube nicht an den Teufel, aber wenn ich es täte, würde ich ihn mir als den Trainer vorstellen, der den Himmel zu Rekordleistungen hetzt. Und ich habe ihm versprochen, Ihnen so zuzusetzen, daß von Ihren Einbildungen nichts übrig bleibt, wenn nicht – eben Wirklichkeit.«
Ulrich hatte keineswegs ein gutes Gewissen bei diesen Worten. Gerda stand flammend vor ihm, in ihren Augen waren Tränen und Zorn hintereinander geschichtet. Mit einemmal war freie Bahn für sie und Hans geschaffen. Aber hatte Ulrich sie verraten, oder wollte er ihnen helfen? Sie wußte es nicht, und beides zeigte sich geeignet, sie ebenso unglücklich wie glücklich zu machen. In ihrer Verwirrung mißtraute sie ihm und empfand mit Leidenschaft, daß er ein ihr im Heiligsten verwandter Mensch sei, der es bloß nicht zeigen wolle.
Er fügte hinzu: »Ihr Vater wünscht natürlich heimlich, daß ich mich inzwischen um Sie bewerben und Sie auf andere Gedanken bringen solle.«
»Das ist ausgeschlossen!« stieß Gerda mühsam hervor.
»Das ist zwischen uns wohl ausgeschlossen« wiederholte Ulrich sanft. »Aber so wie bisher kann es auch nicht weitergehn. Ich bin schon zu weit vorgebeugt.« Er versuchte zu lächeln; er war sich dabei im höchsten Grade widerwärtig. Er wollte wirklich alles das nicht. Er fühlte die Unentschlossenheit dieser Seele und verachtete sich, weil sie in ihm Grausamkeit erregte.
Und in der gleichen Sekunde sah ihn Gerda mit entsetzten Augen an. Sie war plötzlich so schön wie ein Feuer, dem man zu nah gekommen ist; fast ohne Gestalt, nur eine Wärme, die den Willen lähmt.
»Sie sollten einmal zu mir kommen!« schlug er vor. »Hier kann man nicht so sprechen, wie man will.« Die Leere der männlichen Rücksichtslosigkeit strömte ihm durch die Augen.
»Nein« wehrte Gerda ab. Aber sie wandte den Blick ab, und traurig sah Ulrich – als ob sie durch dieses Wegdrehen der Augen erst wieder vor ihm emporgehoben würde – die schwer atmende, nicht schöne und nicht häßliche Figur des jungen Mädchens vor sich stehn. Er seufzte tief und durchaus aufrichtig.

Zwischen den hohen Aufgaben des Hauses Tuzzi und der Fülle von Gedanken, die sich dort versammelten, wirkte ein schlüpfender, beweglicher, begeisterter, undeutscher Mensch. Und doch war diese kleine Kammerzofe Rachel wie die Mozartische Musik zu einer Kammerzofe. Sie öffnete  den Eingang und stand mit halb ausgebreiteten Armen bereit, den Überrock in Empfang zu nehmen. Ulrich hätte dabei manchesmal gerne gewußt, ob sie von seiner Zugehörigkeit zum Hause Tuzzi überhaupt Kenntnis genommen, und suchte ihr in die Augen zu sehn, aber Rachels Augen wichen entweder seitwärts aus oder hielten seinem Blick wie zwei blinde Samtfleckchen stand. Er glaubte sich zu erinnern, daß ihr Blick, als er ihm zum erstenmal begegnete, anders gewesen sei, und beobachtete einigemale, daß bei solcher Gelegenheit ein Augenpaar aus einer dunklen Ecke des Vorzimmers wie zwei große weiße Schneckenhäuser auf Rachel zuwanderte; dies waren Solimans Augen, aber die Frage, ob vielleicht dieser Junge die Ursache von Rachels Zurückhaltung sei, wurde unschlüssig dadurch beantwortet, daß Rachel dessen Blick ebensowenig erwiderte und sich still zurückzog, sobald der Besucher gemeldet war.
Die Wahrheit war romantischer, als Neugierde es ahnen konnte. Seit es Solimans eigensinnigen Verdächtigungen gelungen war, Arnheims strahlende Erscheinung in dunkle Machenschaften zu verwickeln, und auch Rachels kindliche Bewunderung für Diotima unter dieser Veränderung gelitten hatte, sammelte sich alles, was sie an leidenschaftlichem Verlangen nach guter Aufführung und dienender Liebe in sich trug, auf Ulrich. Da sie, von Soliman überzeugt, daß man die Vorgänge in diesem Haus überwachen müsse, fleißig an den Türen und während der Bedienung lauschte, auch manches Gespräch zwischen Sektionschef Tuzzi und seiner Gemahlin behorcht hatte, war ihr die Stellung, halb feindlich, halb geliebt, die Ulrich zwischen Diotima und Arnheim innehatte, nicht fremd geblieben und entsprach ganz ihrem eigenen, zwischen Auflehnung und Reue schwankenden Gefühl für die ahnungslose Herrin. Sie erinnerte sich nun auch sehr gut, schon lange bemerkt zu haben, daß Ulrich von ihr etwas wünsche. Es kam ihr nicht in den Sinn, daß sie ihm gefallen könnte. Sie hoffte wohl beständig – seit sie verstoßen war und ihren Leuten in Galizien zeigen wollte, wie weit sie es trotzdem bringen werde – auf einen Haupttreffer, eine unerwartete Erbschaft, auf die Entdeckung, daß sie das weggelegte Kind vornehmer Leute sei, auf die Gelegenheit, einem Fürsten das Leben zu retten, – aber auf die einfache Möglichkeit, daß sie einem Herrn, der bei ihrer Herrin verkehrte, gefallen, von ihm zur Geliebten gemacht oder gar geheiratet werden könnte, war sie niemals gekommen. Sie hielt sich darum bloß bereit, Ulrich einen großen Dienst zu erweisen. Sie und Soliman waren es gewesen, die dem General eine Einladung geschickt hatten, nachdem es zu ihrer Kenntnis gekommen war, daß Ulrich mit ihm befreundet sei; allerdings geschah es auch deshalb, weil man die Dinge ins Rollen bringen mußte und ein General nach der ganzen Vorgeschichte als eine dazu sehr geeignete Persönlichkeit erschien. Aber weil Rachel in einem verborgenen, hausgeisterhaften Einvernehmen mit Ulrich handelte, war es nicht zu vermeiden, daß zwischen ihr und ihm, dessen Bewegungen sie neugierig überwachte, jene überwältigende Übereinstimmung entstand, durch die alle heimlich beobachteten Bewegungen seiner Lippen, Augen und Finger zu Schauspielern wurden, an denen sie mit der Leidenschaft des Menschen hing, der sein unscheinbares Sein auf eine große Bühne gestellt sieht. Und je nachdrücklicher sie bemerkte, daß diese Wechselbeziehung ihren Busen nicht weniger heftig preßte, als es ein enges Kleid tut, wenn man vor einem Schlüsselloch hockt, desto verworfener kam sie sich vor, weil sie Solimans gleichzeitigem dunklen Werben nicht fester widerstand; das war der Ulrich so unbekannte Grund, warum sie seiner Neugierde mit der ehrfürchtigen Leidenschaft begegnete, sich als ein wohlerzogenes, musterhaftes Dienstmädchen zu zeigen.
Ulrich fragte sich vergebens, warum dieses von der Natur zu zärtlichem Spiel geschaffene Geschöpf so keusch sei, daß man fast an die frigide Aufsässigkeit glauben mußte, die bei zierlichen Frauen nicht ganz selten zu finden ist. Er wurde allerdings anderen Sinnes und vielleicht auch ein wenig enttäuscht, als er eines Tages einen überraschenden Auftritt beobachtete. Arnheim war eben gekommen, Soliman hatte sich im Vorzimmer hingekauert und Rachel zog sich so schnell wie immer zurück, aber Ulrich benutzte den durch Arnheims Eintritt hervorgerufenen Augenblick der Unruhe, um zurückzukehren und ein Taschentuch aus seinem Mantel zu holen. Das Licht war wieder abgelöscht worden, aber Soliman war noch da und erkannte nicht, daß Ulrich, vom Schatten ihres Rahmens ausgelöscht, die Türe nur zur Täuschung öffnete und zuzog, als hätte er das Vorzimmer schon wieder verlassen. Er erhob sich vorsichtig und zog umständlich unter seiner Joppe eine große Blume hervor. Es war eine schöne, weiße Schwertlilie, und Soliman betrachtete sie, dann setzte er sich auf den Zehenspitzen, an der Küche vorbei, in Bewegung. Ulrich, der ja wußte, wo Rachels Kammer lag, folgte leise und sah, was geschah. Soliman hielt vor der Türe, preßte die Blume dort an die Lippen und steckte sie dann an die Schnalle, indem er hastig den Stengel zweimal darum bog und sein Ende ins Schlüsselloch zwängte.
Es war schwer gewesen, diese Lilie unterwegs unbemerkt aus dem Strauß zu ziehen und für Rachel zu verbergen, und Rachel wußte solche Aufmerksamkeiten zu würdigen. Erwischtwerden und Entlassung, das wäre für sie gleichbedeutend gewesen mit Tod und Jüngstem Gericht: darum war es ihr wohl lästig, daß sie überall, wo sie stand und ging, vor Soliman auf der Hut sein mußte, und es machte ihr wenig Vergnügen, wenn er sie aus einem Versteck hervor plötzlich ins Bein kniff, ohne daß sie schreien durfte; aber es blieb nicht ohne Eindruck auf sie, daß ein Wesen ihr unter Gefahren Aufmerksamkeiten darbrachte, jeden Schritt von ihr mit der größten Aufopferung ausspionierte und in schwierigen Lagen ihren Charakter erprobte. Dieser kleine Affe brachte eine Beschleunigung in die Sache, die ihr unsinnig und gefährlich vorkam; so fühlte es Rachel, und zuweilen hatte sie ganz gegen ihre Grundsätze und zwischen all den zerzausten Erwartungen, die ihren Kopf füllten, das sündige Verlangen, was Wichtiges auch in weiterer Ferne kommen möge, erst einmal recht ausgiebig die dicken, überall auf sie wartenden, zu ihrem, des Dienstmädchens Dienst geschaffenen Lippen des Mohrenkönigssohns zu benützen.
Eines Tags richtete Soliman die Frage an sie, ob sie Mut habe. Arnheim war in Gesellschaft Diotimas und einiger ihrer Freunde zwei Tage im Gebirge und hatte ihn nicht mitgenommen. Die Köchin hatte vierundzwanzig Stunden Urlaub, und Sektionschef Tuzzi speiste im Gasthause. Rachel hatte Soliman von den Zigarettenspuren erzählt, die sie in ihrem Zimmer vorgefunden, und Diotimas Frage, was die Kleine wohl davon denken werde, wurde von dieser und ihm einträchtig durch die Vermutung beantwortet, daß am Konzil etwas im Gange sei, das auch von ihnen erhöhte Tätigkeit irgendeiner Art verlange. Als Soliman fragte, ob sie Mut habe, hatte er angekündigt, seinem Herrn die Urkunden entwenden zu wollen, die seine hohe Geburt beweisen sollten. Rachel glaubte nicht an diese Zeugnisse, aber alle die lockenden Verwicklungen ringsum hatten in ihr das unabweisliche Bedürfnis hervorgerufen, es müsse etwas geschehen. Es wurde zwischen ihnen ausgemacht, daß sie ihr weißes Häubchen und die Zofenschürze anbehalten solle, wenn Soliman sie abhole und ins Hotel begleite, damit es aussehe, als werde sie von ihrer Herrschaft mit einem Auftrag geschickt. Als sie nun auf die Straße traten, stieg hinter dem Spitzenlatz des Schürzchens zunächst eine so schwelende Hitze auf, daß die Augen vor Rauch nichts sahen, aber Soliman hielt kühn einen Wagen an; er besaß in letzter Zeit viel Geld, da Arnheim oft sehr zerstreut war. Nun faßte auch Rachel Mut und stieg vor aller Welt in den Wagen, als ob es ihr Auftrag und Beruf wäre, mit einem kleinen Neger spazierenzufahren. Die vormittägigen Straßen flogen blank vorbei, mit den eleganten Nichtstuern, denen diese Straßen rechtmäßig gehörten, während Rachel wieder aufgeregt war wie bei einem Diebstahl. Sie versuchte, sich ebenso richtig im Wagen anzulehnen, wie sie es an Diotima beobachtet hatte; aber oben und unten, wo sie die Polster berührte, drang eine wirre wiegende Bewegung in sie ein. Der Wagen war geschlossen, und Soliman benützte ihre zurückgelehnte Lage, um die breiten Stempelkissen seines Mundes auf ihre Lippen zu drücken; man konnte es wohl durch die Fenster beobachten, aber der Wagen flog dahin, und eine Empfindung, die an leichtes Kochen einer duftenden Flüssigkeit erinnerte, ergoß sich aus den schaukelnden Polstern in Rachels Rücken.
Der Mohr ließ es sich auch nicht nehmen, vor dem Hotel aufzufahren. Die Hausknechte in schwarzen Seidenärmeln und grünen Schürzen grinsten, als Rachel aus dem Wagen stieg, der Portier spähte durch die Glastür, während Soliman zahlte, und Rachel glaubte, daß das Pflaster unter ihren Füßen nachgebe. Aber dann kam ihr doch vor, daß Soliman in dem Hotel großen Einfluß besitzen müsse, denn niemand hielt sie an, während sie durch die riesige Säulenhalle schritten. In der Halle saßen einzelne Herrn und folgten Rachel aus den Klubsesseln mit ihren Blicken; sie schämte sich nun wieder sehr, aber dann stieg sie die Treppe hinauf, und schon bemerkte sie die vielen Stubenmädchen, die ebenso schwarz wie sie, mit weißen Häubchen, nur etwas weniger zierlich gekleidet waren, und da wurde ihr nicht anders zumute wie einem Forscher, der durch eine unbekannte, vielleicht gefährliche Insel irrt und zum erstenmal auf Menschen stößt.
Danach sah Rachel zum erstenmal in ihrem Leben die Wohnräume eines vornehmen Hotels. Soliman schloß zunächst alle Türen ab; dann fühlte er sich bemüßigt, seine Freundin abermals zu küssen. Diese Küsse, die in letzter Zeit zwischen Rachel und Soliman gewechselt wurden, hatten etwas von der Glut der Kinderküsse; sie waren eher Bekräftigungen, als daß sie gefährliche Schwächungen gewesen wären, und auch jetzt erschien Soliman beim ersten Alleinsein in einem verschlossenen Zimmer nichts so dringend, wie daß er dieses Zimmer noch romantischer verschließe. Er ließ die Fensterladen fallen und verstopfte die nach außen führenden Schlüssellöcher. Auch Rachel war von diesen Vorbereitungen zu aufgeregt, um an anderes zu denken als an ihren Mut und die Schande einer möglichen Entdeckung.
Sodann wurde sie von Soliman zu den Schränken und Koffern Arnheims geführt, und alle waren offen, bis auf einen. Es war also klar, daß nur in diesem das Geheimnis verborgen sein könne. Der Mohr zog die Schlüssel der offenen Koffer ab und erprobte sie. Keiner sperrte. Dabei plapperte Soliman unaufhörlich; sein ganzer Vorrat an Kamelen, Prinzen, geheimnisvollen Kurieren und Verdächtigungen Arnheims kam ihm aus dem Mund. Er borgte sich von Rachel eine Haarnadel aus und versuchte, daraus einen Dietrich zu formen. Als es vergeblich blieb, riß er alle Schlüssel aus den Schränken und Kommoden, breitete sie vor seinen Knien aus, hockte nachdenklich vor ihnen und ließ eine Pause eintreten, um einen neuen Entschluß zu fassen. »Da siehst du, wie er sich vor mir versteckt!« sprach er zu Rachel, seine Stirn reibend. »Aber ich kann dir ja ebensogut zuerst auch alles andere zeigen.«
Er breitete also den verwirrenden Reichtum von Arnheims Koffern und Schränken einfach vor Rachel aus, die auf dem Boden kauerte und neugierig, die Hände zwischen die Knie geklemmt, auf diese Gebilde starrte. Die intime Garderobe eines von den feinsten Genüssen verwöhnten Mannes war etwas, das sie noch nicht gesehen hatte. Ihr gnädiger Herr war gewiß nicht schlecht gekleidet, aber er hatte weder Geld für die verfeinertsten Erfindungen der Kleider- und Wäschemacher, Haus- und Reiseluxuserzeuger noch ein Bedürfnis danach, und selbst die gnädige Frau besaß beiweitem keine so verwöhnten, damenhaft zarten und schwierig zu gebrauchenden Dinge wie dieser unermeßlich reiche Mann. Etwas von Rachels schauerlicher Achtung vor dem Nabob erwachte wieder in ihr, und Soliman brüstete sich mit dem gewaltigen Eindruck, den er durch den Besitz seines Herrn erregte, riß alles hervor, ließ alle Apparate spielen und erklärte eifrig alle Geheimnisse. Rachel wurde allmählich müde, als sich ihr plötzlich eine sonderbare Wahrnehmung aufdrängte. Sie erinnerte sich genau, daß seit einiger Zeit doch auch in Diotimas Wäsche und Hausrat ähnliche Dinge auftauchten. Sie waren nicht so zahlreich und kostbar wie diese hier, aber wenn man sie mit der früheren klösterlichen Einfachheit verglich, so waren sie entschieden dem gegenwärtigen Anblick verwandter als der strengen Vergangenheit. In diesem Augenblick ergriff die schändliche Vermutung von Rachel Besitz, daß der Zusammenhang zwischen ihrer Herrin und Arnheim ein weniger geistiger sein könnte, als sie geglaubt habe.
Sie wurde bis an die Haarwurzeln rot.
Ihre Gedanken hatten dieses Gebiet nicht berührt, seit sie bei Diotima in Dienst war. Die Pracht des Körpers ihrer Herrin hatten ihre Augen geschluckt, ohne Gedanken über die Verwendung dieser Pracht daran zu knüpfen, wie ein Pulver samt dem Papier. Ihre Genugtuung, in der Gemeinschaft hoher Menschen zu leben, war so groß gewesen, daß in der ganzen Zeit für die so leicht zu verführende Rachel ein Mann überhaupt nicht als wirkliches andersgeschlechtliches Wesen in Frage kam, sondern nur als romantisch und romanhaft anderes. Sie war in ihrem Edelmut kindlicher geworden, wurde durch ihn gleichsam wieder in die Zeit vor der Geschlechtsreife zurückversetzt, wo man so selbstlos für fremde Größe glüht, und nur dadurch war es auch zu erklären, daß die Flausen Solimans, über die eine Köchin verächtlich lachen durfte, bei ihr auf Nachgiebigkeit und berauschte Schwäche stießen. Aber als Rachel nun so auf der Erde kauerte und den Gedanken an ein ehebrecherisches Verhältnis zwischen Arnheim und Diotima gleichsam an den Tag gelegt vor sich sah, vollzog sich in ihr die lang schon angebahnte Umwälzung eines Erwachens aus einem unnatürlichen Seelenzustand in den mißtrauischen Fleischeszustand der Welt.
Sie war mit einem Schlag gänzlich unromantisch, etwas ärgerlich und ein herzhafter Körper, der meinte, daß auch ein Dienstmädchen einmal zu seinem Recht kommen könne. Soliman hockte neben ihr vor seinem Warenlager, hatte alles zusammengeholt, was sie besonders bewundert hatte, und versuchte, als Geschenk in Rachels Schürzentasche zu stopfen, was davon nicht zu groß war. Nun sprang er auf und bearbeitete mit einem Taschenmesser rasch noch einmal den versperrten Koffer. Er erklärte wild, auf das Scheckbuch seines Herrn – denn in Geldsachen kannte sich der närrische Teufel recht unkindlich aus – ein großes Reisegeld beheben zu wollen, ehe Arnheim zurückkehre, und mit Rachel zu fliehn, aber zuvor müsse er seine Papiere erlangen.
Rachel, kniend, stand auf, entleerte ihre Taschen entschlossen von allen hineingestopften Geschenken und sagte: »Schwatz nicht! Ich habe keine Zeit mehr; wieviel Uhr ist es?« Ihre Stimme war tiefer geword en. Sie strich die Schürze glatt und rückte das Häubchen zurecht; Soliman fühlte sofort, daß sie ihm das Spiel hinwarf und mit einemmal älter als er war. Aber ehe er sich widersetzen konnte, gab Rachel ihm den Abschiedskuß. Ihre Lippen zitterten nicht wie sonst, sondern preßten sich in die saftige Frucht seines Gesichts, wobei sie den Kopf des kleineren Solimans zurückbog und so lange festhielt, daß er halb erstickte. Soliman zappelte, und als er losgelassen wurde, war ihm zumute, als hätte ihn ein stärkerer Knabe unter Wasser getaucht, und er wollte im ersten Augenblick nichts als Rache für diese unangenehme Unbill. Aber Rachel war durch die Tür entschlüpft, und der Blick, der sie allein noch einholte, war zwar am Beginn zornig wie ein an der Spitze brennender Pfeil, aber brannte dann gegen das Ende zu sanfter Asche, und Soliman hob das Eigentum seines Herrn vom Boden auf, um es zurückzulegen, und war ein junger Mann geworden, der etwas zu gewinnen wünschte, das keineswegs unerreichbar war.

Arnheim war in Anschluß an den Gebirgsausflug länger verreist gewesen als sonst. Dieser Gebrauch des Wortes »verreist«, den er selbst unwillkürlich angenommen hatte, ist sonderbar, wenn man richtig sagen müßte »zuhause gewesen«. Arnheim fühlte aus solcherlei vielen Gründen, daß es dringend notwendig werde, zu einer Entscheidung zu kommen. Er wurde von unangenehmen Tagträumen verfolgt, wie es sein strenger Kopf noch nie erlebt hatte. Namentlich einer war hartnäckig; er sah sich mit Diotima auf einem hohen Kirchturm stehn, das Land lag einen Augenblick lang grün zu ihren Füßen, und dann sprangen sie hinab. Abends ohne alle Ritterlichkeit in das Tuzzische Schlafzimmer einzudringen und den Sektionschef niederzuschießen, war offenbar das gleiche. Er hätte ihn auch im Duell niederstrecken können, aber es erschien ihm weniger natürlich; diese Phantasie war schon durch zuviel Wirklichkeitszeremonien beschwert, und je mehr Arnheim sich der Wirklichkeit näherte, desto unangenehmer wuchsen die Widerstände. Schließlich hätte man ja auch sozusagen frei und offen bei Tuzzi um die Hand seiner Gattin anhalten können. Aber was würde der dazu sagen? Das hieß bereits, sich in eine Lage voll der Möglichkeiten begeben, sich lächerlich zu machen. Und gesetzt den Fall, Tuzzi würde sich sogar human betragen und der Skandal bliebe aufs kleinste beschränkt, – ja selbst wenn man annahm, es würde überhaupt keinen Skandal geben, da Scheidungen damals schon anfingen auch in der besten Gesellschaft geduldet zu werden, – so bliebe noch bestehen, daß ein alter Junggeselle sich durch eine späte Heirat stets ein wenig lächerlich macht, ungefähr so wie ein Ehepaar, das zu seiner silbernen Hochzeit noch ein Kind bekommt. Und wenn Arnheim schon so etwas tun wollte, so würde die Verantwortung gegenüber dem Geschäft zumindest verlangt haben, daß er eine große amerikanische Witwe oder eine dem Hof nahestehende Adelige heirate und nicht die geschiedene Frau eines bürgerlichen Beamten. Für ihn war jede Handlung, auch die sinnliche, von Verantwortung durchdrungen. In einer Zeit, wo so wenig Verantwortung herrscht für das, was man tut oder denkt, wie in der gegenwärtigen, war es keineswegs nur persönlicher Ehrgeiz, was solche Einwände machte, sondern geradezu ein überpersönliches Bedürfnis, die in den Händen der Arnheims gewachsene Macht (dieses Gebilde, das ursprünglich aus dem Drang nach Geld entstanden, dann aber längst ihm entwachsen war, seine eigene Vernunft, seinen eigenen Willen hatte, sich vergrößern, festigen mußte, erkranken konnte, rostete, wenn es rastete!) in Einklang mit den Mächten und Rangordnungen des Daseins zu bringen, woraus er auch vor Diotima, soviel er wußte, nie ein Hehl gemacht hatte. Freilich vermochte ein Arnheim es sich zu erlauben, sogar eine Ziegenhirtin zu heiraten; aber er vermochte es sich nur persönlich zu erlauben, und darüber hinaus blieb es immer noch der Verrat einer Sache an eine persönliche Schwäche.
Es war trotzdem richtig, daß er Diotima vorgeschlagen hatte, sie zu heiraten. Er hatte es schon deshalb getan, weil er den Situationen des Ehebruchs vorbeugen wollte, die mit einer großen, gewissenhaften Lebenshaltung unverträglich sind. Diotima hatte ihm dankbar die Hand gedrückt und mit einem an die besten kunsthistorischen Vorbilder gemahnenden Lächeln auf seinen Antrag erwidert: »Niemals lieben wir die, welche wir umarmen, am tiefsten...!« Nach dieser Antwort, die so vieldeutig war wie das lockende Gelb im Schoß der strengen Lilie, hatte es Arnheim an Entschlossenheit gefehlt, auf seine Bitte zurückzukommen. Aber es entstanden an ihrer Stelle Gespräche allgemeiner Natur, in denen die Worte Scheidung, Heirat, Ehebruch und ähnliche einen merkwürdigen Drang bewiesen, in Erscheinung zu treten. So hatten Arnheim und Diotima wiederholt ein profundes Gespräch über die Behandlung des Ehebruchs in der zeitgenössischen Literatur, und Diotima fand, daß dieses Problem durchwegs ohne Empfinden für den großen Sinn von Zucht, Versagen, heldischer Askese, rein sensualistisch behandelt werde, was leider genau auch die Meinung war, die Arnheim davon hatte, so daß ihm nur hinzuzufügen blieb, daß der Sinn für das tiefe moralische Geheimnis der Person heute fast allgemein verlorengegangen sei. Dieses Geheimnis besteht darin, daß man sich nicht alles gestatten darf. Eine Zeit, in der alles erlaubt ist, hat noch jedesmal die in ihr gelebt haben unglücklich gemacht. Zucht, Enthaltsamkeit, Ritterlichkeit, Musik, die Sitte, das Gedicht, die Form, das Verbot, alles das hat keinen tieferen Zweck, als dem Leben eine eingeschränkte und bestimmte Gestalt zu verleihen. Es gibt kein grenzenloses Glück. Es gibt kein großes Glück ohne große Verbote. Selbst im Geschäft darf man nicht jedem Vorteil nachlaufen, sonst kommt man zu nichts. Die Grenze ist das Geheimnis der Erscheinung, das Geheimnis der Kraft, des Glücks, des Glaubens und der Aufgabe, sich als winziger Mensch in einem Universum zu behaupten. So führte es Arnheim aus, und Diotima konnte ihm nur beipflichten. Es war in gewissem Sinn eine bedauerliche Folge solcher Erkenntnisse, daß durch sie der Begriff der Legitimität eine Bedeutungsfülle erhielt, die er für gewöhnliche Wesen allgemein nicht mehr besitzt. Jedoch große Seelen haben ein Bedürfnis nach Legitimität. Man ahnt in erhabenen Stunden die senkrechte Strenge des Alls. Und der Kaufmann, obgleich er die Welt beherrscht, achtet Königtum, Adel und Geistlichkeit als Träger des Irrationalen. Denn das Legitime ist einfach, wie alles Große einfach ist und keines Verstandes bedarf. Homer war einfach. Christus war einfach. Es kommen die großen Geister immer wieder auf einfache Grundsätze, ja man muß den Mut haben, zu sagen, auf moralische Gemeinplätze zurück, und alles in allem ist es darum für niemand so schwer wie für wahrhaft freie Seelen, gegen das Herkommen zu handeln.
Solche Erkenntnisse, so wahr sie sind, sind nicht dem Vorsatz günstig, in eine fremde Ehe einzudringen. So befanden sich die beiden in der Lage von Menschen, die eine herrliche Brücke verbindet, in deren Mitte ein Loch von wenigen Metern das Zusammenkommen verhindert. Arnheim bedauerte es auf das innigste, nicht einen Funken jener Begehrlichkeit zu besitzen, die in allen Dingen die gleiche ist und einen Menschen ebenso in ein unüberlegtes Geschäft wie in eine unüberlegte Liebe hineinreißt, und begann in diesem Bedauern ausführlich von der Begehrlichkeit zu sprechen. Begehrlichkeit ist, um ihm zu folgen, genau das Gefühl, das der Kultur des Verstandes in unserem Zeitalter entspricht. Kein anderes Gefühl richtet sich so eindeutig auf seinen Zweck wie dieses. Es haftet wie ein eingeschossener Pfeil und schwirrt nicht wie ein Vogelschwarm in immer erneute Weite. Es verarmt die Seele, so wie sie das Rechnen und die Mechanik und die Brutalität verarmen. Also sprach Arnheim mißbilligend von der Begehrlichkeit und fühlte sie indes wie einen geblendeten Sklaven im Kellergeschoß rumoren.
Diotima versuchte es anders. Sie streckte dem Freund die Hand entgegen und bat »Lassen Sie uns schweigen! Das Wort vermag Großes, aber es gibt Größeres! Die wahre Wahrheit zwischen zwei Menschen kann nicht ausgesprochen werden. Sobald wir sprechen, schließen sich Türen; das Wort dient mehr den unwirklichen Mitteilungen, man spricht in den Stunden, wo man nicht lebt...«
Arnheim pflichtete bei. »Sie haben recht, das selbstbewußte Wort gibt den unsichtbaren Bewegungen unseres Innern eine willkürliche und arme Form!«
»Sprechen Sie nicht!« wiederholte Diotima und legte die Hand auf seinen Arm. »Ich habe das Gefühl, daß wir einander einen Augenblick des Lebens schenken, indem wir schweigen.« Nach einer Weile zog sie die Hand wieder zurück und seufzte: »Es gibt Minuten, in denen alle verborgenen Edelsteine der Seele offenliegen!«
»Es wird vielleicht eine Zeit kommen,« ergänzte Arnheim »und es sind viele Anzeichen vorhanden, daß sie schon nahe ist, wo die Seelen sich ohne Vermittlung der Sinne erblicken werden. Die Seelen vereinen sich, wenn sich die Lippen trennen!«
Diotimas Lippen schürzten sich und bildeten die Andeutung einer kleinen schiefen Röhre, wie sie ein Schmetterling in die Blüten senkt. Sie war geistig schwer berauscht. Es ist ja wahrscheinlich eine Eigenschaft der Liebe wie aller erhöhten Zustände ein leichter Beziehungswahn; überall, wohin Worte fielen, leuchtete ein vielbedeutender Sinn auf, trat wie ein verschleierter Gott hervor und löste sich in Schweigen auf. Diotima kannte dieses Phänomen aus einsamen gehobenen Stunden, aber nie vorher hatte es sich so bis zur Grenze des gerade noch erträglichen geistigen Glückes gesteigert; es war eine Anarchie der Überfülle in ihr, eine Leichtbeweglichkeit des Göttlichen wie auf Schlittschuhen, und ihr war einigemal zumute, als müßte sie ohnmächtig hinschlagen.
Arnheim fing sie mit großen Sätzen auf. Er schuf Verzögerungen und Atempausen. Dann schwankte wieder das ausgespannte Netz bedeutender Gedanken unter ihnen.
Die Qual in diesem ausgebreiteten Glück war, daß es keine Konzentration zuließ. Es gingen immer erneut zitternde Wellen von ihm aus und weiteten sich zu Kreisen, aber sie preßten sich nicht zur strömenden Handlung aneinander. Diotima war doch schon so weit, daß sie es wenigstens im Geiste zuweilen für zartfühlend und überlegen gehalten hatte, das Fährnis des Ehebruchs der groben Katastrophe einer Zerschmetterung von Lebensläufen vorzuziehen, und Arnheim hatte sich moralisch längst entschieden, dieses Opfer nicht anzunehmen und sie zu heiraten; sie konnten sich also auf die eine oder andere Weise jede Sekunde bekommen, das wußten sie beide, aber sie wußten nicht, wie sie es wollen sollten, denn das Glück riß ihre dazu geschaffenen Seelen in eine solche feierliche Höhe, daß sie dort eine Angst vor unschönen Bewegungen litten, wie sie an Menschen, die eine Wolke unter den Füßen haben, ganz natürlich ist.
So hatte ihrer beider Geist von allem Großen und Schönen, was das Leben vor ihnen ausschüttete, niemals etwas unaufgeschlürft gelassen, aber in der höchsten Steigerung geschah dem ein sonderbarer Abbruch. Die Wünsche und Eitelkeiten, die sonst ihr Dasein ausgefüllt hatten, lagen unter ihnen wie die Spielzeughäuselchen und -höfchen im Talgrund, mit Gegacker, Gebelle und allen Aufregungen von der Stille verschluckt. Was übrig blieb, war Schweigen, Leere und Tiefe.
»Sollten wir auserwählt sein?« dachte Diotima, indem sie sich auf der so beschaffenen höchsten Höhe des Gefühls umsah und etwas Martervolles und Unvorstellbares ahnte. Geringere Grade hatte sie nicht nur selbst erlebt, sondern auch ein unverläßlicher Mann wie ihr Vetter wußte von ihnen zu sprechen, und es war neuerlich viel über sie geschrieben worden. Aber wenn die Berichte nicht trogen, gab es alle tausende Jahr Zeiten, wo die Seele dem Erwachen näher ist als sonst und sich gleichsam durch einzelne Individuen in die Wirklichkeit gebiert, denen sie ganz andere Prüfungen auferlegt als Lesen und Reden. In diesem Zusammenhang fiel ihr sogar plötzlich das geheimnisvolle Auftauchen des Generals wieder ein, der nicht eingeladen worden war. Und sie sagte ganz leise zu ihrem nach neuen Worten suchenden Freund, indes die Erregung einen zitternden Bogen zwischen ihnen wölbte: »Verstand ist nicht das einzige Verständigungsmittel zwischen zwei Menschen!« Und Arnheim erwiderte: »Nein.« Sein Blick traf waagrecht wie ein Sonnenuntergangsstrahl in ihr Auge. »Sie haben es schon vorhin gesagt. Die wahre Wahrheit zwischen zwei Menschen kann nicht ausgesprochen werden; jede Anstrengung wird ihr zum Hindernis!«

Arnheim allein. Er steht nachdenklich am Fenster seiner Hotelwohnung und sieht auf die entlaubten Baumkronen hinab, die ein Gitter von Strichen flechten, unter dem die Menschen bunt und dunkel die zwei sich aneinander reibenden Schlangen des Korsos bilden, der um diese Stunde begonnen hat. Ein ärgerliches Lächeln spaltete die Lippen des großen Mannes.
Es hatte ihm bisher noch nie Schwierigkeiten bereitet, das zu kennzeichnen, was er für seelenlos hielt. Was wäre heute nicht seelenlos? Die einzelnen Ausnahmen konnte man leicht als solche erkennen. Arnheim hörte fern in der Erinnerung einen Kammermusikabend; es waren Freunde bei ihm auf dem Schloß in der Mark, die preußischen Linden dufteten, die Freunde waren junge Musiker, denen es recht schlecht ging, trotzdem spielten sie ihre Begeisterung in den Abend hinein; das war seelenvoll. Oder ein anderer Fall: Er hatte sich vor kurzem geweigert, einen Beitrag, den er eine Zeitlang für einen bestimmten Künstler ausgeworfen hatte, weiter zu bezahlen. Er hatte erwartet, daß dieser Künstler böse auf ihn sein und sich im Stich gelassen fühlen werde, ehe es ihm gelungen sei, sich durchzusetzen; man mußte ihm sagen, daß es auch noch andere Künstler gebe, die der Unterstützung bedürften, und ähnliches, was unangenehm war. Statt dessen hatte dieser Mann Arnheim, als er ihn jetzt auf seiner letzten Reise traf, bloß hart ins Auge gesehen, seine Hand ergriffen und erklärt: »Sie haben mich in eine schwere Lage gebracht, aber ich bin überzeugt, ein Mensch wie Sie tut nichts ohne tiefen Grund!« Das war Mannesseele, und Arnheim war nicht abgeneigt, ein andermal wieder etwas für diesen Mann zu tun.
So besteht in vielen Einzelheiten selbst heute noch Seele; es war Arnheim immer wichtig erschienen. Wenn man aber mit ihr unmittelbar und bedingungslos in Verkehr treten muß, bedeutet sie eine ernste Gefahr für die Aufrichtigkeit. War wirklich eine Zeit im Kommen, wo sich die Seelen ohne Vermittlung der Sinne berühren? Hatte es irgend ein Ziel von Rang und Bedeutung der Wirklichkeitsziele, so miteinander zu verkehren, wie es inneres Drängen ihm und seiner wunderbaren Freundin in der letzten Zeit abnötigte? Er glaubte nicht einen Augenblick lang mit wachem Bewußtsein daran, trotzdem war es ihm klar, daß er diesem Glauben Diotimas Vorschub leistete.
Arnheim befand sich in einem eigenartigen Zwiespalt. Der sittliche Reichtum ist nah verschwistert mit dem geldlichen; das war ihm wohlbekannt, und es läßt sich leicht erkennen, warum es so ist. Denn Moral ersetzt die Seele durch Logik; wenn eine Seele Moral hat, dann gibt es für sie eigentlich keine moralischen Fragen mehr, sondern nur noch logische; sie fragt sich, ob das, was sie tun will, unter dieses oder jenes Gebot fällt, ob ihre Absicht so oder anders auszulegen sei, und ähnliches mehr, was alles so ist, wie wenn ein wild daherstürmender Menschenhaufen turnerisch diszipliniert wird und auf einen Wink Ausfall rechts, Arme Seitstoßen und tiefe Kniebeuge macht. Logik setzt aber wiederholbare Erlebnisse voraus; es ist klar, wo die Geschehnisse wechseln würden wie ein Wirbel, in dem nichts wiederkehrt, könnten wir niemals die tiefe Erkenntnis aussprechen, daß A gleich A sei, oder daß größer nicht kleiner sei, sondern wir würden einfach träumen; ein Zustand, den jeder Denker verabscheut. Und so gilt das gleiche von der Moral, und wenn es nichts gäbe, das sich wiederholen ließe, dann ließe sich uns auch nichts vorschreiben, und ohne den Menschen etwas vorschreiben zu dürfen, würde die Moral gar kein Vergnügen bereiten. Diese Eigenschaft der Wiederholbarkeit, die der Moral und dem Verstande eignet, haftet aber am Geld im allerhöchsten Maße; es besteht geradezu aus dieser Eigenschaft und zerlegt, solange es wertbeständig ist, alle Genüsse der Welt in jene kleinen Bauklötze der Kaufkraft, aus denen man sich zusammenfügen kann, was man will. Darum ist das Geld moralisch und vernünftig; und da bekanntlich nicht auch umgekehrt jeder moralische und vernünftige Mensch Geld hat, läßt sich schließen, daß diese Eigenschaften ursprünglich beim Geld liegen, oder wenigstens, daß Geld die Krönung eines moralischen und vernünftigen Daseins ist.
Nun gewiß, Arnheim dachte nicht genau auf diese Weise, daß etwa Bildung und Religion die natürliche Folge des Besitzes seien, sondern er nahm an, daß der Besitz zu ihnen verpflichte; aber daß die geistigen Mächte nicht immer genug von den wirkenden Mächten des Seins verstünden und von einem Rest von Lebensfremdheit selten ganz loszusprechen seien, das hob er gern hervor und er, der Mann mit dem Überblick, kam noch zu ganz anderen Erkenntnissen. Denn jedes Abwägen, jedes In-Rechnung-Stellen und Bemessen setzt auch voraus, daß sich der zu ermessende Gegenstand nicht während der Überlegung ändert; und wo dies dennoch geschieht, muß aller Scharfsinn darauf angewendet werden, selbst noch in der Veränderung etwas Unveränderliches zu finden, und so ist das Geld allen Geisteskräften artverwandt, und nach seinem Muster zerlegen die Gelehrten die Welt in Atome, Gesetze, Hypothesen und wunderliche Rechenzeichen, und die Techniker bauen aus diesen Fiktionen eine Welt neuer Dinge auf. Das war dem über das Wesen der ihm dienenden Kräfte gut unterrichteten Besitzer einer Riesenindustrie so geläufig, wie es einem durchschnittlichen deutschen Romanleser die moralischen Vorstellungen der Bibel sind.
Dieses Bedürfnis nach Eindeutigkeit, Wiederholbarkeit und Festigkeit, das die Voraussetzung für den Erfolg des Denkens und Planens bildet, – so dachte Arnheim, auf die Straße hinunterblickend, weiter – wird nun auf seelischem Gebiet immer durch eine Form der Gewalt befriedigt. Wer auf Stein bauen will im Menschen, darf sich nur der niedrigen Eigenschaften und Leidenschaften bedienen, denn bloß was aufs engste mit der Ichsucht zusammenhängt, hat Bestand und kann überall in Rechnung gestellt werden; die höheren Absichten sind unverläßlich, widerspruchsvoll und flüchtig wie der Wind. Der Mann, der wußte, daß man Reiche über kurz oder lang ebenso regieren werde müssen wie Fabriken, sah auf das Gewimmel von Uniformen, stolzen und lauseigroßen Gesichtern unter sich mit einem Lächeln, worin sich Überlegenheit und Wehmut mischten. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen: Wenn Gott heute zurückkehrte, um das Tausendjährige Reich unter uns aufzurichten, es würde kein einziger praktischer und erfahrener Mann dem Vertrauen entgegenbringen, solange nicht neben dem Jüngsten Gericht auch für einen Strafvollzug mit festen Gefängnissen Vorsorge getroffen wäre, für Polizei, Gendarmerie, Militär, Hochverratsparagraphen, Regierungsstellen und was sonst noch dazu gehört, um die unberechenbaren Leistungen der Seele auf die zwei Grundtatsachen einzuschränken, daß der zukünftige Himmelsbewohner nur durch Einschüchterung und Anziehen der Schrauben oder durch Bestechung seines Begehrens, mit einem Wort, nur durch die »starke Methode« verläßlich zu allem zu bringen ist, was man von ihm haben will.
Dann aber würde Paul Arnheim vortreten und zum Herrn sprechen: »Herr, wozu?! Die Ichsucht ist die verläßlichste Eigenschaft des menschlichen Lebens. Der Politiker, der Soldat und der König haben mit ihrer Hilfe deine Welt durch List und Zwang geordnet. Das ist die Melodie der Menschheit; Du und ich müssen es zugeben. Den Zwang abschaffen, hieße die Ordnung verweichlichen; den Menschen zum Großen befähigen, obgleich er ein Bastard ist, das erst ist unsere Aufgabe!« Dabei würde Arnheim bescheiden zum Herrn lächeln, in ruhiger Haltung, damit man nicht vergesse, wie wichtig es für jeden Menschen bleibt, demütig die großen Geheimnisse anzuerkennen. Und dann würde er seine Rede fortsetzen. »Aber ist das Geld nicht eine ebenso sichere Methode der Behandlung menschlicher Beziehungen wie die Gewalt und erlaubt uns, auf ihre naive Anwendung zu verzichten? Es ist vergeistigte Gewalt, eine geschmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt. Beruht nicht das Geschäft auf List und Zwang, auf Übervorteilung und Ausnützung, nur sind diese zivilisiert, ganz in das Innere des Menschen verlegt, ja geradezu in das Aussehen seiner Freiheit gekleidet? Der Kapitalismus, als Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen, ist geradezu die größte und dabei noch humanste Ordnung, die wir zu Deiner Ehre haben ausbilden können; ein genaueres Maß trägt das menschliche Tun nicht in sich!« Und Arnheim würde dem Herrn geraten haben, das Tausendjährige Reich nach kaufmännischen Grundsätzen einzurichten und seine Verwaltung einem Großkaufmann zu übertragen, der natürlich auch philosophische Weltbildung haben müßte. Denn was schließlich das rein Religiöse betrifft, so hat es nun einmal immer zu leiden gehabt, und verglichen mit der Existenzunsicherheit in Kriegerzeiten, würde selbst ihm eine kaufmännische Leitung immer noch große Vorteile bieten.
So also würde Arnheim gesprochen haben, denn eine tiefe Stimme sagte ihm deutlich, daß man auf das Geld ebensowenig verzichten könne wie auf Vernunft und Moral. Eine andere, ebenso tiefe Stimme sagte ihm aber ebenso deutlich, daß man auf Vernunft, Moral und das ganze rationalisierte Dasein kühn verzichten sollte. Und gerade in den schwindelnden Augenblicken, wo er kein anderes Bedürfnis kannte, als einem irrenden Satelliten gleich in die Sonnenmasse Diotimas zu stürzen, war diese Stimme fast die mächtigere. Es erschien ihm dann das Wachsen der Gedanken so fremd und uninnerlich wie das der Nägel und Haare. Ein moralisches Leben kam ihm als etwas Totes vor, und eine verborgene Abneigung gegen Moral und Ordnung machte ihn erröten. Es erging Arnheim nicht anders wie seinem ganzen Zeitalter. Dieses betet das Geld, die Ordnung, das Wissen, Rechnen, Messen und Wägen, alles in allem also den Geist des Geldes und seiner Verwandten an und beklagt das zugleich. Während es in seinen Arbeitsstunden hämmert und rechnet und sich außerhalb ihrer so benimmt wie eine Horde Kinder, die von dem Zwang des »Also was machen wir jetzt?«, der am Grunde einen bitteren Ekelgeschmack hat, aus einer Übertriebenheit in die nächste gejagt wird, wird es eine innere Mahnung zur Umkehr nicht los. Auf diese wendet es das Prinzip der Arbeitsteilung an, indem es für solche Ahnung und innere Klage besondere Intellektuelle, Beichtende und Beichtiger der Zeit besitzt, Ablaßzettelexistenzen, literarische Bußprediger und Verkünder, die vorhanden zu wissen sehr viel wert ist, wenn man persönlich nicht in die Lage kommt, sich nach ihnen zu halten; und nicht viel anderes als die gleiche Art moralischen Lösegelds bedeuten auch die Phrasen und Geldmittel, die der Staat alljährlich in Kultureinrichtungen versenkt, die keinen Boden haben.
Diese Arbeitsteilung fand sich auch in Arnheim selbst. Wenn er in einem seiner Direktionsbüros saß und eine Absatzberechnung prüfte, würde er sich geschämt haben, anders zu denken als kaufmännisch und technisch; sobald aber nicht mehr das Geld der Firma auf dem Spiel stand, würde er sich geschämt haben, nicht umgekehrt zu denken und die Forderung aufzustellen, daß der Mensch eines anderen Aufstiegs fähig gemacht werden müsse, als auf dem Irrweg der Regelmäßigkeit, Vorschrift, Maßeinheit und dergleichen, dessen Ergebnisse so völlig uninnerlich und im letzten Grunde unwesentlich sind. Es ist keine Frage, daß man diesen anderen Weg Religion nennt; er hatte Bücher darüber geschrieben. In diesen Büchern hatte er es auch Mythos genannt, Rückkehr zur Einfachheit, Reich der Seele, die Vergeistigung der Wirtschaft, das Wesen der Tat und dergleichen, denn es hatte viele Seiten; genau genommen, hatte es gerade ebensoviel Seiten, wie er an sich bemerkte, wenn er sich selbstlos mit sich beschäftigte, wie es ein Mann tun muß, der große Aufgaben vor sich sieht. Aber offenbar war es sein Schicksal, daß diese Arbeitsteilung in der Stunde der Entscheidung zusammenbrach. In dem Augenblick, wo er sich in die Flamme seines Gefühls werfen wollte oder das Bedürfnis hatte, so groß und ungeteilt zu sein wie die Figuren der Urzeiten, so unbekümmert, wie es nur der wahrhaft adelige Mensch vermag, so restlos religiös, wie es das innig erfaßte Wesen der Liebe verlangt, in dem Augenblick also, wo er sich ohne Rücksicht auf seine Beinkleider und Zukunft Diotima zu Füßen stürzen wollte, gebot ihm eine Stimme Einhalt. Es war die zur Unzeit erwachte Stimme der Vernunft oder, wie er sich ärgerlich sagte, des Rechnens und Scharrens, die sich der großen Lebensgestaltung, dem Geheimnis des Gefühls heute allenthalben entgegenstellt. Er haßte sie und wußte im gleichen Augenblick, daß sie nicht unrecht hatte. Denn angenommen, man dürfte Honigmond sagen: welche Form des Lebens mit Diotima sollte sich dann wohl nach Ablauf der Honigmonde herausbilden? Er würde zu seinen Geschäften zurückkehren und gemeinsam mit ihr die übrigen Lebensaufgaben bewältigen. Das Jahr würde wechseln zwischen Finanzoperationen und Ausruhen in der Natur, im tierischen und vegetativen Teil des eigenen Seins. Es würde vielleicht eine große, wahrhaft humane Vermählung von Tätigkeit und Ruhe, menschlicher Notdurft und Schönheit möglich sein. Das war sehr gut, das schwebte ihm wohl auch als Ziel vor, und nach Arnheims Ansicht besaß niemand die Kraft zu großen Finanzoperationen, der nicht das völlige Entspannen und Einsinken kannte, das wunschlose, gewissermaßen nur mit einem Lendenschurz bekleidet abseits der Welt Liegen: aber eine wilde stumme Befriedigung wütete in Arnheim, denn alles das stand in Widerspruch zu dem Anfangs- und Endgefühl, das Diotima in ihm erregte. Täglich, wenn er sie wieder sah, diese Antike mit etwas mehr modern gefälliger Rundung, stürzte er in Verwirrung, fühlte er ein Wegschmelzen seiner Kräfte, ein Unvermögen, dieses ausgewogene, in sich ruhende, harmonisch kreisende Wesen in seinem Inneren unterzubringen. Das war ganz und gar kein hochhumanes oder auch nur humanes Gefühl mehr. Die ganze Leere der Ewigkeit lag in diesem Zustand. Er starrte in die Schönheit seiner Geliebten mit einem Blick, der sie schon seit tausend Jahren gesucht zu haben schien und nun, wo er sie antraf, plötzlich beschäftigungslos wurde, was ein Unvermögen ergab, das unverkennbar die Züge eines Stupors, eines beinahe idiotischen Staunens an sich trug. Das Gefühl lieferte bereits keine Antwort mehr auf dieses Übermaß der Forderung, das eigentlich mit nichts anderem mehr zu vergleichen war als dem Wunsch, sich aus einer Kanone gemeinsam in den Weltraum schießen zu lassen!
Die taktvolle Diotima fand auch dafür das richtige Wort. Sie erinnerte einmal in solchem Augenblick daran, daß schon der große Dostojewski einen Zusammenhang zwischen Liebe, Idiotie und innerer Heiligkeit festgestellt habe, unerachtet dessen aber Menschen von heute, die nicht sein gläubiges Rußland hinter sich haben, wohl erst einer besonderen Erlösung bedürften, um diesen Gedanken verwirklichen zu können.
Dieses Wort war Arnheim aus dem Herzen gesprochen.
Der Augenblick, wo es gesagt wurde, war einer jener voll von Überichhaftigkeit und zugleich Übergegenständlichkeit, die wie eine verstopfte Trompete, auf der man keinen Ton hervorbringt, das Blut in den Kopf treiben; nichts war daran unwichtig, von der kleinsten Tasse auf einem Wandbord, die sich van Goghisch im Raum durchsetzte, bis zu den Menschenleibern, die sich, vom Unsagbaren geschwollen und zugespitzt, in ihn zu pressen schienen.
Erschrocken sagte Diotima: »Ich möchte jetzt am liebsten scherzen; Humor ist so schön, er schwebt frei von aller Begehrlichkeit über den Erscheinungen!«
Arnheim lächelte dazu. Er war aufgestanden und hatte begonnen, sich im Zimmer Bewegung zu machen. »Wenn ich sie in Stücke reißen würde, wenn ich zu brüllen und zu tanzen anfinge; wenn ich mir in den Hals greifen würde, um in der Brust mein Herz für sie zu fangen: würde dann vielleicht ein Wunder geschehn?« fragte er sich. Aber in dem Maße der Abkühlung hatte er eingehalten.
Dieser Auftritt war ihm jetzt wieder lebhaft gegenwärtig geworden. Eisig ruhte sein Blick noch einmal auf der Straße zu seinen Füßen. »Es müßte wahrhaftig das Wunder einer Erlösung vorhergehn,« sagte er sich »andere Menschen müßten die Erde bevölkern, ehe man an die Verwirklichung solcher Dinge denken dürfte.« Er gab sich nicht mehr die Mühe, zu enträtseln, wie und wovon man erlösen müßte; es hätte jedenfalls alles anders sein müssen. Er ging an seinen Schreibtisch zurück, den er vor einer halben Stunde verlassen hatte, zu seinen Briefen und Depeschen, und schellte Soliman, um seinen Sekretär holen zu lassen.
Und während er auf diesen wartete und seine Gedanken schon die ersten Sätze eines Wirtschaftsdiktats rundeten, kristallisierte sich das Erlebte in ihm zu einer schönen und beziehungsreichen moralischen Form. »Ein seiner Verantwortung bewußter Mann« sagte sich Arnheim überzeugt »darf schließlich auch, wenn er Seele schenkt, nur die Zinsen zum Opfer bringen und niemals das Kapital!«

Wenn Seine Erlaucht von einer europäischen Staatenfamilie sprach, die sich jubelnd um den greisen Kaiser-Patriarchen scharen sollte, so nahm er immer und stillschweigend Preußen aus. Vielleicht geschah dies jetzt sogar noch inniger als früher, denn Graf Leinsdorf fühlte sich durch den Eindruck, den Dr. Paul Arnheim machte, unleugbar gestört; so oft er zu seiner Freundin Diotima kam, traf er entweder diesen Mann oder dessen Spuren an und wußte ebensowenig wie Sektionschef Tuzzi, wie ihm geschah. Diotima bemerkte jetzt, was früher nie geschehen war, jedesmal, wenn sie ihn seelenvoll anblickte, die geschwollenen Adern an Händen und Hals Sr. Erlaucht und die helltabakfarbene, den Geruch alternder Männer ausströmende Haut, und wenn sie es dem großen Herrn an Verehrung auch nicht fehlen ließ, so hatte sich in den Strahlen ihrer Gunst doch etwas verändert wie Sommersonne zu Wintersonne. Graf Leinsdorf neigte weder zu Phantasien noch zur Musik, aber seit er Dr. Arnheim hinnehmen mußte, geschah es merkwürdig oft, daß er in den Ohren ein leichtes Klingen wie von Pauken und Tschinellen eines österreichischen Militärmarsches spürte oder daß ihn, wenn er die Augen schloß, in ihrem Dunkel ein Wallen beunruhigte, das von schwarz-gelben Fahnen kam, die sich dort haufenweise bewegten. Und solche patriotischen Visionen schienen auch andere Freunde des Hauses Tuzzi heimzusuchen. Wenigstens sprach man überall, wohin er hörte, zwar mit größter Achtung von Deutschland, aber wenn er es zu verstehen gab, daß die große patriotische Aktion vielleicht doch im Lauf der Ereignisse eine kleine Spitze gegen das Bruderreich annehmen könnte, wurde diese Achtung durch ein herzliches Lächeln verschönt.
Se. Erlaucht war da in seinem Bezirk auf ein wichtiges Phänomen gestoßen. Es gibt gewisse Familiengefühle, die besonders heftig sind, und dazu gehörte die vor dem Krieg in der europäischen Staatenfamilie allgemein verbreitet gewesene Abneigung gegen Deutschland. Vielleicht war Deutschland geistig das am wenigsten einheitliche Land, wo jeder etwas für seine Abneigung finden konnte; es war das Land, dessen alte Kultur am ehesten unter die Räder der neuen Zeit geraten und zu großartigen Worten für Talmi und Kommerz zerschnitten worden war; es war außerdem streitsüchtig, beutegierig, prahlerisch und gefährlich unzurechnungsfähig wie jede erregte große Masse: aber alles das war schließlich nur europäisch, und es hätte den Europäern höchstens ein wenig zu europäisch sein können. Es scheint einfach, daß es Wesen geben muß, Unwunschbilder, an denen sich die Unlust, Unstimmigkeit, gleichsam der Rückstand einer schlackenden Verbrennung anhäuft, den das Leben heute zurückläßt. Aus dem Kannsein entsteht zur namenlosen Überraschung aller Beteiligten plötzlich das Ist, und was bei diesem höchst ungeordneten Vorgang wegfällt, nicht stimmt, überschüssig ist und den Geist nicht befriedigt, scheint jenen atmosphärisch verteilten, zwischen allen Geschöpfen schwingenden Haß zu bilden, der für die gegenwärtige Zivilisation so kennzeichnend ist und die vermißte Zufriedenheit mit dem eigenen Tun durch die leicht erreichbare Unzufriedenheit mit dem der anderen ersetzt. Der Versuch, diese Unlust in besonderen Wesen zusammenzufassen, ist bloß etwas, das zum ältesten psychotechnischen Besitzstand des Lebens gehört. So zog der Zauberer den sorgsam vorbereiteten Fetisch aus dem Leib des Kranken, und so verlegt der gute Christ seine Fehler in den guten Juden und behauptet, daß er durch ihn zu Reklame, Zinsen, Zeitungen und ähnlichem verleitet worden sei; man hat im Lauf der Zeiten den Donner, die Hexen, die Sozialisten, die Intellektuellen und die Generale verantwortlich gemacht, und in den letzten Zeiten vor dem Krieg ist auch, aus Sondergründen, die daneben ganz verschwinden, eines der großartigsten und beliebtesten Mittel in diesem wunderlichen Vorgang Preußen-Deutschland gewesen. Der Welt ist eben nicht nur Gott abhanden gekommen, sondern auch der Teufel. So wie sie das Böse in Unwunschbilder verlegt, verlegt sie das Gute in Wunschbilder, die sie dafür verehrt, daß sie das tun, was man in eigener Person untunlich findet. Man läßt andere Leute sich anstrengen, während man auf einem Sitzplatz zuschaut, das ist der Sport; man läßt Leute die einseitigsten Übertreibungen reden, das ist der Idealismus; man schüttelt das Böse ab und die davon bespritzt werden, das sind die Unwunschbilder. So findet alles seinen Ort in der Welt und seine Ordnung; aber diese Technik der Heiligenverehrung und Sündenbockmast durch Entäußerung ist nicht ungefährlich, denn sie füllt die Welt mit den Spannungen aller unausgetragenen inneren Kämpfe. Man schlägt sich tot oder verbrüdert sich und kann nicht recht wissen, ob man es in vollem Ernst tut, weil man ja einen Teil von sich außer sich hat, und es scheinen sich alle Geschehnisse halb vor oder hinter der Wirklichkeit als eine Spiegelfechterei des Hasses und der Liebe zu vollziehen. Der alte Dämonenglaube, der für alles Gute und Böse, das man zu spüren bekam, himmlisch-höllische Geister verantwortlich machte, hat viel besser, genauer und sauberer gearbeitet, und man kann nur hoffen, daß wir mit fortschreitender Entwicklung der Psychotechnik wieder zu ihm zurückkehren werden.
Besonders Kakanien war für den Umgang mit Wunsch- und Unwunschbildern ein ungemein geeignetes Land; das Leben hatte dort ohnehin etwas Unwirkliches, und es erschien gerade den geistig vornehmsten Kakaniern, die sich als die Erben und Träger der berühmten, von Beethoven bis zur Operette führenden kakanischen Kultur fühlten, als ganz natürlich, daß man mit den Reichsdeutschen verbündet und verbrüdert war und sie nicht ausstehen konnte. Man gönnte ihnen eine kleine Zurechtweisung und war, wenn man an ihre Erfolge dachte, immer ein wenig bekümmert über die heimatlichen Zustände. Diese heimatlichen Zustände bestanden aber in der Hauptsache darin, daß Kakanien, ein Staat, der ursprünglich so gut wie jeder und besser als mancher andere gewesen war, im Lauf der Jahrhunderte ein wenig die Lust an sich selbst verloren hatte. Es konnte im Verlaufe der Parallelaktion schon einigemal bemerkt werden, daß Weltgeschichte gemacht wird wie andere Geschichten auch; das heißt, den Autoren fällt selten etwas Neues ein und sie schreiben, was die Verwicklungen und die Ideen angeht, gerne voneinander ab. Dazu gehört aber noch etwas, was bisher nicht erwähnt worden, und das ist nichts anderes als die Freude an der Geschichte; es gehört jene den Autoren so geläufige Überzeugung hinzu, daß man eine gute Geschichte mache, die Leidenschaft des Autors, die seine Ohren glühend verlängert und jede Kritik einfach wegschmilzt. Graf Leinsdorf besaß diese Überzeugung und Leidenschaft, und auch in seiner Freundschaft war sie noch zu finden, aber im weiteren Kakanien hatte sie sich verloren, und man hatte sich längst nach einem Ersatz umgesehn. Es war dort an Stelle der Geschichte Kakaniens die der Nation getreten, an der man dichtete, und man bearbeitete sie ganz in jenem europäischen Geschmack, der sich an historischen Romanen und Kostümdramen erbaut. So ereignete sich das Merkwürdige und vielleicht doch noch nicht richtig Gewürdigte, daß Menschen, die irgendeine ganz gewöhnliche Angelegenheit miteinander zu erledigen hatten, wie die Errichtung einer Schule oder die Besetzung eines Bahnhofvorstandpostens, dabei auf das Jahr 1600 oder 400 zu sprechen kamen, darüber stritten, welcher Bewerber vorzuziehen sei, wenn man die Besiedlung der Voralpen in der Völkerwanderung sowie die Schlachten der Gegenreformation berücksichtige, und daß sie diese Auseinandersetzungen mit jenen Vorstellungen von Edelsinn und Schurkerei, Heimat, Treue und Männerkraft ausstatteten, die ungefähr der überall vorherrschenden Art von Belesenheit entsprechen. Graf Leinsdorf, welcher der Literatur kein Gewicht beimaß, kam nicht aus dem Staunen darüber heraus, zumal wenn er bedachte, wie gut es im Grunde allen Bauern, Handwerkern und Städtern ging, die ihm auf seinen Reisen in seinen von Deutschen und Tschechen besiedelten böhmischen Gutsbereichen unter die Augen kamen, und er führte es darum auf ein besonderes Virus zurück, auf verabscheuungswürdige Verhetzung, daß sie von Zeit zu Zeit in stürmische Unzufriedenheit gegen einander und die Weisheit der Regierung ausbrachen, was umso unbegreiflicher erschien, als sie in den großen Zwischenzeiten solcher Anfälle und wenn sie eben nicht an ihre Ideale erinnert wurden, friedlich und zufrieden mit jedermann auskamen.
Die dagegen angewandte Politik des Staats, eben jene bekannte Nationalitätenpolitik Kakaniens, lief aber darauf hinaus, daß in ungefähr halbjährlichem Wechsel die Regierung bald strafend gegen irgendeine unbotmäßige Nationalität vorging, bald weise vor ihr zurückging, und wie in einem Schenkelglas die eine Hälfte steigt, wenn die andere sinkt, entsprach dem das Verhalten gegen die deutsche »Nationalität«. Diese hatte in Kakanien eine besondere Rolle inne, denn sie hatte in ihrer Masse eigentlich immer nur das eine gewollt, daß der Staat stark sei. Sie hatte am längsten den Glauben festgehalten, daß die kakanische Geschichte doch irgendeinen Sinn haben müsse, und erst allmählich, als sie begriff, daß man in Kakanien als Hochverräter anfangen und als Minister enden, aber auch umgekehrt seine Ministerlaufbahn wieder als Hochverräter fortsetzen könne, begann auch sie sich als unterdrückte Nation zu fühlen. Vielleicht hat es Ähnliches nicht nur in Kakanien gegeben, aber das diesem Staat Eigentümliche war, daß es dort keinerlei Revolutionen und Umstürze dazu bedurfte, weil alles mit der Zeit anfing, in einer natürlichen, ruhig pendelnden Entwicklung vor sich zu gehen, einfach kraft der Unsicherheit der Begriffe, und zum Schluß gab es in Kakanien nur noch unterdrückte Nationen und einen obersten Kreis von Personen, die die eigentlichen Unterdrücker waren und sich maßlos von den Unterdrückten gefoppt und geplagt fühlten. In diesem Kreis war man tief bekümmert darüber daß nichts geschehe, sozusagen über einen Mangel an Geschichte, und war fest überzeugt, daß endlich einmal etwas geschehen müßte. Und wenn es sich gegen Deutschland richtete, wie das die Parallelaktion mit sich bringen zu wollen schien, so hielt man es nicht einmal für unwillkommen, denn erstens fühlte man sich durch die Brüder im Reich immer etwas beschämt und zweitens fühlte man doch in den regierenden Kreisen selbst deutsch und konnte die überparteiliche Aufgabe Kakaniens gar nicht besser hervorkehren als auf solche selbstlose Weise.
Es war also vollauf begreiflich, daß Se. Erlaucht unter diesen Umständen nicht im entferntesten auf den Einfall kam, sein Unternehmen für pangermanisch zu halten. Aber daß es dafür galt, ging daraus hervor, daß unter den »ressortzuständigen Volksteilen«, deren Wünsche von den Ausschüssen der Parallelaktion erfaßt werden sollten, die slawischen Stämme mit der Zeit zu fehlen begannen, und die fremden Botschafter hörten allmählich so schreckliche Nachrichten über Arnheim, Sektionschef Tuzzi und einen deutschen Anschlag gegen das Slawentum, daß davon in der gedämpften Form des Gerüchts auch Sr. Erlaucht etwas zu Ohren kam, und es bestätigte seine Befürchtung, daß man sich auch an Tagen, wo nichts Besonderes geschehe, dadurch daß man vieles nicht tun dürfe, in schwieriger Tätigkeit befinde. Aber da er Realpolitiker war, zögerte er nicht mit einem Gegenzug, und leider unterlief ihm dabei eine so großzügige Berechnung, daß sie anfangs den Anschein eines staatskünstlerischen Fehlers annahm. Die Spitze des Propagandakomitees – das war jener Ausschuß, dessen Aufgabe es bildete, die Parallelaktion volkstümlich zu machen – war nämlich damals noch nicht besetzt, und Graf Leinsdorf faßte den Entschluß, Baron Wisnieczky dafür zu erwählen, wobei er seine Überlegung eigens darauf aufbaute, daß Wisnieczky, der vor etlichen Jahren Minister gewesen war, einem Kabinett angehört hatte, das von den deutschen Parteien gestürzt wurde und in dem Rufe stand, eine hinterhältige deutschfeindliche Politik getrieben zu haben. Denn Se. Erlaucht hatte da einen eigenen Plan. Es war schon beim Beginn der Parallelaktion einer seiner Gedanken gewesen, gerade jenen Teil der Kakanier deutschen Stammes für sie zu gewinnen, der sich weniger dem Vaterlande als der deutschen Nation zugetan fühlte. Mochten die anderen »Stämme« Kakanien, wie es geschah, als ein Gefängnis bezeichnen und ihre Liebe für Frankreich, Italien und Rußland noch so öffentlich ausdrücken, so waren das doch sozusagen entlegenere Schwärmereien, und kein ernster Politiker durfte sie auf eine Stufe stellen mit der Begeisterung gewisser Deutscher für das Deutsche Reich, das Kakanien geographisch umklammerte und ihm bis vor einem Menschenalter einheitlich verbunden gewesen war. Diesen deutschen Abtrünnigen, deren Treiben in Graf Leinsdorf, weil er selbst ein Deutscher war, die schmerzlichsten von allen Gefühlen hervorrief, hatte sein bekanntes Diktum gegolten: »Sie werden von selbst kommen!« Es war inzwischen zu dem Rang einer politischen Prophezeiung aufgestiegen, auf die man in der vaterländischen Aktion baute, und hatte ungefähr den Inhalt, daß man zuerst die »anderen österreichischen Stämme« für den Patriotismus gewinnen müsse, denn wenn nur dies erst einmal gelungen sei, würden sich auch alle deutschen Kreise zum Mithalten gezwungen sehen, da es bekanntlich weit schwerer ist, sich von etwas auszuschließen, das alle tun, als sich zu weigern, den Anfang zu machen. Also führte der Weg zu den Deutschen zunächst gegen die Deutschen und zur Bevorzugung der anderen Nationen; das hatte Graf Leinsdorf schon lange erkannt, aber als die Stunde der Tat kam, führte er es auch durch, und gerade das war es, was ihn Exzellenz Wisnieczky an die Spitze des Propagandakomitees stellen ließ, der nach Leinsdorfs Urteil Pole von Geburt, aber Kakanier von Gesinnung war.
Es würde schwer zu entscheiden sein, ob Se. Erlaucht sich bewußt war, daß diese Wahl sich gegen den deutschen Gedanken richtete, wie man es ihm nachträglich vorwarf; immerhin ist es wahrscheinlich, daß er angenommen haben wird, mit ihr dem wahren deutschen Gedanken zu dienen. Allein die Folge war, daß augenblicklich nun auch in deutschen Kreisen ein lebhaftes Treiben gegen die Parallelaktion einsetzte, so daß diese am Ende auf der einen Seite für einen deutschfeindlichen Anschlag angesehen und offen bekämpft wurde, während sie auf der anderen für einen pangermanischen galt und unter vorsichtigen Ausreden von Anfang an gemieden worden war. Solcher unerwartete Erfolg entging auch Sr. Erlaucht nicht und erregte allerorten lebhafte Besorgnis. Jedoch wurde Graf Leinsdorf von solcher Heimsuchung auch außerordentlich gestrafft; sowohl von Diotima wie von anderen Führern wiederholt ängstlich befragt, zeigte er den Kleinmütigen ein undurchdringliches, aber pflichttreues Gesicht und entgegnete ihnen das Folgende: »Es ist uns dieser Versuch nicht gleich ganz aufs erste geglückt, aber wer etwas Großes will, darf sich nicht vom Augenblickserfolg abhängig machen; jedenfalls ist das Interesse an der Parallelaktion gestiegen, und das andere wird sich, wenn man nur fest beharrt, schon finden!«

So viele Worte in einer großen Stadt in jedem Augenblick gesprochen werden, um die persönlichen Wünsche ihrer Bewohner auszudrücken, eines ist niemals darunter: das Wort »erlösen«. Man darf annehmen, daß alle anderen, die leidenschaftlichsten Worte und die Ausdrücke verwickeltster, ja sogar deutlich als Ausnahme gekennzeichneter Beziehungen, in vielen Duplikaten gleichzeitig geschrien und geflüstert werden, zum Beispiel »Sie sind der größte Gauner, der mir je untergekommen ist« oder »So ergreifend schön wie Sie ist keine zweite Frau«; so daß sich diese höchstpersönlichen Erlebnisse geradezu durch schöne statistische Kurven in ihrer Massenverteilung über die ganze Stadt darstellen ließen. Niemals aber sagt ein lebendiger Mensch zu einem anderen »Du kannst mich erlösen!« oder »Sei mein Erlöser!« Man kann ihn an einen Baum binden und hungern lassen; man kann ihn nach monatelangem vergeblichem Werben zusammen mit seiner Geliebten auf einer unbewohnten Insel aussetzen; man kann ihn Wechsel fälschen und einen Retter finden lassen: alle Worte der Welt werden sich in seinem Mund überstürzen, aber bestimmt wird er nicht, solange er wahrhaft bewegt ist, erlösen, Erlöser oder Erlösung sagen, obgleich sprachlich gar nichts dagegen einzuwenden wäre.
Trotzdem nannten sich die unter Kakaniens Krone vereinigten Völker unerlöste Nationen!
General Stumm von Bordwehr überlegte. Durch seine Stellung im Kriegsministerium besaß er genügende Kenntnisse von den nationalen Schwierigkeiten, an denen Kakanien litt, denn das Militär bekam bei den Budgetverhandlungen die daraus folgende schwankende und von hunderterlei Rücksichten beeinflußte Politik zu allererst zu fühlen, und erst vor kurzem hatte man zum blassen Ärger des Ministers eine dringliche Militärvorlage zurückziehen müssen, weil eine unerlöste Nation für die Bewilligung der dazu nötigen Mittel nationale Zugeständnisse verlangt hatte, welche die Regierung unmöglich gewähren konnte, ohne das Erlösungsbedürfnis anderer Nationen zu überreizen. So blieb Kakanien ungeschützt gegen den äußeren Feind; denn in Frage stand eine große Artillerievorlage, um die völlig veralteten Geschütze des Heeres, die sich an Tragweite zu den Geschützen anderer Staaten wie ein Messer zu einer Lanze verhielten, durch neue Geschütze zu ersetzen, die sich zu denen der anderen nun wie eine Lanze zu einem Messer verhalten sollten, und das war wieder einmal für unabsehbare Zeit verhindert worden. Es ließe sich nicht sagen, daß General von Stumm deshalb Selbstmordstimmungen gehabt hätte, aber mächtige Verstimmungen können sich ja zunächst auch in vielen, scheinbar zerstreuten Kleinigkeiten äußern, und es hing gewiß mit der Wehr- und Waffenlosigkeit Kakaniens zusammen, zu der es durch seinen unleidlichen inneren Hader verurteilt wurde, daß Stumm über das Unerlöste und das Erlösen nachdachte, zumal er auch in seiner halbzivilen Tätigkeit bei Diotima das Wort Erlösung seit einiger Zeit bis zur Unausstehlichkeit zu hören bekam.
Seine erste Ansicht war, daß es einfach zu der sprachwissenschaftlich nicht ganz durchleuchteten Gruppe der »geschwollenen Worte« gehöre. Das sagte ihm sein natürlicher Soldatensinn; aber abgesehen davon, daß dieser durch Diotima verwirrt worden, – denn Stumm hatte doch das Wort Erlösen zum erstenmal aus ihrem Mund gehört und war sehr entzückt gewesen, und heute noch war das Wort von dieser Seite her, trotz der Artillerievorlage, von einem holden Zauber umweht, so daß also des Generals erste Ansicht eigentlich schon die zweite seines Lebens war! – schien die Theorie der Wortgeschwulst auch aus einem anderen Grund nicht zu stimmen: man brauchte die Individuen der Wortgruppe Erlösen ja bloß mit einem kleinen, liebenswürdigen Mangel an Ernst auszustatten, so kamen sie augenblicklich spielend über die Zunge. »Du hast mich wirklich erlöst!« oder dergleichen: wer würde das nicht schon gesagt haben, sofern dem bloß zehn Minuten ungeduldigen Wartens oder eine andere Unannehmlichkeit von eben so kleinem Format vorangegangen ist? Und dadurch wurde dem General klar, daß es gar nicht so sehr die Worte sind, woran der gesunde Sinn Anstoß nimmt, als der durch sie unglaubwürdig versicherte Ernst des Zustandes. Und wirklich, wenn Stumm sich fragte, wo er, außer bei Diotima und in der Politik, schon von Erlösen habe reden hören, so war das in Kirchen und Kaffeehäusern geschehn, in Kunstzeitschriften und in den Büchern von Arnheim, die er mit Bewunderung gelesen hatte. Es wurde ihm auf diese Art deutlich, daß es nicht ein natürliches, einfaches und menschliches Geschehen ist, was mit solchen Worten ausgedrückt wird, sondern irgendeine abstrakte und allgemeine Verwicklung; Erlösen und nach Erlösung Bangen ist auf jede Weise anscheinend etwas, das nur einem Geist von einem anderen Geist angetan werden kann.
Der General nickte mit dem Kopf vor Staunen über die fesselnden Einblicke, zu denen ihn seine dienstliche Aufgabe führte. Er stellte die elektrisch betriebene rund geschliffene Glasscheibe über der Türe seines Büros auf Rot, zum Zeichen, daß er eine wichtige Konferenz habe, und während seine Offiziere mit ihren Aktenmappen seufzend vor der Schwelle kehrtmachten, fuhr er in seinen Überlegungen fort. Die geistigen Menschen, die er jetzt auf allen seinen Wegen traf, waren nicht befriedigt. Sie hatten an allem etwas auszusetzen, überall geschah ihnen zuwenig oder zuviel, niemals schienen in ihren Augen die Dinge zu stimmen. Nachgerade waren sie ihm zuwider geworden. Sie glichen den unglücklichen empfindlichen Leuten, die immer dort sitzen, wo es zieht. Sie schimpften auf die Überwissenschaftlichkeit und auf die Unwissenheit, auf die Roheit und auf die Überfeinerung, auf die Streitsucht und auf die Gleichgültigkeit: wohin ihre Blicke sich richteten, überall war ein Spalt offen! Ihre Gedanken kamen niemals zur Ruhe und gewahrten den ewig wandernden Rest aller Dinge, der nirgends in Ordnung kommt. So waren sie schließlich überzeugt, daß die Zeit, in der sie lebten, zu seelischer Unfruchtbarkeit bestimmt sei und nur durch ein besonderes Ereignis oder einen ganz besonderen Menschen davon erlöst werden könne. Auf diese Weise entstand damals unter den sogenannten intellektuellen Menschen die Beliebtheit der Wortgruppe Erlösung. Man war überzeugt, daß es nicht mehr weitergehe, wenn nicht bald ein Messias komme. Das war je nachdem ein Messias der Medizin, der die Heilkunde von den gelehrten Untersuchungen erlösen sollte, während deren die Menschen ohne Hilfe krank werden und sterben; oder ein Messias der Dichtung, der imstande sein sollte, ein Drama zu schreiben, das Millionen Menschen in die Theater reißen und dabei von voraussetzungslosester geistiger Hoheit sein sollte: und außer dieser Überzeugung, daß eigentlich jede einzelne menschliche Tätigkeit nur durch einen besonderen Messias sich selbst wieder zurückgegeben werden könne, gab es natürlich auch noch das einfache und in jeder Weise unzerfaserte Verlangen nach einem Messias der starken Hand für das Ganze. So war es eine recht messianische Zeit, die damals kurz vor dem großen Kriege, und wenn selbst ganze Nationen erlöst werden wollten, so bedeutete das eigentlich nichts Besonderes und Ungewöhnliches.
Freilich schien es dem General, daß dies ebensowenig wörtlich zu nehmen sei wie alles andere, was gesprochen wurde. »Wenn heute der Erlöser zurückkehren möchte,« sagte er sich »so würden sie seine Regierung ebenso stürzen wie jede andere!« Nach seiner persönlichen Erfahrung vermutete er, daß dies davon komme, daß die Leute zuviel Bücher und Zeitungsartikel schrieben. »Wie gescheit ist die militärische Vorschrift,« dachte er »die es den Offizieren verbietet, Bücher zu schreiben, ohne besondere Erlaubnis ihrer Obrigkeit.« Er erschrak ein wenig darüber, eine so heftige Loyalitätsanwandlung hatte er schon lange nicht erlebt. Ohne Zweifel, er selbst dachte zuviel! Das kam von der Berührung mit dem zivilistischen Geist; der zivilistische Geist hatte den Vorteil, eine feste Weltanschauung zu besitzen, offensichtlich verloren. Das erkannte der General deutlich, und dadurch zeigte sich ihm das ganze Gerede vom Erlösen jetzt auch noch von einer anderen Seite. General Stumms Geist wanderte zu den Erinnerungen an empfangene Religions- und Geschichtsstunden zurück, um diesen neuen Zusammenhang aufzuklären; es läßt sich schwer sagen, was er sich dabei dachte, aber wenn man es aus ihm herausgehoben und sorgfältig geglättet hätte, würde es wohl ungefähr so ausgesehen haben: Um mit dem kirchlichen Teil kurz zu beginnen, solange man an Religion glaubte, konnte man einen guten Christen oder frommen Juden hinunterstürzen, von welchem Stockwerk der Hoffnung oder des Wohlergehens man wollte, er fiel immer sozusagen auf die Füße seiner Seele. Das kam davon, daß alle Religionen in der Erläuterung des Lebens, die sie dem Menschen schenkten, einen irrationalen, unberechenbaren Rest vorgesehen hatten, den sie Gottes Unerforschlichkeit nannten; ging dem Sterblichen die Rechnung nicht auf, so brauchte er sich bloß an diesen Rest zu erinnern, und sein Geist konnte sich befriedigt die Hände reiben. Dieses Auf die Füße Fallen und Sich die Hände Reiben nennt man Weltanschauung, und das hat der zeitgenössische Mensch verlernt. Er muß sich entweder des Nachdenkens über sein Leben ganz entschlagen, woran sich viele genugtun, oder er gerät in jenen sonderbaren Zwiespalt, daß er denken muß und scheinbar doch nie recht damit zum Ende der Zufriedenheit gelangen kann. Dieser Zwiespalt hat im Lauf der Zeiten ebenso oft die Form eines vollständigen Unglaubens angenommen wie die der erneuten vollständigen Unterwerfung unter den Glauben, und seine heute häufigste Form ist wohl die, daß man überzeugt ist, ohne Geist gebe es kein rechtes menschliches Leben, mit zuviel Geist gebe es aber auch keines. Auf dieser Überzeugung ruht ganz und gar unsere Kultur. Sie achtet streng darauf, Geldmittel für Lehr- und Forschungstätten bereitzustellen, aber ja nicht zu große Geldmittel, sondern solche, die in einem angemessenen Kleinheitsverhältnis zu den Beträgen stehn, die sie für Vergnügungen, Automobile und Waffen ausgibt. Sie schafft auf allen Wegen freie Bahn dem Tüchtigen, aber sorgt vorsichtig dafür, daß er auch der Geschäftstüchtige sei. Sie anerkennt nach einigem Widerstand jede Idee, aber das kommt dann von selbst auch deren Gegenidee zugute. Das sieht so aus wie eine ungeheure Schwäche und Nachlässigkeit; aber es ist wohl auch ein ganz bewußtes Bemühen, den Geist wissen zu lassen, daß Geist nicht alles sei, denn würde auch nur ein einziges Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos, so daß von der Gegenidee nichts übrig bleibt, Ernst gemacht werden, unsere Kultur wäre wohl nicht mehr unsere Kultur!
Der General hatte eine dicke, kleine Kinderfaust; er ballte sie und klatschte wie mit einem gefütterten Handschuh auf die Platte seines Schreibtisches, während ihm sein Gefühl die Unentbehrlichkeit einer starken Faust bestätigte. Als Offizier besaß er eine Weltanschauung! Der irrationale Rest darin hieß Ehre, Gehorsam, Allerhöchster Kriegsherr, Dienstreglement III. Teil, und als Zusammenfassung von alledem bestand er in der Überzeugung, daß der Krieg nichts ist wie die Fortsetzung des Friedens mit stärkeren Mitteln, eine kraftvolle Art der Ordnung, ohne die die Welt nicht mehr bestehen kann. Die Gebärde, mit der der General auf seinen Tisch geklatscht hatte, wäre ein wenig lächerlich gewesen, wenn eine Faust bloß etwas Athletisches und nicht auch etwas Geistiges, eine Art unentbehrlicher Ergänzung des Geistes bedeuten würde. Stumm von Bordwehr hatte das Zivilistische schon ein wenig satt. Er hatte die Erfahrung gemacht, daß die Bibliotheksdiener die einzigen Menschen sind, die einen verläßlichen Überblick über den Zivilverstand besitzen. Er hatte die Paradoxie des Übermaßes der Ordnung entdeckt, daß ihre Vollendung unvermeidlicherweise Untätigkeit nach sich ziehen müßte. Er hatte etwas Komisches im Gefühl, wie eine Erklärung dafür, warum beim Militär die größte Ordnung und gleichzeitig die Bereitschaft zur Lebenshingabe zu finden sei. Er hatte herausbekommen, daß durch irgendeinen unaussprechlichen Zusammenhang Ordnung zu einem Bedürfnis nach Totschlag führe. Er sagte sich besorgt, daß er in diesem Tempo nicht weiterarbeiten dürfe! »Und was ist denn überhaupt Geist?!« fragte sich der General rebellisch. »Er geht doch nicht um Mitternacht in einem weißen Hemd um; was sollte er also anderes sein als eine gewisse Ordnung, die wir unseren Eindrücken und Erlebnissen geben?! Aber dann,« schloß er entschieden, mit einem beglückenden Einfall »wenn Geist nichts ist als geordnetes Erleben, dann braucht man ihn in einer ordentlichen Welt überhaupt nicht!«
Aufatmend stellte Stumm von Bordwehr das Konferenzsignal auf Frei, trat vor den Spiegel und strich seine Haare glatt, um vor dem Eintritt seiner Untergebenen alle Spuren von Gemütsbewegung zu beseitigen.

Wenn es in Kakanien jemand gab, der von Politik nichts verstand, noch wissen wollte, so war dies Bonadea; und doch bestand zwischen ihr und den unerlösten Nationen ein Zusammenhang: Bonadea (nicht zu verwechseln mit Diotima; Bonadea, die gute Göttin, Göttin der Keuschheit, deren Tempel durch Verkettung des Schicksals zum Schauplatz von Ausschweifungen geworden war, Gattin eines Landesgerichtspräsidenten oder dergleichen und unglückliche Geliebte eines Mannes, der ihrer weder würdig noch genügend bedürftig war) besaß ein System, und die Politik in Kakanien besaß keines.
Bonadeas System hatte bisher in einem Doppelleben bestanden. Sie stillte ihren Ehrgeiz in einem gehoben zu nennenden Familienkreis und empfing auch in ihrem gesellschaftlichen Verkehr die Genugtuung, für eine hochgebildete und distinguierte Dame zu gelten; gewissen Verlockungen, denen ihr Geist ausgesetzt war, gab sie aber mit der Ausrede nach, daß sie das Opfer einer überreizten Konstitution sei, oder auch, daß sie ein Herz habe, welches zu Torheiten verleite, denn Torheiten des Herzens sind ähnlich ehrenvoll wie romantisch-politische Verbrechen, selbst wenn ihre Begleitumstände nicht ganz einwandfrei sein sollten. Das Herz spielte dabei die gleiche Rolle wie Ehre, Gehorsam und des Dienstreglements III. Teil im Leben des Generals oder wie der irrationale Rest in jedem geordneten Lebensverhalten, der zuletzt alles in Ordnung bringt, was der Verstand nicht dahin zu bringen vermag.
Dieses System hatte aber mit einem Fehler gearbeitet; es teilte Bonadeas Leben in zwei Zustände, zwischen denen sich der Übergang nicht ohne schwere Verluste vollzog. Denn so beredsam das Herz vor einem Fehltritt sein konnte, so mutlos war es nachher, und seine Besitzerin wurde immerwährend zwischen manisch moussierenden und tintenschwarz ausfließenden Seelenzuständen hin und her bewegt, die sich nur selten ausglichen. Immerhin war es ein System; das heißt, es war kein sich selbst überlassenes Spiel der Triebe – etwa so, wie man einmal vor Zeiten das Leben als eine automatische Bilanz von Lust und Unlust, mit einem gewissen Schlußsaldo an Lust hat verstehen wollen –, sondern es enthielt beträchtliche geistige Vorkehrungen, um diese Bilanz zu fälschen.
Jeder Mensch hat eine solche Methode, die Bilanz seiner Eindrücke zu seinen Gunsten umzudeuten, so daß gewissermaßen das tägliche Existenzminimum an Lust daraus hervorgeht, das in gewöhnlichen Zeiten genügt. Seine Lebenslust kann dabei auch aus Unlust bestehn, solche Materialunterschiede spielen keine Rolle, denn bekanntlich gibt es ebenso glückliche Melancholiker wie es Trauermärsche gibt, die um nichts schwerer in ihrem Element schweben wie ein Tanz in dem seinen. Wahrscheinlich läßt sich sogar auch umgekehrt behaupten, daß viele fröhliche Menschen nicht um das geringste glücklicher sind als traurige, denn Glück strengt genau so an wie Unglück; das ist ungefähr so wie Fliegen nach dem Prinzip Leichter – oder Schwerer als die Luft. Aber ein anderer Einwand liegt nahe; denn hätte dann nicht die alte Weisheit der Wohlhabenden recht, daß kein Armer sie zu beneiden brauche, da es ja lediglich eine Einbildung sei, daß ihn ihr Geld glücklicher machen würde? Es würde ihn bloß vor die Aufgabe stellen, statt seines Lebenssystems ein anderes auszubilden, dessen Lusthaushalt bestenfalls doch nur mit dem kleinen Glücksüberschuß abschließen könnte, den er ohnedies hat. Theoretisch bedeutet das, daß die Familie ohne Obdach, wenn sie in einer eisigen Winternacht nicht erfroren ist, bei den ersten Strahlen der Morgensonne ebenso glücklich ist wie der reiche Mann, der aus dem warmen Bett heraus muß; und praktisch kommt es darauf hinaus, daß jeder Mensch geduldig wie ein Esel das trägt, was ihm aufgepackt ist, denn ein Esel, der um eine Kleinigkeit stärker ist als seine Last, ist glücklich. Und in der Tat, das ist die verläßlichste Definition von persönlichem Glück, zu der man gelangen kann, solange man nur einen Esel allein betrachtet. In Wahrheit ist aber das persönliche Glück (oder Gleichgewicht, Zufriedenheit oder wie immer man das automatische innerste Ziel der Person nennen mag) nur soweit in sich selbst abgeschlossen, wie es ein Stein in einer Mauer oder ein Tropfen in einem Fluß ist, durch den die Kräfte und Spannungen des Ganzen gehn. Was ein Mensch selbst tut und empfindet, ist geringfügig, im Vergleich mit allem, wovon er voraus setzen muß, daß es andere für ihn in ordentlicher Weise tun und empfinden. Kein Mensch lebt nur sein eigenes Gleichgewicht, sondern jeder stützt sich auf das der Schichten, die ihn umfassen, und so spielt in die kleine Lustfabrik der Person ein höchst verwickelter moralischer Kredit hinein, von dem noch zu sprechen sein wird, weil er nicht weniger zur seelischen Bilanz der Gesamtheit wie zu der des Einzelnen gehört.
Seit Bonadeas Anstrengungen, ihren Geliebten wiederzugewinnen, keinen Erfolg hatten und sie glauben machten, daß Diotimas Geist und Tatkraft ihr Ulrich geraubt hätten, war sie maßlos eifersüchtig auf diese Frau, hatte aber, wie das schwachen Menschen leicht widerfährt, in der Bewunderung für sie eine gewisse Erklärung und Entschädigung gefunden, die ihr für den Verlust zum Teil Genüge tat; in diesem Zustand befand sie sich nun schon geraume Weile und hatte es durchgesetzt, daß sie hie und da unter dem Vorwand bescheidener Beiträge zur Parallelaktion von Diotima empfangen worden war, ohne daß sie jedoch in den Verkehr des Hauses einbezogen wurde, und sie bildete sich ein, daß zwischen Diotima und Ulrich darüber ein gewisses Einvernehmen bestehen müsse. So litt sie unter der Grausamkeit der beiden, und da sie sie auch liebte, entstand in ihr die Illusion einer unvergleichlichen Reinheit und Selbstlosigkeit ihres Empfindens. Des Morgens, wenn ihr Mann die Wohnung verlassen hatte, worauf sie ungeduldig wartete, setzte sie sich sehr oft vor den Spiegel wie ein Vogel, der sein Gefieder zurechtschüttelt. Sie band, brannte und wand dann ihr Haar, bis es eine Form annahm, die Diotimas griechischem Knoten nicht unähnlich sah. Sie strich und bürstete kleine Locken hervor, und wenn das Ganze auch ein wenig lächerlich wurde, sie bemerkte es nicht, denn aus dem Spiegel lächelte ihr ein Antlitz entgegen, das in seiner allgemeinen Gestaltung nun von ferne an die Göttliche erinnerte. Die Sicherheit und Schönheit eines Wesens, das von ihr bewundert wurde, und sein Glück, stiegen dann in den kleinen, seichten, warmen Wellen einer geheimnisvollen, wenn auch noch nicht tief vollzogenen Vereinigung in ihr empor, gleichwie man am Rand eines großen Meeres sitzt und die Füße ins Wasser stellt. Dieses einer religiösen Verehrung ähnliche Verhalten – denn von den Göttermasken, in die der Mensch in ursprünglichen Zuständen mit seinem ganzen Körper hineinkriecht, bis zu den Zeremonien der Zivilisation hat solches das Fleisch ergreifende Glück der gläubigen Nachahmung niemals seine Bedeutung ganz ausgespielt! – wurde über Bonadea noch dadurch mächtig, daß sie Kleider und Äußerlichkeiten mit einer Art Zwang liebte. Wenn Bonadea sich in einem neuen Kleid im Spiegel betrachtete, so hätte sie sich niemals vorzustellen vermocht, daß eine Zeit kommen könne, wo man etwa, statt Schinkenärmeln, gekräuselten Stirnlöckchen und langen Glockenröcken, Knieröckchen und Knabenhaar tragen werde. Sie hätte die Möglichkeit auch nicht bestritten, denn ihr Gehirn wäre einfach nicht imstande gewesen, eine solche Vorstellung aufzunehmen. Sie hatte sich immer so gekleidet, wie man als vornehme Frau aussehen mußte, und empfand jedes Halbjahr vor der neuen Mode eine Ehrfurcht wie vor der Ewigkeit. Würde man ihrer Überlegungsfähigkeit das Zugeständnis der Vergänglichkeit abgezwungen haben, so hätte auch das ihre Ehrfurcht nicht im geringsten vermindert. Sie nahm den Zwang der Welt rein in sich auf, und die Zeiten, wo man die Besuchskarten an einer Ecke umbog oder seinen Freunden Neujahrswünsche ins Haus schickte oder auf dem Ball die Handschuhe abstreifte, lagen in den Zeiten, wo man das nicht tat, so weit hinter ihr wie für jeden andern Zeitgenossen die Zeit vor hundert Jahren, nämlich ganz und gar im Unvorstellbaren, Unmöglichen und Überholten. Darum war es auch in solchem Grade komisch, Bonadea ohne Kleider zu sehn; sie war dann gänzlich auch jedes ideellen Schutzes entkleidet und die nackte Beute eines unerbittlichen Zwangs, der so unmenschlich wie ein Erdbeben über sie herfiel.
Dieser periodische Untergang ihrer Kultur in den Umschwüngen einer dumpfen Stoffwelt hatte sich aber jetzt verloren, und seit Bonadea so geheimnisreiche Sorgfalt auf ihr Aussehen verwandte, lebte sie, was seit ihrem zwanzigsten Jahr nicht mehr geschehen war, den illegitimen Teil ihres Lebens als Witwe. Wohl kann man es als eine allgemeine Erfahrung hinnehmen, daß Frauen, die übergroße Sorgfalt auf ihr Aussehen verwenden, verhältnismäßig tugendhaft sind, denn das Mittel verdrängt dann den Zweck, genau so wie große Sporthelden oft schlechte Liebhaber abgeben, gar zu martialisch aussehende Offiziere schlechte Soldaten und besonders durchgeistigte Männerköpfe manchmal sogar Dummköpfe sind; aber bei Bonadea handelte es sich nicht nur um diese Frage der Energieverteilung, sondern sie hatte sich mit einer ganz überraschenden Überergiebigkeit ihrem neuen Leben zugewandt. Sie zog mit der Liebe eines Malers ihre Augenbrauen nach, emaillierte sich ein wenig an Stirn und Wangen, so daß diese aus dem Naturalismus zu jener leichten Überhöhung und Entfernung von der Wirklichkeit gelangten, die dem sakralen Stil eigentümlich ist, der Körper wurde im weichen Korsett zurechtgerüttelt, und für die großen Brüste, die ihr sonst immer etwas hinderlich und beschämend, weil allzu weiblich vorgekommen waren, empfand sie mit einemmal eine schwesterliche Liebe. Ihr Gatte war nicht wenig erstaunt, wenn er sie mit dem Finger am Hals kitzelte und zur Antwort bekam: »Zerstöre doch nicht meine Frisur!« oder wenn er fragte: »Willst du mir denn nicht die Hand geben?!« und sie antwortete: »Unmöglich, ich habe mein neues Kleid an!« Aber die Kraft der Sünde hatte sich gleich sam aus den Scharnieren gelöst, in denen sie der Körper gefangen hält, und wanderte wie ein frühlinghaftes Gestirn in der verklärten neuen Welt einer Bonadea umher, die sich unter dieser ungewohnten und mild verdünnten Art der Bestrahlung von ihrer »Überreizung« befreit fühlte, als ob ein Schorf von ihr abgefallen wäre. Zum erstenmal, seit sie verheiratet waren, fragte sich ihr Ehemann mißtrauisch, ob nicht ein Dritter seinen häuslichen Frieden störe.
Was sich damit ereignet hatte, war aber nichts anderes als eine Erscheinung aus dem Bereich der Lebenssysteme. Kleider, aus dem Fluidum der Gegenwart herausgehoben und in ihrem ungeheuerlichen Dasein auf einer menschlichen Gestalt als Form an sich betrachtet, sind seltsame Röhren und Wucherungen, würdig der Gesellschaft eines Nasenpfeils und durch die Lippen gezogenen Rings; aber wie hinreißend werden sie, wenn man sie samt den Eigenschaften sieht, die sie ihrem Besitzer leihen! Dann geschieht nicht weniger, als wenn in einen krausen Linienzug auf einem Stück Papier der Sinn eines großen Worts hineinfährt. Man stelle sich vor, die unsichtbare Güte und Auserlesenheit eines Menschen würde plötzlich als ein dottrig goldener, vollmondgroß schwebender Heiligenschein hinter seinem Scheitelwirbel auftauchen, wie es auf frommen, alten Bildern zu sehen ist, während er am Korso spazierengeht oder bei einem Tee soeben Sandwiches auf seinen Teller legt: es wäre ohne Zweifel eines der ungeheuersten und erschütterndsten Erlebnisse; und solche Kraft, das Unsichtbare, ja sogar das gar nicht Vorhandene sichtbar zu machen, beweist ein gut gemachtes Kleidungsstück alle Tage!
Solche Gegenstände gleichen Schuldnern, die den Wert, den wir ihnen leihen, mit phantastischen Zinsen zurückzahlen, und eigentlich gibt es nichts als Schuldnerdinge. Denn jene Eigenschaft der Kleidungsstücke besitzen auch Überzeugungen, Vorurteile, Theorien, Hoffnungen, der Glaube an irgendetwas, Gedanken, ja selbst die Gedankenlosigkeit besitzt sie, sofern sie nur kraft ihrer selbst von ihrer Richtigkeit durchdrungen ist. Sie alle dienen, indem sie uns das Vermögen leihen, das wir ihnen borgen, dem Zweck, die Welt in ein Licht zu stellen, dessen Schein von uns ausgeht, und im Grunde ist nichts anderes als dies die Aufgabe, für die jeder sein besonderes System hat. Mit großer und mannigfaltiger Kunst erzeugen wir eine Verblendung, mit deren Hilfe wir es zuwege bringen, neben den ungeheuerlichsten Dingen zu leben und dabei völlig ruhig zu bleiben, weil wir diese ausgefrorenen Grimassen des Weltalls als einen Tisch oder einen Stuhl, ein Schreien oder einen ausgestreckten Arm, eine Geschwindigkeit oder ein gebratenes Huhn erkennen. Wir sind imstande, zwischen einem offenen Himmelsabgrund über unserem Kopf und einem leicht zugedeckten Himmelsabgrund unter den Füßen, uns auf der Erde so ungestört zu fühlen wie in einem geschlossenen Zimmer. Wir wissen, daß sich das Leben ebenso in die unmenschlichen Weiten des Raums wie in die unmenschlichen Engen der Atomwelt verliert, aber dazwischen behandeln wir eine Schichte von Gebilden als die Dinge der Welt, ohne uns im geringsten davon anfechten zu lassen, daß das bloß die Bevorzugung der Eindrücke bedeutet, die wir aus einer gewissen mittleren Entfernung empfangen. Ein solches Verhalten liegt beträchtlich unter der Höhe unseres Verstandes, aber gerade das beweist, daß unser Gefühl stark daran teil hat. Und in der Tat, die wichtigsten geistigen Vorkehrungen der Menschheit dienen der Erhaltung eines beständigen Gemütszustands, und alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit macht, um sich ihre gehobene Gemütsruhe zu bewahren! Es lohnt sich scheinbar kaum, davon zu reden, so klaglos wirkt es. Aber wenn man näher hinsieht, ist es doch ein äußerst künstlicher Bewußtseinszustand, der dem Menschen den aufrechten Gang zwischen kreisenden Gestirnen verleiht und ihm erlaubt, inmitten der fast unendlichen Unbekanntheit der Welt würdevoll die Hand zwischen den zweiten und dritten Rockknopf zu stecken. Und um das zuwege zu bringen, gebraucht nicht nur jeder Mensch seine Kunstgriffe, der Idiot ebensogut wie der Weise, sondern diese persönlichen Systeme von Kunstgriffen sind auch noch kunstvoll eingebaut in die moralischen und intellektuellen Gleichgewichtsvorkehrungen der Gesellschaft und Gesamtheit, die im Größeren dem gleichen Zweck dienen. Dieses Ineinandergreifen ist ähnlich dem der großen Natur, wo alle Kraftfelder des Kosmos in das der Erde hineinwirken, ohne daß man es merkt, weil das irdische Geschehen eben das Ergebnis ist; und die dadurch bewirkte geistige Entlastung ist so groß, daß sich die Weisesten genau so wie die kleinen Mädchen, die nichts wissen, in ungestörtem Zustande sehr klug und gut vorkommen.
Aber von Zeit zu Zeit, nach solchen Zufriedenheitszuständen, die man in gewissem Sinn auch Zwangszustände des Fühlens und Wollens nennen könnte, scheint das Gegenteil über uns zu kommen oder, um es gleichfalls in Begriffen eines Narrenhauses auszudrücken, es setzt dann plötzlich auf der Erde eine gewaltige Ideenflucht ein, nach deren Ablauf das ganze Menschenleben um neue Mittelpunkte und Achsen gelagert ist. Die tiefer als der Anlaß reichende Ursache aller großen Revolutionen liegt nicht in der angehäuften Unzuträglichkeit, sondern in der Abnützung des Zusammenhalts, der die künstliche Zufriedenheit der Seelen gestützt hat. Man könnte darauf am besten den Ausspruch eines berühmten Frühscholastikers anwenden, der lateinisch »Credo, ut intelligam« lautet und etwas frei sich etwa so ins zeitgenössische Deutsche übersetzen läßt: Herr, o mein Gott, gewähre meinem Geist einen Produktionskredit! Denn wahrscheinlich ist jedes menschliche Credo nur ein Sonderfall des Kredits überhaupt. In der Liebe wie im Geschäft, in der Wissenschaft wie beim Weitsprung muß man glauben, ehe man gewinnen und erreichen kann, und wie sollte das nicht vom Leben im ganzen gelten?! Seine Ordnung mag noch so begründet sein, ein Stück freiwilligen Glaubens an diese Ordnung ist immer darunter, ja es bezeichnet wie bei einer Pflanze die Stelle, wo der Trieb angesetzt hat, und ist dieser Glaube verbraucht, für den es keine Rechenschaft und Deckung gibt, so folgt bald der Zusammenbruch; es stürzen Zeitalter und Reiche nicht anders zusammen wie Geschäfte, wenn ihnen der Kredit verlorengeht. Und damit wäre diese grundsätzliche Betrachtung des seelischen Gleichgewichts von dem schönen Beispiel Bonadeas zu dem traurigen Kakaniens gelangt. Denn Kakanien war das erste Land im gegenwärtigen Entwicklungsabschnitt, dem Gott den Kredit, die Lebenslust, den Glauben an sich selbst und die Fähigkeit aller Kulturstaaten entzog, die nützliche Einbildung zu verbreiten, daß sie eine Aufgabe hätten. Es war ein kluges Land und beherbergte kultivierte Menschen; wie alle kultivierten Menschen an allen Orten der Erde liefen diese zwischen einer ungeheuren Aufregung von Geräusch, Geschwindigkeit, Neuerung, Streitfall und allem, was sonst noch zur optisch-akustischen Landschaft unseres Lebens gehört, in einer unentschiedenen Gemütslage umher; wie alle anderen Menschen lasen und hörten sie täglich einige Dutzend Nachrichten, die ihnen die Haare sträubten, und waren bereit, sich über sie zu erregen, ja sogar einzugreifen, aber es kam nicht dazu, denn einige Augenblicke später war der Reiz schon durch neuere aus dem Bewußtsein verdrängt; wie alle anderen fühlten sie sich von Mord, Totschlag, Leidenschaft, Opfermut, Größe umgeben, die sich irgendwie in dem Knäuel ereigneten, der um sie gebildet war, aber sie konnten zu diesen Abenteuern nicht hingelangen, weil sie in einem Büro oder einer anderen Berufsanstalt gefangen saßen, und wenn sie gegen Abend freikamen, so explodierte ihre Spannung, mit der sie nichts mehr anzufangen wußten, in Vergnügungen, die ihnen kein Vergnügen bereiteten. Und eines kam gerade bei den Kultivierten, wenn sie sich nicht so ausschließlich der Liebe widmeten wie Bonadea, noch hinzu: Sie hatten nicht mehr die Gabe des Kredits und nicht die des Betrugs. Sie wußten nicht mehr, wo kam ihr Lächeln, ihr Seufzer, ihr Gedanke hin? Wozu hatten sie gedacht und gelächelt? Ihre Ansichten waren Zufälle, ihre Neigungen waren längst da, irgendwie hing alles als Schema in der Luft, in das man hineinlief, und sie konnten nichts von ganzem Herzen tun oder lassen, weil es kein Gesetz ihrer Einheit gab. Auf solche Weise war der Kultivierte der Mensch, der fühlte, daß irgendeine Schuld immer höher steige, daß er sie nie mehr werde abtragen können, er war der Mann, der den unausweichlichen Konkurs sah und entweder die Zeit anklagte, in der er zu leben verurteilt sei, obgleich er genau so gerne in ihr lebte wie nur irgendwer, oder sich mit dem Mut eines, der nichts zu verlieren hatte, auf jede Idee stürzte, die ihm eine Änderung versprach.
Das war nun freilich in der ganzen Welt so, aber als Gott Kakanien den Kredit entzog, tat er das Besondere, daß er die Schwierigkeiten der Kultur ganzen Völkern zu verstehen gab. Wie Bakterien waren sie dort in ihrem Boden gesessen, ohne sich wegen der ordentlichen Rundung des Himmels oder Ähnlichem Sorgen zu machen, aber auf einmal wurde es ihnen eng. Der Mensch weiß gewöhnlich nicht, daß er glauben muß, mehr zu sein, um das sein zu können, was er ist; aber er muß es doch irgendwie über und um sich spüren, und zuweilen kann er es auch plötzlich entbehren. Dann fehlt ihm etwas Imaginäres. Es war durchaus nichts in Kakanien geschehen, und früher würde man gedacht haben, das sei eben die alte, unauffällige kakanische Kultur, aber dieses Nichts war jetzt so beunruhigend wie Nichtschlafenkönnen oder Nichtverstehenkönnen. Und darum hatten es die Intellektuellen leicht, nachdem sie sich eingeredet hatten, das werde in einer nationalen Kultur anders sein, auch die kakanischen Völker davon zu überzeugen. Das war nun eine Art Religionsersatz oder ein Ersatz für den guten Kaiser in Wien oder einfach eine Erklärung der unverständlichen Tatsache, daß die Woche sieben Tage hat. Denn es gibt viele unerklärliche Dinge, aber wenn man seine Nationalhymne singt, so fühlt man sie nicht. Natürlich wäre das der Augenblick gewesen, wo ein guter Kakanier auf die Frage, was er sei, auch mit Begeisterung hätte antworten können: »Nichts!« Denn das heißt Etwas, dem wieder freie Hand gegeben ist, aus einem Kakanier alles zu machen, was noch nicht da war! Aber die Kakanier waren keine so trotzigen Menschen und begnügten sich mit der Hälfte, indem sich jede Nation bloß bemühte, mit der anderen das zu machen, was ihr gut schien. Natürlich kann man sich dabei schwer Schmerzen vergegenwärtigen, die man nicht selbst hat. Und man ist durch zwei Jahrtausende altruistischer Erziehung so selbstlos geworden, daß man auch dann, wenn es mir oder dir schlecht gehen soll, immer für den anderen ist. Trotzdem darf man sich unter dem berühmten kakanischen Nationalismus nicht etwas besonders Wildes vorstellen. Er war mehr ein geschichtlicher als ein wirklicher Vorgang. Die Menschen dort hatten einander recht gern; sie schlugen sich zwar die Köpfe ein und bespien einander, aber das taten sie nur aus Rücksichten höherer Kultur, wie es ja auch sonst vorkommt, daß ein Mensch, der unter vier Augen einer Fliege nicht weh tun mag, unter dem Bild des Gekreuzigten im Richtsaal einen Menschen zum Tod verurteilt. Und man darf wohl sagen: Jedesmal, wenn ihre höheren Ichs eine Pause machten, atmeten die Kakanier auf und fühlten sich als brave Eßwerkzeuge, zu denen sie gleich allen Menschen geschaffen waren, sehr erstaunt über ihre Erfahrungen als Werkzeuge der Geschichte.