1.
Begegnung der Geschwister
Sie trägt einen sehr ähnlichen Pierrot. Sie ist ihm auffallend ähnlich. Sekundenschmaler Halbtraum. Sie ist hart und weich wie anschlagendes und zerstäubendes Wasser, oder wie Lawine. Sie hat das schöne, geschmeidige und verschlossene Wesen einer Katze.
Man konnte merken, daß sie diese Geständnisse Überwindung kosteten. Sie schien es aber gleich beim ersten Mal auf Verständnis oder Unverständnis ankommen lassen zu wollen. Ausgehungert nach Vertrauen, entschlossen, sich den Bruder zu erobern. Anders war an diese Aufrichtigkeit geprallt wie an eine nackte Hand.
Er vermochte nicht gleich mit seinen Vorurteilen fertig zu werden; es schien ihm, daß Agathe gedemütigt worden sei. Gleich danach fiel ihm aberein, daß es doch geradezu auf gebrechliche Nerven schließen ließe, wenn sie im ersten Schreck davongelaufen wäre. Ein gesunder Mensch ist in notwendigen Situationen nicht so empfindlich. Anders fühlte sich verwirrt.
»Sollte ich beim Vater bleiben und eine alte Jungfer werden? Ich hatte Angst. Das ist eine Schande; unter allen Umständen, nicht nur vor den Leuten« sagte Agathe.
Er mußte sie ansehn; er gestand sich ein, daß sie recht habe. Plötzlich fiel ihm ein: Agathe, obgleich sie nicht davon sprach, hatte die gleiche Fähigkeit wie er, Vorstellungen zu spalten, Gefühle in Teilen
zu fühlen, etwas zu tun, weil man damit etwas andres meinte. Es war vielleicht etwas von ihm selbst in Agathe; er sah ihr ins Gesicht, es war dem seinen ähnlich. »Man kann machen, was man will,« entschied er »es kommt nie auf das an, was man tut, sondern immer auf das, was man danach tut.«
»Und du?« fragte Agathe später, nun auch sein Vertrauen heischend. Sie waren so glücklich und müde. »Habe seit der Kinderzeit nicht so sicher und tief geschlafen.«
2.
In der Nacht
Dennoch wachte Agathe mitten in der Nacht auf; aber es war kein schlafloses Aufwachen. Sie fühlte ein aufgelöstes helles Dahinziehn wie das eines Bachs oder von Wolken, zwischen denen der Himmel in vielen blauen Rinnsalen fließt, und wußte, so sei ihr Leben.
Sie legte sich auf den Rücken und dachte: Sie hatte in der Schule schwer gelernt; sie begriff nicht, wozu sie es tun sollte, es fragte nichts in ihr nach den Antworten, die man ihr einprägte. Und noch in den ersten Schuljahren verfiel sie in eine Krankheit, die niemals ganz aufgeklärt worden war; sie litt mehr als ein Jahr lang an einem leichten Fieber, das weder stieg noch wich, und magerte zu Besorgnis erregender Zartheit ab. Die Ärzte fanden keine Ursache. Sie erinnerte sich, wie die Dienstboten erzählten, sie sei von einer Bettlerin verhext worden. Und eines Tags schlug der Vater auf die Bettlerin los und traf mehrmals mit der flachen Hand ihre
Wange. Der kleine, quälend rechtliche Verstandsmann schlug ganz unsinnig los und sah völlig verändert aus. Wenige Tage nach diesem Vorfall wurde Agathe gesund oder vielleicht nur von Ungeduld plötzlich aus dem Bett gehoben. Sie erinnerte sich später nicht mehr genau daran und konnte niemals von den Dienstleuten erfahren, wie viel an diesem Vorgang Legende und wie viel Wahrheit war, denn solange sie und Anders Kinder waren, sprachen die Dienstboten zwar oft davon, aber sie ließen sich niemals mit den Kindern darüber ein, weil sie einen strengen Befehl hatten.
Als Agathe danach wieder in die Schule gegangen war, hatte sie alles gelernt. Aber es geschah mit einer tief geheimnisvollen Gleichgültigkeit, die sie gleichsam davor schützte. Sie nahm alles Wissen und alle Grundsätze, die man ihr einprägte, willig hin, als eine unverständliche Väterlichkeit der Welt; wie so vieles später, das sich mit Logik oder Notwendigkeit brüstete, ihr als eine hoffnungslose Männerangelegenheit erschien. Alles mit sich geschehen zu lassen, weil es sie ja doch gar nichts anging, hatte sie wohl schon damals als ihr eigenes Prinzip erfunden, das sich noch niemals gezeigt hatte. Sie wurde scheinbar heiter und sanft dabei, aber sie prägte sich ein, daß diese Umgänglichkeit bloß die unwichtigen, ja in ihrem Innern unwirklichen Geschehnisse berühre.
Alle Mädchen heiraten: gut, man tut es auch; man läßt mit sich geschehn, was dazu gehört; es ist nicht übermäßig unangenehm und nicht schön. Als Hagauer sich um sie bewarb, hatte es ihr Vater mit vernünftigen Gründen gestützt, und noch als Hagauer mit seiner Güte und sanften Lehrereitelkeit ihr zum Ekel wurde, traf es sie fast nur als eine physische Unannehmlichkeit, denn ihre Seele schwieg
und überließ sie der Willkür. Vielleicht hatte sie irgendetwas nicht bemerkt; mit einem Mal war die verspätete Reaktion des Menschen über sie gekommen, mit dem die Natur etwas anderes vor hat: In dem Augenblick, wo sie für wenige Tage ihr Leben unterbrochen hatte, um hierher zu reisen, schnellten die eben getrennten Gestern und Heute so weit auseinander, als hätten sie niemals zusammengehört. In einer Minute kaum überlegter Entscheidung, noch beim Abschied, lag ihr Leben mit Hagauer weit hinter ihr. Aber da begann sie sich erst zu schämen, und ihr Bewußtsein war unruhig wie ein Herz, das sich einer Gefahr ahnungslos entronnen sieht.
»Niemals habe ich mir«, sagte sich Agathe, »eine Idee gebildet, der mein Leben ähnlich sehn sollte. Niemals hatte ich, wie andre Menschen, ein Ziel. Entweder bin ich schlecht, weil ich Hagauer verlasse, oder ich bin schlecht, weil ich ihn geheiratet habe. Auch jetzt vermag ich mir die Zukunft nicht vorzustellen. Wahrscheinlich hat er recht, mich moralisch träge zu schelten.«
Er tat es zuweilen mit der beherrschten Sanftmut eines guten Lehrers. Es war ihr leid, Hagauer zu kränken, obgleich sie es unbedingt tun wollte. Er hatte ihre Unsicherheit instinktiv mißbraucht, dieser »gute Mensch ohne Größe«, um sie zu beherrschen. In der Unsicherheit der Nacht schien Agathe plötzlich, daß ihre ganze Güte sich bewahren, eigentlich nur Menschen können, die wenig Gutes tun. In diesem Augenblick waren ihre Gedanken bei Anders. Sie wiederholte sich den Augenblick, wo sie mit ihm zusammentraf, und an einigen Sätzen, ja schon an der Bewegung der Stimme und der geheimen Astrologie der Gebärden erkannte, daß dieser doch eigentlich fremde Mann, den sie
tagelang erwartet hatte, ihr Zwillingsbruder sei. Sie fühlte nicht Schwesterliebe oder was sonst im Schoß einer Familie gedeiht, aber eine heftige Freude und unsagbare Zuversicht, daß alles, was sie in Zukunft erleben werde, anders sein würde als die Vergangenheit. Sie glaubte noch nie so wach gewesen zu sein wie in dieser Nacht, obgleich sie sich in diesem Augenblick sagte, daß sie wahrscheinlich schon schlafe. Sie liebte Anders wie einen schönen, starken, und vielleicht – da sie ihn doch gar nicht kannte – gefährlichen Mann, der auf eine geheimnisvolle Weise mit einem Mal aus ihr hervorgekommen war und ihr nun helfen sollte. Was wird geschehn? fragte sich Agathe.
»Aber was immer geschehen sein wird« – sagte sie sich, aber sah nur noch die Fortsetzung dieser Frage die Strömung des Schlafs hinabtreiben und sich nach vorbeigleitenden Zeichen richten; diese Strömung lag aber jetzt in einem Meer und immer breiter sah sie dieses ohne Weg und Richtung unbeweglich von allen Seiten blicken, bis der Schlaf sie ganz darin auflöste.
3.
Am nächsten Morgen
Am nächsten Morgen wacht Anders verwandelt auf. Er unterließ an diesem Tag seine gymnastischen Übungen und badete sehr langsam. Als er das Arbeitszimmer seines Vaters betrat, sah es anders aus als gestern; obgleich ein pedantischer, regelmäßiger einerseits und andrerseits auswiegender Geist es bis zu den symmetrischen Gipsbüsten auf der Höhe der
Büchergestelle aufgebaut hatte, gaben die vielen liegengebliebenen kleinen persönlichen Dinge, Bleistifte, Augenglas, Thermometer, Federbüchschen und ein altmodischer Klingelzug dem Raum doch die rührende Leere eines verlassenen Lebensgehäuses. Auf dem Schreibtisch lagen die letzten Verfügungen seines Vaters. Aber während Anders sie noch am Tag seiner Ankunft rasch und nicht ohne die ironische Unerschütterlichkeit der Jugend durchgelesen hatte, mochte er sie jetzt nicht anrühren. Es waren nicht die sonderbaren Wege dieser eifernden Gedanken, was ihn so müd machte, sondern ein Verwesungsgeruch von Seele, der durch die lange Reihe dieser Grundsätze, Pflichten, Regeln und Ideale strich. Eine eigenartige Willensmüdigkeit, ein gütiges, beinah ein weibliches Gefühl füllte seinen Körper wie ein See bis in die Buchten der Hände und Füße.
Während Anders noch nachdachte, trat ein Herr ein … Er kam sich wie ein Knabe vor, der das Leben nicht versteht, als er das Schriftstück unterzeichnete, und war verlegen. Aber da stand schon ein anderer Mann da und war ein Provinzjournalist mit eingetrockneter Routine. Unter seinen Fragen formt sich das Leben. Anders wurde traurig und von Abneigung erfüllt.
Er überlegte, was sein Vater getan hatte. Umschaufler, sagt er bitter. Aber von irgendwo an lief sein eigenes Leben parallel. Was bürgte dafür, daß nicht auch er …? Anders sucht unwillkürlich nach einem Spiegel. Aber er sieht nur Großvater und Urgroßvater. Forscht nach Ähnlichkeit. Erbgang, Gebundenheit, Einschränkung, ewige Wiederholung: was er im tiefsten Lebenswillen haßte.
Da erschien Agathe. Zum ersten Mal als Frau gekleidet. Ihre Ähnlichkeit. Er empfand es im ersten
Augenblick nicht anderes, als daß sie verkleidet war. Und dazu kam noch eines: sie schien sich seit gestern ähnlich verändert zu haben wie er. Ihr Wesen war ruhiger und inniger geworden, und an irgendetwas glaubte er plötzlich zu bemerken, daß jenes willenauflösende seltsame Gefühl der süßen Gleichgültigkeit, das über Nacht wie ein See in ihn eingedrungen war, auch sie besucht hatte; zum ersten Mal streifte ihn da mit ganzer Kraft der Gedanke, daß sie seine Zwillingsschwester war.
4.
Die Erbschaft
Anders hatte am Tag zuvor Einblick in die letzten Verfügungen seines Vaters genommen. Er nahm Kenntnis von einer Mitteilung über den Inhalt des Testaments, wonach das gesamte Vermögen ihm und seiner Schwester zu gleichen Teilen vermacht war; die Erbschaft erschien jedoch an eine Bedingung geknüpft. Anders, der das Ganze schon durchgeblättert hatte, las seiner Schwester nur die erste Seite vor: »… ist das Recht eine überpersönliche Einrichtung, die in unmittelbarer Verbindung mit dem Göttlichen und Idealen steht.« Agathe mußte schon nach dieser ersten Seite die Augendeckel mühsam aufziehn, weil sie ihr schwer wurden: »Das ist wie die alte Hexe, und wir sind Hänsel und Gretel, Gott verzeih mir’s« sagte sie und schlug Anders die Papiere zu. »Das habe ich schon irgendeinmal hundertmal gehört, und werde es nie verstehn.«
»Wir haben ja auch noch acht Tage Zeit dazu« meinte Anders. Er war kalt und traurig berührt von
dem ohnmächtigen letzten Willensdruck, der sich noch einmal fühlen lassen mußte. Ja, es fuhr ihm sogar ein böser, mit solchen Rechtsgrundsätzen gar nicht zu vereinender Gedanke durch den Kopf; eine Nachschrift belehrte ihn. Als er diese Beruhigung empfing, schämte er sich; aber weniger wegen seines Verdachtes als wegen des Eindrucks, daß dieser augenblicklich imstand gewesen war, auch ihn aus der versunkensten Grundstimmung wie einen bellenden Hund an die Oberfläche zu rufen.
Anders hatte einige Verfügungen seines Vaters mit Rotstift angestrichen, deren Ausführung drängte.
Es war ein verbogener Mensch, der kleine Alte, der umständlich vom Leben Abschied nahm und mit allen Orden begraben sein wollte. Duplikate gekauft und angeordnet, daß der Umtausch erst im Augenblick des Schließens des Sargs vollzogen werde, denn bis dahin wolle er mit den von Seiner Majestät verliehenen Originalorden geschmückt sein.
Anders widerstrebte es, etwas bloß deshalb zu tun, weil die patriarchalische Suggestion es schwer macht, sich einem sentimentalen letzten Wunsch zu widersetzen, andrerseits fürchtete er zu vergessen, wenn er bis zum letzten Augenblick warte, fand aber dann, daß es das Richtige sei, den Umtausch gleich zu vollziehn.
Eigentlich war jedoch sein Vater ein Kauz, den die Unterordnung gegen Höhere und Juristik bloß gebändigt hatten. Man wird sich vielleicht noch seiner innigen Altersfeindschaft mit Professor Schwung erinnern, der Kampf zwischen beiden war auf dem Höhepunkt, als Anders’ Vater den Tod nahen fühlte, und die Frage des »Verzeihns im Angesicht des Todes« bereitete ihm große Schwierigkeiten. Einerseits ist es eine geheiligte Gewohnheit,
und besonders, wenn man sehr leidet, so verzeiht man. Wenn es einem aber wieder besser geht, so nimmt man es zurück. Diesen Brief schloß Anders nun und steckte ihn zu sich, denn da die Zeit vorrückte, war jeden Augenblick zu erwarten, daß Geheimrat Schwung kommen werde, um seinerseits zu verzeihn.
Nicht viel später stand Geheimrat Schwung ergriffen an der Bahre, brachte nichts hervor als »Verehrter Freund«. Der Alte hatte es also richtig verstanden, Professor Schwung noch im Abscheiden eine Unannehmlichkeit zu bereiten.
Agathe sprach kein Wort und saß dabei wie eine Katze, die sich fürchtet. Seltsame Endformen des Lebens.
Als sie allein waren, holte Anders die Orden aus der Schreibtischlade. Anders stand an die mit schwarzem Tuch ausgeschlagene Wand gelehnt, von den Kerzen bestrahlt. Es gab eine Zeit, wo er ein kleiner Junge und dieser eingeschrumpfte Leichnam ein allmächtiger Mann war. Damals geschah es zuweilen, daß Anders sich ganz leidenschaftlich sträubte, eine Verfehlung zu bereun.
»Erinnerst Du Dich,« fragte ihn Agathe »wie Du einmal ins Wasser fielst?« Obgleich es schon durch sein Fieber geboten war, wurde ihm damals »strafweise« Suppe verordnet, nicht gehässig, sondern wie in Erfüllung einer schmerzlichen Pflicht.
Bei der Erinnerung fühlte Anders mit einem Mal wieder das Fieberlicht, während der Vater sich an sein Bett setzte.
»War deine Fähigkeit vermindert, dein Bewußtsein der Tragweite beeinträchtigt?« sagte Agathe plötzlich.
»Wie, du weißt das auch?« fragte Anders erstaunt. »Besaßest du in deinem Zustand die Kraft, aus dir selbst dich zu bestimmen?«
»War dein Denken gestört oder war es das nicht? Ein Mittelding ist nicht denkbar!«
»Non datur, wer nicht unfrei ist, ist frei. Man darf gegen sich selbst nicht von einer ungebührlichen Milde sein!«
Sie hatten einander geantwortet wie in einem schmerzlich heiteren Responsorium. Die Stimmen erhoben sich beinahe zum Singen, als Anders plötzlich ein Blatt der Aufzeichnungen holte und zu lesen fortfuhr: »organisch-pathologisch bedingte Erschwernisse. Der Wille ist in dem Denken bestimmt.«
»Hast du das auch Zeit deines Lebens am meisten gehaßt?« fragte Agathe.
»Eigentlich nein.« Anders mußte lächeln, weil Agathe eine so enttäuschte Miene machte. »Diese in immer neuen Sätzen sich wiederholenden Angriffe, die sich weniger gegen meine moralische Verfehlung richtete als an meinem Denken zerrten und es zu einem ganz bestimmten Denken zwingen wollten, waren Qualen der Kindheit und die unerträglichste der Strafen. Ich habe aber später kennen gelernt, daß die Menschen, welche das kalte Denken tadeln und alles mit dem Herzen machen, ebenso schlimme Kerkermeister sind.«
»Denk dir einfach beides auf alles ausgedehnt« sagte Agathe: »Das ist Gottlieb Hagauer«, und sie begann ihren Mann wie ein Schulkind nachzuäffen. Sie hatte das auswendig gelernt wie eine lange Reihe sinnloser Silben, die nur der Haß einprägen kann.
Und während die Stille hinter Agathes verstummten Versen noch stürmte, nahm sie von
Anders die Orden. In ihrer Hand und der kerzendurchzitterten Nacht des Zimmers schimmerten sie wie Sterne. Agathe führte es aus; hilfloser als ein Kind lag der Alte da; Anders scheute sich, ihn zu berühren. Aber Agathe hatte eine Art, Unrecht zu tun, die den Gedanken daran gar nicht aufkommen ließ. Ihr Gesicht, ihr Blick, ihre Hand hatten einigemal das Rührende des Spiels junger Tiere, welche einhalten und fragen, ob ihnen der Herr zusieht. Anders war bezaubert; er glaubte zu erleben, daß seine Schwester gar nicht mit Willen so handelte, sondern so hoch darüber wie der Mond über der Erde.
Da unterbrach sich Agathe und war fertig.
Sie standen eine Weile, ohne zu sprechen, und irgendetwas war noch nicht geschehen.
5.
Nach dem Begräbnis
Nach dem Begräbnis zum ersten Mal allein in ihrem Haus. Das plötzliche Gefühl, wie Kinder allein, Erwartung des Eindringens in eine verschlossene Welt. Sie steigen unruhig auf und ab. Gespräche schwebten durch das Haus wie Halberwecktes durch einen Erinnerungszustand.
Sie beschließen, die Trauerkleider abzulegen. Anders früher fertig, hilft Agathe anstelle einer Zofe. Agathe macht langsamer und mehr als nötig. Seine Augen nehmen nicht Besitz von ihr wie von einer möglichen Geliebten, sondern als würde ihm ein zweiter Körper geschenkt. Als Knabe nach der Schwester gesehnt. Sich in Mädchen verwandeln
wollen. Auch später der Packende, Rastlose behielt dieses zweite Wesen. Der fremde Mensch war für ihn etwas feindlich Beobachtetes geworden, auch die Frau; aber Agathe – ihr Anblick änderte alle Gefühle, so wie sich alle Gefühle auf einem Stück Erde ändern, wenn es aus der Leere des Tags in den Körper der Nacht einsinkt. Ihr Körper, in dem sie sich geschwisterlich ohne Fremdheit bewegte, nahm ihn in sein Leben auf, dieser weichere, wärmere, ähnliche Körper entrückte ihn fast sich selbst. Agathe fühlte es, bewegte sich wie im Traum, ganz Gegenwart. Diese Minuten waren nicht Brücke zwischen Zukunft und Vergangenheit, sondern der ungeheure, unbekannte Fluß unter den Jochen der Augenblicke.
6.
Das Testament
Anders hätte nicht zu sagen gewußt, wann die Bemerkung gefallen war: Testament.
»Wenn man es aber trotzdem tut?!« sagt Agathe. Sie tritt leidenschaftlich auf Anders zu. »Wir haben uns nur aus Widerspruch eingeredet, daß wir Moosbrugger helfen wollen; wir wollen nicht mehr an ihn denken. Das hat mit uns gar nichts mehr zu tun!«
Anders: »Doch wir wollen!«
Agathe: »Du weißt, daß solche Gedanken nichts mit uns zu tun haben.«
Anders matt: »Man tut als geistiger Mensch gewisse Dinge aus Neutralität nicht.«
Agathe: »Hast du nicht das Gefühl, daß deine
Gedanken dich verändern? Du wirst ein dir selbst gleichgültiger Mensch durch sie.«
Anders gibt sich der Suggestion ihrer Einfälle hin. Ihm ist, als spräche er selbst. Er schweigt, sieht sie an, mißtraut seinem Verstand. Die Mischung von großer Reinheit und Verbrechen in Agathe war geeignet, fassungslos hinzureißen. Sie hatte nie in ihrem Leben Unrecht getan, und auch Hagauer und der Vater taten stets das Rechte: aber wenn ein andrer gut und selbstlos ist, sieht es aus wie ein entfernter Fleck, und ihre Selbstlosigkeit war wie Ertrinken der Welt im Licht des Sonnenaufgangs. Tut unvermittelt. Mit unbedachtsamem Vertraun. Ohne Gedanken. Einfach dastehend. In einem Ganzen wie aus andrer Welt, wildsanft wie Cellostrich. Ihre Worte verbinden sich wie in einem Gedicht, Irrsinn erster Schöpfung: schwebende Welt. Hat das Gefühl, etwas von ihrem Bruder wegnehmen zu müssen. Fühlt, daß er sie versteht, es aber als eine Laune des Geschehens betrachten möchte. Manchmal war es ihr, als müßte sie sich mit ihm umschlungen von einem hohen Balkon stürzen.
Sie hielt das Testament in der Hand. Anders hätte aufstehn müssen – die Welt lag so weit von der Wirklichkeit. Agathe macht die Schriften nach. Seine Augen folgten ihr. Glück, sich einmal an andre Existenz hinzugeben. Sie fühlen, daß sie zu zweit anders sind, handeln, denken.
»Hast du eine Geliebte?«
»Nein.«
Dann geschieht es. Aber in Wirklichkeit war gar nichts geschehn.
Ein Mensch, dessen Leben nie einen Sinn hatte, findet ihn in der Nähe eines andren. Bedingungsloser Entschluß, sich das nicht mehr nehmen zu lassen.
7.
Nach Anders’ Rückkehr
Die Testamentsaffaire lastet auf Anders. Er verabscheute in diesen Tagen auch seinen eigenen Zynismus, Gewährenlassen, unzureichender Grund. Und wenn es nichts Böses war, was er dachte, denn das fühlte er, weshalb nahm er so gern das Böse als Ausgangspunkt? Es konnte nichts andres sein als der Ausdruck einer Oppositionsstellung zu der Welt, in die er hineingeboren war. Er fühlte, das Böse war nur ein Gleichnis. Wenn er das fühlt, wenn er seine eigenen Taten nicht so ernst nimmt wie ein andrer, so liegt ein Grund auch in seiner dynamischen Natur, welche Erinnerungen sofort verdrängt.
Er legte den Sport ab, das Blitzende, Schneidige.
Es schien ihm, daß ein Mann wie Moosbrugger ungefähr so viel und so wenig Anteil am Guten habe wie der Normalmensch; keinesfalls mehr. Nachwirkung von Agathes Opposition gegen Moosbrugger. Wie angenehm ist es, sich von Agathe beeinflussen zu lassen! Der Mann selbst erregt ihn nicht, er gehört nicht zu den Menschen, die wegen eines Unrechtes nicht schlafen können, denn er weiß, daß die Welt auf sehr viel mehr Unrecht ruht. Sondern es erregt ihn die Reaktion der Normalmenschen auf Moosbrugger. Man muß gut sein, wie ein Vogel singt. Ebenso kann man aber auch bös sein.
Es war ein Aufwachen, als hätte er tagelang geschlafen. Nun war er wach. Überwach. Moosbruggers Sache muß unsre sein oder wir müssen ihn lassen, war Agathes Standpunkt. Es ist unmöglich,Moosbrugger aus Überzeugung zu retten. Denn durchkreuzen sich die Überzeugungen, darf man
nicht aus Überzeugung handeln, sondern aus Zuneigung. Die Welt ruht auf Unrecht; man kann sich ihr nur persönlich entziehn. Gefühl, daß er bisher sein Leben verraten hat. Zweiter Grundtrieb erregt. Taumelndes Gefühl, sie sind etwas andres. Gut, ernst, tief, wesentlich: auf dieser Seite fühlt sich Anders berührt. Zugleich Gefühl, nur für sich da zu sein. Begegnung zweier Menschen, die immer einsam sind.
8.
Ideologie
Paul von Arnheim – geboren und erzogen als Herr und in einem System von Rücksichten. Das die Stellung des Kapitalismus ausgebildet hat. Als der eigentlich beherrschenden Macht, die sich mit der Rolle des Untergeordneten begnügt. Unter Wilhelm II. in die alte Romantik eingeschlossen zu werden begann. Irgendeine gute Warnung von früher her im Blut trug, daß sie dort nichts zu suchen habe; der alte Arnheim ging solchen Versuchungen im Bogen aus dem Wege.
Selbst Direktor Fischer, wenn er die Parallelaktion für eine faule Sache hielt, dagegen an den Fortschritt glaubte, und obgleich er in der ungeheuren Finanzwelt nur ein kleiner Mann war, hatte den alten Instinkt, dessen Inhalt es ist, daß man die Welt ohne Klim-Bim bloß Angebot und Nachfrage zu überlassen brauchte, um die derzeit bestmögliche Welt daraus zu machen. Diese Anschauung besitzt den Vorteil, daß in ihr nur jener Mann für tüchtig gilt, der Erfolg hat, denn deshalb haben in dieser Welt alle tüchtigen Menschen Erfolg.
Leo Fischers starke Augenblicke waren, wenn er in seinem Haus einen chronisch schwärenden Konflikt mit einem Dienstmädchen, der seine Frau in moralische Redeexzesse trieb, durch eine einfache kleine Lohnerhöhung beseitigen konnte, oder wenn er nachzuweisen imstande war, daß der »große Philosoph« nur wegen der Hüttenwerke sich so umgänglich zeigte, oder ganz im allgemeinen, wenn er irgendeine Erscheinung des öffentlichen Lebens auf irgendeine geheime, in verschleiernden Formen auftretende Bestechung zurückführte. Sein Grundsatz hätte sein können, alles im Leben ist käuflich, ja vielleicht sogar, soll käuflich sein, denn es gab ihm Genugtuung und ein Gefühl der Unabhängigkeit,Deutlichkeit und Kraft, so oft seine Überlegung bis auf diesen harten Grund biß. Daneben hatte er aber auch, was wirklich seltsam ist, Ideale; das des Fortschritts scheidet davon aus, weil es das einzige in berechtigtem Zusammenhang mit dem Geld stehende ist. Auch seine Sympathie für Technik und Naturwissenschaft gehörte dem Fortschrittsglauben an, denn das erschien ihm im letzten als eine Wirkung des Geldes, daß man immer größere Reihen von Experimenten macht, und da man dadurch immer neue Tatsachen entdeckt, ist der Fortschritt gesichert. Aber er glaubte auch an Goethe, Schiller, die Aufklärung und mit einigen Vorbehalten an die Notwendigkeit einer Religion. Es besteht kein Zweifel, daß er es tat, weil er es vor einem halben Menschenalter als Junge in der Schule so gelernt hatte; aber was seltsam daran und meines Wissens noch nie aufgeklärt worden ist, ist die Tatsache, daß der junge Leo Fischer wie alle anderen jungen X, Y und Z diese idealen Gegenstände in der Schule nur widerwillig und mit Kritik an dem tantenhaften Charakter
solcher gute Lehren vermittelnder Lehrer aufgenommen hatte, während diese ungläubig aufgenommene Saat irgendwann im spätern Leben aufgeht oder dem Bewußtsein der Verantwortung für eine von der Menschheit eingebrachte Ernte Platz macht. Ganz das gleiche war mit Diotima der Fall gewesen.
Es scheint, daß nach Befriedigung oder Verstillen des ersten großartigen Lebenshungers der Jugend und Abfluten der so natürlichen egoistischen Betrachtungsart der Welt gewöhnlich eine Leere und Beziehungsarmut eintritt, ein Hunger nach seelischer Speise, der mit dem Gefrierfleisch des eingelernten Idealismus befriedigt wird. So kann man für seine Person sehr gern ein Glas Wein trinken und dennoch Ehrenpräsident eines Abstinentenvereins sein, man kann jeder Kirche als tödlich langweilig aus dem Weg gehn und dennoch mit ehrlicher Überzeugung auf ein klerikales politisches Programm kandidieren, kann den Künsten sittliche Schwierigkeiten bereiten und gern im Freundeskreis eine Zote erzählen hören. Cand. techn. Schmeißer nannte das die sittliche Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft. Das war aber falsch, denn es handelt sich bestimmt nicht um etwas so verhältnismäßig Oberflächliches wie Überzeugung oder Heuchelei, sondern um ein Gesetz, das sich in dem Leben vieler Menschen ausspricht.
»Sehen Sie,« sagte Anders zu ihm »die Seele des Menschen ist eine hauchähnliche Masse, die sich an festen Berührungsflächen niederschlägt und selbst fest wird. Dieses Wesen ist ebenso leicht des höchsten sittlichen Aufschwungs fähig wie der Menschenfresserei.«
»Nein,« entgegnete Schmeißer »der Mensch ist gut und wird durch den Kapitalismus unnatürlich!«
»Das sage ich ja auch. Er ist nicht von innen, sondern nur von außen durch eine Änderung seiner Lebensbedingungen zu ändern. Geben Sie mir durch fünf Jahre unumschränkte Regierungsgewalt über die weiße Welt, und ich verpflichte mich, daß vor Ablauf des fünften Jahrs Menschenfresserei zu etwas gemacht werden wird, woran niemand Anstoß nimmt.«
Die Sache war die, daß Seine Erlaucht Graf … nach der völkischen Demonstration lange nachgedacht hatte und kraft seines großen Charakters, der hoch über Einzelheiten war, zu dem Schluß gekommen war, daß man um das große Werk gegen die Wühlarbeit »unreifer Elemente« politisch sicherzustellen, nicht umhin können werde, dem wahren Sozialismus darin einen gewissen Spielraum zu gewähren. Seine Erlaucht besorgte dies wie die gesamte höhere politische Tätigkeit selbst, aber Anders war bei seiner Rückkehr von ihm darauf aufmerksam gemacht worden, daß er gut tun werde, sich auch mit diesen Fragen vertraut zu machen.
Da hatte sich Anders erinnert, daß in seinem Hause ein jüngerer Mann mit breiten Schultern, eingefallener Brust und finnigem Gesicht wohnte, der ihn nicht grüßte, sondern verstockt ansah, wenn er ihm begegnete. Das war Schmeißer. Cand. techn. Schmeißer war der Sohn des alten Gärtners, dem Anders im Souterrain Unterkunft gewährte, wofür dieser, ohne in einem engeren Dienstverhältnis zu stehn, die Verpflichtung übernommen hatte, den kleinen alten Park einigermaßen in Ordnung zu halten. Anders billigte es, daß der junge Mann, der seine Studien mühsam durch Stundengeben ermöglichte, ihn verachtete oder haßte, und sprach ihn eines Tages an. Es zeigte sich, daß der Student,
übrigens kaum jünger war als Anders selbst, auf diesen Augenblick gewartet hatte und eine unerträglich gewordene Spannung des Angrenzens an Anders’ Leben bereitwillig in heftigen theoretischen Angriffen entlud, die zwischen Bekehrungsversuch und Verachtung lagen. Anders, der seine Beziehungen zu Frauen einschränkte, war in diesen Tagen viel zu Haus und verbrachte manche dieser Stunden im Gespräch mit Schmeißer.
»Sie sagen, Ehre, Tugend, Anstand« verteidigte sich Anders »empfingen den Sinn, den sie haben, nur aus bürgerlichen Gewohnheiten und unter bürgerlichen Voraussetzungen. Ich pflichte Ihnen durchaus bei. Aber ich behaupte: Alle unsere Gefühlseinstellungen sind halbfest; und noch weiter innen ist etwas ganz Unbestimmtes. Man stellt das immer umgekehrt dar, als ob innen das Feste wäre, der Charakter, die Überzeugung; so wie aber Gott rotierende glühende Kugeln geschaffen hat, die er ihrem weiteren Schicksal überließ, muß man annehmen, daß auch der Mensch als eine Blase geschaffen ist, und es hängt von den Umständen ab, was daraus wird. Oder auch der Mensch hat es völlig selbst in der Hand. Das ist mein Fortschrittsglaube; der konstruktive Fortschrittsglaube; er ist sehr verschieden von dem zwangsläufigen des Bankdirektors Fischer und allerdings auch von dem Ihren.«
»Eine Blase! Sie sagen selbst, eine Blase! Sie wissen nicht, wie bald sie platzen wird! Diese Blase der bürgerlichen Ideenwelt. Dieser Bankdirektor, von dem Sie schon wieder sprechen, ist mein Feind. Ich bekämpfe ihn. Ich weise ihm nach, daß seine Überzeugungen nur Vorwände für seinen Profit sind. Aber er hat doch wenigstens Überzeugungen! Er
sagt ja, wo ich nein sage, und umgekehrt. Dagegen Sie! In Ihnen hat sich alles schon aufgelöst. In Ihnen hat sich die bürgerliche Lüge bereits zu zersetzen begonnen!« Schmeißer hatte nur Tee getrunken und Zigaretten geraucht, die Anders ihm vorsetzte, aber er nahm einen Anlauf wie im Rausch, um dem schönen gesunden Nichtstuer seine Mißachtung ins Gesicht zu schleudern. Anders fühlte deutlich, daß Schmeißer die gleiche Abneigung gegen ihn hegte wie er gegen den verwöhnten Arnheim.
»Ich bin weder bürgerlich, noch unbürgerlich« sagte er. »Ich habe keine Partei, außer wenigen und verstreuten Menschen, die das gleiche erleiden. Es mag sein, daß das, was mich beschäftigt, bürgerlicher Herkunft ist. Es ist anzunehmen. Ich würde wahrscheinlich anders denken, wenn es mir schlecht ginge. Trotzdem ist alles wahr. Ich will mich bloß deshalb nicht für Ihre große Idee begeistern, weil ich weiß, daß sie in hundert Jahren auch eine hinderliche Wand sein wird. Ich möchte mir, wenn ich könnte, eine Menschheit mit beweglichen Wänden ausdenken.«
»Sie sind überheblich und spielen bloß. Ich muß nachhause, weil ich morgen um sieben Uhr zu arbeiten habe« antwortete Schmeißer und verabschiedete sich. Anders blieb noch ein wenig auf, wie ein Mensch nach einem heißen Bad in der heißen Kammer sitzt, deren Dunst das Konturgefühl des eigenen Körpers verwischt; diese Gespräche waren auf ihn ohne Einfluß, er kam seinem eigenen Umriß darin nicht näher. Auch Schmeißer, die Treppen zum elterlichen Kellergeschoß hinabsteigend, nahm sich vor, seine Zeit mit diesem Bourgeois nicht mehr zu vergeuden. Das plumpe Klappen seiner Schuhe auf der Treppe ärgerte ihn, und sein
Anzug hatte in den Spiegeln zu schmale Schultern und zu kurze Arme; auch der Gedanke an die Sonnenbäder der Naturheilfreunde und die Aussicht, daß eine gesunde Nacktkultur die bürgerliche Kleiderordnung ablösen werde, vermochte dem zwischen breitgespannten Schulterknochen engbrüstigen jungen Mann nicht das Gleichgewicht gegenüber dem athletischen Anders zu geben. Nur die sehr scharfen Brillengläser, die er trug, befriedigten ihn, als sie ihm aus einem Spiegel entgegenblitzten. Sie waren – in harten Nächten über Büchern und Pflichtarbeiten erworben und verschärft durch Armut, der nicht gleich der Arzt zur Verfügung steht, – zum Symbol der Selbstbefreiung geworden; das finnige Gesicht mit der gesattelten Nase und den proletarisch knochigen Wangen erschien Schmeißer, im Spiegel von ihnen überblitzt, wie die vom Geist gekrönte Armut. Als er sich in seinem Zimmer über ein Buch neigte, schnitt das Blitzende aus dem Rund des Zimmers nur diese eine aufgeschlagene Seite heraus, mit ungeheurer Konzentration, hinter deren Rändern alles andere in völligem Dunkel verschwand. Schmeißer studierte schon im sechsten Jahr an der Technischen Hochschule – es geht langsam, wenn man sich die Mittel dazu selbst verdienen muß –, aber er hatte schon seinen ersten Lebenserfolg erreicht; die Zeit des hastenden Stundengebens und -suchens lag hinter ihm, er hatte eine Anstellung in einem Gewerkschaftsbüro erhalten, wenn sie auch noch nicht dauernd war. Er sammelte in den Werkstätten und Geschäften die Parteibeiträge ein, hörte eifrig die Beschwerden über die Meister und Unternehmer, schüttelte über jedes Unrecht wild das Haar, das reichlich in dunkelbraunen,
etwas öligen, sich nach hinten überschlagenden Wogen aus seinem Kopf wuchs, und sagte: »Dem werden wir’s anstreichen!« Dies geschah dadurch, daß er dem Blatt seiner Gewerkschaft, welches »Der Schuhmacher« hieß, einen donnernden Aufsatz von zwanzig Zeilen einreichte, welches ihn ohne Verfassersnamen druckte. Dadurch hatte Schmeißer nicht nur »seinen Protest in den Akten der Menschheit zu Protokoll gebracht«, wie Anders sagte, sondern genoß auch die Genugtuung, daß sich das Blatt der großen Gewerkschaft mit ihm identifizierte und ihn, indem es seinen Namen verschwieg, im Namen Tausender Gericht halten ließ. Für diese Macht, welche seiner Stimme eines Unterdrückten geliehen war, bedankte sich Schmeißer auch durch eifrige Tätigkeit in den Sektionssitzungen und Versammlungen, durch Zwischenrufe, Vorträge, Tätigkeit in der Bücherei oder an Vereinsabenden. Er war mit Bestimmtheit auf dem Weg, dereinst ein Beauftragter seiner Partei zu werden. Als Intellektueller proletarischer Herkunft genoß er das Vertrauen der Arbeiter und vertrat eine Art geistiger Mutterstelle an viel älteren Menschen, was ihn selbst zu rücksichtslosem Studium aller nur erreichbaren Bücher antrieb. Er hatte recht, wenn er behauptete, daß ihn dieses Leben früher gereift habe als die unbestimmten, täppischen Söhne reicher Bürger, daß es hart war; er schätzte nur das eine nicht ganz richtig ein: welches ungeheure Glück ihm damit widerfuhr.
Schon am frühen Morgen hatte Schmeißer keine Zeit. Wenn ein Knopf an seinem Rock abgerissen war und er niemand hatte, der ihn angenäht hätte, ärgerte er sich nicht, sondern sagte sich, daß er ein Kämpfer sei. Das Studium an der Technik blieb
ihm nicht ein Haufe toter Beziehungen zwischen Materialien und Dingen, die daraus zu machen sind, oder mathematisches Genie, das sich in praktische Vorteile vergeudet, sondern es hob sich als Zukunftsarchitektur von dem Hintergrund des Gedankens ab, daß diese Errungenschaften, richtig verwaltet, dereinst der Menschheit das Glück bringen werden. Er war scharf gegen Prinzipien, aber duldsam gegen Menschen, die ihn niemals empörten, weil sie entweder seine Genossen und Brüder waren oder Feinde, deren Vergehen dem Gericht nicht entrinnen konnten, das die materialistische Entwicklung dereinst über sie verhängen mußte. So befand sich Schmeißer immer im inneren Gleichgewicht dadurch, daß er einer Bewegung angehörte.
Den gleichen Wert haben Überzeugungen; die Einbildung, an »großen Ereignissen« teilzunehmen; der Schimmer »großer Ideen«; Vorurteile; der Glaube an das Menschengeschlecht; an die Zukunft; an Gott; an die Vergangenheit usw. All dies vereinfacht die Welt auf ein erträgliches Maß und ohne dies würde sie als eine ungeheure Unordnung erscheinen. Dieses Ordnungsbedürfnis ist beim Revolutionär nur in einer andern Art entwickelt als beim beglückten Untertan, es war bei Bonadea, welche ihre Ehebrüche mit ihren Idealen vereinen mußte, vorhanden und bei Direktor Fischer, welchem seine Geschäfte kaum Zeit ließen. Im Grunde ist es ganz das Gleiche, wie daß der Mensch in jedem Augenblick seines Daseins zwischen den ungeheuerlichsten Gebilden durchgeht und ganz ruhig dabei bleibt, weil er sie als Tisch, Stuhl oder schreiender Mensch erkennt, oder daß es nach oben in die unendlichen Weiten der Himmelswelt, nach unten in die ebenso unendlichen Engen der
Atomwelt geht und daß dazwischen eine Schichte von Gebildeten als die Dinge der Welt betrachtet werden, ohne uns im geringsten zu beunruhigen. Denn in der gleichen Weise dienen die Vorkehrungen, von denen hier die Rede ist, der Erhaltung einer mittleren Gefühlslage. Alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewußten Anstrengung, welche die Menschheit in jedem Augenblick macht, um ihre Gemütsruhe zu bewahren.
Am schwierigsten haben es dabei Menschen von geistiger Kultur wie Diotima und Arnheim. Wie alle andren laufen sie zwischen einer ungeheuren Aufregung der Geräusche, Geschwindigkeiten, Neuigkeiten usw. dahin. Wie alle andren lesen sie täglich in der Zeitung einige dutzend Nachrichten, die ihnen die Haut sträuben, und sind bereit, sich darüber zu erregen, ohne daß es dazu kommt, weil der Reiz im nächsten Augenblick von einem andern aus dem Bewußtsein verdrängt wird. Aber sie können nicht wie alle andren um sechs Uhr in ein wieherndes Geplätscher von Lachen sich auflösen, weil ihnen ihr Geschmack sinnlose Vergnügungen verbietet; sie vermögen nicht einer bestimmten Idee oder Gesellschaftstheorie fanatisch anzuhängen, weil sie zu universell gebildet sind; und sie können das radikalste und häufigste Mittel, sich möglichst vom Weiten abzusperren und mit den dicksten Interessen zu begnügen, mit einem ungenauen Gefühl, es werde darüber hinaus schon alles in Ordnung sein, wie es Bonadea oder Direktor Fischer anwendete, nicht benützen, weil sie ein zu fein entwickeltes Gewissen haben. Deshalb klagen diese Menschen die Zeit an, in der sie zu leben verurteilt sind, obgleich sie genau so gerne in ihr leben wie andre und nur weil sie kein
Amulett besitzen, das aus ihrem Herz eine Laterna magica macht.
Sie sagen, diese Zeit vermöge keine Philosophie mehr hervorzubringen. Sie beklagen, daß diese Zeit die Religiosität verlernt habe. Sie erklären, daß es keinen einzigen großen Dichter, Maler, Musiker mehr gebe. Sie behaupten, daß wir nur noch eine Psychologie, aber keine Seele mehr haben. Daß das Rechnen oder die Maschine den Menschen versklavt haben, und dergleichen mehr, was man in jeder deutschen Gesellschaft, welche auf geistige Kultur etwas hält, hören kann.
Dies war der Ton auch im Salon Diotima. Es wurde jetzt viel davon geredet, daß die Parallelaktion eine geistige Erneuerung sein müßte. Aber man fand auch nicht den Schatten einer Idee. Diotimas Gesellschaften waren berühmt dafür, daß man auf Menschen stieß, mit denen man kein Wort wechseln konnte. Immer war aber auch mindestens ein bekannter Literat dabei, oder Künstler, oder Philosoph, ein Mensch. (Nur die jungen Literaten hielt sie abseits.) Der Adel ging hin, weil es ein ebenso guter Rendezvousplatz war wie eine Kirche. Die jungen Adeligen, weil es nun einmal Übung war. Insgesamt der Adel auch, weil er irgendwie sein Gewissen oder seine Neugierde befriedigen mußte, daß es irgendwo etwas gab, das Kultur hieß.
Anders hatte Bonadea als Entschädigung für die Freundschaft endlich versprechen müssen, ihr den Verkehr in diesem Haus zu ermöglichen. Er hatte es sich bisher nicht getraut. Aber Bonadea hatte es dahin gebracht, ihren höchsten Traum darin zu sehn. Erleuchtete Fenster usw.
9.
Clarisse erzählt Anders ihre Jugendgeschichte
Schon wieder kam Clarisse zu Anders.
»Ich muß dir das zu Ende erzählen« sagte sie. »Das Ungeordnete bei uns in der Familie« meinte sie »bedarf der Gesichtspunkte.«
Anders erinnerte sich: er brauchte nur zu sagen, es kommt mir vor, daß ich alles verfehlt habe, so erzählte Walther die intimsten Beispiele.
»Walther« erzählt Clarisse »rächte sich an Lindner manchmal mit gemeiner Bosheit. Er muß so viel leiden, weil er alles in sich aufnimmt« meinte Clarisse.
»Es ist doch viel natürlicher, daß man sich nachher verlobt als vorher« sagte Clarisse. Es war merkwürdig: wo Walther war, komplizierte sich alles. Es bekam Seele.
»In unsrer Familie« wiederholte Clarisse, was sie schon letztesmal anvertraut hatte »herrscht so eine grauenhafte Abhängigkeit vom körperlich Angenehmen. Es wird zuviel gegessen, alles ist überkostbar und dergleichen. Wenn ich an meine Schwester dachte und da ich auch manchmal so empfand, erschien es mir wie unentrinnbar. Ich trage auch ein Zeichen am Körper davon« sagte sie. Es war eigentlich wie eine Einleitung. Aber doch auch wie eine Einbildung, an der sie zu leiden schien. Es war Anders etwas unheimlich.
»Weißt du,« sagte sie »es war doch sehr merkwürdig, daß ich, als Walther mich zum ersten Mal küßte, … doch mit Lindner. Aber das war schonsein Einfluß. Überhaupt war ich immer ganz starr, wenn er mich anrührte. Gott, mit Lindner konnte
man damals, was man wollte, aber es war gar nichts dabei.«
»Du hast das doch heute noch gegen Walther« sagte Anders.
»Vielleicht. Ich habe dir schon erzählt, daß Lindner nicht gleich abließ, als ich mich schon in Walther verliebt hatte. Seine Nähe machte mich damals furchtbar nervös. Ich konnte nicht mit Walther sprechen, wenn ich wußte, daß Lindner im Nebenzimmer war. Dann waren wir lange Zeit allein. Ich habe dir schon erzählt, wie sonderbar das war, als er mich auf die Brust küßte. Dann kam das Frühjahr; wir machten große Radfahrten; im Prater, nach Klosterneuburg. Wir erzählten uns alles. Er wußte damals alles von Lindner. Aber wir wollten rein geistig. Glaubst du nicht, daß man mit einem Mann rein geistig –? Ich meine, wenn man wirklich etwas ganz Großes will, in der Kunst zum Beispiel, dann ist das andre daneben doch nur lächerlich? Eine Schlamperei, die man dem Körper gestattet. So meine ich es. Nicht aus Mannweiberei oder dergleichen; sondern, weil in Beethovens Werk dieser Punkt doch nirgends vorkommt, ebensowenig wie der Ärger über eine Wirtschafterin.«
Clarisse Jacke abgelegt – dünne Bluse – halb sich aufs Sofa gelegt – das Haar lockig – wie zu Hause.
»Aber damals war dieses rein Geistige nur der Gegensatz zu Lindner. Darauf sind wir gekommen. Also sagten wir uns, daß wir erst sinnlich werden müßten. Manchmal stellten wir uns das als eine Zeit vor, durch die wir hindurch müßten. Wir schwankten damals zwischen ungeheuren Extremen hin und her. Ich kann dir nicht sagen, was wir alles gemacht haben. Es ist ja auch gleich. Also alles, wobei man gerade noch Jungfrau bleibt. Du
wirst sagen, daß das verdreht oder feig oder lüstern ist. Aber es hatte sich alles verkehrt: Die Unsinnlichkeit erschien uns als das Unmoralische, weil darin die Abhängigkeit von dem frühern Zustand lag; und so wie sich bei einem von uns der Gedanke an Lindner vordrängte, war es erst recht eine Feigheit, die überwunden werden mußte. Aber manchmal kam uns wieder vor, daß wir die reinsten Hampelfiguren waren, und wenn wir nur uns folgen würden, tagelang ohne uns anzusehn durch den Frühling fahren müßten, nur so nebeneinander. Und manchmal schämten wir uns und manchmal waren wir ärger als Kinder.«
»Aber ihr wart doch sehr abhängig von Lindner!«
»Eigentlich nicht. Ich glaube, eigentlich bestand es nur daraus, daß wir uns noch nicht zusammengepaßt hatten. Das haben wir bis heute nicht. Es ist nicht der Schwung da; wir fliegen nicht; wir knautschen und reiben. Damals fanden wir es unbedingt notwendig, Lindner die Freundschaft zu bewahren. Nicht wahr: Walther hätte mich nicht geliebt, wenn er böse Empfindungen für einen gehegt hätte, der mich auch liebte. Also kamen von Lindner Briefe, und ich schrieb ihm, und Walther sollte das nicht lesen. Er war furchtbar eifersüchtig und erlaubte sich nicht, dem zu folgen. Die Entscheidung kam im Sommer. Lindner war jetzt wirklich in mich verliebt. Er hatte keine Verhältnisse mehr. Er sagte, daß ich ihm widerstanden habe, habe ihn gebessert. Er war überhaupt sehr verändert. Und daß er eigentlich durch Walther so beeinflußt worden war, ergab ein sonderbares Verhältnis zwischen den beiden, denn er war der viel Robustere. Er benahm sich damals wirklich als Freund. Walther handelte nicht schön gegen ihn, benahm sich eigentlich manchmal mit
gemeiner Bosheit. Quälte ihn. Lief weg, wenn er da war. Weil er wußte, daß ich ihm nachlaufen werde, um ihn zu trösten, und Lindner gedemütigt zurückblieb. Dann mußte Walther abreisen und hatte nicht den Mut, zu verlangen, daß Lindner nicht dableiben dürfe. Er machte mir große Szenen. Behauptete, wir paßten besser zusammen. Weinte. Küßte meine Füße. Er kämpfte eigentlich mit Ethik gegen Lindner und wollte der Stärkere sein. Wir schrieben uns leidenschaftliche Briefe, in denen ich Walther meine Treue versicherte. Aber Lindner küßte mich einmal. Dann küßte er mich wieder. Und wieder. Und da beschlossen wir, daß er in die Schweiz reisen müsse. Von wo er jetzt erst zurückgekommen ist. Er schrieb Walther einen großen Brief. Damals wollte Walther alle Briefe herausgeben. Wir waren wieder in Wien.Es kam das Mißverständnis mit der Erzieherin. Und dann der Familiensegen. Nach diesen Stürmen war das etwas komisch. Aber ganz nett. Und eigentlich sind wir erst vor einiger Zeit daraus erwacht; es wird einem so stark suggeriert, daß alles in Ordnung sei.«
»Es ist nicht im geringsten in Ordnung« sagte Anders.
»Ich weiß es nicht« meinte Clarisse. »Wann kommst du zu uns?«
»Wann kommt denn eigentlich Lindner?«
»Der ist schon seit zwei Tagen da.«
»So?«
»Ja. Er ist wunderbar. Ein ganz anderer Mensch geworden. Walther ist völlig unter seinem Einfluß.«
»Und du?«
»Ich eigentlich nicht. Oder doch. Aber er macht sich nicht das Geringste mehr aus mir. Er hat ungeheuer viel Frauen, die ihm nachrennen, interessiert sich aber nicht für Frauen.«
10.
Anders’ vergessenes Jugenderlebnis
Ein junger Mensch sagt sich: Ich liebe. Zum ersten Mal. Er sagt es sich, er tut es nicht bloß; denn in ihm ist immer auch noch ein wenig dabei von dem kindlichen Stolz, die Welt der Erwachsenen, die volle Welt besitzen zu wollen.
Er kann vordem schon Frauen begehrt und besessen haben. Er kann auch verliebt gewesen sein; in verschiedenen Arten, der Ungeduld, der Kühnheit, des Zynismus, der Flammen: dennoch kann der Augenblick noch kommen, wo er sich zum ersten Mal sagt, ich liebe. Anders hatte damals die Beziehungen zu der Frau, bei der es ihm widerfuhr, sofort so gelockert, daß es fast wie eine Lösung war. Er reiste von einem Tag auf den nächsten ab; sagte, wir werden uns wenig schreiben. Schrieb dann Briefe, die wie die Offenbarung einer Religion waren, und zögerte, sie abzusenden. Je mächtiger das neue Erlebnis in ihm anwuchs, desto weniger ließ er davon verlauten.
Er begann plötzlich, sich lebhaft daran zu erinnern. Er war damals sehr jung gewesen, Offizier, auf Urlaub am Land. Vielleicht hatte das dann den Umschwung in ihm bewirkt. Er machte einer Frau lebhaft den Hof, sie war älter als er, Gattin eines Rittmeisters, seines Vorgesetzten, erwies ihm seit langem Gunst, schien aber das Abenteuer mit dem blutjungen Männchen zu scheun, das sie durch seine ungewöhnlichen, nicht aus ihrem Kreis stammenden, philosophischen und leidenschaftlichen Reden verwirrte. Auf einem Spaziergang griff er mit einem Mal nach ihrer Hand, das Schicksal
wollte es, daß die Frau die Hand einen Augenblick wie ohnmächtig in der seinen ruhen ließ, und im nächsten flammte ein Feuer von den Armen bis zu den Knien und die zwei Menschen fällte der Blitz der Liebe, so daß sie fast auf den Wegrain gestürzt wären, in dessen Moos sie nun saßen und sich leidenschaftlich umarmten.
Die folgende Nacht war schlaflos. Anders hatte sich am Abend verabschiedet und gesagt: morgen fliehen wir. Die geweckte und noch nicht gestillte Begierde warf die Frau trocken wie Durst im Bett hin und her, zugleich ängstete sie aber der Strom, der morgen ihre Lippen netzen sollte, durch seine überschwemmungsartige Plötzlichkeit. Sie machte sich die ganze Nacht Vorwürfe wegen der Jugend des Menschen und auch wegen ihres Manns, denn sie war eine gute Frau und atmete unter Tränen auf, als man ihr am Morgen Anders’ Brief brachte, worin er in übereinandergetürmten Beteuerungen so jähen Abschied nahm.
Valerie hatte die Gutmütige geheißen, erinnerte sich Anders, und es mußte doch damals schon trotz seiner Unerfahrenheit darüber Klarheit in ihm gewesen sein, daß sie nur der Anlaß, aber nicht der Inhalt seines plötzlichen Erlebnisses war. Denn in durchwachter, von leidenschaftlichen Ideen durchschüttelter Nacht war er immer weiter von ihr fortgetragen worden, und ehe der Morgen kam, und ohne daß er recht wußte, weshalb, stand sein Entschluß fest, dessengleichen er nie vorher getan hatte. Er nahm nichts als einen Rucksack mit, fuhr ein kürzestes Stück mit der Bahn und wanderte dann, mit dem ersten Schritt schon im Neuen, durch ein völlig einsames Tal einem hoch im Gebirg versteckten ganz kleinen Wallfahrtsort zu, der in dieser Zeit
des Jahrs von niemand besucht und kaum von jemand bewohnt wurde.
Was er dort tat, wäre, wenn man es jemandem erzählen sollte, das reine Nichts. Es war Herbst und die Frühherbstsonne im Gebirg hat eine eigene Macht, sie hob ihn morgens auf und trug ihn zu irgend einem hochgelegenen Baum, unter dem man weithin sah, denn er wußte trotz der schweren Nagelschuhe eigentlich nicht, daß er gehe. In der gleichen selbstvergessenen Weise wechselte er einige Male im Tag den Ort und las ein wenig in ein paar Büchern, die er bei sich hatte.
Er dachte auch eigentlich nicht, obgleich er seinen Geist in tieferer Bewegung fühlte als sonst, denn die Gedanken schütteten sich nicht auf, wie sie es zu tun pflegen, so daß immer ein neuer Gedanke auf die Pyramide der früheren fällt und die zuunterst immer fester und zuletzt eins werden mit Fleisch, Blut, Schädelkapsel und tragendem Gebänder der Muskeln; sondern die Einfälle kamen wie ein Strahl in ein volles Gefäß, in endenlosem Überfließen und Erneuern oder sie zogen wie Wolken am Himmel in einer ewigen Veränderung, in der sich nichts ändert, die blaue Tiefe nicht, und nicht das lautlose Schwimmen der Perlmutterfische. Es konnte vorkommen, daß ein Tier aus dem Wald trat, Anders betrachtete und langsam davonsprang, ohne daß sich etwas änderte, daß eine Kuh in der Nähe graste, ein Mensch vorbeiging, ohne daß damit mehr geschah als ein Pulsschlag, zwillingsgleich allen andren des unendlichen, leise an die Wände des Verstehens pochenden Lebensstroms.
Anders war ins Herz der Welt geraten. Von ihm zur Geliebten war es ebenso weit wie zu dem Grashalm bei seinen Füßen oder zu dem fernen Baum
auf der himmelskahlen Höhe jenseits des Tals. Anders fühlte auch nicht mehr, daß die Landschaft, in der er lag, außen war; sie war auch nicht innen; das hatte sich aufgelöst oder durchdrungen. Der Einfall, daß ihm etwas zustoßen könnte, während er so lag, – ein böses Tier, ein Räuber, ein roher Mensch, – war nahezu unvollziehbar, so fern, als ob man sich vor seinen eignen Gedanken fürchten könnte. Und die Geliebte, der Mensch, um dessentwillen er dies alles erlebte, war nicht näher, als es ein fremder Wanderer gewesen wäre. Manchmal spannten sich seine Gedanken wie Augen an, um sich vorzustellen, was sie jetzt machen könnte, aber dann ließ er wieder davon ab, denn es war wie durch fremde Welt, wenn er sich dadurch ihr nähern wollte, daß er sie sich in ihrer Umgebung vorstellte, während er in unterirdischer Weise ganz anders mit ihr zusammenhing.
11.
Anders bei Diotima
»Lieber Freund« sagte Diotima. Sie hatte Anders empfangen, obgleich sie ein Hauskleid trug, in dem die Majestät ihrer Formen ein wenig an Schwangerschaft erinnerte, was dem stolzen kinderlosen Bürger etwas von der lieblichen Schamlosigkeit des Leidens zusetzte; ein Pelzkragen lag neben ihr auf dem Sofa, mit dem sie sich offenbar eben erst den Leib gewärmt hatte, und um die Stirn trug sie einen Umschlag gegen Kopfschmerzen, den sie auch bei Anders’ Kommen auf seinem Platz ließ, weil sie sich schon zuvor vergewissert hatte, daß er sie wie eine griechische Binde kleidete.
Anders beugte das Gesicht über den Arm, während er Diotimas Hand küßte, als müßte er die Veränderung dieser Frau auch am Duft wahrnehmen können.
»Ach, lieber Freund,« sagte Diotima noch einmal »ich habe so heftige Magenschmerzen.«
Diese Mitteilung – von einem natürlichen Menschen gemacht, so natürlich wie ein Wetterbericht, hatte im Munde Diotimas die ganze Gewalt eines Geständnisses. Sektionschef Tuzzi war auf einige Tage dienstlich verreist; Diotima lag da, wahrte nur noch halb die Haltung des Sitzens, preisgegeben den Schmerzen, die in ihr wühlten, war sie wie ein offenes Stück Natur ohne Zäune und Verbotstafeln. »Meine Nerven werden es nicht mehr lange aushalten.«
»Hat Arnheim noch immer nicht die Entscheidung gefunden?«
»Was wollen Sie?! Es ist auch für mich schwer! Ich müßte alles aufgeben, meine ganze Welt!« Es wäre ihr ganz natürlich erschienen, auch noch die Rücksicht auf ihre Kinder anzuführen, aber sie hatte keine.
»Als Gattin Arnheims würden Sie über eine ungeheure Macht zum Guten gebieten« sagte Anders.
»Aber der Skandal der Scheidung vorher! Vergessen Sie nicht, daß wir in einem katholischen Land leben. Ich fürchte mich vor solchen Dingen nicht! Aber habe ich ein Recht, die Laufbahn Tuzzis zu zerstören?«
»Ich würde denken,« antwortete Anders »daß eine Laufbahn, welche von einer Ehescheidung abhängt, keine besondere Schonung verdient.«
»Ach Sie!« stöhnte Diotima aus ihren Kissen.
»Weiß Tuzzi schon etwas?«
Diotima fuhr erschrocken wieder aus ihren Kissen hervor.
»Was denken Sie?! Niemand ahnt etwas, außer Ihnen. Und diese Frage war wirklich indiskret.«
Anders bat sie durch einen sanft freundschaftlichen Handkuß um Verzeihung; sie sank erschöpft zurück und ließ ihre Hand in der seinen. Er fand diese leidende Person lächerlich; »eine Jungfrau in Wehen« sagte er sich; zugleich tat sie ihm aber leid, weil sie schön und schwach war. So schwiegen sie, nahe, im Halblicht des vergehenden Tags, Rachel hatte Befehl, keine Besuche anzunehmen, Diotima hielt Anders’ Hand und drückte sie von Zeit zu Zeit, wenn ein Gedanke sie schmerzte, voll heißer Verzweiflung.
»Die Leute würden sich erst jetzt erinnern, daß Arnheim Jude ist« sagte Anders »und würden Ihnen das besonders verübeln.«
Die schwerlose Frauenhand preßte sich in seine, aber Diotima erwiderte: »Nur sein Vater ist Jude.«
»Es hat ja in Wahrheit auch nichts zu bedeuten« beteuerte Anders.
Sie schwiegen wieder.
»Aber wenn Tuzzi nichts weiß,« sagte Anders plötzlich »wie – machen Sie das eigentlich?«
Diotima verstand den Sinn der Frage. Aber diesmal war sie mit solcher Bestimmtheit des untersuchenden Arztes gestellt, daß von Indiskretion keine Rede mehr sein konnte und es kein Ausweichen gab. Es war inzwischen dunkel geworden. Sie glaubte Fieber in ihrer Hand zu fühlen; Anders hatte an die Mitte ihrer schmerzenden Gedanken gegriffen; er mußte es an ihrer Hand erraten, die sie ganz weich und trocken in der seinen ruhen glaubte, aber sie wagte nicht mehr, seine Hand zu drücken und
auch nicht, die ihre zurückzuziehen. In Wahrheit hatte sie während der letzten Wochen nichts so sehr gequält wie der Umstand, daß während dieser langen Vorbereitungszeit der seelischen Entscheidung Tuzzi alle körperlichen Benefizien genoß, denn sie war zu wahrheitsliebend und unerfahren, um eine ganz befreiende Ausrede zu ersinnen, und dadurch, daß Arnheim die Offenheit zu den Tugenden des großen Lebens zählte, lag ihr die geschickte Lüge noch ferner.
»Ach, mein Freund,« sagte sie »es gibt keine schlimmere Verzweiflung, als mit einem Menschen in ein gemeinsames Schicksal verschlungen zu sein, den man nicht liebt.«
Diotima wagte nicht, Licht anzuzünden. »Wissen Sie, daß mir manchmal« sagte sie nach einer Weile »der Ehebruch als die überlegenste Lösung solcher Konflikte erscheint?«
»Es ist die konservativste Lösung« antwortete Anders, aber sie bemerkte den Spott nicht, denn sie hatte sich auf ihrem Divan in dem Gefühl aufgerichtet, eine ungeheuerliche Mitteilung auszusprechen. »Als die rücksichtsvollste Lösung für den Geliebten wie für den Gatten! Freilich muß man die Sinnlichkeit ganz durchgeistigen können.« Sie hatte oft an Sophie Löwenthal und Frau v. Stein gedacht und scheute nicht davor zurück, in Arnheim einen Mann vom Range Goethes zu erblicken, ganz fraglos natürlich zumindest von dem Lenaus, aber Anders schleuderte sie mit der Bemerkung in ihre Verzweiflung zurück, daß Tuzzi kein Mann sei, mit dem man »ein Schicksal haben« könne. Sie hätte gerne gefragt, wie er sich denn den Stallmeister Stein als Gatten vorstelle, aber gerade diese Frage heraufzubeschwören wagte sie nicht und begnügt
sich mit der kleinen Frage: »Ach, was ist überhaupt Schicksal?«
Sie hatte keine Antwort erwartet, aber zu ihrem Erstaunen sagte Anders: »Schicksal ist nicht, daß man nicht anders kann. Aber ausweichen kann man auch nicht. Es ist nicht notwendig, folgt aus nichts und ist nichts Vorbestimmtes. Ein tapferer Mensch läuft auf eine Gefahr zu; ein feiger auf die Rettung; ein verliebter auf die Liebe; ein spröder vor ihr davon; sie mögen es mit Überwindung tun, freiwillig, oder unfreiwillig wie ein Reflexbogen: das ist noch nicht Schicksal – obgleich man es natürlich auch so nennen kann. Erst tiefere Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit, ein schon Geschehnsein im Augenblick, wo es erst geschehen soll. - Ja! Was man so tut, ist immer schon geschehen, man wiederholt es nur, es vollzieht sich unirdisch leicht, man sieht sich im Spiegel des Ewigen und weiß, was man zu tun hat.«
»Aber, lieber Freund, Sie sprechen so ähnlich wie Arnheim« sagte Diotima. »Weshalb müssen sie sonst immer mit ihm streiten!«
Anders verabschiedete sich im Dunkel. Wenn er nicht spottete, hatte ihn Diotima wirklich gern. Ob er auch sich gemeint haben mochte, mit seinen Worten? Am Ende gar sie und sich? Sogar dies fuhr ihr durch den Kopf, der im Gespräch aufgehört hatte, sie zu schmerzen.
12.
Agathe begegnet Meingast
Eines Tages war sie, weil sie so traurig war, vor die Stadt gefahren, und sie ging immer weiter, weil sie immer trauriger wurde. Es ist ein schönes Gefühl, wobei man immer tiefer in die Landschaft versinkt. Sie mochte so wohl gegen eine Stunde gewandert sein, als sie sich plötzlich vor einer kleinen Buschwildnis fand, die ein vernachlässigtes Grab um-hegte. Sie entzifferte den Stein, es war ein Gedenkstein für Lenau. Agathe wußte wenig von ihm; aber die Erinnerung hier, am Rande des Walds, über den grünrunden Weinbergen und der riesenfremden Stadt, die in der Vormittagssonne langsam ihre Rauchschweife bewegte, rührte sie plötzlich zu Tränen. Sie fühlte sich von der ganzen Welt verlassen.
Eine alte Erinnerung fiel ihr ein. Sterben. In der Hand Gottes gewiegt. Sie, die von keiner Mutter geliebt worden war. Sie war verwirrt und aufgewühlt. Es kam ihr vor, daß sie sich sehr leicht loslösen könnte vom Leben und immer ein wenig mit undeutlicher Grenze hinüberfloß. Sie kniete nieder und lehnte die Stirn gegen einen der Pfeiler, die das Grab einsäumten. Ihr war es zumute wie eine lebendige Berührung des Todes und die ihr innerlich fremde Stellung des Kniens schenkte ihr etwas von allen Mühen Enthobenes.
Als sie aufsah, stand ein Herr bei ihr. »Das Leben bietet ebensoviel Gelegenheit zur Kräftigung wie zur Schwächung des Wollens« sagte der Fremde; Agathe staunte. Sie empfand, dieser Mensch wollte nichts von ihr, sondern hatte den Wunsch, ihr zu helfen. Dann lüftete der Fremde den Hut, um dies
nachzuholen. »Kann ich Ihnen helfen? Es kommt vor, daß man einen tiefen Schmerz, eine wahrhafte Erschütterung des Ich leichter einem Fremden anvertraut …«
Es zeigte sich, daß der Fremde nicht ohne Anstrengung sprach und jetzt, wo sie nebeneinander gingen, kämpfte er geradezu mit den Worten. Agathe war einfach aufgestanden und hatte angefangen, langsam neben ihm herzuschreiten.
Sie gingen im Gespräch ein großes Stück Weg, dann kehrten sie um; keiner wußte, wohin der andre eigentlich wollte, und mochte doch darauf Rücksicht nehmen. Endlich fragte Agathe: »Wohin werden Sie jetzt gehn?«
»Ich muß nach Hause gehn« antwortete Meingast.
»Würde Ihre Frau etwas dagegen haben, wenn ich Sie noch begleiten wollte?«
»Es kommt mein Sohn aus der Schule heim. Deshalb muß ich zu Hause sein. Meine Frau ist tot. Vor einem Jahr ganz plötzlich gestorben; ja.«
Im Gespräch vorher hatte Agathe gesagt: »Ich möchte jetzt aber wissen, wer Sie sind. Sie verstehen mich? Vorher fand ich es auch nicht nötig.« Wieder war die etwas komische Unsicherheit an dem Fremden zu bemerken gewesen wie in jenem Augenblick, wo er den Gruß nachgetragen hatte; es schien ihn im Arm zu jucken, daß er abermals feierlich den Hut lüpfe. Dann versteifte sich etwas. Eine Gedankenarmee schien einer andern eine Schlacht zu liefern und zu siegen, statt daß eine spielleichte Sache spielend geschah. »Ich heiße Meingast und bin Lehrer am Rudolfsgymnasium … Auch Dozent der Pädagogik an der Universität.«
»Dann kennen Sie vielleicht meinen Bruder?«
fragte Agathe erfreut und nannte seinen Namen zugleich mit dem ihren. »Er hat vor einiger Zeit in der pädagogischen Gesellschaft einen Vortrag gehalten.«
»Nur dem Namen nach. Und ja, natürlich, ich habe ihn sprechen hören.«
Es schien Agathe flüchtig, daß in dieser Antwort eine Ablehnung lag, aber sie vergaß es. »Ihr Herr Vater war Professor in …?« setzte Meingast ohne Aufenthalt hinzu.
»Er ist gestorben. Wollen Sie uns nicht besuchen?«
»Ich habe leider keine Zeit« sagte Meingast beinahe schroff.
»Sie werden aber nichts dagegen haben,« antwortete Agathe »wenn ich zu ihnen komme: ich brauche Rat!«
Er sprach sie da noch als Fräulein an. »Ich bin Frau« setzte Agathe hinzu »und heiße Hagauer.«
»Da sind Sie ja« rief Meingast aus, der jetzt erst den Namen verstand, »die Frau des verdienstvollen Schulmanns Professor Hagauer?«
Und noch früher als sie dies sprachen, ganz im Anfang ihres gemeinsamen Gehns, hatte Meingast gefragt: »Wollen Sie mir nicht sagen, weshalb Sie geweint haben?«
»Nein« sagte Agathe. »Ich weiß es selbst nicht. Aber ich wollte, daß Sie mir die Frage beantworten, weshalb Sie glauben, daß Sie mir helfen könnten. Ich glaube, man kann niemandem helfen.«
Ihr Begleiter antwortete nicht gleich. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, aber es schien Agathe, daß er sich zwang, noch zu warten. Schließlich sagte er: »Ich habe Ihnen ja vorhin zugesehn! Und – sehen Sie – Angst zum Beispiel, Angst in einer Katastrophe steckt an, und – Entronnensein steckt auch
an! Ich meine das bloße Entronnensein: welche ungeheure Hilfe, wenn ein einziger draußen steht und winkt; nichts tut als winken und schrein; er kann auch nicht den Weg weisen, aber da er hinaus gelangt ist, muß es einen geben.«
»Wie kann man annehmen,« hatte Agathe geantwortet »daß in seelischen Gefahren ein andrer Mensch schon in der gleichen Lage gewesen ist!«
Der Fremde hatte beinahe überheblich gelächelt. »Sie sind wahrscheinlich zu jung, um zu wissen, daß unser Leben sehr einfach ist.«
»Einfach?«
»Es ist nur unüberwindlich verworren, wenn man an sich denkt. Aber in dem Augenblick, wo man nicht an sich denkt, sondern sich fragt, wie man einem andern Gutes tun könnte, ist es sehr einfach. Die Überschätzung des Persönlichen ist nur ein moderner Aberglaube. Alle Verwirrungen fallen weg, wenn man sie nicht ernst nimmt.«
Agathe schwieg und dachte nach. Und als nun Meingast nach ihrem Mann fragte, fühlte sie, daß vielleicht alles aus ist, wenn sie es sagt, daß aber überhaupt kein Rat werden kann, wenn sie es nicht sagt; sie hatte die merkwürdige Begleitempfindung, etwas zu tun, was ihre Seele erfordere, als sie, von der Eigenart des Mannes neben ihr dazu gereizt, antwortete: »Ich will mich scheiden lassen.«
Es folgte eine lange Pause; Meingast machte einen niedergeschlagenen Eindruck. Agathe sah ihn neugierig und ein wenig respektlos an. »Sind Sie vielleicht ein Gegner der Scheidung?« fragte sie, deren Gewissen unruhig war, vor dem unerwarteten Widerstand sich aber spöttisch zusammenzog.
»Ich bin gegen die Freiheit des Menschen« antwortete Meingast nach einiger Überwindung.
»Sie müssen mir das einmal erklären« rief Agathe jugendlich aus. »Das ist mir sehr wichtig.« Die Antwort hatte sie wider Erwarten berührt. Das Wort »Wille« hatte die halb Ohnmächtige plötzlich frisch und kühl aufgerichtet. Einzelne Worte haben manchmal, wenn sie wieder in die Erinnerung gerufen werden, solche Kraft.
13.
Professor August Meingast
Professor August Meingast sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich. Wenn Agathe ihm nachgesehn hätte, so wäre ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang des Mannes aufgefallen, der seinen Hut in der Hand trug und sich zuweilen über das Haar strich; so wohlig warm war ihm geworden. Aber Agathe hatte mit sich selbst zu tun.
»Wie wenig Menschen« sagte sich Meingast »haben eine wahrhaft mitfühlende Seele.« Und er malte sich eine Seele aus, die sich ganz in den Mitmenschen hineinzuversetzen vermag, seine verborgensten Schmerzen erleidet, sich in seine ganze Schwäche hinabläßt. »Welche Aussicht ist das!« sagte er sich. »Welch eine wunderbare Nähe göttlichen Erbarmens, welcher Trost und welcher Feiertag! Wie wenig Menschen gibt es überhaupt,« fuhr er fort »die ihrem Mitmenschen wirklich zuhören. Wie wenig ernst gemeint sind zum Beispiel die Fragen nach unserem Wohlergehen. Man braucht bloß einmal ausführlich darauf zu antworten und wird bald genug sich einem gelangweilten und geistesabwesenden Blick gegenüber finden!«
Nach August Meingasts Grundsätzen war der Schutz des Schwachen die wahre Hygiene des Starken. »Wer erfahren will, was ›universelle Bildung‹ ist,« dachte er plötzlich mit einem Blitz gegen seinen bekannten Fachgenossen Hagauer »dem kann nichts Besseres geraten werden: erfahren, wie dem andern zumute ist! Durch Mitleid wissend: das bedeutet tausendmal mehr, als durch Bücher wissend!« Seine Brillen blickten gehoben in der Runde. »Ich habe, wenn man andere gut machen will, keinen anderen Rat, als daß man selbst gut sei« sagt Matthias Claudius.
Solche Stärkung ging von dem Gedanken an Agathe aus. Aber andrerseits war es der negative Pol seiner Erregung, daß dieses himmlisch schöne Weib, das er gefunden hatte wie der Engel die Magd im Tau (oh, er wollte sich nicht überheben! Wie doch Nachgiebigkeit gegen Poesie leicht überheblich macht!), im Begriffe stand, sich gegen ein Sakrament aufzulehnen und ein in die Hand Gottes abgelegtes Gelöbnis zu brechen, denn dafür sah er ihr Begehren nach Ehescheidung an. Er mußte sich leider sagen, daß seine Abscheu dagegen gemildert wurde durch eine gewisse Freude darüber, daß dies seinem fortschrittlichen Fachgegner Hagauer widerfahren sollte; desto notwendiger werden als Schutz vor solchen Einflüsterungen feste Grundsätze, und nach denen Meingasts war die Ehe schließlich eine der wenigen Handlungen, bei denen der katholische Mensch das Leben nach Gottes Wort noch anerkennt, während dies früher allgemein war. Meingast glaubte an der Art, wie Agathe diese Frage behandelte, eine gewisse frivole Oberflächlichkeit bemerkt zu haben. Und August Meingast war ein genauer Kenner der Frauenseele. Die Versuchung zu
Hochmut und Eitelkeit ist für schöne Frauen außerordentlich groß: deshalb konnte er ein schönes Gesicht selten ohne eine Beimischung von Trauer betrachten; solche Menschen sind meist Märtyrer ihrer schönen Außenseite, die sie zu Dünkel mit seinem schleichenden Gefolge von Herzenskälte und Äußerlichkeit verführt. Immerhin kann aber auch hinter einem schönen Gesicht eine Seele wohnen, und wieviel Demütigung verbirgt sich dann oft hinter Hochmut, wieviel Verzweiflung hinter dem Leichtsinn, wieviel Leid und Enttäuschung sogar hinter abstoßenden Charakteren. Wie selten wissen erfolgreiche und begabte Menschen sich in die Stimmung solcher Zurückgesetzten und Vernachlässigten zu versetzen! Aber Meingast wußte es und nahm sich vor, diese Seele zu retten. Damit endete der Kampf der zwei Pole in ihm, denn um jemand von einem Irrtum zu überzeugen, muß man dessen Gründe erst wahrhaft selbstlos durchleben.
Das Bedürfnis eines wahrhaft edlen weiblichen Wesens, das er gleich erkannt hatte, nach einem Edel-Mann, der schlicht mit dem Menschen in der Frau verkehrt, ohne gleich durch geschlechtliche Gefallsucht gestört zu werden, wurde ihm klar, noch bevor er am Rand der Stadt die Elektrische bestieg.
Als er vor seiner Wohnungstür stand, läutete Professor August Meingast nur einmal, aber in einer Weise, deren Länge, Ansatz und Loslassen so bestimmt waren, daß eine Verwechslung äußerst unwahrscheinlich wurde; das ist ökonomischer, als zwei oder drei Mal zu läuten, wie es andere Leute gern vor ihrer Wohnungstür tun, um sich schon von außen bekannt zu geben. Es war alles mit Überlegung geordnet in seinem Haushalt, ohne Kosten für
Einzelheiten zu verschwenden und einem vernünftigen Lebensplan zu entziehn. Denn ein Hauptgrundsatz seiner Lebensführung war Planmäßigkeit. Er stand frühmorgens auf, wusch sich an einem kleinen eisernen Waschtisch Gesicht, Hals, Hände und jeden Tag ein anderes Siebentel seines Körpers – so daß das Bad, dieser zeitraubende und wollüstige Vorgang, auf einen Abend alle drei Wochen beschränkt werden konnte –, dann war jede Stunde bis zum Abend mit einem eigenen Inhalt ausgefüllt, wobei er sich streng jedes Übergreifen verbot. Er schlief sieben Stunden täglich (während er in der Ehe jeden zweiten Sonntag acht Stunden geschlafen hatte). Seine Lehrverpflichtung, welche das Ministerium aus Rücksicht auf seine wohlgelittene wissenschaftliche Tätigkeit eingeschränkt hatte, forderte durchschnittlich fünf Stunden täglich von ihm, in welcher Zeit auch das Kolleg begriffen war, das er zweimal wöchentlich an der Universität las. Fünf zusammenhängende Stunden – das sind fast zwanzigtausend Stunden in einem Dezennium! – blieben dem Lesen vorbehalten, eineinhalb Stunden der Niederschrift seiner eigenen Arbeiten, Ankleiden und die Mahlzeiten beanspruchten eineinhalb Stunden für sich. Eine Stunde diente dem Spaziergang und auf diesem dem Nachdenken über Berufs- und große Lebensfragen. Eine weitere Stunde dem, was er das »kleine Nachdenken« nannte, der Sammlung des Geistes auf den Inhalt der eben vergangenen oder der kommenden Beschäftigung, entweder während der Schulpausen oder während er von einem Arbeitsort zum anderen unterwegs war. Jedermann weiß, daß die Lebenskraft durch Konzentration und nicht durch Zersplitterung gesteigert wird; »in dem Kleinen, was ich recht tue,
sehe ich ein Bild von allem Großen, was in der Welt recht getan wird« heißt es, wie der Gebildete weiß, im Wilhelm Meister, und man geht als ein ganz andrer Mensch an seinen Beruf, wenn man seine Arbeit nicht einfach stumpfsinnig auf sich nimmt, sondern entschlossen ist, alle ihre Verantwortlichkeiten zu vertiefen, ihre Versuchungen im großen Sinn zu überwinden und ihre besondren Gelegenheiten zur Entwicklung des Charakters als das eigentliche Fundament der Berufsfreudigkeit zu pflegen; in diesem Geiste bedachte Meingast täglich seine Eintragungen ins Klassenbuch, den Tadel wegen eines schlecht abgestaubten Katheders, die Vorzüge und Fehler seiner Schüler wie sein eigenes Verhalten; er war ein strenger, aber nicht unbeliebter Lehrer, dessen Unterricht niemals in das Wissenseinerlei versank.
Würde nun jemand seine Tageseinteilung zusammenrechnen, so kämen zweiundzwanzigeinhalb Stunden heraus, und es fehlen sonach noch neunzig Minuten auf einen vollen Tag. Von diesen neunzig Minuten waren sechzig von vornherein dem Verkehr, Gespräch und liebevollem Eingehn auf die Bedürfnisse und die Wesensart anderer Menschen eingeräumt, wozu unter Umständen auch der Besuch von Kunstausstellungen und Konzerten gehörte, den er, wenn es sein mußte, auf die Minute abbrach. Jedermann weiß: »Niemand wird lernen, mit Menschen umzugehn, der nicht das Geheimnis des unsichtbaren Umgangs entdeckt hat, der nicht gelernt hat, einen Teil seiner Einsamkeit dem ruhigen Nachdenken über seinen Nächsten zu widmen, damit er denselben besser verstehe, seine schwachen Punkte richtig zu schonen und seine starken Seiten gebührend zu ermutigen und zu benützen lerne!«
Und er hatte eine wunderbare Quelle der Erhebung darin gefunden. Es entstand durch dieses Hineindenken in andre allmählig in ihm das, was er »die Übung des Tastsinns für das Leben und Leiden« nannte, dem der gewöhnliche Mensch trotz aller Neugier und Wahrnehmung so stumpf gegenübersteht wie ein Taubstummer der Welt der Töne, und er erkannte, wie notwendig solche Übung gerade für den starken Mann ist, weil dessen tätige und angreifende Energie nur zerstörend wirken kann, wenn sie sich nicht mit einem seherischen Mitgefühl verbindet.
Die restlichen dreißig Minuten aber waren für unvermeidliche Zeitverluste vorgesehn. Nach dem Grundsatz, daß unsre Zeit nicht uns, sondern unsren Arbeiten und Verpflichtungen gehört, hielt Meingast Pünktlichkeit für eine Gewissensforderung wie Vertragstreue oder Manneswort und Menschen ohne ernste Zeiteinteilung für zerfahren, wenn sie aber noch dazu ihre Mitmenschen zwingen, Teile des Daseins mit ihnen zu verschwatzen oder auf andre Weise durch sie zu verlieren, für ärger als Straßenräuber. Er hielt es für seine christliche Pflicht, solchen Naturen »gütig, aber unwiderstehlich« Achtung vor der Zeit ihrer Nebenmenschen beizubringen und solche Begegnungen »herzlich, aber unaufhaltsam« nach Ablauf der kürzesten Zeit zu verabschieden. Aber da er in solchen Fällen auch Notlügen verschmähte, weil sie dem Charakter mehr Schaden zufügen, als sie durch Zeitgewinn nutzen, und da die rücksichtslose Verschwendung fremder Zeit ein Laster ist, das auch einflußreiche, vorgesetzte und dergleichen Personen nicht verschont, mußte er zu seinem Zweck Mut, Umsicht und die seltene Kunst anwenden, Entschiedenheit
und Feinheit, Offenheit und Höflichkeit miteinander zu verbinden, und da dies alles sehr schwierig ist, auch noch ein besonderes Verlustkonto dafür einrichten. Gelang es ihm aber, in diesem oder einem der anderen Konti einige Minuten zu ersparen, so gab August Meingast, der ein Kenner der Lebenskunst war, sie irgendwann während des Tags einem freudigen und absichtlich unkritischen Sichdurchströmenlassen von den bunten zufälligen Eindrücken des Lebens hin, deren naiven Wert gerade ein asketischer Geist nicht unterschätzen darf.
Wer wegen all dem Professor Meingast für einen einfachen Pedanten halten wollte, würde sich irren; er war ein vielseitig zusammengesetzter und begründeter Pedant. Schon als Knabe unter den Kameraden hatte er einen schweren Stand gehabt; es war weniger das röhrenbeinig Hohe, groß Kraftlose seiner Erscheinung, was ihre Angriffsinstinkte reizte, als ein Etwas in seinem Gesicht, unter das die Mutter eine große schöne Schleife band. Man könnte sagen, daß es der völlige Mangel an Roheit ist, was einen Knaben unter Knaben unmöglich macht, aber so vorteilhaft für Meingast eine solche Erklärung auch gewesen wäre, vermochte er sein Leben lang nicht, sie sich anzueignen, weil seine pädagogischen Anschauungen die Roheit als eine grundlegende und allgemein verbreitete Eigenschaft nicht gelten lassen durften. Wenn er über seine Jugend nachdachte, hielt er sich vielmehr nur für einen geborenen Denker. Die Angst vor Prügeln und Neckereien, die er einst ausgestanden hatte, war vergessen und überwölbt von der Festigkeit eines lückenlosen Gedankensystems, in dem jede unangenehme Erinnerung sogleich durch einen geistigen Triumph aufgewogen wurde, in
dessen Besitz er lächelnd auf seine Jugend blickte. Da er immer ein Vorzugsschüler gewesen war, hatte es ihm nie ganz an Freunden gefehlt. Es waren die in verschiedenster Weise zu kurz Gekommenen, die Beschränkten, Schwächlichen, die Zwanghaften, Einsichtigen, welche ihm Freundlichkeit erwiesen und zu erkennen gaben, daß sie ihn, den musterhaft zu kurz Kommenden, unausgesprochen als ihr Oberhaupt anerkannten. Ohne Zweifel wurde auch davon später sein christliches Gefühl für den Schutz der Schwachen gespeist, aber eigentlich religiös war er in der Knabenzeit nicht veranlagt gewesen; er hatte den religiösen Unterricht mit musterhafter Lernfreude hingenommen, ohne viel dabei zu denken, zum Geiste erweckt wurde er erst später, durch ein wunderbares Erlebnis.
Es war in der Zeit der Vorbereitungsarbeiten für die Reifeprüfung, und Meingast mochte sich etwas überanstrengt haben. Er saß abends und lernte in seinem kleinen Zimmer, als mit einem Mal eine Veränderung mit ihm vorging. Er spürte plötzlich ein Licht in sich; sein Herz war verwandelt und mit einer unsäglichen und seltsamen Freude erfüllt, als hätte man ein Licht hineingestellt, und zugleich umlagerte dieses geistige Licht sein Haupt mit einem strahlenden Zustand. Er blickte auf und um sich; es dünkte ihn, seine Seele wäre weiter als die ganze Welt. Und während sich die Gnade in seinem Herzen in unaussprechbarem Reichtum mehrte und ein wunderbarer und großer Aufschwung rings um ihn alles ergriff, hörte er ganz deutlich, wenn auch nicht mit physikalischen Worten eine Stimme sprechen: »Meingast! Wo suchst du mich!« Sein Auge suchte erschreckt nach dieser Stimme und wußte zugleich, daß er sie mitten im Herzen
trage; es ging etwas in ihn ein und nahm ihn in völligen Besitz.
Seit jener Zeit kannte er den Unterschied zwischen dem »geliehenen« und dem »anfangslosen« Wissen. Er hatte sich mit einem Gebet zu Bett gelegt und in den Schlaf geflüchtet. Der Eindruck, den er davontrug, war in der folgenden Zeit der eines großen Schreckens; er wollte nicht glauben und sich anmaßen, daß Gott zu ihm gesprochen habe, sondern begann die Phantasie als eine zügellose und leicht zum geistigen Untergang führende Kraft zu fürchten. Er legte mit großer Ordnung die Reifeprüfung ab und bezog nach den Ferien die Universität.
Erst hier, wo sich die Isolation der Schulzeit wiederholte, kam er vorsichtig auf sein Erlebnis zurück. Das entartete völkisch-studentische Treiben stieß ihn ab, und die Philosophie gewährte ihm keine Ruhe. Sie befand sich zu seiner Zeit in jenem Zustand, den sie, den Hauptsachen nach, heute noch nicht hinter sich gelassen hat, dem Zerfall der großen Systeme, die zwischen den Mitten des 18. und 19. Jahrhunderts entstanden sind, ohne daß die Fülle der Einzelerkenntnisse, welche die Zeit wie ein Vulkan gebar, eine neue Zusammenfassung finden konnte; in lächerlichem Gegensatz stand dazu das Vertrauen, welches die zwischen schon aufgeplatzten oder im Aufplatzen begriffenen geistigen Blasen krabbelnden Ameisenmenschen dieser Epoche in den Fortschritt setzten, der auf keinem Gebiet ausgeblieben sein konnte. Es herrschte damals, und bis zur Zeit der Geschehnisse, die hier zu erzählen sind, in ganz Europa, wie die besten Kenner seiner Wirtschaft heute versichern, eine durch besondere und keineswegs dauerhafte Umstände hervorgerufene
Blütezeit, welche eine Zukunft ewigen Fortschritts vortäuschte. Die geistigen und Handelsbeziehungen zwischen den Völkern wurden immer dichter und lebhafter, der Wohlstand mehrte sich, und mit ihm mehrten sich die Künste, die Erfindungen, die Bequemlichkeiten, die Zahl der Bevölkerung wuchs, man erübrigte Geld und Zeit für Reisen, und der Sport hub an, die Menschheit zu verjüngen. Mit einem Wort, es waren dies schon die Anfänge jener Zeit, die sich zuletzt aus Verzweiflung in den großen Krieg stürzte. In ihren Anfängen hatte sie noch ganz die Parvenufreude an sich selbst. Wo immer Geld war, entstanden jene Prachtbauten, in denen man alle Stile anwandte, deren Kenntnis man erworben hatte, die Städte Europas erhielten ihr heutiges Aus-sehn, Wagnermusik, Pilsnerbier und Gasbeleuchtung eroberten die Welt, die Malerei war geschmackvoll unbedeutend mit einem Sinn für zivilen Prunk, was an großen Geistern und Künstlern lebte, wirkte in einem kleinen Kreis, und jene Welle der geistigen und sinnlichen Kraft, der Hoffnung und künstlerischen Erneuerung, welche später, als schmale Unterbrechung die beiden Niedergangszeiten um 1880 und nach 1900 trennt, war damals noch nicht weit zu bemerken.
Der junge, blasse, von der Kameraderie an der Universität abgestoßene Student Meingast fühlte die gedankenlose Kameraderie einer ganzen Epoche. Irgendwo, in den zum ersten Mal beackerten Prärien Kanadas und Südamerikas, den Eisenbahnen, welche die Getreidefelder Rußlands erschlossen, staken die Hebel, deren Zusammenspiel die Ruhe, Sicherheit, das Selbstbewußtsein und die Leistungen seiner Zeit emporhoben – er wußte das nicht, aber er bemerkte in dem, was er täglich sah
und lernte, den unbegründeten Optimismus. In dem Lebensraum, welcher dem Menschen unserer Tage wie ein gut verwahrtes, modern eingerichtetes Zimmer vorkommt, gewahrte er die offenstehende Tür, welche ins Nichts hinausführt. So wurde Meingast zu einem jener Menschen, welche frühzeitig gewarnt haben und einen Ausweg zu weisen suchten.
Es ist, dem »Zivilisationszeitalter« die Leviten zu lesen, seither große Mode geworden; auch v. Arnheim, Diotima, Walther, Friedel Feuermaul waren davon angesteckt oder zumindest beeinflußt. Professor Meingast verachtete diese Art Mitläufer im Innersten; sein Weg hatte zur Kirche geführt. Die Festigkeit ihrer Dogmen erinnerte vorteilhaft an die geometrischen Axiome. Die seelsorgerische Forderung des Christentums begegnete seiner Neigung zur Pädagogik. Vielleicht war es auch eine Art von Angst vor der direkten Begegnung Gottes, die ihn zur Kirche führte, welche Gott hinter einem großen Apparat und dessen Dienern verbirgt, und ihn nur dem Verstand oder einem so abgeschwächten Erleben zeigt, wie es der Glaube an das Unsichtbare ist. Nicht minder wirkten Lebenzufälle mit. In der vorletzten Klasse des Gymnasiums, wo schon die Propaganda der Studentenverbindungen unter den Jungen einsetzte, hatten sich Meingast und vier andere unter dem Einfluß eines Religionslehrers zu einem christlichen Zirkel zusammengeschlossen, dessen Ziel nicht etwa fromme Übungen waren, sondern kühle, klare, bedächtige Kritik an dem offiziell von der Schule bewunderten antiken Heldentum, nicht minder wie an dem modernen Treiben; hier wurde aus dem innerlich bis dahin ängstlichen Burschen der christliche Aristokrat und Besserwisser. An der Universität in einen katholischen Verein
einzutreten, war natürlich Folge, und ehe Meingast die hohe Schule verließ, war aus dem Rekruten der christlichen Bewegung ein junger Mann geworden, der in der Offiziersliste evident gehalten wurde.
Meingasts Laufbahn hatte von da an einflußreiche Gönner, und es ist bekannt, daß die Bewegung, welcher er angehörte, einen in der Zeit der technischen und naturwissenschaftlichen Fortschritte ganz unerwarteten Aufschwung genommen hat. Meingast war bereits außerordentlicher Professor an der Universität und es waren starke Kräfte bemüht, ihn ganz von der Mittelschule weg an die Universität zu bringen. Der Tag, welcher ihm die Genugtuung brachte, daß ein so edles Geschöpf wie Agathe mit dem ersten Blick tiefstes Zutrauen zu ihm faßte, hatte ihm schon einen andren Triumph geschenkt:Seine Erlaucht Graf Bühl hatte ihn in einem eigenhändigen Schreiben zu einer Rücksprache eingeladen und Meingast wußte, daß dies den großen Absichten einer patriotischen Schule galt, welche Seine Erlaucht in der Parallelaktion verwirklichen wollte. Meingast war jener Mann, der in der ersten Vollsitzung, als die Ausschüsse gewählt wurden, eine kleine Rede über Geschichte und ihre Symbole gehalten hatte, und sah voraus, daß ihm in einem dieser Ausschüsse eine wichtige Rolle zugedacht war.
14.
Professor Meingasts Heim und Familienleben
In Professor Meingasts Wohnung gab es an keinem der Möbel etwas Überflüssiges, mochten sie im übrigen so geschmacklos sein, wie ein billiger
Anschaffungspreis es mit sich bringt; Meingast hatte auch seinen Möbeln gegenüber auf Strenge gehalten; selbst wo etwas weiblich Undiszipliniertes, ein Kreuzstichdeckchen, ein Polster mit Rosen, ein Unterröckchen von Lampenschirm, dieses Gesetz eigentlich brach, wurde es dennoch vom Geist des Orts eingefangen, gestrichen, dem Zweck eingeebnet. Das gab den Räumen einen eigenartigen Stil, der zu den vielen Büchern paßte.
Als Meingast seine Wohnung betrat, es war das Mittagbrot zwar bereit, aber obgleich er selbst sich um eine Viertelstunde verspätet hatte, fehlte Peter. Erst neun Minuten nach ihm traf Peter ein, dessen Schulunterricht schon vor anderthalb Stunden geschlossen hatte. Er hatte zwischen Schule und Mittagstisch rasch noch auf einen Fußballplatz sehen wollen, wo für ein Meisterschaftsspiel trainiert wurde, und war ein großer kräftiger Junge mit einem von der Verlegenheit gefleckten Gesicht, der zu seiner Entschuldigung einen großen Wortschwall losließ und seinen Vater furchtsam anschielte, wenn er glaubte, daß dieser es nicht merke, sonst aber sein Auge mit gemachtem Trotz geradezu in dessen Auge springen ließ. Seine Berechnung war, daß ein so unklug offener Mensch unmöglich für einen Lügner gehalten werden könne.
Meingast nahm schweigend alle Ausreden zur Kenntnis und sprach während der Mahlzeit nur Worte von allgemeinem Wert oder der Teilnahme an Peters Studien, welcher sich jetzt in der vorletzten Klasse des Gymnasiums befand und vor Jahren einmal durchgefallen war. Peter wußte genau, daß sein spätes Kommen heilige Überzeugungen verletzt hatte und sein Vater bis an den Rand voll mit Tadelsworten war, welche auf alle logisch und
empirisch nur möglichen Weisen bewiesen, daß man nicht im Kleinen schlecht sein könne, ohne es auch im Großen zu sein.
Peter haßte das Studium, das geordnete Denken bloß wegen dieser Beweise. Er war denkfaul aus Wut. Er spie auf die Moral und die Religion. Er hatte nur Angst vor des Vaters Strafen, die ihn lächerlich machten; er hatte das Gefühl, mit einem Narren zusammen zu sein und ihm Verehrung erweisen zu müssen. Er verstellte sich, so sehr er konnte.
Aber Professor Meingast begann mit den Vorhaltungen nicht, sondern blieb geradezu marternd unverändert. Er vergaß seinen Sohn zu tadeln, obgleich sich seine Gedanken während dieser Zeit mit ihm beschäftigten. Dieser Sohn war die zweite Prüfung, die ihm nicht erspart worden war; er machte ihm ernste Sorgen; die erste Prüfung war Peters Mutter gewesen. Heute wußte Meingast, daß es ihm gelingen werde, doch noch etwas Rechtes aus ihrem Sohn zu machen; brauchte nicht gleich damit zu beginnen, konnte sich in seiner Gewißheit Zeit lassen; sprach aufgeräumt, zerstreut und dachte an das Erlebnis, das ihm gesandt worden war, um ihn in seiner Kraft zu bestärken. Peter rutschte auf dem Stuhl hin und her; die Mahlzeit endete nicht; es mußte noch kommen. Endlich schlug Vater das Kreuz. Und Peter entkam.
Prof. Meingast blieb wider seine Gewohnheit noch im Zimmer. Er schritt auf und ab. Er ließ seinen Blick über eine gewisse Partie seines vergangenen Lebens schweifen. Er war nicht jederzeit das gewesen, was man den Herrn im eigenen Hause nennt; erst nach und nach war es ihm gelungen, dieses mit den Wellen ruhiger Energie und
Vernunft in allen Winkeln zu durchdringen. Seine nun verstorbene Frau, die »edle Mutter«, von der er zu Peter sprach, hatte ihm darin hartnäckigen Widerstand geleistet. Peter erinnerte ihn in vielen Beziehungen täglich an sie. Aber er, der, nun den eigenen Willen prüfend zu belasten, heute zu Peters Verfehlung geschwiegen hatte, durfte sich wahrhaft sagen: »Welch beißendes und bellendes Treiben stellt meist die sogenannte männliche Energie dar. Güte ist ebenso notwendig wie Festigkeit und sie kommt nur aus langjähriger Willensübung und moralischem Mut.« Seine Frau hatte dafür niemals Verständnis und Anerkennung gehabt. Er war einsichtig genug, um sich nicht zu verhehlen, daß sie die »klägliche Mischung aus Brutalität und Schwäche«, wie sie ein falscher, ein wenig leichtsinniger Mann darstellt, wahrscheinlich vorgezogen hätte. Sie hatten beide übereilt geheiratet. Sehr häufig hängt die Blindheit und Unsicherheit des Urteils über das Wesen des andren Geschlechts damit zusammen, daß man nicht ernsthaft auf das Echte und Unvergängliche gerichtet ist, sondern heimlich und verschämt dem Scheine huldigt. In der dadurch verwirkten lebenslänglichen Bindung sah Meingast eine sehr schwere, aber unvermeidliche Strafe.
Er nahm sich vor, Agathe darauf aufmerksam zu machen. Man braucht nicht zu verzagen. Denn ist dem so, so wird dadurch die Ehe erst das geeignetste Terrain zur Beruhigung und Meisterung der selbstischen und leidenschaftlichen Instinkte, zum Schlachtfeld, wo der Mensch die Herrschaft über seine Triebe ersiegt.
Seine Frau war rotwangig und untersetzt. Vergeblich war es ihr gesagt: Echte Demut gibt selbst reizlosen Gesichtern eine viel edlere Schönheit als Putz
bei innerer Häßlichkeit. Vergeblich: daß man niemals gegen Enttäuschungen gefeit ist, solange man sich nicht innerlich gereinigt hat von aller Empfänglichkeit für das betrügerische Spiel äußeren Scheins und vergänglicher Vorzüge. Sie betrog ihn nicht mit Männern, aber sie gab Geld für Tand aus, das für die Wirtschaft bestimmt gewesen war, und belog ihn mit Ausreden. Und wenn er – dem schönen Grundsatz getreu, daß der Schutz des Schwachen die wahre Hygiene des Starken sei – ihr sanftfeste Vorwürfe machte, lohnte sie es ihm mit Verachtung.
»Du bist ein Wüstling, ein Lebemann der inneren Schönheit!« rief sie ihm einmal zu und ahmte seine Gebärden der selbstlosen Hilfe und Verantwortlichkeit in äffischem Zorne nach.
Und Meingast wußte voll Kummer, daß er den entscheidenden Sieg in diesem Ringen noch nicht gewonnen hatte: gegen den Sohn, der in vielen Zügen der Mutter glich. Er rief »Peter!« Aber Peter war entronnen. Durch Agathe war alle Ordnung ein wenig verwirrt. Professor Meingast straffte sich. Es galt, dem dumpfen Druck des Geschlechtstriebs geistiges Ehrgefühl entgegenzusetzen. Furchtbare Jahre lagen hinter ihm; die nervösen und seelischen Depressionen, welche seiner Meinung nach vom sinnlichen Verkehr unzertrennlich waren und gerade tiefer empfindende Menschen am stärksten heimsuchen, waren durch keine Achtung der Menschlichkeiten gemildert gewesen; dennoch hatte er diese Leiden standhaft getragen. »Was wir brauchen,« sagte er sich »ist der heroische Vormarsch wahrhafter Männer, die durch ihr persönliches Leben Zeugnis ablegen für die Übermacht des Geistes und die mit festem Vorbild und Bekenntnis eindringen in das Reich der Knechtschaft!«
15.
Lindner
Anders kam zu Walther und Clarisse hinaus. Es war viel Zeit vergangen seit Clarisses Besuch bei ihm. Als er sich dem Hause näherte, fühlte er an etwas Unausdrückbarem, daß auf der andern Seite, hinter der sonnenheißen Planke, welche die Gemüsebeete abschloß, ein Mensch war. Er bog nicht in den Vorgarten ein, sondern ging dahin. Sein Herz hatte richtig geraten: es war Clarisse; sie stand mit dem Rücken zum Haus, sehr steif, und blickte weit weg, ohne etwas Bestimmtes zu sehen. Sie machte nicht den Eindruck eines Menschen, der eine Pose bewußt einnimmt, wohl aber unbewußt und zwanghaft; ihre Haltung war die unwillkürliche äußere Kopie einer Vorstellung von persönlicher Bedeutsamkeit, die sie innerlich beschäftigte. Als Anders sie anrief, drehte sie sich langsam der unerwarteten Stimme zu; er bemerkte sofort, daß sie enttäuscht war. Anders, der aufgeglüht war, glaubte zu kaltem Stein zu erlöschen. Er erriet, daß sie gewartet hatte, aber nicht auf ihn. Lindner war da und Clarisses Phantasie hatte Anders vergessen.
Lindner wohnte schon seit einiger Zeit bei Walther und Clarisse, die neben ihrer Wohnung ein leeres Zimmer auf dieser Schmalseite des Hauses besaßen, dessen Fenster gerade dorthin sah, wo Anders seine Freundin gefunden hatte. Irgendwo hatten die Eheleute noch eine alte eiserne Bettstelle aufgetrieben, ein Küchenschemel und eine Blechschüssel dienten als Waschtisch, sonst standen in dem Raum, der keine Vorhänge besaß, nur noch ein leerer Geschirrschrank, in dem Bücher lagen,
und ein gehobelter kleiner Tisch. An diesem Tisch saß Lindner und schrieb; er wußte, daß Clarisse unter seinem Fenster stand – sein Wille war in sie gefahren, ohne daß sie ihn sich zu eigen machen konnte. Es arbeitete sich vorzüglich in solcher Lage; Lindners schöne, dunkle Augen glühten, die Feder wurde von unheimlicher Kraft über das Papier getrieben, die Flügel der schmalen, scharfen Nase bebten wie die eines edlen Hengstes. Es war eines der wichtigsten Kapitel des neuen Buchs, zu dem er heute gekommen war; das Buch übrigens sollte man nicht Buch nennen, es war ein Aufruf, ein Befehl, ein Gestellungsbefehl für neue Menschen. Als Lindner neben Clarisse eine fremde Männerstimme hörte, unterbrach er die Arbeit und ging hinunter.
Anders und er waren alte Bekannte, aber Lindner hatte sich überraschend verändert. Er hatte die Jahre seiner Abwesenheit zwischen jenen Emigranten des Geistes aller Länder verbracht, welchen die Schweiz Aufenthalt bietet, und war dort ein anderer Mensch geworden. Wie man so sagt. Es gibt Naturen – krankhafte, aber auch starke – welche wie aus zwei oder mehreren fast gleich schweren Flüssigkeiten gemischt sind: eine kleine Erschütterung genügt und etwas, das bis dahin unsichtbar war, steigt auf und verdrängt die alte Oberfläche. Anstelle des jungen eleganten Menschen war ein Mann zurückgekehrt, in dessen Taschen Bücher Platz fanden, der Anzug war bequem, unverwüstlich, man warf sich morgens hinein und trat abends heraus, der frivole, etwas seichte, genußsüchtige Mensch war, als der Geist in ihm erwachte, gleichgültig gegen Frauen geworden wie Abälard nach der Kastration und trug einen kriegerisch asketischen Ausdruck im Gesicht, der unmittelbar auf die Phantasie wirkte.
Clarisse hatte Anders in der Eile erzählt, daß Lindners Schriften großen Erfolg hatten und in der Schweiz bereits Anhänger und Freunde sich um ihn scharten. Weshalb er hier war, wußte sie nicht genau, es hing mit der »Bewegung« zusammen; er hatte in der Schweiz bereits Männerbünde organisiert, das war geheimnisvoll und sie wußte nichts Näheres.
Da auch Walther herabgekommen war, gingen sie gemeinsam zu dem Hügel mit Kiefern, der mittwegs zwischen dem Haus und der Waldgrenze lag; Clarisse mit Lindner voraus. Anders konnte sofort bemerken, daß Walther sehr eifersüchtig war; es war jetzt jene verzweifelte Eifersucht, welche die Überlegenheit des andren anerkennen muß; Lindner schien auf Walther wie Clarisse rasch einen ungeheuren Einfluß gewonnen zu haben.
Als sie angelangt waren, war Lindner entzückt. Die Kiefernwipfel schwebten, wenn man an den rötlichen Stämmen hinaufsah, dunkel im Blau; es waren harte Farben, die sich Platz und Respekt nebeneinander schafften; unter ihnen lag die weibliche Weichheit der Landschaft; ein kleiner Felsbruch in den Wiesen, auf dem ein paar Schafe grasten, sprang wie ein Odysseisches Kap ins Luftmeer: »Ein Ja, ein Nein; eine gerade Linie: Formel meines Glücks!« zitierte er aus Nietzsche, und Clarisse, die auf dem Rücken lag, antwortete, ins Blau weisend: »Das Verhängnis über sich haben! Grausame Heiterkeit!« Lindner wußte schon, was sie meinte! Sie und auch Walther waren schon tagelang in Gesprächen, und Anders vermochte sie so wenig einzuholen wie Menschen, die in einen Urwald gegangen sind. Lindner schien auf die Verständigung mit Anders auch keinen Wert zu legen, denn er
setzte ohne alle Rücksicht sein Gespräch fort, als die andren anlangten. Er erklärte in diesem Augenblick, daß die Musik nicht nur eine irdische, sondern auch eine Erscheinung aus dem Jenseits sei. Ich glaube, es lief wohl darauf hinaus, daß die Musik, wie man heute sagen würde, »gegenstandsfrei« ist – es kommt aber nicht darauf an, in dem Durcheinander, in dem wir leben. Nicht die Musik der »Erotiker« sagte Lindner, noch die Musikautomaten- und Kapellmeistermusik, sondern jene, »die plötzlich, wie ein Regenbogen von einem Ende zum andren, in der Welt ist, strahlend, gewölbt, ohne Vorankündigung – eine Welt auf klirrenden Flügeln, eine Welt von Eis, die wie ein Hagelschlag in der anderen schwebt.«
Walther und Clarisse horchten geschmeichelt auf.
Er erklärte es ihnen, in Eifer geraten, an Beispielen der alten, italienischen, noch gesunden Musik, er pfiff es ihnen vor; er war bald aufgesprungen, stand wie ein Pfahlfetisch in den Wiesen, langgliedrig die beschreibende Hand, das Wort wie eine Türkenpredigt. Das war nun schon nicht mehr nur Kunst oder ästhetischer Meinungsaustausch, sondern Lindner pfiff metaphysische Beispiele, absolute Gestalten aus Tönen, die nur in der Musik vorkommen, sonst nirgends in der Welt. Er pfiff Bewegungen aus Trauer, Zorn, Liebe, Heiterkeit, forderte Clarisse und Walther auf, was sie an Liebe, Zorn, Trauer, Heiterkeit kannten, zu prüfen, wie weit es dem gleiche, und erwartete von ihnen, daß sie wie vom Ende einer abgebrochenen Brücke die unfaßbare melodische Figur davonschweben sehen müßten.
Was auch geschah.
»Und das ist es« sagte er; die Kunst mit einer Handbewegung weit hinter sich schiebend, die nur ein Fragment ist: »Trauer, Größe, Heiterkeit oder was immer ihr nehmt, ist nur die irdische, tönerne, hohle Bezeichnung für Vorgänge, die ja, wie wir alle wissen, weit mächtiger sind als das, was unser Verstand von ihnen erfaßt. Nehmt nur das Eingeständnis, das wir damit machen, daß wir solche Erlebnisse ›unausdrückbar‹ nennen: wir pressen ihnen einen Tropfen aus, und sie eilen wie dunkle Wolken davon; hinterdrein behaupten wir, der Tropfen seien sie gewesen! Nein, es gibt nur eines: Systematisch geübte Gewaltsamkeit. Dies ist das einzige Mittel, über das die vom Humanitarismus verblödeten europäischen Völker verfügen, um ihre Energie wiederzufinden!!« So schloß er.
Denn das war ja seine Lehre vom Wollen. Nicht von jenem Willen etwa – hatte er gleich im ersten Gespräch gewarnt –, der in dem Vorsatz besteht, ein bestimmtes Geschäft aufzusuchen, weil dort das Notenpapier billiger ist, oder ein Gedicht zu machen, das arhythmisch sein soll, weil bisher alle Gedichte rhythmisch waren oder einen Vordermann aus Neid niederzutreten: im Gegenteil, das ist gebrochener Wille; das sind die kleinen Kaskaden und Willensschaum, welche bloß die vielen heute im Weg liegenden Steine verursachen. Daß darauf das Wort Wille überhaupt angewendet wurde, sei ein Zeichen, daß sein Sinn heute nicht mehr erlebt werde. Lindners Wille? Er beschrieb ihn zum Beispiel an Napoleon als stete ununterbrochene Aktivität, eine Art geistige Verbrennungserscheinung wie das Atmen, die unaufhörlich Wärme und Bewegung erzeugt. Für solche Naturen sind Stillstand und Umkehr gleichbedeutend mit Tod. Oder er
nannte ihn den Willen der mythischen Urzeiten; als das Rad erfunden wurde, das Feuer, die Religion – Erfindungen, gegen deren aus dem Nichts aufgestiegene Größe Flugmaschine und Eisenbahn gering sind; bei Homer lassen sich noch die letzten Spuren dieser Willenseinfachheit finden.
Mochte dieses Gespräch auch für Ohr und Verstand manchmal etwas wunderlich erscheinen, mit Auge und Gefühl verhält es sich anders. Mochte die Musik Wille sein oder der Wille Musik – in einer philosophischen Entfernung, wo ohnedies alles eins ist – darauf kam es Clarisse nicht mehr an als auf eine große Höhe, welche immer es sei, aus der sich das Gespräch herabstürzte. Sie fühlte das Sausen, und es begeisterte sie. Trauer, Liebe, Heiterkeit waren in ihr aufgestört und schwammen ungelöst in umgerührtem Gefühl. Tränen und Lachen flimmerten unverständlich und sinnlos in Clarisse. Finger- und Armgelenke spielten kaum merklich, als ob sie ein unsichtbares Instrument vor sich hätten; man sah, wie die junge Frau den prophetischen, vagen Willen jenes Mannes in ihren eignen, leibhaften übersetzte, und daß die Wirkung, die er auf sie ausübte, dem Wesen eines Tanzes verwandt war. Sonderbare Dinge wurden ihr klar, Lichtschauder eines milchblauen Sommermittags, grausame Ruhe des Sternentanzes in hoher Nacht: das waren Erlebnisse ohne Überlegung und Vorbereitung, die manchmal über sie kamen und ohne Antwort, ja eigentlich ohne Inhalt blieben. Zwischen Walther und ihr oft ein Gespräch –: plötzlich wie in einem Boot, das über eine unendliche Tiefe weggleitet; den Worten nach würde das ein Andrer gar nicht verstehn. Wenn sie Musik machte, so gut sie es vermochte und gewiß heute noch schlechter als ein
Konzertspieler, preßte sich doch oft etwas Titanenhaftes, eine namenlose Spannung, ein noch namenloser Mensch, größer als es die größte Musik fassen kann, gegen die Grenzen des Instruments: Dies war nun alles das Gleiche, das große Außer-Ich, das Große im Ich, das Große ohne Worte, ohne Maß, noch ohne irdische Form und Gestalt! Clarisse funkelte.
Als Lindner ausgesprochen hatte, drehte er sich um, pflückte ein Büschel Gras, sah unschlüssig nach der Sonne und ging steif davon. Er hatte offenbar keine Angst vor Gegenargumenten Anders’ und kein Interesse für sie. Anders wunderte sich darüber, daß Walther und Clarisse die völlige Verkehrung von Lindners Wesen und in der Rangstellung ihnen gegenüber wie ein Schicksal hinnahmen, aber er schien sie ganz seinem Einfluß unterworfen zu haben, und sie blickten zu dem auf, auf den sie früher stets ein wenig herabgesehn hatten. Wahrscheinlich – dachte Anders – geht dies von Clarisse aus und von ihr auf Walther über, der sich der gigantischen neuen Energie des untergebenen alten Freundes nicht gewachsen fühlte. In Wahrheit war es nur halb so. Walther war eifersüchtig auf die Größe des alten Freundes, aber er und Clarisse waren beide gleich stolz auf ihn, der doch auch als ihr eigener Sendbote mit Ruhm beladen aus der Welt zurückkehrte.
Anders wollte Walther zuhilfe kommen; aus alter Freundschaft, vielleicht auch ein wenig aus Ärger über Clarisse. Er mochte diese frei herumlaufenden Dichterphilosophen nicht leiden; die akademischen Denker hatten in seinen Augen wenigstens den einen Vorzug, daß sie nicht feucht und trunken sind, sondern trocken und nüchtern. »Solche Theorien« sagte er, etwas scheinheilig »sind eigentlich
ungeheure Glücksmaschinen. Sie schöpfen das Ungestaltete aus den Herzen in Scharen von Worten. Ziehen diese zu einem ungeheuren Berg zusammen. Und man sitzt oben. Aber natürlich stimmt das alles nicht im Geringsten.«
»Weißt du,« sagte Walther »es kommt nicht immer darauf an, daß etwas ›stimmt‹; es gibt wohl noch andere Werte. Übrigens weiß Lindner ungeheuer viel; bloß ist er darüber auch schon hinaus!«
Danach gab Walther sich wieder der schweigenden Überlegung hin, wie er doch noch über Lindner hinausgelangen würde, wenn … Und Clarisse hatte gar nicht hingehört; sie schwang wie ein Wipfel, den ein Vogel verlassen hat. Anders fühlte sich tief unten am Fuß des Glücksbergs als ein kleines Kribbelndes mit lächerlich scharf gebügelten Falten des modischen Anzugs.
16.
Anders verändert
Mit Anders ging in dieser Zeit eine folgenschwere Veränderung vor sich. Man findet Spuren davon in den vorangegangenen Wochen angedeutet. Wie jedoch die Anlagen Anders’ beschaffen waren, entwickelte sich die Entscheidung stürmisch und ohne Rücksichten auf menschliches Maß. Direktor Fischl nannte es einen Anfall von religiösem Wahnsinn. Wie immer dem sei, es war einer der kühnsten Versuche, eine feststehende geistige Ordnung zu durchbrechen.
Es begann mit seinem Gegenteil. Anders rührte seit Jahren kein Pferd mehr an, aber als junger
Bursch hatte er Rennen geritten und schwere Hindernisse genommen. Es ist nun ein alter, und sogar bis zu einem gewissen Grad wahrer Grundsatz der Kavalleristen, daß der, welcher ein Pferd richtig zu behandeln versteht, auch mit jeder Frau und überhaupt mit jedem Menschen fertig werde. In der Tat ruht das Reiten genauso wie das Leben weniger auf dem Gebrauch von Peitsche, Zügeln, Schenkeln und Sporen als auf deren lediger Anwesenheit und Bereitschaft; zu dem Vorhandensein roher Droh- und Züchtigungsmittel gesellt sich leidenschaftslose Sachlichkeit und schafft jene Suggestion der Freiwilligkeit, jenen freudigen ehrgeizigen Ernst, der zwischen Pferd und Reiter, Führern und Geführten herrscht. Auch die Lebenslehre des Christentums ist, wie sie sich heute entwickelt hat und von Professor Meingast vertreten wurde, obgleich er sehr empört über den Vergleich gewesen wäre, voll von dieser Peitschen- und Zügelphilosophie, was sie aber von den Kavallerieoffizieren trennt, besteht darin, daß diese alle Machtmittel aufwenden, um sich und das Pferd halsbrecherischen Rekorden auszusetzen, während die Kirche den gleichen Aufwand darauf richtet, den Menschen in einem mittleren, genielosen, selbst religiös genielosen Zustand zu erhalten. Anders bemerkte nun zunächst, wieviel ihm noch mit seiner Offizierszeit gemeinsam war; er trug zwar den Kopf keines Pferdes mehr zwischen den Fäusten durchs Tal, aber er liebte rasende Motorräder, rußende Schornsteine, kreischende Schienen, Ungerechtigkeit, Härte, Unübersehbarkeit. Genau gesagt, er fand sie abscheulich, aber er freute sich darüber, daß sie da waren. Mit einem Wort, er liebte den Rekord, welchen unsere Zeit an äußerer Energie, Intelligenz und Häßlichkeit
aufgestellt hat, weil er instinktiv darin die Hochspannung erriet. Aus diesem Grund verabscheute er alle die zahlreichen Reformvorschläge, welche die Zeit edler, schöner, christlicher, harmonischer, philosophischer, gerechter, liebevoller, gesünder oder in irgendeiner Weise »besser« machen wollen; ihre Vertreter kommen ihm vor wie Menschen, die auf einem wilden Pferd sitzen und zu diesem »Bruder Pferd« sprechen »bitte geh sanfter« – er war überzeugt, daß beide nur die Knochen brechen können. Wohin diese Zeit durchgegangen sei, wollte er damals nicht wissen; reiten, daß die Haare fliegen, ohne zu wissen wohin, gehört wahrscheinlich zu jeder Zeit, die ein Ziel hat.
Anders selbst lebte seit langem nicht wild. Ja, er mußte eigentlich jedes Mal lachen, wenn ihm einer der literarischen Versuche – welche ebenso zahlreich sind wie die Mahnungen zum Guten – in die Hände kam, worin den Menschen von heute das direkte Bild großer, bewegter, leidenschaftlicher, nicht zivilisierter, sondern heroischer Zeiten vorgeworfen wird. Wildheit ist heute Gemeinheit. Leidenschaft Gerichtssaal. Heroismus Feuerwehr. Nicht degeneriert dazu, sondern man fühlt, daß diese Verminderung irgendwie aus dem innersten Wesen der Sache kommt. Ein unbekannter wichtiger Grund dafür ist vorhanden.
So waren die Wildheit, das Böse, das Mißtrauen gegen die Seele in Anders nur ein unbestimmtes Grundgefühl, das sich in den verschiedensten Formen Ausdruck verschaffte. Sein Glaube, daß die Zersetzung aller festen Werte selbst ein Wert sei, sein Vorschlag, daß man eine mathematische, funktionale Moral anstelle der alten setze; sein rücksichtslos analytischer Standpunkt gegenüber
geheiligten Gefühlen; die soziale Skepsis; das Prinzip des unzureichenden Grundes, das ihm gefiel …: in all dem drückte sich nicht so sehr eine feste Theorie als ein Lebensgefühl aus, dessen Profil immer schärfer wurde. Ein Lebensgefühl der Indefiniten und Tapferen. Seine Skepsis war gegen das zu früh Fertige und Weichliche gerichtet.
Ohne Zweifel – zumindest nach der Ansicht von Arnheim, Diotima, Meingast, Hagauer – wäre Anders verpflichtet gewesen, diese Fragen so weit zu durchdenken, als ihm nur möglich sei, und ein Buch darüber zu veröffentlichen. Was wäre damit erreicht worden? Ein Buch unter Millionen Büchern mehr, eine Stimme mehr unter den zehntausenden, welche der deutsche Buchhandel alljährlich auf den Nachtigallenmarkt bringt. Wie jeder junge Mann wollte Anders einmal wenn auch nicht Schriftsteller, so doch ein Rollenträger auf dem großen geistigen Theater werden; es gibt außer der angebornen Stumpfheit und Müdigkeit nichts, was dem Menschen so natürlich wäre als dieser Ehrgeiz. Anders wurde jedoch immer gleichgültiger dagegen. Die Hoffnungslosigkeit, sich durchzusetzen (außer man verwendet den größeren Teil seiner Anstrengungen auf die Reklame statt auf die Leistung, Generation Feuermaul!), welche den jungen Deutschen entweder unterdrückt oder zu Exzentrizitäten verleitet, hatte sich auch ihm fühlbar gemacht.
Das deutsche Volk hat keine Genies mehr, sagten Arnheim und Diotima; die Menschheit braucht keine Genies mehr, sagten Schmeißer und Meingast.Die heutigen Deutschen und das Genie: Sind in einem mißlichen Verhältnis dazu; sie vermissen es oder leugnen es sehnsüchtig. Eine Generation vorher war jeder Zeichenlehrer ein Genie. Leona hatte
noch ein Gesicht aus dieser Zeit. Und Leo Fischer glaubte an Genie, was letzten Endes die Möglichkeit war, rücksichtslose Geschäfte zu rechtfertigen. Für Direktor Fischer war selbst Leona nicht einfach schön, sondern ein Genie von Schönheit. Anders hatte neuestens Gerüchte von gewagten Spekulationen Fischers gehört. Aber in einem Volk, welches sich für Geist nicht interessiert, können keine Genies erwachsen, Hans Tepp machte verzweifelte Anstrengungen, um Boden zu finden. Anders behauptete, man könnte Genies in der Schule erzeugen, wenn nicht alles so verzweifelt wäre. Die Lehre von den Persönlichkeiten statt vom Geist. Der Mangel eine Tradition; immer nur Goethe oder dergleichen.
In diesen wilden, aufgeregten Zustand senkte sich nun etwas Mildes, Agathe. Die Sehnsucht nach Gott in der Kindheit. Die Vernunft gewährt ihr nicht den billigen Kredit des Glaubens. Es ist bloß wie das Meer oder die Luft, die an die Erde grenzen, bevor man ihre andre Grenze kannte.
17.
Agathes Scheidungsangelegenheit
Agathes Mann, Professor Hagauer, hatte bemerkt, daß seine Frau nicht zurückkehrte. Bekannte fragten, wie man es aus Höflichkeit tut: wo ist Ihre Frau Gemahlin? Später: Wie geht es der gnädigen Frau? Noch immer durch den traurigen Anlaß festgehalten? An der Zeit, welche zwischen zwei Konferenzen lag, bei denen er auf die gleichen Leute stieß, merkte er, wie lang es schon dauerte. Dazu kam ein Eingeweidegefühl, ähnlich dem Hunger, welcher
den Ausfall einer Mahlzeit meldet. Aber Hagauer hatte viel zu tun; neben Schulverpflichtungen und Sitzungen verschiedener Vereine brachte jeder Tag durch die Post Korrekturen seiner neuen Arbeit über moderne Erziehung und an die fünfzehn Briefe mit Einladungen, Aufforderungen, Anfragen, Zustimmungskundgebungen.
In dieser Post lag eines Tags Anders’ unvorsichtiges Schreiben. Der erste Eindruck war: Nicht ernst nehmen, eine Laune! Die Nachricht lag wie ein äffender Spuk im taghellen Getriebe wichtiger Arbeiten.
Aber es kam ein zweiter Brief, in dem Anders mitteilte, daß Agathe auf der Scheidung beharre und Hagauer damit auffordere, die nötigen Rechtsschritte in jeder Weise zu erleichtern, wie es sich für einen Mann seiner geistigen Höhe verstehe, und damit die üblen Begleitumstände eines Rechtsstreites vermieden werden könnten.
Nun nahm Hagauer »den Fehdehandschuh« auf. In Hagauers Leben hatte »das System der zehn Punkte« noch jedes Mal Erfolg gehabt. Es bestand darin, daß er jede Frage, die ihn beschäftigte, in eine beschränkte Anzahl ihm geläufiger Fragen auseinanderlegte, so wie man abends die einzelnen Bestandteile seines Anzugs auf den Stuhl beim Bett legt, um morgens mit dem geringsten Zeitaufwand in die Kleider zu finden; eine Systematik wie sie ähnlich auch sein katholischer Kollege Meingast an-wandte. Was ihn aber von jenem unterschied, war dies: Meingast wandte die Systematik auch, und vor allem auf sein Gefühlsleben an. Ein strenges Reglement erlaubte und befahl ihm seine Gefühle, in Zweifelsfällen aber war das Denken dazu da, um durch genaue Anwendung das rechte Gefühl zu
erkennen. Das gab nicht nur eine beneidenswerte Sicherheit in allen Fragen des Lebens, sondern balancierte auch auf das wohltätigste den irregulären mystischen Einschlag aus, der in Meingst wie in allen wahrhaft religiösen Naturen ursprünglich vorhanden gewesen war. Hagauers Systematik dagegen war auf den Verstand beschränkt und überließ die Fragen der Moral – wie es unter wahrhaft zeitgenössischen Menschen allgemein üblich ist – dem »rechten Gefühl«, welches eine Mischung aller derzeit in der weißen Rasse überhaupt möglichen und in Umlauf befindlichen Gefühle darstellt, mit einem gewissen Aufschlag der lokal professionell, dem Stande nach und dergleichen nächstliegenden. Die zehn Punkte Hagauers versagten deshalb in dem Augenblick, wo er sie auf das sonderbare Verlangen seiner Gattin, sich von ihm zu scheiden, anwandte. Das rechte Gefühl ist in diesem Fall geteilt; zwar wird da ein moderner Mensch durch sehr vieles verpflichtet, ohne weiteres einzuwilligen, aber wenn man nicht will, gibt es auch sehr vieles, was von dieser Verpflichtung freispricht. In solchen Fällen hält man seine Gedanken an, hört auf die Stimme des tiefen Inneren, und nach einer Weile antwortet sie genau das, was man zu hören wünscht. In Hagauers Fall war die Antwort: Schließlich brauche ich mir das doch nicht bieten zu lassen.
Hagauer setzte sich hin und schrieb einen Brief, in dem er Agathes Rückkehr als Vorbedingung jeder weiteren Auseinandersetzung verlangte.
Hatten hier die zehn Punkte also schließlich auf einem Hagauer weniger geläufigen indirekten Weg einen Erfolg, so wuchs dieser Erfolg zu seiner eigenen Überraschung, als er danach trachtete, seine Gattin zu verstehn. Denn dieses Trachten war
unvermeidlich, da es unbedingt unverständlich war, wie man Hagauer verlassen konnte. Er prüfte sich und fand keinen Einwand gegen sein Verhalten. Agathe war ohne das geringste Anzeichen abgereist; die entscheidende Frage war, was konnte innerhalb weniger Tage vorgegangen sein, das eine solche Sinnesänderung erklärte? Für diese Frage sind wenige Antworten vorgezeichnet und es ist per exclusionem leicht, die richtige zu ermitteln. Ein anderer Mann kam neben Hagauer nicht in Betracht; wenigstens nicht ohne daß man besondre Annahmen über Agathe machte. Eine lang aufgesparte Handlung voll aufgespeicherten Negationsaffekt? War der immer etwas gleichgültigen und eigentlich lenksamen Agathe nicht zuzutraun. Also blieb nur – aber das kam nicht gleich, sondern wurde durch das Geschiebe der Gedanken immer deutlicher herausgehoben – die Annahme übrig, daß Agathe – und etwas davon hatte er immer in ihr gefühlt! – wenn nicht einfach unüberlegt, so aus Überlegungsdefekt gehandelt habe, und das leuchtete nun immer klarer vor ihm, wenn er sich Agathes Wesen und Gehaben in Haus, Ehe und Verkehr mit Menschen vergegenwärtigte, daß etwas an ihr war, was nicht zu ihm und andren Menschen stimmte, aber diesen auch nicht widerstritt, sondern sich verbarg, eben genauso wie etwas, das man als etwas zu Verbergendes kennt: es war Hagauer mit einemmal bewußt, daß Agathe etwas Psychopathisches, einen moralischen Defekt, etwas Desequilibriertes in sich verberge.
Und hatte man einmal diese Annahme gemacht, selbst als den flüchtigsten Gedanken, war, ebenso flüchtige Möglichkeit, denkbar, daß – auffallendes Fehlen einer letztwilligen Verfügung, obgleich diese in deutlichster Weise zugesichert worden war! –
eine nicht ganz feste moralische Gesundheit auch mit dem Testament etwas vorgenommen haben …?
Es trafen von Hagauer Briefe bei den Geschwistern ein, in denen er – als Sachwalter Agathes, der er immer noch sei – und gerade unter den jetzigen Umständen, welche größte Sachlichkeit forderten – eine genaue Aufstellung und Belege für die Nachlassenschaftsbehandlung verlangte.
Hier beging Anders den zweiten Fehler. Er hätte eine Aussprache mit Hagauer herbeiführen müssen, aber er hatte soviel Widerwillen gegen ihn, daß er lieber einem Rechtsanwalt den Auftrag gab, die ersten Kampfschritte einzuleiten. Als er dem Rechtsanwalt die nötigen Informationen gab, hatte die Darstellung des letzten Willens, welche Agathe erfunden hatte, schon so viele Beziehungen zur Wirklichkeit gewonnen, daß sie wirklich klang und Anders ganz erstaunt war, weil ihm das Bewußtsein der Niedertracht fehlte. Ich wünsche natürlich, Anders in Schutz zu nehmen, aber vorläufig läßt sich nur daran erinnern, daß er die Eigenschaft besaß, durch eine Handlung hindurch oft etwas anderes zu meinen. Das ist auch bei andern Leuten, die Verbrechen begehn, nicht selten ebenso; besonders bei armen, welche, wie man sagt, nicht die nötige sittliche Einsicht haben und etwa einen Diebstahl begehn in der ganz ehrlichen Überzeugung, daß es der Bestohlene gar nicht merken wird, so viel besitzt er; sie meinen, bloß einen kleinen Possen zu spielen. Aber in Anders war damit ein ungewöhnlich starkes, wenn schon nicht moralisches, jedoch so intellektuelles Gewissen verbunden, auch der Stolz eines kriegerischen jungen Geistes, welche Gültigkeit für seine Handlungen forderten, und wahrscheinlich ist das eine der sichersten
Unterscheidungen zwischen den Verbrechen aus moralischer Minder- und Überwertigkeit.
In der letzten Zeit hatte diese Koerzetivkraft in Anders merklich nachgelassen. Kein Verlangen mehr, Eindrücke zu einem Bild der Welt zu schmieden. Man hätte eher sagen können: Bruchstücke verschiedener Bilder – ein Zerfall der Welt in Welten – oder Glieder neuer Welten, die kein Ganzes werden. Der Glaube an die Einheit gelockert.
Die gut eingeübte Behendigkeit des Rechtsanwalts bereitete ihm Vergnügen. Dieser Mann fragte nicht – immerhin hätte Anders ja ein Betrüger sein können – ob die Dokumente der Nachlassenschaft in Ordnung seien, er nahm es ohne weiters an und lächelte sofort über den Querulanten Hagauer, der damit einen neuen Beweis seiner unverträglichen Natur lieferte. Da Anders nicht nur Trennung, sondern eine vollkommene Ehescheidung verlangte, wie sie der katholische Staat nicht zuläßt, spielte der Prozeß alsbald über mehrere Staaten. Agathe mußte die Staatsbürgerschaft wechseln. Um sie mit der des Staates vertauschen zu können, wo die Scheidung möglich war, mußte sie erst die zweier andren Staaten erwerben und ablegen, in jedem Staat waren Helfer des Rechts bereit, die sich die Angelegenheit in die Hände reichen mußten, in jedem der Staaten bekam Agathe einen Vater, der sie adoptierte, ohne daß sie ihn je sah, da einen Winkeljuden, dort einen armen Bauern, in einem dritten Fall einen Schreiber aus der Advokatenkanzlei, in jedem der Staaten mußte sie Eide schwören, welche voll ehrwürdiger Anrufungen und heiliger Begeisterung waren, jeder Bescheid, den sie erhielt, hatte die Würde des Rechts und einer großen Überlieferung, und dieser ganze Apparat wurde in Bewegung
gesetzt und erhalten durch eine ganz bestimmte und nicht einmal allzugroße Summe Geldes, welche der zentrale Rechtsanwalt als voraussichtliches Pauschale angab. Als dieser Plan vor Anders entwickelt wurde, konnte er der Freude über den Gegensatz nicht einen Augenblick widerstehn, der zwischen diesem von Geld und Egoismus aufgebauten, anscheinend vollkommen verläßlichen Apparat und den Empfindungen bestand, denen er zum Ausdruck verhelfen sollte, wie dem ganz innerlichen Begriff einer unüberwindlichen Abneigung oder dem kaum faßbaren Gefühlsspiel zwischen den Bundesgenossen Bruder und Schwester.
Agathe stand während dieser Zeit der ersten Vorbereitungen unter dem Druck des gewöhnlichen Gefühls von Recht und Ordnung, welches von einem neuen Gefühl abgelöst worden war, in dessen Glut sie die unerlaubten Unterschiebungen mit dem Testament gemacht hatte, die desto unbegreiflicher aussahen, je mehr das alte Gefühl wieder den Hintergrund ausfüllte.
In unserer Welt, wo Reichtum gleich Würde, also eine persönliche Eigenschaft ist, lag Agathes Fehltritt nicht darin, daß sie von dem ihr zufallenden Besitz nichts Hagauer lassen wollte, der ihn noch gar nicht mit ihr geteilt hatte, sondern nur in dem unerlaubten Mittel, dessen sie sich bediente, um das zu erreichen. Abgesehen davon, daß Mittel durch Zwecke geheiligt werden, also doch wohl auch zumindest entschuldet werden können, hatte sie eine ziemlich natürliche Mißachtung für eine äußere Ordnung, welche ihrer inneren fremd war. Ihre Reue kam davon, daß Anders’ Wesen, seit sie sich wiedergefunden hatten, so viele Zweifel in ihr
erregte. Sie war in einer beständig unbeständigen Gemütsverfassung und in dieser wurde das Geschehen zu einer Last, die manchmal zu schwer für sie war.
Wenn Anders zum Rechtsanwalt ging, lehnte sie sich gegen diese Verwirklichung, diese Abwanderung ihrer Tat in eine ganz andere Sphäre auf, aber sie brachte es nicht über sich, Anders zu sagen, was sie meinte.
Eines Tags hatte sie Meingast mit leichter Erregung gestanden, daß sie nicht mehr wisse, was sie mit sich beginnen solle. Dieser Mann flößte ihr Vertrauen ein, weil sie bemerkt zu haben glaubte, daß er selbstlos sei und bloß den warmen Wunsch habe, seinem Mitmenschen zu helfen. Wenn er sich nach ihrer Betrübnis erkundigte, war seine Neugierde die des Arztes, welcher fragt: tut es hier weh? Sie war ohne Verabredung bei ihm erschienen, als verstünde sich das von selbst. Als sie in der Wohnung saß, hatte sie aber ein ähnliches Gefühl, wie wenn man sich in den Ästen eines Baums versteigt und sich fürchtet, aus dieser Welt von gewundenem Holz und unzähligen Blättern nicht mehr heil zurückzufinden. Es roch nach Medikamenten in der Wohnung, altmodisch, denn moderne Medizinen sind geruchlos, verzärtelt wie bei alten Großmüttern, dennoch unangenehm auf das menschliche Leiden gerichtet.
Schulmädelerinnerungen stiegen in Agathe auf, die voll Gelächters über den Geruch der Religiosität waren. Ihr Vater hatte sie eine Zeit lang in eine Klosterschule gesteckt. Es war seltsam, daß der liberale Mann, welcher für seine Person einen etwas seichten Aufklärungsstil zur Schau trug, die Maßregel traf. Es kann sein, daß es geschah, um dem
Andenken der Mutter eine Unbill zuzufügen. Vielleicht aber auch ein heimliches Versöhnungsopfer, indem man einmal auch das Gegenteil der eignen Überzeugung tut, was häufig vorkommt. Dort erteilten auch geistliche Herrn Unterricht und spielten überhaupt eine große Rolle. Sie trugen schöne Kutten, deren zwei Farben ein Kreuz bildeten und stets an eines der höchsten Menschheitserlebnisse, die Selbstaufopferung des Erlösers, erinnerten; aber die jungen Mädchen dachten nicht im entferntesten daran, sondern nannten ihre Erzieher die Kreuzspinnen. Es scheint die Jugend ein unbestechliches Ahnungsvermögen für alle heimlichen Schwächen zu haben, welche eine Lehre durch die Personen ihrer Vertreter bloßstellen. Der Geruch des Himmels, dieser leere, halbentlüftete Weihrauchgeruch, welcher den Sutanen entstieg, so erhebend er auch für kirchlich eingestellte Menschen ist, besaß nicht die Kraft, in weltlichen jungen Mädchen die Gerüche zu verdrängen, welche Phantasie und erste Erfahrungen mit dem Schnurrbart eines Mannes oder seinen energisch eingezogenen, mit scharfer Essenz bespritzten und mit Puder über-hauchten Wangen verbanden. Und da man gewohnt ist, aus dem Diener auf den Herrn zu schließen, hatte diese früh gegen die Bürokratie Gottes erworbene Abneigung Agathes Herz ganz wider ihre Natur Gott verschlossen.
Denn die Unvollkommenheit der Welt, das Ziellose, sinnlos Tatsächliche, der durchschaute Anschein einer Ordnung, den sie sich gibt, dieser Pose, daß die Ordnung, die sie gerade hat – obgleich sie schon viele hatte – die wahre sei, ist die tiefste Ahnung Gottes, zu der man ohne Täuschungen und willkürliche Erfindungen gelangen kann. Und
Agathe lebte auf diesem Weg zur Religion, fern von ihr und ohne es zu wissen. Ihre stete Bereitschaft, sich schlecht zu finden und den Hochmut des Ich bis zu formlosem Staub zu demütigen, verband sich mit der ursprünglichen Überzeugung, daß auch das Gute, was man sie lehre oder das man zur allgemeinen Verehrung aufgerichtet habe, nicht besser sei als sie. Es gibt kaum ein zweites so allgemein verbreitetes Gefühl, wie es das ist: was ich tue, ist gut; selbst der Mensch, welchen sein Gewissen peinigt, hat heute gewöhnlich die Gewißheit, daß er mit diesem Gewissen doch ein ganz famoser Mensch sei. Aber gerade dieses Gefühl kannte Agathe nicht; sie fand sich schlecht wie einen Haufen Staub, dem der belebende Atem fehlt; aber dieser Atem war es auch, welcher der Welt fehlte, die sie um sich sah.
Agathe saß deshalb vor Meingast und wiederholte: »Ich will mich scheiden lassen.« Ein kleines Fragezeichen war dahinter, Erwartung.
Meingast schwieg und war sichtlich betreten.
»Ist Ihnen mein Besuch peinlich?« bohrte Agathe weiter.
»Und was sagt Ihr Herr Bruder dazu?«
»Mein Bruder freut sich.«
»Ich meine auf – die Scheidung?«
»Ja, er freut sich.«
Wieder eine Pause.
»Sie werden doch nicht so altmodisch sein, religiöse Bedenken dagegen einzuwenden!« sagte Agathe. »Glauben Sie wirklich an Religion? Wie kann man an Religion glauben? Sie sind doch kein Geistlicher?«
»Ich möchte Ihre Fragen lieber nicht beantworten« sagte Meingast. »Sie sind zu weit davon entfernt.« Es war etwas Hartes in Gesicht und Stimme
gekommen, seit Anders von Agathe genannt worden war. »Aber eines möchte ich Sie fragen: Wissen Sie wirklich nicht, daß die Mehrheit der Menschen in Europa auf dem Boden der katholischen Weltanschauung steht?« Wenn der Fremde plötzlich mit der größten Überzeugungskraft gesagt hätte: Unser erlauchter Herrscher, Dives Augustus, sie wäre kaum verdutzter gewesen.
Meingast bemerkte es und diese schmeichelhafte Genugtuung versöhnte ihn wieder. Er sah eine junge Frau vor sich. Erregung und gespielte Gleichgültigkeit, ja Keckheit wechselten verdächtig. Die ruhige große Körperform war so, wie sie nur dem Edlen und Gesicherten zukommt. Ja, das Knie in den Falten des Kleids war wie das einer Niobe. Aber bei kaum verständlichen Anlässen der Erregung hob und senkte sich der Busen, ja er flog geradezu, nur verheimlichte er es zu raschen kleinen Wellen: Meingasts Weltkenntnis sagte ihm, daß dieser Busen ein Geheimnis umschloß, das mit der Scheidung zusammenhängen mußte.
Er fühlte sich plötzlich verpflichtet, ihr Folgendes zu sagen: der Sinn der Ehe ist nicht die persönliche Angelegenheit; sondern sie ist eine Einrichtung, welche das Verantwortlichkeitsgefühl entfalten soll. Das Recht der freien Persönlichkeit kann nur verteidigen, wer nie tief darüber nachgedacht hat. Grundprinzip: denk nicht an dich, sondern an andere! Es ist das Prinzip des Mißtrauens in den Menschen und in die Welt. Tu deine Pflicht, weil es das einzige ist, was sicher gut ist und dir sicher Befriedigung gibt.
Agathe blickte neugierig auf.
»Es lebt im Menschen« fuhr Meingast fort »das Verlangen nach Befreiung der Seele von den Banden
der Körperlichkeit, nach vollkommener Herrschaft des Geistes über die Welt äußerer Reize. Oder – die indische, aber unchristliche Fassung – nach Befreiung der Seele vom Ich. Wir dürfen nicht entfliehn, sondern wir müssen beherrschen!« Er war aufgestanden, stand sehr senkrecht. Agathe hatte den Eindruck einer Ankündigung von etwas, das ihr mit ihm bevorstand. »Wer aber« fuhr er streng fort »nicht in der Schule der irdischen Wirklichkeit zuerst lernt, seine subjektiven Einfälle, Wünsche und Vorspiegelungen unerbittlich der Treue gegenüber der höheren Wahrheit zu opfern, dessen Phantasterei und subjektive Einbildung wird das schlechte Zeugnis seiner inwendigen Erfahrung überwuchern, und seine naive Selbstsicherheit wird wie ein Gefäß himmlischer Weisheit werden. Die lebenslängliche Bindung an einen unpassenden Menschen ist eine schwere Strafe, aber man hat sie sich zugezogen, weil man auf die äußeren Zeichen des inwendigen Lebens nicht genug achtsam war, und wer weiß: Ob man nicht deshalb gestraft wird, um aufgerüttelt zu werden!? Der die Rute spart, der haßt sein Kind; der es aber liebt, züchtigt es!«
Es ist auffallend, daß es unter den kirchlichen Menschen der weißen Rasse viele gibt, welche gerne von Prügeln sprechen und sie gelegentlich auch verabfolgen, wo es nicht mit Roheit, sondern mit Autorität geschehen kann. Es ist wahrscheinlich ein Gegenzug zum Demütigen, Hingebungsvollen und etwas Unmännlichen. Eine pervertiert durchbrechende Männlichkeit. Natürlich auch eine Überzeugung, die mit vielem Recht hat; denn was hat nicht Recht?! Agathe fühlte sich in eine verwirrende, aufregende und beängstigende Umgebung geraten.
Was sie besonders aufregte, war, daß darin etwas vorkam, was sich mit ihren tiefsten Erlebnissen berührte. »Tiefe Lebenswahrheit wird nicht durch Beweis vermittelt, der Mensch erkennt sie als lebendige Deutung und Erfüllung seiner selbst.« Es schien ihr, daß die Seele da mit einem bösen Prinzip, einem Mißtrauen und dergleichen gemischt sei, und zuweilen, daß die Seele dabei als das etwas Verdächtige gelte und am Armensünderbänkchen sitze. Sie widersprach nicht und debattierte nicht. Was sie lange nicht gefühlt hatte, empfand sie wieder: jene Passivität, welche sich nicht wehrt, weil alles im Grunde gleichgültig und unverständlich ist.
Als Agathe sich zum Weggehn erhob, huschte Peter vom Schlüsselloch fort. Er hatte belauscht, was sein Vater mit der »großen Gans« anhebe. Peter war ein kräftiger junger Mann, der unter seinen Kameraden etwas galt. Die Angst vor Prügeln und Neckereien, welche sein Vater einst als Junge ausgestanden hatte, kannte er nicht, aber er war auch kein Vorzugsschüler und der Wunsch, die Schwachen zu schützen und zu bewahren, der in seinem Vater später zu so systematischer Festigkeit geworden war, hatte in ihm keine Wurzel; im Gegenteil, er prügelte selbst die Schwächeren und neckte sie, wofür er in der Schule von allen als Oberhaupt anerkannt wurde. Die Lehren seines Vaters fielen in taube Ohren. Knaben sind der Religion so wenig zugänglich wie der Philosophie. Sie suchen sich; sie wachsen innerlich mit den gleichen Schmerzen und Unregelmäßigkeiten wie äußerlich. Die Moral kann man ihnen nicht glaubwürdig machen, weil sie auf Erfahrungen des Zusammenlebens ruht, die sie noch gar nicht gemacht haben, und die Heilswunder nicht, weil diese nach Materie des Lebens hungrigen
Seelen noch kein Bedürfnis nach Übernatürlichkeit besitzen. Peter hörte, daß ein gesunder natürlicher junger Mensch von selbst zur Moral und zum Glauben hingeführt werde, aber er liebte einen mit Pomade gezogenen geraden Scheitel, das Kino, den Fußball,wollte Flieger werden, und hielt das andere, von dem er nicht das Geringste in sich spürte, für eine Lüge.
»Menschen, die noch sehr mit ihrer Eitelkeit zu kämpfen haben, sollten in ihrer äußeren Erscheinung alles Auffallende vermeiden« sagte sein Vater zu ihm. »Mancher Sohn einer edlen Mutter glaubt sich zu emanzipieren, wenn er die Pietät vor ihren treuen Augen mit der Unterwerfung unter die Parolen von Hanswürsten und Laffen vertauscht!«
Peters Verteidigungsart, wenn er auf einen Stärkeren stieß, war ursprünglich das Schreien gewesen. Wenn ein älterer Junge aus einer höheren Klasse ihn verprügelte, so erhob er ganz naiv ein derartiges Gezeter, daß mancher schon verdutzt oder verächtlich eingehalten hatte. Auch den Züchtigungen seines Vaters gegenüber hatte er mit dieser Methode in jüngeren Jahren manchen Erfolg aufzuweisen. In Fragen, die ihn persönlich angingen, war er nicht unschöpferisch. Sein System hatte Geist. Es leitete ihn mit großer Sicherheit. Schwierig wurde dies jedoch, als Peter sich den Jahren der Männlichkeit näherte. Vorher glich er das Unwürdige seines Verfahrens, das einen Jungen in den Augen der andren gewöhnlich verächtlich macht, dadurch aus, daß er viel häufiger prügelte als geprügelt wurde, und wenn er etwa einen Lehrer um Schonung vor Strafe angefleht und angebettelt hatte, so verwischte er, sich umdrehend, diesen Eindruck vor der Klasse, indem er die Zunge herausstreckte. Nun aber, je mehr man auf seinen Geist einwirkte statt
auf seinen Körper, war auch diese Verteidigungsart gezwungen, sich zu vergeistigen. Wenn ihn der Vater nach einer Ermahnung aus dem Zimmer entließ, streckte er noch die Zunge heraus, so lang er konnte, oder spuckte an die Wand, aber das genügte nicht mehr ohne weltanschauliche Hülfe. Diese Weltanschauung war ungefähr die einer bekritzelten Abortwand, wenn man sich inmitten Verkehr, Ordnung, sachliche Menschen deren private Meinung über geschlechtliche Fragen auf alle Lebensfragen ausgedehnt denkt. Wollte man ihr glauben, so bestünde die Welt nur aus Schlechtigkeiten und Schweinereien, und das Wesen des wahren Mannes darin, daß er sie durch einen furchtlosen Teufelskult beherrscht. Peter war in die Jahre der Liebe gekommen, er brauchte hinter andren nicht zurückzustehn, ein Mädchen hatte sich gefunden, und man promenierte unter großer Angst, dem Vater verraten oder in den gewählten, Verspätungen erklärenden Ausflüchten entlarvt zu werden.
Zu dieser Angst kam noch eine zweite, welche in Peters Erziehung begründet war, der Gedanke an die Frau war in Peter in einen von Angst begleiteten verwandelt worden.
Die katholische Erziehung, wie sie häufig gehandhabt wird, hat eine wirkliche Schwäche. Bekanntlich treibt die Kirche von allen Forderungen an ihre Getreuen keine so unerbittlich ein wie die Verabscheuung der Irrlehren und der Unkeuschheit. Für Fraß, Trunksucht und Roheit hat sie eine gewisse, manchmal geradezu behagliche Nachsicht. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß man allerdings sagen, daß dies der Klugheit eines Seelentaktikers entspricht; ebenso, daß Professor Meingast, wie viele ernste Katholiken, solche Klugheit
für verwerflich hielt. Seine Bemühungen richteten sich in der Erziehung gleichmäßig gegen alle Schwächen, aber da er Peter ja nicht nur persönlich beeinflußte, sondern ihn auch in gleichgesinnten Familien verkehren hieß, von deren Söhnen einige in Konvikten erzogen wurden, machte sich dieser frühzeitig deren Art, ein Kompromiß zwischen Erziehung und Männlichkeit zu schließen, zu eigen und glich wie sie im einen kurz geschorenen Rasenplätzen, im andren wild wuchernden Unkrautstätten. Diese Knaben sprachen keine geschlechtlichen Schweinereien, aber sie waren in jeder andren Weise doppelt unflätig. Wenn man sie reden hörte, so vernahm man nicht den leisesten häretischen Zweifel, aber ihre ehrwürdigen Lehrer waren ihrer Ansicht nach jeden Tag besoffen, überfraßen sich täglich und ließen sich häufig Zeichen solcher Unmäßigkeit entfahren. Dem entsprach auch der Wetteifer dieser Zöglinge, einander im Ausspucken und ähnlichen Leistungen zu übertreffen und wem es gelang, sich trotz der Aufsicht einen Rausch anzutrinken, der konnte jenen Anspruch auf Ehrfurcht erheben, den sonst in der Jugend nur der heimliche Venusdienst verleiht.
Als dieser nun plötzlich an Peter herantrat, hatte er die Schauer des Verbotenen in noch unabgeschwächtem Grade, und zusammen mit der Angst vor dem Vater und einem bis dahin ungekannten Gefühl ergab dies eine Spannung, deren Auflösung in der gewohnten Weise dadurch geschah, daß Peter zu der Angebeteten »holdes Fräulein« sagte und von ihr als »Schachtel«, »Besen«, »Mensch« sprach, daß er hinterrücks statt Mund »Fotz«, statt Füßen »Haxen«, Händen »Pratzen« und Busen als gelindestes »Milchwirtschaft« sagte.
Agathe erregte sein Mißtrauen, da sie ein paar Jahre älter war, erschien sie ihm als »alte Schachtel«, ihre hohe Fülle reizte seine Bezeichnungen, er fühlte, daß zwischen seinem Vater und ihr etwas vorging und schenkte ihr von vornherein seine Abneigung; Agathe hatte keine Ahnung, wie sie sich in den Augen dieses jungen Mannes ausnahm.
18.
Cand. phil. Schmeißer
Cand. phil. Schmeißer lebte in einem Haus mit Agathe. Er unter der Erde, sie oben im Licht – wie er mit grimmiger lyrischer Befriedigung feststellte. Sein Anzug hatte zu schmale Schultern und zu kurze Ärmel, an den Ellbogen und Knien bildete er Bäuche. Sein Körper war unterernährt und überanstrengt, er war niemals gut bewegt worden; zum ersten Mal dämmerte Schmeißer etwas auf; er trat abends vor einen kleinen Spiegel, den er mit vieler Mühe so aufstellte, daß er seine ganze Figur sehen konnte, und betrachtete sich nackt. Er war häßlich. Der Traum vom Sonnenbad, vom Herausschlüpfen aus der kapitalistischen Kleiderhierarchie in eine Welt der natürlichen Schönheit war erschüttert. Agathe aber schwebte wie eine Wolke die Treppen hinab; eine schwere Wolke, aber auch solche sind wolkenleicht. Die kleinen Geräusche des bewegten Kleides zuckten wie winzige Blitze darin. Das Parfum war ganz anders als das der weiblichen kleinen Leute, mit denen er zu tun hatte, es war überhaupt kein Parfum, nichts Hinzugetanes, sondern eine Ausstrahlung.
In einem fürstlichen Park stand eine Fontäne. Schlank bewegt, wiegend im Wind fiel ihr Strahl in ein Marmorbecken. Unendlichkeit des Auges und des Ohrs. Der kleine Proletarierknabe hatte damals die Fingerspitze auf den geglätteten Rand gelegt und war rund um den Kreis gegangen, marmorn gleitend, immer wieder, ohne satt werden zu können, wie Tantalus.
Schmeißer erklärte heftig, seine Liebe sei der Sozialismus. Es war nicht wahr. Seit er denken konnte, lebte er für ihn. Wenn er hungerte oder gedemütigt wurde, wenn er den Mund spülte oder einen abgesprungenen Knopf suchte: es war Etappe auf dem Weg einem Ziel zu. Es tat ihm keinen Abbruch, daß er das Erreichen dieses Ziels kaum erleben würde; vielleicht vermochte er auch nicht, es sich genau vorzustellen: aber alles, was er tat, diente einem Zweck und hatte das feste Gleichgewicht einer Bewegung, welche nicht schwankt. Auf der andern Seite der Welt stehend als Professor Meingast, glich er ihm dadurch, daß Gott für diesen ein Ziel war, dem man respektvoll ausweicht, um sich mit den kleinen, aber sicheren Zwischenzielen zu begnügen, welche man dadurch gewinnt, daß man sich so benimmt, wie einer, welcher von den andern Menschen verlangt, daß sie sich so benehmen.
Seit Schmeißer aber Agathe sah, fiel seine Sicherheit der Zerrüttung anheim. Er kämpfte gegen die Empfindungen, welche diese Frau in ihm hervorrief, welche er wegen ihrer großbürgerlichen Herkunft gern verachtet hätte. Aber wenn er sich vergaß, nachsann, was diese junge Frau, die, wie er wußte, ihren Mann verlassen hatte, hier tun möge, und ohne es zu merken, von seiner Phantasie an einen fernen Punkt geführt wurde, wo Agathe ihre
Arme um die Hüften des Cand. phil. Schmeißer schlang, war ihm zumute wie einem Wesen, das bisher nur in einer Fläche gelebt hat und zum erstenmal das Geheimnis des Raums kennenlernt. Professor Meingast würde gesagt haben, dies sei der gleiche Unterschied, wie wenn man immer für Gott gelebt habe, aber plötzlich in Gott zu leben anfange – wenn Professor Meingast solche Gedanken sich gestattet hätte.
19.
Für – In
Es ist ein großer Unterschied: für oder in etwas leben! Alle guten Menschen leben für etwas; bloß die Unter-Proletarier haben nackte Sorgen ohne jeden höheren Zweck. Aber außerhalb des Proletariats gibt es so viele interessante, ehrenvolle, befriedigende Berufe. Dann die Liebe. Die Vereine. Die Hühnerzucht. Das Schwergewichtsheben. Den Fußball. Die Politik. Die Heilsarmee. Das Markensammeln. Die Suppenanstalten. Das Stenographiesystem Öhl. Es gibt Gegenden von großer landwirtschaftlicher Schönheit. Frauen, welche das Eisbein schwingen. Hunde mit edlem Blut. Genies des Fußballrasens. Genies, welche der Pflege des Stallmistes und der Jauche neue Wege gewiesen haben. Körperkulturelle Genies. Genies der Empormenschlichung. Der tatwaltigen Könnensschwebung …
Das gemeinsame Symbol, das sie besitzen, ist ein Notizbuch mit sehr vielen energischen Eintragungen; Erledigtes ordentlich ausstreichen. Dieses Notizbuch muß nicht aus Papier bestehen, es kann
auch im Kopf sein. Die Hauptsache ist, daß das, wofür ein Mensch lebt, einen Magnet bildet, der durch das, was er anzieht, immer weiter vergrößert wird. Das ist eine bekannte Tatsache. Bloß die, die gar nichts haben, haben auch keinen Magnet; bei ihnen weht manchmal der nächste Tag, eine Erkrankung, eine Verschlechterung der Konjunktur, das bißchen Existenz weg, das sie aufgeschichtet haben. Bei den andren ist aber nur der Anfang schwer. Hat man aber einmal einige Notorietät erreicht, so besteht Bedarf nach allen Spezialitäten, und ein Menschenleben ist gerade so lang, daß man darin die Karriere vom Novizen bis zum Erzpriester der Psychoanalyse, des Segelsports oder des Wiener Tuchhandels zurücklegt.
20.
Direktor Fischer
»Nein!« sagte Direktor Fischer. »Ein sogenanntes Lebenswerk zu schaffen, mag leicht sein, aber eine Fabrik zu gründen und in die Höhe zu führen, oder ein großes Vermögen zu erwerben, erfordert offenbar viel mehr Tüchtigkeit, denn es gelingt den wenigsten!« Hatte er recht? Er machte in der letzten Zeit, ohne daß seine Vorgesetzten davon wußten, etwas gewagte Geschäfte. Dennoch wurden ihm, je mehr dies in gewissen Kreisen bekannt wurde, desto mehr solcher Geschäfte angeboten. Allerdings gibt es manchen sehr bekannten Gelehrten, welcher geradezu als der Begründer einer neuen experimentellen Disziplin gilt, obgleich sich im einzelnen alle Behauptungen und Entdeckungen seines
Lebenswerks als falsch erwiesen haben, und Direktor Fischer wäre bei dem ersten Fehler von solcher Größe in Konkurs geraten.
Aber auch eine Koryphäe, zum Beispiel des Eislaufsports, zu werden, gelingt den wenigsten. Man müßte sich dann bescheiden, ein Pionier dieser Sache zu sein. Direktor Fischer hatte, wie man weiß, eine Schwäche für das Genie; hätte er sich damit begnügt, Stein auf Stein zu legen und riskante Eigengeschäfte zu meiden: Der Erfolg hätte auch weiterhin nicht fehlen können. Man muß sich rechtzeitig einengen: auch das scheint also ein Gesetz für den Lebenserfolg zu sein.
21.
Lindner, Walther und Clarisse
Es gibt aber wahrscheinlich viele Menschen, welche überhaupt nicht die Absicht haben, für etwas zu leben, ja sogar eine kräftige Abneigung dagegen zeigen. Es scheint ihnen alles als sehr gleichgültig, was ihnen bevorsteht, und die Lockungen einer Laufbahn oder eines geachteten Lebens verfangen bei ihnen nicht.
Ein solcher Mensch war Lindner einst gewesen. Merkwürdig oft sind es Menschen, welche eine lebhafte Vorliebe für sich selbst haben; sie wollen aber nicht im geringsten etwas von Bedeutung sein, sondern es genügt ihnen völlig, sich – hol’s der Teufel! – selbst als liebenswürdige, verwegene, etwas blasierte Schwerenöter zu erscheinen; sie wissen, was sie sind, und brauchen nicht erst etwas zu werden. Lindner stammte aus einer wohlhabenden
Salzburgischen Bauern- und Wirtsfamilie; das Schmale, Langschädlige, Feingliedrige hatte er von da. Als er nach Wien an die Universität geschickt wurde, hätte er Rechtsanwalt oder Notar oder Bezirksrichter werden sollen, aber dem Bauernsohn gefiel zunächst besser, sich einen der besten Schneider auszusuchen, ein guter Tänzer zu werden, alle Symptome der damals in Mode gekommenen Dekadenz aufs trefflichste zu kopieren und junge Mädchen zu seinen ergebensten Freundinnen zu machen, die aus Familien stammten, zu denen er sonst kaum hätte aufblicken dürfen.
Durch dieses Nichtstun waren Gehirn und Seele ungewöhnlich ausgeruht, als er sie plötzlich zu gebrauchen begann. Er wechselte den Schauplatz und das Studium und war an der Schweizer Universität ein Arbeiter von derartiger Arbeitskraft, daß er vor seinem dreißigsten Jahr schon über ein tatsächlich staunenswertes Wissen verfügte. Den Anstoß dazu hatte ein kleines Erbe gegeben, das er nach dem Tod seiner Mutter, welche Witwe war, erwarb, wobei es gerade hinreichte, ihm ein sehr bescheidenes unabhängiges Dasein zu sichern, während er bis dahin alles getan hatte, ohne zu fragen. Nun erwachte eine Art Lebensgeiz in ihm, ein geistiger Ehr-Geiz, denn er wollte unabhängig bleiben und sein Vermögen war so klein, daß es ihm wirklich nur gestattete, entweder als Lump oder als Philosoph davon zu leben.
In einem Punkt war Lindner der Alte geblieben, er wollte nicht Professor werden, sondern blieb trotz aller Däffung durch das Studieren immer ein wenig der verwegene Kerl, welcher andre um sich versammelt, den Ideengulden springen und sich dafür bewundern läßt. Er verkehrte in der Schweiz anfangs
viel mit Anarchisten, später mit Anhängern Sorels, des Lehrmeisters von Mussolini, an dessen Lehren auch er die seinen irgendwie anschloß.
Immerhin ist dieser Fall, daß ein Mensch für nichts zu leben beginnt und als der Apostel einer, wenn auch kleinen, so doch von ihm selbst hervorgerufenen Bewegung endet, der seltenere. Viel häufiger geschieht es, daß ein Mensch anfangs ein Genie werden will und später für irgend etwas mit großer Zufriedenheit lebt, das wesentlich bescheidener ist. In dieser Lage befand sich Walther.
Wenn Walther – denn er fühlte doch irgendetwas sich entgleiten – sich prüfte, um das sonderbare Gefühl wieder zu erwecken, das er früher oft empfand, als er noch an seine Sendung glaubte, so war es keine Leistung, auf deren Gewißheit es sich bezog, sondern ein Zustand für sich, ein Leuchten, Schwingen und Spannen. Genie ist eine besondere Form von Glück mit doppelt großem I im Ich, welchen sich die Jugend vorstellt. Walther glaubte sich zu erinnern, daß ihm damals beinahe ohne Pausen neue Gedanken einfielen, und so heftig ergriffen, daß er sich ganz umgestaltet fühlte; und zugleich schwang jeder die Welt herum wie eine Drehbühne, so daß sie, zitterndes Geheimnis des Entdeckers und Schöpfers, als seine Kulisse um ihn stand, von den magischen Flammen der geistigen Anstrengung bestrahlt. Man kommt aber im Lauf des Lebens – namentlich wenn man so scharf wie Walther den Unfug sieht, der getrieben wird – darauf, daß nur durch besondre Umstände besondre Leistungen entstehn; und dann aber auch unter besondren Umständen eben nicht entstehn, wie es Walthers Fall war, den die Verkommenheit dessen, was für Genie gilt, hinderte, eins zu werden. Aber wenn er
sich immer fester in seinen neuen Anschauungen werden fühlte, so fühlte er sich doch auch immer starrer und lebloser werden, und es war ein qualvoller Kampf wie gegen den von den Füßen aufsteigenden Tod, worüber er sich gegen niemand aussprach, obgleich er über alles mit Lindner, mit Anders und Clarisse sprach.
»Etwas aussprechen heißt, es ganz anders besitzen, als ob man einen Sinn mehr hätte« sagte Lindner. »Jeder Mensch ist nur halb fertig, die andre Hälfte ist das, was er tut, ist Ausdruck!«
Clarisse saß bei ihm und fühlte ihr Klavierspiel erklärt; mit den Nägeln der zehn Finger grub sie sich aus sich selbst heraus. Sie saßen an der Planke, Clarisse hatte die Knie hochgezogen. Das Spannen ihrer Hosen wie Knabenhosen. Männerbund! Dieses Wort schwirrte um sie wie eine unentdeckbare Fliege. Sie hatte das zwingende Bedürfnis, etwas Starkes zu sagen. Sich in der Welt ein Denkmal setzen! Eine Tat, von der noch nach Jahrhunderten gesungen werden wird! Fühlte sie.
»Ich habe etwas getan,« sagte Lindner »das heißt: ich, der ich vielleicht gar nicht ganz bin, der ich mich in den wichtigsten Dingen zumindest nicht kenne, habe mit meiner Tat und ihren Folgen Teile der Welt unlösbar an mich geknüpft.«
»Selbst der Hund riecht zu seinem Exkrement! Er bespritzt den Stein mit sich! Spuren hinterlassen in der Welt, das ist es, was jedes lebende Wesen muß!« Da hatte sie ihn, den starken, mannhaften Gedanken! Etwas Sonderbares fuhr ihr durchs Herz, das später für sie eine große Rolle spielte: sie kam sich wie ein jüngerer Bruder vor, der den älteren, Lindner, liebte.
Walther saß am Klavier und spielte Wagner. Auch
er fühlte: etwas ausdrücken heißt, den entscheidenden Sinn, um es in sich aufzunehmen, überhaupt erst erschaffen. Er wußte, während er Wagner spielte, daß Clarisse ihn verachtete, und mit einem Mal fiel ihm ein, weshalb er es tat. Menschen gingen unten vorbei, Mädchen blickten auf, während er spielte. Ihnen gab er das, was sie verstanden. Ein ungeheures Glücksgefühl bemächtigte sich seiner, der in dem Hohlraum des Zimmers verborgen war und seine Musik hinausstreckte. Das ist Kunst! Selbst seine Schwatzhaftigkeit, wenn er Anders alles erzählte, hatte diesen Sinn: sich mitteilen. Während auch er an Lindners Ideen dachte, fühlte er: Ach, ich wüßte wohl etwas dazu zu sagen! Er fühlte es, solang er spielte. Es ist das Grundgefühl des Philisters. Sobald er zu spielen aufhörte, war alle Leichtigkeit weg, und er konnte nur irgendetwas sagen wie, daß die Kunst heute den Zusammenhang mit dem Volk verloren habe oder daß man diesen Anschluß wieder brauche. Er fühlte selbst, daß dies Banalitäten waren, und wurde verstimmt.
An einem Sonntag bei beginnender Nacht standen die drei am Fenster. Ausflügler kehrten zurück, mit Gitarren, Lärm, Kreischen und Lustbarkeit; der starke Schein der Hauslaterne fiel auf den Weg und die ersten Büsche. Da bemerkte Clarisse einen Mann. Er stand auf einem kleinen Rasenfleck bei den Büschen, ganz im Dunkel. Er kam jedes Mal vor, wenn ein Trupp Menschen vorbeizog. Er schob sich ohne Schritte in den Lichtkreis hinein. Wie einer, der an einem seichten Ufer nicht über die Sohlenwände ins Wasser geht. Er war sehr bleich. Auffallend bleich. Ein Gesicht wie eine Scheibe. Ein zu einer Scheibe verzerrtes Gesicht. Er führte sonderbare kleine Bewegungen aus. – Und plötzlich
preßte Clarisse Lindners Arm und unterdrückte einen Schrei: Der Unglückselige war ein Exhibitionist.
Lindner hatte ihm schon lange interessiert zugesehn. »Er tut es,« sagte er trocken »weil er sich nicht anders als durch dieses illegitime und feige Verfahren in Verbindung setzen kann. Aber das Bewußtsein, dies getan zu haben, während die Frauen vorbeigingen, ersetzt ihm beinahe schon, es nicht ihnen getan zu haben. Lächerlich, darin etwas Sexuelles zu sehn! Es ist ein kleines Bocksspiel des großen Willens!«
So sehr Clarisse auf die Worte des Meisters sonst hörte, diesmal tat sie es nicht; sie wurde eine Vorstellung nicht los: Walthers Musik. So war Walthers Musik.
22.
Alle leben sie für etwas!
Anders zu Agathe: »Alle leben sie für etwas! Wie die armen Leute, welche jeden Nagel aufheben, den sie finden, jedes Stück Gummi, jeden Fetzen Stoff; sie glauben, daß es ihnen an irgendeinem Tag in ihrer Wirtschaft dienen wird. So hebt Hagauer alles Nützliche in seinem Notizbuch auf, und es wird eines Tages zu pädagogischer Reform. So hebt Meingast alles in seinem Herzen auf, lebt für andre, und es bestätigt ihm die religiösen Grundsätze, denen er sich unterworfen hat. Ich weiß, was sie davon haben: Sie könnten überhaupt nicht leben, wenn sie nicht für etwas leben würden; der Mensch, welcher nicht für etwas lebt, verzweifelt! Ich will dir das zugrundeliegende Geheimnis verraten: Der Mensch
ist nicht fertig, er ist nicht fest. Erschrick bitte, es ist eine Tatsache! Daß von oben bis unten ein Kanal durch uns gebohrt ist, längs dessen wir uns wie Industrien an einem Strom angesiedelt haben, ist eine kleine Selbsterkenntnis gegenüber der, daß unsre Seele halbfest ist, blasig; eine Wolke, die keine eigene Form hat und jede fremde benützt, um etwas darzustellen. Alles, was sie ihre großen Ideen nennen, dient diesem Zweck. Ich bitte dich, bedenke, meine Liebe, den tollen Unsinn, den sie heute dazu benutzen. Welches sind augenblicklich ihre Ideen? Die Rasse. Sie bilden sich ein, daß sie die Eigenschaften ihrer Rasse besitzen. Als ob sie Kaffeemischungen wären. Diese Ursorten bewahren sie, sie verpflichten sie, sie sprechen aus den Stimmen des Bluts, sie bringen alles hervor. Herr X., den es zweifellos gibt, erklärt sich also nicht durch sich selbst, sondern durch etwas, das es im besten Fall vor soviel tausend Jahren gegeben hat, daß man alles und nichts davon behaupten kann. Das ist eine seltsame Methode. Ich würde überhaupt nicht begreifen, wie man das tun kann, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß es Rassen in diesem Sinn weder gibt, noch je gegeben hat, und daß gerade deshalb sich viele Menschen ihrer als Redensart und Überzeugung bedienen, weil es ihnen Bedürfnis ist, sich selbst, die es in Wirklichkeit allzu zweifellos gibt, durch etwas zu erklären, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Andere Menschen sprechen zu dem gleichen Zweck von der ›Epoche‹. Oder dem ›Zeitgeist‹. Sie verdrehn die Augen und sagen: der gotische, der barocke, der antikische Mensch! Als ob das ein ganz bestimmter Typus Mensch gewesen wäre, der durch ein ganz unbestimmtes Geheimnis mit einem Mal da war und wundervolle mit keiner anderen
Epoche vergleichbare Werke hinterließ. Tausend Umstände häufen gewisse Erscheinungen in einer Zeit und lassen sie dann wieder verebben. Viele dieser Umstände hätten wir in der Hand. Es gehört gar nicht so viel dazu, um aus dem gotischen Menschen oder dem antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen. Ein kleines, dauernd in einer bestimmten Richtung wirkendes Übergewicht von Umständen, Außerseelischem, von Zufälligkeiten, Hinzugefallenem genügt dafür. Dieses Wesen ist ebenso leicht fähig der Menschenfresserei wie der Antike. Ich wittere ungeheure Amplituden seiner Äußerung bei ganz kleinen Verschiebungen in seinem Innern. Es hängt fast nur von unserm Belieben ab, Werke jeder Art zu machen. Aber wir nehmen lieber an, daß wir einer ›Epoche‹ angehören. Wenn wir auch nicht wissen, welches ihr Schicksal ist. Wenn wir auch klagen, daß es kein gutes ist! Das gleiche geschieht mit dem Staat. Aus einem Apparat, der er zu sein hat, machen sie eine Idee. Alles das kann dir beweisen, daß Dinge, welche es nicht gibt, unerläßlich sind, um das Leben zwischen den Dingen, die es gibt, erträglich zu gestalten. Die Ideen haben gar keinen andern Zweck, als das, was ist, zu ersetzen durch etwas, das nicht ist. Jede Metapher hat diesen Zweck und macht für einen kleinen schönen Augenblick glücklich. Und wenn die Menschen nicht für eine Idee leben, so tun sie es für ein praktisches Ziel. Oder für die geachtete Existenz.
Du kannst es auch umdrehn und sagen, die Ideen sind für die Leute da, welche nichts Praktisches zu tun haben. Es muß aber irgendetwas sein, das ihnen seine Ordnung borgt, seinen Schimmer, Sinn, Traum. Selbst der Egoist lebt nicht für sich,
sondern für seinen Egoismus. Und der Moralische ist nicht moralisch, um moralisch zu sein, sondern um zu sein.«
Agathe: »Aber wofür leben wir?!«
Anders: »Ich will nicht! nicht! nicht! Es ist unmöglich mitzuleben! Was wir getan haben – die Sache mit dem Testament – ist nichts, als daß wir Illusionen durchbrochen haben. Wie irgendetwas, das seine Hülle zerrissen hat und nun vollkommen plastisch, vollkommen formlos herausdrängt. Vollkommen schutzlos.«
Anders blieb lächelnd vor Agathe stehn. »Denk an die Moden. Wir haben in der letzten Woche viele Kleider für dich ausgesucht. Wie wenig Farben und Formen sind das. Und wenn man zurückdenkt: bald rutscht alles hinauf, bald hinunter, bald zurück, bald vor – Haar, Busen, Hüften: welch rasende Bewegung auf welch kleinem Feld. Wie eine Horde Lämmer, die unter Führung weniger von einer Seite der Hürde zur andern jagt. Und welches Glück, wenn du im Spiegel einen anders geformten Menschen siehst, als du vor einer Woche warst!«
Anders sprach in langen Sätzen; weiter, schwingender Bewegung; durch mehrere Zimmer hin und her gehend.
Agathe schwieg oder antwortete wenig. Das ist nicht der rechte Weg, fühlte sie, diese Art.
Anders dachte: Niederschreiben; zuende denken; der Welt das wahre, ungeahnte Bild vorhalten. Er fühlte, daß von Agathe eine Kraft ausging, das nicht zu tun. Ein Unterschied wie zwischen einem, der die Geliebte umarmt, und einem, der die Philosophie der Liebe schreibt.
23.
Arnheim und Diotima
Dieser Mann, den das Schicksal auszeichnete, fand nirgends Befriedigung und Ruhe. Er hatte eine unbestimmte Sehnsucht nach Gott in sich. Gab sich gern mit theologischen Schriften ab. Das verlegte den Schlußpunkt außerhalb. Aber auch das war nichts, was Festigkeit gewährte, sondern Durchwehendes, Zerflatterndes. Literatur, wenn man es aussprach. Und was nicht Literatur war, war nur das Bestehende, die Mächte des Seins, die nicht zu untersuchen, sondern in einer würdevollen und fruchtbaren Weise hinzunehmen sind. So kehrte ein solcher Weg wieder zu seinem Ausgangspunkt zurück.
Arnheims Leben ging unabhängig von Überlegungen weiter. Es flog ihm, wie man sagt, unter der Hand; der tut, wird von seiner Tätigkeit getragen; Arnheim gründete Industriegesellschaften kaum anders, als Anders boxte.
Die Liebe zu Diotima war ein großes Ereignis in diesem Leben.
Was für Arnheim die Geschäfte bedeuteten, war für Diotima der Gatte gewesen; ihre eheliche Tätigkeit war ebenso gewissenhaft und lebendig gewesen wie seine geschäftliche, aber seit langem schon ebenso bewußt, daß sie nichts mit der »höheren Natur« zu schaffen habe. An einer unerreichbaren Grenze begann eine andre Art zu sein, zu fühlen, sich zu fühlen … ein Wissen davon, wie ein verwehtes Korn, war beiden gemeinsam.
Dieser eingedrungene Splitter führte dazu, daß beide »für ihr Leben lebten«, hypertroph, hamsterhaft häufend, hamsterhaft ideal mit einer fernen
Sehnsucht, mit einer traumartigen Sehnsucht für nichts zu leben, sondern einmal, ein einziges Mal in ihrem Leben zu leben, zärtlich umgeben, einwendig, mutterhaft berührt.
Als Diotima und Arnheim sich ineinander verliebten, wurden diese kaum aussprechlichen Gefühle in beiden so stark, daß sie alle andren banden und eigentlich in beiden Menschen eine innere Ohnmacht eintrat, welche sich darin äußerte, daß das Schweigen zu einem sie verbindenden und beseligenden Vorgang wurde. Arnheim hatte seine Werbung zart, geistig und umfassend begonnen, aber bald kamen Augenblicke, die wie die Erschöpfung nach einer äußersten vergeblichen Anstrengung waren. Ohne ein Wort sprechen zu können, saßen Diotima und er, von wenigen Metern Raum getrennt, die voll der Geheimnisse des Weltalls waren.
»Minuten, in denen plötzlich Edelsteine bloß liegen« sagte Arnheim.
Diotima mochte dann den Arm in den Schoß sinken lassen und antworten: »Einer andren Seele zu lauschen und der unsren einen Augenblick des Lebens zu schenken!«
»Die Ahnung der übermenschlichen Wahrheiten, die selbst der Ärmste besitzt,« fuhr Arnheim fort »bedeutet uns, daß es gefährlich ist, mit jemand zu schweigen, den man nicht bis ins letzte kennen zu lernen wünscht.«
»Niemals lieben wir die, welche wir umarmen,« antwortete Diotima »am meisten; den Kuß des Schweigens im Unglück, denn sonderlich im Unglück küßt uns das Schweigen, kann man nie mehr vergessen.«
Sie waren schon recht weit gekommen. Arnheim hatte mit der Idee, daß Diotima sich scheiden
lassen und ihn heiraten solle, sogleich begonnen, weil Ehebruch in diesem Fall mit seinen Grundsätzen unvereinbarlich und auch für seine Position gefährlich gewesen wäre. Er hatte seinen Wunsch als allgemeine Maxime durchblicken lassen, noch bevor er von Liebe sprach.
Für Diotima war die Wahl zwischen einem Sektionschef und einem Industriechef nicht ganz so einfach. Sie hatte sich theoretisch eigentlich schon für Ehebruch entschieden; ihre Sinnlichkeit sollte dabei allerdings sehr geistig sein; sie kam sich dadurch sehr überlegen vor, sehr rücksichtsvoll für den Geliebten wie für den Mann, den sie allerdings mit dem »Unglück« meinte, wenn sie vom Kuß des Schweigens im Unglück sprach. Es war eine Avance. Wie alles, was sie in dieser Zeit zueinander sagten. Sie saßen, beugten sich aus sich hinaus, streckten imaginäre Arme nacheinander aus und wollten sich durchaus nicht in der gewöhnlichen Weise vereinen.
Arnheim schrieb Diotima einen wundervollen Brief, in welchem er ihr seine Auffassung ihrer gemeinsamen Liebe auseinandersetzte. Er fuhr eigens auf den Semmering und blieb einige Tage oben, um einen Vorwand für diesen Brief zu finden. In diesem Brief kam vor: »… der Einsatz ist zu groß. Fragen Sie sich, und sagen Sie: nein, es ist nur Freundschaft: Sie werden dennoch einen bis in den Tod ergebenen Freund an mir gewonnen haben, und etwas, das ich seelische Keuschheit nennen muß, in mir verschonen. Denn Leidenschaft ist etwas ganz Einziges im Leben. Sie verzerrt alles. Sie ist verzückt, fremd, toll wie das Besessensein von einem Gotte. Leidenschaft ist mit dem Unglück und dem Tode verwandt. Sie peitscht den Menschen, daß ein
Schreien sein Gesicht zerreißt, und sie drückt fremde, unverständliche Linien in sein Antlitz wie der Tod. Man darf sie nicht von außen sehn, denn man erkennt dann den Menschen nicht mehr. Man erkennt überhaupt nicht mehr, daß es ein Mensch ist. Man muß in der gleichen Dunkelheit sein, und die gleichen dunklen Gewalten an der Seele bilden fühlen … Lassen Sie mich nicht den Vorhang vor mir wegziehn, ersparen Sie mir diesen Augenblick, den Sie nur häßlich finden können, solange diese große Häßlichkeit Sie nicht selbst gestreift hat … Und noch eines müssen Sie mir verzeihn: daß ich eifersüchtig bin. Sie mißverstehen nicht dieses Wort. Nehmen Sie es, wie man auf seinen Gott eifersüchtig sein konnte. Außerhalb meiner Gedanken sollten Sie nichts sein …«
Er spielte nämlich nicht etwa auf Herrn Sektionschef Tuzzi an, dessen er sich in diesem Augenblick gar nicht erinnerte, sondern auf Anders, der sein geistiger Rivale war. Danach schrieb er noch einen zweiten Brief, der mehr auf Zartheit und ganz lyrisch gestimmt war: »Ich verbrachte heute die Nacht schlaflos auf meinem Sofa liegend, mit Zigarettenrauchen, vor der offnen Tür des Balkons weingelb den sentimentalen Kuppler, den Mond. Ich brannte die ganze Nacht lang kein Licht. Ich genoß ein fernes, feines Gefühl, das fast so weit zurückliegt wie meine Knabenjahre; Kennen Sie es? In solcher Nacht sind alle Fäden durchschnitten! In solcher Nacht bewegt sich das Bild im Spiegel als grauer Schatten im samtschwarzen Glas, hält nicht stand, scheint unser Abbild zu sein und dann wieder nur ein unheimlicher Gast. In solcher Nacht kann man nicht sagen: Komm, wir wollen; hier gilt nicht Wille, Zukunft, Ja und Nein. Wir sind Bilder
im Glas. Wir wollen dieser Leidenschaft keinen Namen geben. Auch Sie wünschen es noch nicht. Keiner genügt …«
Und er schrieb noch einen dritten Brief, in dem die Weisheit obwaltete: »Ich will ja nur Ihre Seele haben. Ob Sie mir dieselbe im Sturm schenken oder in der Stille eines Nachmittags. Ob Leidenschaft oder Freundschaft, müssen Sie wissen. Eine Freundschaft, die wie ein Gehn über weite Wiesen ist, Hand in Hand … Die Schönheit einer Seele liegt ja nicht in dem, was sie tut, sondern in dem, wie sie ist. Ergreifen Sie meine Hand, und die Bedeutung des Lebens steigt in einem unvorhergesehenen Maße. Ach, was ist alles Wissen und Denken nur der Tod für die Seele! Wie bettelarm und kurzlebig sind die in logische Bahnen geleiteten Gedankensysteme! Welche Hindernisse für das Wachstum der Seele schafft die stolze Beherrschung der Naturkräfte! Das Werk wird wesentlicher als das Wesen, Welt und Mensch sind kein Ganzes mehr, die Liebe entfloh ihr. Aber erwachte Seelen können einander nicht belügen. Um sie herrscht Septemberklarheit. Welches Ding sie ansehn, wird seelenvoll. Sie wiegen sich im Strom der Güte …«
Er schickte aber keinen dieser drei Briefe ab, weil er sich sagte, daß widrige Zufälle aus dem geschriebenen Wort böse Unannehmlichkeiten entstehn lassen können. Er entschloß sich, sie lieber gleichsam als Dichtungen vorzulesen. »Sprechen Sie nicht, geben Sie mir Ihre Hand« sagte Diotima, nachdem er geschlossen hatte.
Sie erklärten »die Begehrlichkeit« einstweilen für ein Seitenstück der verderblichen Intellektualisierung des Menschen, fest zugreifendes Seitenstück des Verstands. »Wir wissen zuviel!« war ja ein
Lieblingswort Diotimas, und sie wollte damals vieles noch nicht wissen. Es ist auffallend, daß Arnheim nicht mehr Geradheit entwickelte, aber wie bei vielen reichen Männern wurde das bei ihm durch eine zur Gewohnheit gewordene Zurückhaltung vor anständigen Frauen unterstützt, weil sie einem reichen Mann unvergleichlich teurer zu stehn kommen als die mit festem Preis, und ihn mit der Unsicherheit quälen, ob er wirklich um seiner selbst willen geliebt wird; ein Bedenken, daß Arnheim sich selbstverständlich nicht im geringsten eingestand.
So saßen sie in der Tat wie geschildert und sprachen viel von unmittelbaren Gefühlen, Harmonie, Religion, Naivität, Liebe, Kunst, Naturhaftigkeit, vom Reich der Seele jenseits der rechnenden Vernunft, von den kulturellen Vorzügen des katholischen Österreich, vom Leben über dem Leben, vom Sein im Unterschied von leben, von einem der Liebeskraft »analogen« Streben und dergleichen mehr, Phrasen, die um ein tiefes dunkles Loch liegen, in das keiner noch hinabgestiegen.
Und dieweil sie wie gelähmt fühlten, von der Vergeblichkeit das auszusprechen, woran sie geführt worden waren, mußte das Leben natürlich weiter gehn. Diotimas Ehe mit Tuzzi war nicht unterbrochen und Arnheim konnte seine Geschäfte nicht zum Stehen bringen.
Zuweilen quälte ihn eine fürchterliche Vorstellung. Es war ja bei ihm fast alles, was nicht Routine war, zu Worten ausgeschlagen und wie viele geistige Menschen, welche in dem ausweglosen Glasgarten mystischer Zartheiten zu Hause sind, war er in seinem innersten Ich unbeaufsichtigt geblieben. Gewisse primitive Anlagen hatten sich in seinem
Wesen einfach erhalten und kausierten seine Entscheidungen, was immer deren Motive sein mochten. So liebte er Diotimas antike Schönheit des Leibes und Geistes, aber in jenen bis zur Verzweiflung gespannten Momenten, wo kein Wort über die gefundenen Worte hinaus mehr zu finden war, ereignete es sich, daß, astral, wie Kreidelinien, die sich nicht aus der Luft wischen lassen, sondern immer mehr verdichten, die üppigen Formen von Diotimas vermutlich großem Popo vor seinem geistigen Auge zu schweben begannen.
Die geheime Angelegenheit der Hüttenwerke ging inzwischen weiter, und Arnheim suchte die Parallelaktion für seine Aufträge auszunützen, obgleich sie ebensosehr seine selbstlosen Ideen beschäftigte. Natürlich suchte er, Diotima in diesen Fragen unter seinen Einfluß zu bringen. Was er tat, wurde dadurch bestimmt, und das war ein großes Glück für ihn, da alles andre wie eine blinkende Windstille war. Trotz seiner tiefsten Aufregung.
Er ahnte nicht, das Bonadea ihn beargwöhnte, welche für diesen Zweck von Anders abgerichtet worden war. Sie war noch nie so klug und kombinationsfähig gewesen wie nun, wo sie einen Mann ohne Verliebtheit beobachtete. Sie paßte scharf auf. Es war wunderschön. Wenn sie auch wenig von dem verstand, was gesprochen wurde. Sie merkte sehr wohl, was zwischen Diotima und Arnheim vorging, und es machte ihr ungeheuren Eindruck, wie das ganze Leben eine Handbreit über dem Boden schwebte. Jedes Mal, wenn sie dabei sein durfte, sagte sie sich, daß es das sei, was sie sich immer gewünscht habe, und in die Leere, wo das fehlte, war früher brausend der Mann gestürzt. Sie war nicht mehr die Beute jedes Gefühls. Und sie trug
eifrig Sorge dafür, daß Diotima zu keiner Verfehlung verführt werde, weil sie sie mit ihrem ganzen Idealismus liebte.
24.
Ich bin gar nicht deine Schwester
»Ich habe also noch niemanden geliebt« sagte Agathe und lächelte. »Aber ich weiß, wie es sein müßte. Man findet sich in einem andren Menschen wieder. Man tut viel Schlechtes; aber in dem Augenblick, wo ein andrer Mensch das gleiche erlitten hat, ist man kein Verbrecher mehr in dieser Welt, sondern trifft einen Landsmann, welcher der gleichen andren Welt angehört. Und daß es ein Mann ist und gewisse natürliche Stürme sich dadurch erheben, müßte dann ganz erstaunlich erscheinen.«
»Wie an einem Engel,« ergänzte Anders »denn die Engel vermögen sich nur deshalb nicht mit Männern und Frauen zu mischen, weil wir nicht zu lieben verstehn, ohne Gott daran teilnehmen zu lassen.«
Es hatte sich zwischen Anders und Agathe etwas ereignet, das beide erregte, ohne daß sie es einander gestehen wollten. Vor einigen Tagen, der Streit mit Hagauer zwang sie dazu, hatten sie in alten Papieren und Briefschaften gelesen und plötzlich fand Agathe ein sonderbares Blatt. Es bezog sich auf Agathes Geburt und war mit Sätzen von der Hand ihres Vaters bedeckt, die aus irgend einem Zusammenhang gerissen waren oder ihn noch nicht gefunden hatten. Die Ehe ihrer frühverstorbenen Mutter war nicht glücklich gewesen, plötzlich
bildete Agathe sich ein, in diesen Zeilen Anspielungen zu lesen, daß sie nicht ihres legitimen Vaters Kind sei, der dies gewußt haben mußte.
»Ich bin gar nicht deine Schwester!« rief sie aus, und so stark war der Eindruck, den ihr das machte, daß Anders eine halbe Stunde brauchte, um die ganz harmlosen Aufzeichnungen richtig zu entziffern, denn er war anfangs wie hypnotisiert. Während dieser ganzen Zeit dachten sie, keine Geschwister zu sein, und mochten sich später nicht die Empfindungen eingestehn, die sie dabei fühlten.
25.
Bonadeas Haarnadel
Agathe hatte eine Haarnadel gefunden. Damals nach Bonadeas Besuch, den ihr Anders verschwieg. Sie saß am Diwan, sprach mit ihrem Bruder, die Hände zu beiden Seiten voll lässiger Sicherheit in die Polster gestützt, und plötzlich fühlte sie das kleine eiserne Ding zwischen den Fingern. Ihre Hände wurden ganz verwirrt davon, ehe sie es hervorzogen. Sie sah die Nadel an, welche von einer fremden Frau herrührte, und das Blut stieg ihr in die Wangen. Ein wenig hätte man auch darüber lachen können, daß Agathe mit solcher Sicherheit wie eine beliebige eifersüchtige Frau auf nichts anderes riet als auf das Richtige. Aber obgleich es leicht gewesen wäre, den Fund anders zu erklären, machte Anders keinen Versuch dazu. Auch ihm war Röte in die Wangen geschossen. Endlich bezwang sich Agathe, aber ihr Lächeln war bestürzt. Anders gestand ihr in halben Worten den Überfall Bonadeas.
Sie hörte ihm unruhig zu. »Ich bin nicht eifersüchtig,« sagte sie »ich habe ja gar kein Recht darauf. Aber –«
Dieses Aber suchte sie zu finden; der Beweis sollte die Wildheit verdecken, die sich in ihr dagegen empörte, daß eine andere Frau ihr Anders wegnahm.
Frauen sind eigenartig naiv, wenn sie von den »Bedürfnissen« der Männer reden. Sie haben sich einreden lassen, daß dies unaufhaltsame Gewalten sind, eine Art schmutziges, aber doch grandioses Leiden der Männer, und scheinen weder zu wissen, daß sie selbst durch längere Entbehrung genau so toll werden, noch daß die Männer sich nach einiger Übergangszeit an den Verzicht nicht viel schwerer gewöhnen als sie; der Unterschied ist in Wahrheit mehr ein moralischer als ein physiologischer, nämlich der der Gewohnheit, sich Wünsche zu gewähren oder zu versagen. Aber manchen Frauen, welche Gründe dafür zu haben glauben, daß ihre Begierde sie nicht überreden dürfe, ist diese Vorstellung, daß der Mann sich nicht beherrschen dürfe, ohne Schaden zu nehmen, ein willkommener Anlaß, um das leidende Mann-Kind in ihre Arme zu schließen, und auch Agathe – durch das Verbot, dem Bruder gegenüber der sonst unzweideutigen Stimme des Herzens zu folgen, in die Rolle einer etwas frigiden Frau gebracht – wandte unbewußt diese List in ihrem Innern an.
»Ich glaube dich ja zu verstehen,« sagte sie »aber du hast mir weh getan.«
Als Anders sie um Verzeihung bitten wollte und den Versuch machte, ihr Haar oder ihre Schultern zu streicheln, sagte sie »Ich bin dumm …«, schauderte etwas und entzog sich ihm.
»Wenn du mir ein Gedicht vorliest« versuchte sie es zu erklären »und ich würde mir nicht versagen können, dabei in die neue Zeitung zu schaun, so würdest du doch auch enttäuscht sein. Genau so hat es mir weh getan. Deinethalben.«
Anders schwieg. Der Verdruß, durch Erklärungen das Geschehene noch einmal zu beleben, verschloß ihm den Mund.
»Natürlich habe ich kein Recht, dir Vorschriften zu machen« wiederholte Agathe. »Was gebe ich dir denn! Aber weshalb wirfst du dich denn an solch eine Person fort! Ich könnte mir vorstellen, daß du eine Frau liebst, welche ich bewundere. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber es muß doch nicht jede Liebkosung, die man einem Menschen gibt, allen anderen weggenommen sein?« Sie fühlte dabei, so würde sie es sich wünschen, wenn sie diesen Traum verlassen und wieder einen Mann lieben sollte.
»Innen können sich mehr als zwei Menschen umarmen, und alles Äußere ist ja doch nur –« Sie stockte, aber plötzlich fiel ihr der Vergleich ein: »Ich könnte mir vorstellen, daß der, welcher den Körper umarmt, nur der Schmetterling ist, welcher zwei Blumen verbindet.« Der Vergleich kam ihr etwas zu poetisch vor. Während sie ihn aussprach, fühlte sie lebhaft das warme und gewöhnliche Frauenempfinden: »Ich muß ihm etwas geben und ihn entschädigen –«
Anders schüttelte den Kopf: »Ich habe« sagte er ernst »einen schweren Fehler begangen. Aber es war nicht so, wie du denkst. Es ist schön, was du sagst. Diese Seligkeit durch einen mechanischen Reiz, dieses plötzliche, von der Haut ausgehend, Verändert- und vom Gott-ergriffen-Werden dem Menschen
zuzuschreiben, der gerade das Werkzeug ist, ihm durch Vergötterung oder Haß eine besondere Stellung zu geben, ist im Grund so primitiv, wie der Kugel bös sein, die einen trifft. Aber ich bin zu kleingläubig, um mir vorzustellen, daß man solche Menschen finden könnte –«
Als seine Hand jetzt an ihr Verzeihung suchte, schloß Agathe ihren Bruder in die Arme und küßte ihn. Und unwillkürlich, erschüttert, tröstend-schwesterlich und dann ohne Herrschaft darüber schloß sie ihre Lippen zum ersten Mal ganz mit jener ungeminderten Frauenhaftigkeit an den seinen auf, welche die volle Frucht der Liebe bis ins Innerste öffnet.
26.
Töten wir uns!
In der Parallelaktion haben sich alle für Arnheim erklärt. Clarisse hat Lindner bevorzugt. Anders kam erbittert nachhaus. Von jener Ohnmacht angestarrt, welcher gegenüber der Vollendung einer unzureichenden Welt auch nicht ein Punkt bleibt, um dort einen Widerstand ansetzen zu können.
Er fühlte: Sie tun ja alle das, was ich will, bloß tun sie es schlecht. Sie verstehen mich nicht einmal soweit, daß sie mir widersprechen würden; sie glauben, daß ich das sage, was sie auch sagen, bloß schlechter. Man bekommt nervöses Erbrechen, wenn man mit ihnen spricht. Sie haben Güte, Liebe, Seele; kleingehackt und mit größeren Mengen des Gegenteils vermischt; das erhält sie gesund und macht sie zu Idealisten, während ich an den Rand
des Absurden und Verbrecherischen gerate. Ach, wie unerträglich sie sind, diese Quatschköpfe bei Diotima! Aber es wäre ebenso großer Unsinn, sich nicht einzugestehn, daß es viele Menschen gibt, die es ebenso fühlen wie ich und Besseres leisten: Weshalb fühle ich mich so ausgeschlossen?
Er ging bei Agathe durch und gleich in sein Zimmer. In seinem Gesicht spiegelte sich die Anstrengung und das Schweigen eines schweren Kampfes.
Gläubige Menschen hadern mit Gott, wenn sie die Einsamkeit zwischen ihren Mitmenschen zu fühlen bekommen; ungläubige lernen ihn da erst kennen. Wenn es möglich wäre, ins leere, kühle Weltall hinauszurennen, dies wäre der rechte Ausdruck für die Verzweiflung, den Zorn und das ungestillte Temperament von Anders gewesen. Seine Flammen waren zurückgeschlagen und brannten nach innen. Er erstickte fast daran. Plötzlich hielt er ein. Er nahm Papier und Bleistift, die unter dem Haufen beschriebener Zettel auf dem Tisch lagen, und schrieb einen Gedanken auf. Las ihn durch, ging auf und ab, las nochmals, setzte etwas hinzu.
Es steckt keine Notwendigkeit dahinter! – Dies war der erste Gedanke, der, noch unklar, alles enthielt. – Diese Welt ist nur einer von unzähligen möglichen Versuchen? Dann: Es gibt in der Mathematik Aufgaben, welche keine allgemeinen, sondern nur fallweise Lösungen zulassen. Aber unter bestimmten Bedingungen werden diese Teillösungen zu relativen Totallösungen zusammengefaßt: So gibt Gott Teillösungen, das sind die schöpferischen Menschen; sie widersprechen einander; wir sind verurteilt, immer wieder daraus eine relative Totale zu bilden, die keinem entspricht! Endlich: Ich werde wie flüssiges Erz in die Form gegossen, welche die Welt in
der Zeit meines Lebens ausgebildet hat. Deshalb bin ich nie ganz das, was ich tue und denke. Deshalb bleibt dieses mir immer fremd. Eine versuchte Gestalt in einer versuchten Gestalt der Gesamtheit.
Als er diesen letzten Gedanken überlas, zerriss er den Zettel und trat bei Agathe ein; denn dann gibt es nur eines: nicht auf die schlechten Meister hören, welche nach Gottes Plan wie für die Ewigkeit eines seiner Leben errichtet haben, sondern sich demütig und trotzig ihm selbst anvertraun.
Alles ist verdunkelt. Wenig Überlegung, eigentlich ein Unvermögen, zu überlegen. Die Idee: ich muß mich töten, ist nur in der Form dieses Satzes da, unausgesprochen, unheimlich bewußt in ihrer Anwesenheit, füllt sie immer ausschließlicher die dunkle Leere. Der Zustand ist unheimlich. Viel weniger frei von Todesfurcht, als es oft gesunde Augenblicke waren, in denen Agathe an den Tod gedacht hatte. Und viel weniger schön; stumpf, farblos. Aber der Gedanke hat jetzt eine furchtbare Anziehungskraft. Sie beginnt ihre Angelegenheiten zu ordnen; es sind eigentlich keine. Anders hat recht, wenn er kämpft und arbeitet, das gibt Inhalt; er ist doch wunderbar, so wie er ist – denkt sie. Dann: Er wird sich trösten. Ich hinterlasse niemand, der mich beweint. Lebenstraurigkeit. Das Fließen des Bluts ist ein Weinen. Alles schlecht gemacht, ohne Kraft, halb; wie ein kleiner Papagei zwischen rohen Spatzen. – Unfähig der einfachen Gefühle. Vor ihrem Vater hatte sie Furcht gehabt; die gleiche, die sich oft in ihrem Leben wiederholte: sich nicht wehren zu können, weil die Abwehr zu Dingen führt, die einem ebenso gleichgültig sind. Die Liebe hat sie nie kennen gelernt, und die Suggestion, daß dies nun das Wichtigste sei; die
Vorstellung eines Kindes, dieses Entzücken so vieler Frauen, ist ihr gleichgültig. Aber die Souveränität des Entschlusses. Wer das zu tun vermag, ist frei und niemand Rechenschaft schuldig. Die Welt wird ganz ruhig. Trotz ihrer Hast. Die wundersame Einsamkeit! Mit der man geboren ist. Sie hat sich vor langem eine Kapsel mit Cyankali verschafft; war ihr Halt in vielen Stunden. Schüttet zum ersten Mal in ein Glas; die Flasche mit Wasser daneben.
Im letzten Augenblick tritt Anders ein. Agathe hätte Abschied nehmen, pathetisch werden, erklären müssen. Oder aufspringen und ihm davonlaufen. Sie blickt ihn ratlos an, und er merkt in ihrem Gesicht die Verstörung. Der Funke springt auf ihn über.
»Heute bist Du mutlos.« Er versuchte noch zu scherzen. »Ich habe wenigstens bloß auf ein Klavier geschossen.«
»Töten wir uns« sagte Agathe. »Wir sind Unglückselige, welche das Gesetz einer anderen Welt in sich tragen, ohne es durchführen zu können! Wir lieben, was verboten ist, und werden uns nicht verteidigen.«
Anders warf sich neben ihr nieder und umschlang sie. »Wir werden uns von nichts töten lassen, ehe wir nicht das versucht haben!«
»Was?« Agathe sah in zitternd an.
»Das verlorene Paradies!« Anders lächelte. »Wir brauchen uns nicht zu fragen, ob das, was wir vorhaben, jede Probe aushält: alles ist flüchtig und flüssig. Wer nicht ist wie wir, wird uns nicht verstehn. Weil man nichts versteht, was man tun sieht oder tut, sondern nur, was man ist. Verstehst Du mich, meine Seele?«
»Und wenn es mißlingt, töten wir uns?«
»Töten wir uns!« Stimmen in ihnen, wie ein Chor himmlischer Stürme sangen. »Tu, was Du fühlst!!«
27.
Reise
Unten lag ein schmaler Küstenstreifen mit etwas Sand. Boote, heraufgezogen, von oben gesehn wie blaue und grüne Siegellackflecke. Wenn man näher zusah, Ölfässer, Netze, Männer mit hochgestreiften Hosen und braunen Beinen; Fisch- und Knoblauchgeruch; geflickte, wacklige Häuschen. So fern und klein war diese Betriebsamkeit am warmen Sand wie ein Käferleben. Zu beiden Seiten wurde sie von Felsen eingerahmt wie von Steinpflöcken, an denen die Bucht hing, und weiter hin stürzte, soweit das Auge sah, bloß die Steilküste mit krausen Einzelheiten in die südliche See; wenn man vorsichtig hinab kletterte, konnte man über abgestürzte Felstrümmer ein Stück ins Meer hinaus gehn, das zwischen den Steinen Wannen und Tröge mit einem warmen Bad und unheimlichen tierischen Genossen füllte.
Als ob sich ein ungeheurer Lärm von ihnen gehoben und weggeflogen wäre, war Anders und Agathe zumute. Schwankende weiße Flammen, von der heißen Luft fast aufgesogen und verwischt, standen sie draußen in der See. Irgendwo war es in Istrien oder am Ostsaum von Italien oder am Tyrrhenischen Meer. Sie wußten es selbst kaum. Sie waren in Züge gestiegen und gefahren; es schien ihnen, daß sie kreuz und quer gereist seien, so, daß sie den Weg gar nicht zurückfinden könnten.
Ancona auf ihrer Irrfahrt stand in der Erinnerung fest. Sie waren todmüde gekommen und mußten schlafen. Sie trafen am frühen Vormittag ein und verlangten Betten. Aßen Zabaglione im Bett und tranken starken Kaffee, dessen Schwere durch
den Schaum gesprudelten Gelbes wie in die Himmel gehoben war. Ruhten, träumten. Wenn sie eingeschlafen waren, schien ihnen jedes Mal, daß die weißen Gardinen vor den Fenstern in einem bezaubernden Strömen erquickender Luft sich hoben und senkten; das waren ihren Atemzüge. Wenn sie wachten, sahen sie zwischen den sich öffnenden Spalten erzblaues Meer, und die roten und gelben Segel der aus dem Hafen oder der einfahrenden Barken waren schrill wie dahinschwebende Pfiffe.
Sie verstanden nichts, und alles war wie Worte eines Gedichts.
Sie waren ohne Pässe abgereist und ein leises Gefühl von Furcht vor irgendeiner Entdeckung und Bestrafung begleitete sie. Als sie im Gasthof abgestiegen waren, hatte man sie für ein junges Ehepaar gehalten und ihnen dieses schöne Zimmer mit dem einen breiten, für zwei Menschen bestimmten Bett angeboten, das in Deutschland außer Gebrauch gekommen ist. Sie hatten sich nicht getraut, es zurückzuweisen.
Wenn man darinlag, bemerkte man rechts von der Tür, hochgelegt und nahe einer Zimmerecke, an einer ganz unverständlichen Stelle ein ovales Fenster von der Größe einer Kabinenluke; es war undurchsichtig verglast, beunruhigend wie ein heimlicher Beobachtungspunkt, aber von einem leichten Kranz gemalter Rosen umrahmt.
Als sie zum erstenmal auf die Straße traten: Geschwirr von Menschen. Wie ein Sperlingshaufen, der froh im Sand wühlt. Neugierige Blicke ohne Scheu, die sich zu Hause fühlten. Im Rücken der vorsichtig in diese Menge gleitenden Geschwister lag noch das Zimmer, lag das tiefe wie ein Windgekräusel auf dem Schlaf treibende Wachsein, die
selige Erschöpfung, in der man sich gegen nichts wehren kann, auch gegen sich selbst nicht, aber die Welt ferne wie einen blassen Lärm vor den unendlich tiefen Gängen des Ohrs hört.
Weiter. Scheinbar Koffernomaden. In Wahrheit von der Unruhe getrieben, den Platz zu finden, der würdig des Lebens und Sterbens war. Vieles war schön und hielt schmeichelnd fest. Aber nirgends sagte die innere Stimme: dies ist das letzte. Endlich hier. Eigentlich hatte sie ein farbloser Zufall hergeführt, und sie nahmen nichts Besondres wahr. Da meldete sich leise und bestimmt die Stimme. Vielleicht waren sie, ohne es zu wissen, des kreuzenden Reisens müde geworden.
Hier, wo sie geblieben waren, stieg von dem schmalen Strand, zwischen den zwei Felsenarmen der Küste, wie ein an die Brust gedrücktes Gewinde von Blumen und Büschen, kleine Wege in ganz sachtem, langem Anstieg darum gewickelt, ein Stück Gartennatur zu einem kleinen, weißen, am Hang geborgenen, zu dieser Zeit menschenleeren Hotel empor. Noch ein Stück höher kam nichts als schleiriger, in der Sonne flimmernder Stein, zwischen den Füßen gelber Ginster und rote Disteln von den Füßen gegen den Himmel emporlaufend, die ungeheure harte Gerade der Plateaukante, und wenn man mit geschlossenen Augen emporgestiegen war, die man jetzt öffnete: plötzlich wie ein donnernd aufgeschlagener Fächer das reglose Meer.
Es ist wohl die Größe des Schwungs in der Umrißlinie; diese weitausfahrende, mit einem Arm umspannende Sicherheit, welche übermenschlich ist? Oder nur die mit einer ungewöhnlichen Farbe gefüllte Einöde des Blaus? Oder daß die Himmelsglocke nirgends so unmittelbar über dem Leben ruht?
Oder Luft und Wasser, an die man nie denkt? Farblose gutmütige Dienstboten sonst. Aber hier bei sich waren sie mit einem Mal unnahbar aufgerichtet wie ein königliches Elternpaar.
Die Sagen fast aller alten Völker berichten, daß die Menschheit aus dem Wasser gekommen und die Seele ein Hauch von Luft ist. Sonderbar: die Wissenschaft hat festgestellt, daß der menschliche Leib fast ganz aus Wasser besteht. Man wird klein. Aus der Eisenbahn gestiegen, mit der sie das dichte Netz europäischer Energien durchquert hatten, und noch zitternd von dieser Bewegung heraufgeeilt, standen die Geschwister vor der Ruhe des Meers und Himmels nicht anders, als sie vor hunderttausenden Jahren gestanden wären. Agathe traten die Tränen in die Augen, und Anders senkte den Kopf.
Arm an Arm, und die Hände verschränkt, stiegen sie in der Abendbläue wieder zu ihrer neuen Heimat ab. In dem kleinen Speisesaal funkelte das Weiß der Tischtücher, und die Gläser standen als weicher Glanz. Anders bestellte Fische, Wein und Früchte, er sprach ausführlich und sorgfältig mit dem Anführer der Kellner darüber: es störte nicht. Die schwarzen Gestalten glitten um sie oder standen an den Wänden. Besteck und Zähne arbeiteten. Die Geschwister führten miteinander sogar ein Gespräch, um nicht aufzufallen. Anders redete jetzt beinahe von dem Eindruck, den sie oben empfangen hatten. Als ob die Menschen vor hunderttausenden von Jahren wirklich eine unmittelbare Offenbarung empfangen hätten, so ist es; wenn man bedenkt, wie ungeheuer das Erlebnis dieser ersten Mythen ist, und wie wenig seither … Es störte nicht; alles, was geschah, war wie in das Rauschen eines Brunnens gebettet.
Anders sah lange seiner Schwester zu; sie war nicht einmal schön jetzt; auch das gab es nicht. Auf einer Insel, welche man bei Tag nicht gesehen hatte, leuchtete eine Kette von Häusern auf: das war schön; aber weit weg, die Augen sahen nur flüchtig hin und dann wieder vor sich.
Das Meer im Sommer und das Hochgebirge im Herbst sind die zwei schweren Prüfungen der Seele. In ihrem Schweigen liegt eine Musik, die größer ist als alle andre irdische; es gibt eine selige Qual des Unvermögens, nach ihr zu schreiten, den Rhythmus der Gebärden und Worte so weit zu machen, daß er sich in den ihren fügt; mit dem Atem der Götter halten die Menschen nicht Schritt.
Anders und Agathe fanden am nächsten Morgen eine Stelle, eine weiße, winzige Sandbucht zwischen Felsen, unter dem Rand des Plateaus; als sie hinkamen, war das Gefühl da, wie ein Wesen, das dort lebte, sie erwartet hatte und ihnen entgegensah: hier weiß kein Mensch mehr von uns; sie waren einen kleinen natürlichen Pfad gewandert, die Küste bog ab, sie überzeugten sich in der Tat, daß das weiß leuchtende Hotel verschwunden war. Es war eine schmale, lange, sonnenbeschienene Felsstufe mit Sand und Steintrümmern. Sie kleideten sich aus. Sie hatten das Bedürfnis, nackt, schutzlos, klein wie Kinder vor der Größe des Meeres und der Einsamkeit das Knie zu beugen und die Arme auszubreiten. Sie sagten es einander nicht und schämten sich voreinander, aber, versteckt hinter Bewegungen der Kleider und des Suchens nach einem Ruheplatz, versuchte es jeder für sich.
Die Stille nagelte sie ans Kreuz.
Sie fühlten, daß sie ihr bald nicht mehr standhalten konnten, schreien mußten, wahnsinnig wie Vögel.
Deshalb standen sie mit einem Mal nebeneinander mit den Armen umschlungen. Haut klebte sich an Haut; schüchtern drang durch die große Einöde dieses kleine Gefühl wie eine winzige saftige Blüte, die ganz allein zwischen den Steinen wächst, und beruhigte sie. Sie bogen das Rund des Horizonts wie ein Kranz um ihre Hüften und sahen in den Himmel. Standen jetzt wie auf einem hohen Balkon, ineinander und in das Unsagbare verflochten gleich zwei Liebenden, die sich im nächsten Augenblick in die Leere stürzen werden. Stürzten. Und die Leere trug sie. Der Augenblick hielt an; sank nicht und stieg nicht. Agathe und Anders fühlten ein Glück, von dem sie nicht wußten, ob es Trauer war, und nur die Überzeugung, die sie beseelte, daß sie erkoren seien, das Ungewöhnliche zu erleben, hielt sie davon ab, zu weinen.
Aber sie entdeckten bald, dass sie das Haus gar nicht zu verlassen brauchten. Eine breite Glastür führte von ihrem Zimmer auf einen kleinen Balkon zum Meer hinaus. Man konnte ungesehn im Türrahmen stehn, die Augen auf dieses niemals Antwortende gerichtet, die Arme schützend umeinander geschlungen. Blaue Kühle, in der die lebendige Wärme des Tags noch nach Mitternacht wie feiner Goldstaub lag, drang von der See. Die Körper, während die Seelen in ihnen hochaufgerichtet waren, fanden einander wie Tiere, die Wärme suchen. Und da gelang den Körpern das Wunder. Anders war mit einem Mal in Agathe oder sie in ihm.
Agathe sah erschreckt auf. Sie suchte Anders außerhalb, aber fand ihn in der Mitte ihres Herzens. Sie sah wohl seine Gestalt außen in der Nacht lehnen, eingehüllt in Sternenlicht, aber das war nicht seine Gestalt, sondern nur deren leuchtende, leichte
Hülse; und sie sah die Sterne und die Schatten, ohne zu begreifen, daß sie weit waren. Ihr Leib war leicht und behend, es war ihr, als ob sie in der Luft schwebte. Ein wunderbarer und großer Aufschwung hatte ihr Herz ergriffen, mit solcher Schnelligkeit, daß sie fast noch den leisen Ruck zu fühlen meinte. Die Geschwister sahen in diesem Augenblick einander betroffen an.
So sehr sie seit Wochen jeder Tag darauf vorbereitet hatte, fürchteten sie in dieser Sekunde, den Verstand verloren zu haben. Aber es war alles klar in ihnen. Keine Vision. Eher eine übermäßige Klarheit. Und doch schienen sie nicht nur den Verstand, sondern alle ihre Vermögen verloren und abgelegt zu haben; es regte sich kein Gedanke in ihnen, sie konnten keinen Vorsatz fassen, alle Worte waren weithin zurückgewichen, der Wille leblos; – alles, was sich im Menschen bewegt, war reglos eingerollt wie Blätter in glühender Windstille. Es war beinahe ein Schmerz. Sie waren ganz verirrt, weithin von sich, in eine Weite gesetzt, darin sie sich verloren. Ihre Seele war so übermäßig gespannt wie eine Hand, die alle Kraft verliert, ihre Zunge war wie abgeschnitten. Es glich einer Verwundung. Aber es lastete diese todähnliche Ohnmacht nicht auf ihnen, sondern das war, als ob sich eine Grabplatte von ihnen weggewälzt hätte. Dieser Schmerz war so süß wie eine wundersame, lebendige Klarheit. Was sich hören ließ in der Nacht, schluchzte ohne Laut und Maß, was sie anblickten, war formlos und weiselos und hatte doch aller Formen und Weisen freudenreiche Lust in sich. Sie sahen ohne Licht und hörten ohne Laut. Es war eigentlich wundersam einfach: Mit den begrenzenden Kräften hatten sich alle Grenzen verloren, und da sie keinerlei
Scheidung mehr spürten, weder in sich, noch von den Dingen, waren sie eins geworden.
Sie sahen sich vorsichtig um.
Und wurden weiter gewahr, daß die begrenzenden Kräfte in ihnen sich gar nicht verloren, sondern in Wahrheit verkehrt hatten, und mit ihnen hatten sich alle Grenzen verkehrt. Sie schwiegen gar nicht, aber sie bemerkten, daß sie sprachen; sie wählten nicht Worte, sondern wurden von Worten erwählt; es regte sich kein Gedanke in ihnen, aber die ganze Welt war voll wundersamer Gedanken; sie vermeinten, daß sie und ebenso die Dinge nicht mehr einander abwehrende und verdrängende, geschlossene Körper seien, sondern geöffnete und verbundene Formen. Der Blick, welcher zeitlebens nur die kleinen Muster verfolgt, welche Dinge und Menschen auf dem ungeheuren Untergrund bilden, war mit einemmal umgekehrt worden, und der ungeheure Grund spielte mit den Gebilden des Lebens wie ein Ozean mit Streichhölzchen.
Agathe lehnte halb ohnmächtig an Anders’ Brust. Sie fühlte sich in diesem Augenblick von ihrem Bruder in einer so weiten, stillen und reinen Weise umarmt, daß es nichts Ähnliches gab. Ihre Körper bewegten sich nicht und wurden nicht verändert, dennoch floß ein sinnliches Glück durch sie, dessengleichen sie noch nie erlebt hatten. Das war kein Gedanke und keine Einbildung! Wo immer sie sich berührten, sei es an den Hüften, den Händen oder einer Strähne Haars, drangen sie ineinander ein.
Sie waren beide in diesem Augenblick überzeugt, daß sie den Scheidungen des Menschentums nicht mehr untertan seien. Sie hatten die Stufe des Verlangens überwunden, das seine Energie an eine Handlung und kurze Steigerung ausgibt,
und es drang die Erfüllung nicht bloß an den bestimmten, sondern an allen Stellen ihres Leibes auf sie ein, wie Feuer nicht weniger wird, wenn sich anderes Feuer daran entzündet. Sie waren untergegangen in diesem alles ausfüllenden Feuer, waren schwimmend darin wie in einem Meer von Lust, und fliegend darin wie in einem Himmel von Entzücken.
Agathe weinte vor Glück. Wenn sie sich bewegten, fiel die Erinnerung, daß sie noch zwei waren, wie ein Weihrauchkorn in das süße Feuer der Liebe und löste sich darin auf; dies waren vielleicht die schönsten Augenblicke, wo sie nicht ganz eins waren. Denn sie fühlten stärker als über andren über dieser Stunde einen Hauch von Trauer und Vergänglichkeit, etwas Schatten- und Schemenhaftes, ein Beraubtsein, eine Grausamkeit, eine ängstliche Anspannung ungewisser Kräfte gegen die Furcht, wieder eingewandelt zu werden. Und als sie den Zustand nachlassen fühlten, trennten sie sich wortlos und in äußerster Erschöpfung.
Am nächsten Morgen hatten sich Anders und Agathe getrennt, ohne das zu verabreden, und sahen einander nicht während des ganzen Tags; sie konnten nicht anders; das Gefühl der Nacht strömte noch ab und trug sie mit sich; beide hatten das Bedürfnis, allein mit sich fertig zu werden, ohne zu bemerken, daß dies einen Widerspruch gegen das Erlebnis enthielt, welches sie überwältigt hatte. Sie gingen unwillkürlich nach entgegengesetzten Richtungen weit über Land, machten zu verschiedenen Zeiten halt, suchten ein Lager im Angesicht des Meers und dachten aneinander.
Man mag es seltsam nennen, daß ihre Liebe sogleich das Bedürfnis nach Trennung hatte, aber sie
war so groß, daß sie ihr mißtrauten und nach dieser Probe verlangten.
Nun kann man träumen. Unter einem Busch liegen, und die Bienen summen; oder in die spinnende Hitze, die dünne Luft, die lebendige Leere schaun.Die Sinne schläfern ein, und im Körper leuchten die Erinnerungen wieder auf, wie die Sterne nach Sonnenuntergang. Er wird wieder berührt und geküßt, und der magische Trennungsstrich, welcher noch die stärksten Erinnerungen sonst von der Wirklichkeit unterscheidet, wird von diesen träumenden überschritten. Sie heben Zeit und Raum wie einen Vorhang auf und vereinen die Liebenden nicht nur in Gedanken, sondern körperlich, und nicht mit den schweren Körpern, sondern mit innerlich veränderten, die ganz aus zärtlicher Beweglichkeit bestehen. Aber erst, wenn man daran denkt, daß man während dieser Vereinigung, die vollendeter und glückseliger ist als die körperliche, gar nicht weiß, was der andere eben getan hat, noch was er im nächsten Augenblick tun wird, erreicht das Geheimnis seine größte Tiefe. Anders nahm an, daß Agathe im Hotel geblieben sei. Er sah sie auf dem weißen Platz vor dem weißen Haus stehn und mit dem Manager sprechen. Es war falsch. Und vielleicht stand sie bei dem jungen deutschen Professor,der angekommen war und sich ihnen vorgestellt hatte, oder sprach mit Luisina, dem Stubenmädchen mit den schönen Augen, und lachte über deren leichtfertig drollige Antworten. Daß Agathe jetzt lachen konnte!? Es zerriß den Zustand; ein Lächeln war gerade schwer genug, um von ihm getragen zu werden …!! Als Anders sich umkehrte, stand Agathe mit einem Mal wirklich da. Wirklich? Sie war über die Steine gekommen, in einem großen Bogen, ihr
Kleid flatterte im Wind, sie warf einen starken Schatten auf den heißen Boden und lachte Anders an. Glückselige wirkliche Wirklichkeit; es schmerzte so sehr, wie wenn Augen, die in die Weite gestarrt haben, sich rasch an die Nähe gewöhnen müssen.
Agathe setzte sich neben ihn. Eine Eidechse saß dabei; eine kleine, huschende Lebensflamme züngelte sie still neben ihrem Gespräch. Anders hatte sie schon lange bemerkt. Agathe nicht. Aber als Agathe, die sich vor kleinen Tieren fürchtete, ihrer gewahr wurde, erschrak sie und scheuchte, verlegen lachend, das Geschöpfchen mit einem Stein fort. Und um sich Mut zu machen, ging sie hinterdrein, klatschte in die Hände und jagte die Kleine.
Anders, der auf die kleine Kreatur wie auf einen flimmernden Zauberspiegel gestarrt hatte, sagte sich: daß wir jetzt so verschieden waren, ist so traurig, wie daß wir zugleich geboren wurden, aber zu verschiedenen Zeiten sterben werden. Er verfolgte mit Aug und Ohr diesen fremden Körper Agathe. Aber da geriet er mit einem Mal wieder ganz tief hinein und war am Boden des Erlebnisses, aus dem ihn Agathe aufgescheucht hatte.
Er vermochte es nicht klar festzustellen, aber in dieser flimmernden Helle über den Steinen, worin sich alles verwandelte, Glück in Trauer, und auch Trauer in Glück, gewann der peinliche Augenblick unvermittelt die heimliche Wollust des Hermaphroditen, welcher sich, in zwei selbständige Wesen getrennt, wiederfindet, deren Geheimnis niemand ahnt, der sie berührt. »Wie wundervoll ist es doch,« dachte Agathes Bruder »daß sie anders ist als ich, daß sie Dinge tun kann, die ich nicht errate und die doch durch unsre geheimnisvolle Sympathie auch mir gehören.« Es fielen ihm Träume ein, deren er
sich sonst nie erinnerte, die ihn aber doch oft beschäftigt haben mußten. Er war manchmal im Traum der Schwester einer Geliebten begegnet, obgleich diese gar keine Schwester besaß; und diese fremdvertraute Person leuchtete alles Glück des Besitzes und alles Glück des Verlangens aus. Oder hörte eine weiche Stimme, die sprach. Oder sah nur das Flattern eines Rocks, der ganz bestimmt einer Fremden gehörte, aber ganz bestimmt war diese Fremde seine Geliebte. Als ob eine wesenlose, eine ganz freie Zuneigung mit den Menschen nur spielte. Mit einem Schlag erschrak Anders und glaubte in großer Helligkeit zu sehen, daß gerade dies das Geheimnis der Liebe sei, daß man nicht eins ist.
»Wie wundervoll ist es, Agathe,« sagte Anders »daß du Dinge tun kannst, die ich nicht errate.«
»Ja,« antwortete sie »die ganze Welt ist voll von solchen Dingen. Als ich über diese Hochebene ging, fühlte ich, daß ich jetzt nach allen Seiten gehen könnte.«
»Warum bist du aber zu mir gekommen?«
Agathe schwieg.
»Es ist so schön, anders zu sein, als man geboren wurde« fuhr Anders fort. »Ich habe mich aber eben davor gefürchtet.«
Er erzählte ihr die Träume, an die er sich erinnert hatte, und sie kannte sie auch.
»Warum fürchtest du dich aber?« fragte Agathe.
»Weil mir einfiel, wenn es der Sinn dieser Träume ist – und es könnte wohl sein, daß sie die letzte Erinnerung daran bedeuten –, daß unsre Begierde nicht verlangt, ein Mensch aus zweien zu werden, sondern im Gegenteil, unsrem Gefängnis, unsrer Einheit zu entrinnen, zwei zu werden in einer Vereinigung, aber lieber noch zwölf, tausend,
unzählbar viele, wie im Traum uns zu entschlüpfen, das Leben hundertgrädig gebraut zu trinken und entführt zu werden, oder wie immer, denn ich vermag es nicht gut auszudrücken, dann enthält ja die Welt so viel Wollust wie Fremdheit, ist keine Opiumwolke, sondern enthält ebensoviel Zärtlichkeit wie Aktivität, eher ein Blutrausch, ein Orgasmus der Schlacht, und der einzige Fehler, den wir begehen könnten, wäre, daß wir die Wollust der Fremdheit verlernt hätten und uns einbilden, wunder was zu tun, wenn wir den Orkan der Liebe in dünne Bächlein teilen, die zwischen zwei Menschen hin und her fließen …«
Er war aufgesprungen.
»Wie müßte man dann aber sein?« fragte Agathe nachdenklich und einfach. Es schmerzte ihn doch, daß sie seinen halb geliebten und halb verfluchten Einfall sogleich sich aneignen konnte.
»Man müßte schenken können,« fuhr sie fort »ohne wegzunehmen. So sein, daß Liebe nicht weniger wird, wenn man sie teilt. Das ist dann auch möglich. Nicht Liebe wie einen Schatz behandeln« lachte sie. »Wie das doch in der Sprache liegt!«
Anders nahm kopfgroße Steine und schleuderte sie von der Höhe ins Meer hinaus, das winzig klein aufspritzte; er hatte lange keine Muskelbewegung mehr gemacht.
»Aber –?« sagte Agathe. »Ist, was du sagst, nicht einfach das, was man nicht selten liest, das große, in Zügen von Lust die Welt Trinken –? Tausendfach sein wollen, weil einmal nicht genügt?« Sie parodierte es etwas, weil sie plötzlich wußte, daß sie es nicht liebte.
»Nein!« schrie Anders zurück. »Nie ist es das, was die andern sagen!« Er schleuderte den großen Stein,
den er in der Hand hielt, so zornig zur Erde, daß der lockere Kalk zerbarst. »Wir haben uns vergessen« sagte er sanft, nahm Agathe unter dem Arm und zog sie fort. »Es müßten eine Schwester und ein Bruder noch dann sein, wenn sie in hundert Stücke geteilt sind. – Übrigens ist das ja nur ein Einfall.«
Indes kamen Tage, wo sich nur die Oberfläche bewegte. Auf den blitzend feuchten Steinen im Meer. Ein Schweigwesen, Fisch, blumig im Wasser. Agathe tollte von Stein zu Stein ihm nach, bis es abtaucht, wie ein Pfeil ins Dunkel dringt und verschwindet. Nun? dachte Anders. Agathe stand draußen auf den Klippen, er am Rand; eine Melodie des Geschehens brach ab, und eine neue muß fortfahren: Wie wird sie sich umwenden, zum Ufer zurücklächeln? Schön. Wie alle Vollendung. Vollkommen im Liebreiz der Bewegung tat es Agathe jetzt; die Einfälle des Orchesters ihrer Schönheit waren, wenn es scheinbar ohne Dirigenten musizierte, immer hinreißend. Jedoch alle vollendete Schönheit – ein Tier, ein Bild, eine Frau – ist nicht mehr als das letzte Stück in einem Kreis; eine Rundung ist vollendet, das sieht man, aber man möchte den Kreis kennen. Wenn es ein bekannter Lebenskreis ist, zum Beispiel der eines großen Mannes, dann ist ein edles Pferd oder eine schöne Frau wie die Agraffe im Gürtel, die ihn schließt und für einen Augenblick die ganze Erscheinung zu halten scheint; ebenso kann man sich in ein schönes Bauernpferd vergaffen, weil sich in ihm wie in einem zusammenziehenden Spiegel die ganze schwerfüßige Schönheit des Ackers und der Menschen wiederholt. Wenn aber nichts dahintersteht? Nicht mehr als hinter den Sonnenstrahlen, die auf den Steinen tanzen? Wenn diese Unendlichkeit des Wassers und
Himmels erbarmungslos offen ist? Dann glaubt man fast, daß Schönheit etwas im geheimen Verneinendes ist, etwas Unvollendetes und Unvollendbares, ein Glück ohne Zweck, ohne Sinn. Aber womit, wenn es ohne alles ist? Dann ist Schönheit eine Pein, zum Lachen und Weinen, ein Kitzel, um sich im Sand zu wälzen, mit dem Pfeil Apolls in der Flanke.
Die Helligkeit solcher Tage war wie Rauch, der die Klarheit der Nächte verwischte.
Agathe hatte etwas weniger Phantasie als Anders. Weil sie nicht so viel gedacht hatte wie er, war ihr Gefühl nicht so beweglich wie seines, sondern brannte wie eine gerade Flamme aus dem Boden, worauf sie gerade stand. Das Abenteuerliche der Flucht, das etwas durch die Furcht vor Entdeckung geängstigte Gewissen, endlich das Versteck in einem Blumenkorb zwischen Karstwand, Meer und Himmel gaben ihr zuweilen eine übermütige und kindliche Heiterkeit. Sie behandelte dann auch ihr sonderbares Erlebnis wie ein Abenteuer; einen verbotenen Raum in ihrem eigenen Innern, über dessen Gehege man späht, oder in den man eindringt, mit Herzklopfen, brennendem Hals und schweren Sohlen, an denen noch vom heimlich durcheilten Weg das plumpe Gewicht nasser Erde klebt.
Sie hatte manchmal eine spielende Art, sich berühren zu lassen, mit geöffnet verschlossenen Augen; wiederzukehren; eine Zärtlichkeit, die nicht zu sättigen war. Er beobachtete sie heimlich, sah dieses Spiel der Liebe mit dem Körper, welches das Entzücken eines Lächelns und das Niederdrückende einer Naturgewalt hat, zum ersten Mal, oder wurde zum ersten Mal davon gerührt. Oder es kamen Stunden, wo sie ihn nicht ansah, kalt, fast bös zu ihm war; –
weil sie zu bewegt war; wie ein Mensch in einem Boot, der sich nicht zu rühren wagt, so in ihrem Leib. Oder Nachreaktionen; zuerst eine Sperrung und dann, scheinbar ohne Anlaß, ein Nachfluten. Es war spannend und reizvoll, sich von diesen Eingebungen wiegen zu lassen, sie kürzten die Stunden, aber sie zwangen zu einer Optik der Nähe und kleinen Bemerkungen. Anders wehrte sich dagegen. Es war ein Rest von Erde, der in dem flüssigen Feuer schwebte und es trübte, eine Versuchung zu Erklärungen, wie daß Agathe niemals die richtige Verbindung von Liebe und Geschlecht kennen gelernt habe. Wie bei den meisten Menschen hatte sich die ganze Kraft des Geschlechtlichen zuerst mit einem Fünkchen von Neigung zusammengefunden, als sie den damals noch nicht unsympathischen Hagauer heiratete. Statt mit einem Menschen, fast nur in der Begleitung eines Menschen in einen Sturm zu geraten, der fast so unpersönlich ist wie die Elemente,und dann erst als eine noch namenlose Überraschung zu bemerken, daß die Beine dieses Menschen nicht so gekleidet sind wie die eigenen, daß die Seele lockt, das Versteck zu wechseln …
Aber auch solche Gedanken waren wie Gesang in einer falschen Tonart. Anders ließ diese Art Verstehen vor sich selbst nicht gelten. Einen geliebten Menschen verstehn darf kein Nachspionieren, sondern muß ein Schenken aus einer Überfülle glückhafter Eingebungen sein. Man darf nur das erkennen, was bereichert. Man schenkt Eigenschaften in der untrüglichen Sicherheit einer vorherbestimmten Übereinstimmung, einer niemals vorhanden gewesenen Trennung.
Eine uralte Säule – umgestürzt in der Zeit Venedigs, Griechenlands oder Roms – lag zwischen
Steinen und Ginster; jede Rille des Schafts und Kapitäls vom strahlenspitzen Stichel des Mittagsschattens vertieft. Bei ihr zu liegen, gehörte zu den großen Liebesstunden.
Vier Augen sahen hin. Nichts als Mittag, Säule, vier Augen. Wenn der Blick zweier Augen ein Bild sieht, eine Welt: warum nicht der von vier.
Wenn zwei Augenpaare lang ineinander blicken, kommt über die Blicke ein Mensch zum andren herüber, und es bleibt uns ein Gefühl, das keine Körper mehr hat.
Wenn zwei Augenpaare in einer geheimnisvollen Stunde ein Ding anblicken und sich in ihm vereinigen – jedes Ding schwebt tief unten in einem Gefühl, und die Dinge stehn nur so fest, wie sie es tun, wenn dieser Boden hart ist – beginnt die starre Welt, sich leise und unaufhörlich zu bewegen. Sie hebt und senkt sich unruhig mit dem Blut. Die Zwillingsgeschwister sahen einander an. In dem vollen Licht war nicht zu bemerken, ob sie noch atmeten oder wie Steine seit tausend Jahren dalagen. Ob die Steinsäule da lag oder sich im Licht lautlos aufgerichtet hatte und schwebte.
Es besteht ein bedeutsamer Unterschied in der Art, wie man Menschen und wie man Dinge betrachtet. Das Mienenspiel eines Menschen, mit dem man spricht, wird unsagbar befremdend, wenn man es als einen Vorgang in der Außenwelt betrachtet und nicht als einen fortlaufenden Signalaustausch zweier Seelen; von den Dingen sind wir gewohnt, daß sie schweigend daliegen, und halten es für eine beängstigende Vision, wenn sie ein bewegteres Verhältnis zu uns gewinnen. Aber es sind nur wir selbst, die sie so betrachten, daß die kleinen Veränderungen ihrer Physiognomie von keinen
Veränderungen unsres Gefühls beantwortet werden, und um dies zu ändern, ist im Grunde nicht mehr nötig, als daß wir die Welt nicht intellektuell betrachten, sondern daß statt unsren sinnlichen Maßwerkzeuges unsre moralischen Gefühle von ihr erregt werden. In solchen Augenblicken wird die Erregung, in der uns ein Anblick bereichert und beschenkt, dann so stark, daß nichts wirklich zu sein scheint als ein schwebender Zustand, der sich jenseits der Augen zu Dingen, diesseits zu Gedanken und Gefühlen verdichtete, ohne daß diese zwei Seiten voneinander zu trennen waren. Was die Seele beschenkt, trat hervor; was die Kraft dazu verliert, löste sich vor den Augen auf.
In dieser flimmernden Stille zwischen den Steinen lag ein panischer Schreck. Die Welt schien nur die Außenseite eines bestimmten inneren Verhaltens zu sein und mit diesem gewechselt werden zu können. Aber Welt und Ich waren nicht fest; in eine weiche Tiefe gesenkte Gerüste; aus einer Ungestalt sich gegenseitig heraushelfend. Agathe sagte leise zu Anders: »Bist du du selbst oder bist du es nicht? Ich weiß nichts davon. Ich bin dessen unkundig und ich bin meiner unkundig.« Es war der Schreck: Die Welt hing von ihr ab, und sie wußte nicht, wer sie war.
Anders schwieg.
Agathe fuhr fort: »Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht, in wen. Ich bin weder treu, noch ungetreu. Was bin ich doch? Ich habe das Herz von Liebe voll und von Liebe leer zugleich.« Sie flüsterte. Ein mittagsstiller Schreck schien ihr Herz umklammert zu halten.
Immer wieder war die große Probe das Meer. Immer wieder, wenn sie den schmalen Hang mit den
vielen Wegen, mit dem vielen Lorbeer, dem Ginster, den Feigen und den vielen Bienen hinangestiegen waren und oben auf die gewaltige hoch gebreitete Fläche hinaustraten, war es, wie wenn nach dem Stimmen eines Orchesters der erste große Ton einsetzt. Wie müßte man sein, um das dauernd ertragen zu können? Anders schlug vor, daß sie sich hier ein Zelt errichten wollten. Aber er meinte es nicht ernst; er hätte sich davor gefürchtet. Es waren keine Gegner mehr da, man war allein hier oben; der Abstoß, welchen man empfängt, solange man den Forderungen der Menschen und der eignen Gewissensgewohnheit widersprechen muß, war verbraucht, es ging in den letzten Kampf um die Entscheidung. Das Meer war wie eine unerbittliche Geliebte und Nebenbuhlerin; jede Minute war eine vernichtende Gewissenserforschung. Vor dieser Weite, die jeden Widerstand einzog, fürchteten sie, ohnmächtig zusammenzubrechen.
Dieses ungeheuer Gedehnte war – ein wenig langweilig. Diese Verantwortlichkeit für jede kleinste Bewegung war – sie mußten es sich eingestehn – etwas leer, wenn man damit die Heiterkeit der Stunden verglich, wo sie keine solchen Ansprüche an sich stellten, und die Körper mit der Seele spielten, wie schöne junge Tiere mit einer hin- und hergerollten Kugel.
Eines Tags sagte Anders: »Es ist weit und pastoral; es hat etwas von einem Pastor!« Sie lachten. – Dann erschraken sie über den Hohn, den sie sich selbst zugefügt hatten.
Das Hotel hatte einen kleinen Glockenturm; in der Mitte des Dachs. Um ein Uhr läutete diese Glocke Mittag. Da sie noch immer die fast einzigen Gäste waren, mußten sie nicht gleich folgen, aber der
Koch zeigte an, daß er fertig sei. Und die hellen Töne schnitten in die Stille, wie ein scharfes Messer eine Haut berührt, welche vorher geschaudert hat und sich in diesem Augenblick beruhigt. »Wie schön« sagte Anders, als sie an einem dieser Tage hinabstiegen »ist es eigentlich, wenn einen die Notwendigkeit treibt. So wie man von hinten mit einem Stäbchen die Gänse treibt oder von vorn die Hühner mit Futter lockt. Und nicht alles durch ein Geheimnis geschieht …« Die weißblaue, zitternde Luft schauderte wirklich wie eine Gänsehaut, wenn man lang in sie hineinstarrte. Erinnerungen quälten Anders; er sah plötzlich jede Statue und jede architektonische Einzelheit irgend einer daran überreichen Stadt vor sich, die er vor Jahren besucht hatte; Nürnberg stand vor ihm und Amiens, obgleich sie ihn niemals gefesselt hatten; irgendein großes rotes Buch, das er vor Jahren in einer Auslage gesehen haben mußte, ging vor seinen Augen nicht weg; ein schmaler gebräunter Knabe, vielleicht nur der von seiner Phantasie erfundene Gegensatz zu Agathe, aber so, als ob er ihm einmal wirklich begegnet wäre, aber er wußte nicht, wo, – beschäftigte seine Vorstellungen; Gedanken, die ihm irgendwann einmal eingefallen und längst vergessen waren: Lautloses, Lichtarmes, mit Recht Vergessenes wirbelte im Süden der Stille empor und ergriff Besitz von der verlassenen Weite. Die aller Schönheit von Anfang an beigemengt gewesene Ungeduld begann in Anders zu rasen.
Er konnte vor einem Stein sitzen, weltvergessen, in Anschaun versunken, und von dieser rasenden Ungeduld gepeinigt werden. Er war bis zum Ende gekommen, hatte alles in sich aufgenommen und lief Gefahr, daß er, ganz allein, laut zu sprechen begann, um sich nochmals alles vorzuerzählen.
»Ja, man sitzt da« sagten seine Gedanken »und man könnte sich nur nochmals vorerzählen, was man sieht.« Die Steine sind ja von einem ganz eigentümlichen Steingrün, und ihr Spiegelbild im Wasser spiegelt … Ganz richtig. Ganz, wie man es sagt. Und die Steine haben Formen wie Karton … Aber das nützt alles nichts, und ich möchte weggehn. So schön ist es.
Und er erinnerte sich: zu Hause, manchmal nach Jahren erst, und manchmal nur durch einen Zufall, wenn man gar nicht mehr weiß, wie alles war, fällt plötzlich von hinten von solchem Gewesenen ein Licht her, und das Herz tut alles wie im Traum. Er sehnte sich nach Vergangenheit.
»Es ist ja ganz einfach« sagte er zu Agathe »und alle Leute wissen es, bloß wir nicht: Die Phantasie wird nur von dem erregt, was man noch nicht oder nicht mehr besitzt; der Leib will haben, aber die Seele will nicht haben. Ich begreife jetzt die ungeheuren Anstrengungen, welche die Menschen zu diesem Zweck machen. Wie dumm, wenn dieser Kerl, der Kunstreisende, diese Blume mit einem Edelstein und diesen Stein da mit einer Blume vergleicht: wenn es nicht die Klugheit wäre, sie für einen kurzen Augenblick in etwas anderes zu verwandeln. Und wie dumm wären alle unsre Ideale, da doch jedes, wenn man es ernst nimmt, einem andren widerspricht. Du sollst nicht töten, also zugrundegehn? Du sollst nicht begehren deines Nächsten Gut, also in Armut leben? Wenn ihr Sinn nicht gerade im Undurchführbaren läge, wodurch sie die Seele entzünden! Und wie gut ist es für die Religion, daß man Gott weder sehen, noch begreifen kann! Aber welche Welt?! Ein kalter dunkler Streif zwischen den zwei Feuern des Noch-nicht und Nichtmehr!«
»Eine Welt, um sich zu fürchten« sagte Agathe. »Du hast recht.« Sie sagte es ganz ernst, und in ihren Augen war wirklich Bitterkeit.
»Und wenn es so ist!« lachte Anders. »Zum ersten Mal in meinem Leben fällt mir ein, daß wir uns furchtbar vor Schwindel fürchten müßten, wenn uns der Himmel nicht einen Abschluß der Welt vortäuschen würde, den es nicht gibt. Offenbar ist alles Absolute, Hundertgrädige, Wahre völlige Widernatur.«
»Auch zwischen zwei Menschen, du meinst zwischen uns?«
»Ich habe jetzt so gut begriffen, was Phantasten sind: Speisen ohne Salz sind unerträglich, aber Salz allein in großen Mengen ist ein Gift; Phantasten sind Menschen, die von Salz allein leben wollen. Ist das richtig?«
Agathe zuckte die Achseln.
»Sieh, unser Stubenmädchen, ein lustiges, dummes Ding, das nach Hausseife riecht. Ich sah ihr unlängst eine Weile zu, wie sie die Zimmer machte: sie kam mir so hübsch wie ein frischgewaschener Himmel vor.«
Es beruhigte Anders, das zu bekennen, und über Agathes Mund kroch ein kleiner Wurm des Ekels. Anders wiederholte es, er wollte nicht mit dem großen Ton der dunklen Glocke diese kleine Disharmonie überdecken.
»Es ist doch eine Disharmonie, nicht?! Und jede List ist der Seele recht, um sich fruchtbar zu halten. Sie stirbt mehrmals hintereinander vor Liebe. Aber -« und da sagte er nun etwas, von dem er glaubte, daß es ein Trost, ja daß es eine neue Liebe wäre »wenn alles so traurig und eine Täuschung ist, und man kann an nichts mehr glauben: brauchen wir da
einander nicht erst recht? Das Lied vom Schwesterlein,« lächelte er »eine stille nachdenkliche Musik, die nichts übertönt; eine Begleitmusik; eine Liebe der Lieblosigkeit, die leise die Hände reicht …?«
Agathe schwieg. Es war etwas ausgelöscht. Sie war zu innerst müde. Ihr Herz war ihr mit einem Griff genommen, und eine unerträgliche Angst vor einer Leere in ihrem Innern, vor ihrer Unwürdigkeit und Rückverwandlung quälte sie. So ist den Verzückten zumute, wenn Gott von ihnen weicht und ihren eifernden Rufen nichts mehr antwortet.
Der Kunstreisende, wie sie ihn nannten, war ein Dozent, der aus italienischen Städten kam, mit der Schmetterlingsnetzhaut und dem Botanisiertrommelgeist des fahrenden Kunsthistorikers. Er hatte hier Station gemacht, um sich vor der Rückkehr einige Tage zu erholen und sein Material zu ordnen. Da sie die einzigen Gäste waren, stellte er sich schon am ersten Tag den Geschwistern vor, man sprach nach den Mahlzeiten oder wenn man sich in der Nähe des Hauses traf, ein wenig miteinander, und es war nicht zu leugnen, daß dieser Mann, obgleich Anders über ihn lachte, in gewissen Augenblicken eine willkommene Entspannung vermittelte.
Er war sehr davon überzeugt, daß er als Mann und Gelehrter etwas bedeute, und machte Agathe von der ersten Begegnung an, nachdem er erfahren hatte, daß sich das Paar nicht auf einer Hochzeitsreise befände, mit großer Bestimmtheit den Hof. Er sagte ihr: Sie ähneln der schönen … auf dem Bilde von … und alle Frauen mit diesem Ausdruck, der sich im Stirnhaar und in den Kleiderfalten wiederholt, haben die Eigenschaft, daß … Agathe, als sie es Anders erzählen wollte, hatte schon die Namen vergessen, aber es war angenehm wie der feste Druck
eines Masseurs, wenn ein fremder Mensch weiß, was man ist, während man sich eben noch so aufgelöst wußte, daß man sich kaum von dem Schweigen des Mittags unterscheiden konnte.
Dieser Kunstreisende sagte: »Frauen sind dazu da, uns träumen zu machen; sie sind eine List der Natur zur Befruchtung des männlichen Geistes.« Er schillerte wohlgefällig auf sein Paradoxon, welches den Sinn der Befruchtung umkehrte. Anders erwiderte: »Es bestehen aber immerhin Unterschiede in der Art dieser Träume!«
Dieser Mann behauptete, man müsse bei der Umarmung eines »wirklich großen Weibes« an die Schöpfung von Michelangelo denken können.
»Man zieht die Sixtinische Decke über sich und ist darunter nackt bis auf den Blaustrumpf« spottete Anders. »Nein.«
Er gebe zu, daß die Durchführung Takt fordere, aber im Prinzip könnten das Menschen »doppelt so groß« als andere sein. »Schließlich ist es doch das Ziel allen ethischen Lebens, unsre Handlungen mit dem Höchsten zu vereinen, was wir in uns tragen!« Es war theoretisch gar nicht so leicht zu widerlegen, obgleich es praktisch lächerlich war.
»Ich habe gefunden,« sagte der Kunsthistoriker »daß es zwei Arten von Menschen gibt und im Lauf der Geschichte immer gegeben hat. Ich nenne sie die statischen und die dynamischen. Wenn Sie wollen, die Kaiserlichen und die Faustischen. Die Statiker können ein Glück als gegenwärtig empfinden. Sie sind irgendwie durch ein Gleichgewicht charakterisiert. Was sie getan haben, und was sie tun werden, greift durch das, was sie eben tun, ineinander über, ist harmonisiert und hat eine Gestalt wie ein Bild oder eine Melodie. Hat gewissermaßen eine zweite
Dimension, leuchtet in jedem Augenblick als Fläche. Der Papst zum Beispiel, oder der Dalai Lama; es ist einfach undenkbar, daß sie etwas täten, was nicht in den Rahmen ihrer Bedeutung eingespannt wäre. Dagegen die Dynamischen: die sich immer Losreißenden, vor und zurück bloß Blickenden, aus sich heraus Rollenden, die unempfindlichen Menschen mit Aufgaben, Unersättlichen, Drängenden, Glücklosen, welche die Statiker immer wieder überwinden, um die Weltgeschichte in Gang zu halten …« Mit einem Wort, er ließ durchblicken, daß er wohl beide in sich zu tragen vermöge.
»Sagen Sie,« fragte Anders so, als ob er ganz ernst wäre »sind die Dynamiker nicht auch die, welche in der Liebe nichts zu fühlen scheinen, weil sie entweder schon in der Phantasie geliebt haben oder erst das wieder Entglittene lieben werden? Man könnte doch auch das behaupten?«
»Ganz richtig!« sagte der Dozent.
»Sie sind unmoralisch und Träumer, diese Menschen, welche den rechten Punkt zwischen Zukunft und Vergangenheit niemals finden können …«
»Nun, das möchte ich doch nicht behaupten …«
»Doch, doch. Sie können verrückt gute oder böse Taten begehn, weil ihnen das Gegenwärtige nichts bedeutet.«
Darauf wußte der Kunstgelehrte nicht recht zu erwidern und fand, daß ihn Anders nicht verstand.
Die Unruhe wuchs. Der Sommer stieg heiß an. Die Sonne loderte wie eine Feuersbrunst bis an den Rand der Erde. Die Elemente füllten das Dasein an, so daß für das Menschliche kaum noch ein geduldeter Platz blieb.
Es kam vor, daß die Geschwister gegen Abend, wenn die glühende Luft schon leichte, erkaltende
Falten warf, auf den Steilufern wandelten. Gelbe Ginsterstauden sprangen von der Glut der Steine ab und standen unmittelbar vor der Seele; grau wie Eselsrücken, schleiriges Grün des Karstgrases darüber geworfen, die Berge; heißes Dunkelgrün des Lorbeers. Wenn der Blick lechzend auf ihm ruhte, sank er in immer kühlere Tiefen. Unzählige Bienen summten; es verschmolz zu einem tiefen metallischen Ton, der kleine Pfeile abschoß, wenn sie in jäher Wendung am Ohr vorbeikamen. Heroisch, ungeheuer die glatt gekantete, steil abbrechende, in drei Wellen hintereinander herkommende Linie der Berge.
»Heroisch?« fragte Anders. »Oder ist es nur das, was wir immer gehaßt haben, weil es für heroisch gelten soll? Diese unzählige Male gemalte und gestochene, diese griechische, diese römische, diese nazarenische, klassizistische Landschaft, diese tugendhafte, professorale, idealistische Landschaft? Und sie imponiert uns am Ende nur deshalb, weil wir ihr nun wirklich begegnet sind?! So wie man einen einflußreichen Mann verachtet und sich trotzdem geschmeichelt fühlt, weil man ihn kennt?«
Aber die wenigen Dinge, denen hier der Raum gehörte, respektierten einander, sie hielten voneinander Distanz und überfüllten nicht die Natur mit Eindrücken wie in Deutschland. Es half kein Spotten; wie nur ganz hoch im Gebirge, wo das Irdische immer weniger wird, diese Landschaft, nicht mehr die Umgebung menschlicher Wohnungen, sondern ein Stück Himmel, an dessen Falten noch einige Arten von Insekten hingen.
Und auf der andern Seite lag das Meer. Die große Geliebte, mit dem Pfauenrad geschmückt. Die Geliebte mit dem ovalen Spiegel. Das aufgeschlagene
Auge der Geliebten. Die Gott gewordene Geliebte. Die unerbittliche Forderung. Noch schmerzte das Auge und mußte wegsehn, von den aus dem Meer zurückschmetternden Speeren des Lichts getroffen. Aber bald wird die Sonne tiefer stehn. Es wird nur ein umgrenzter See von flüssigem Silber bleiben. Und dann muß man hinaussehn aufs Meer! Dann muß man es ansehn. Agathe und Anders fürchteten sich vor diesem Augenblick. Was kann man tun, um vor dieser ungeheuren, zuschauenden, aneifernden, eifersüchtigen Nebenbuhlerin bestehen zu bleiben? Wie soll man sich lieben? In die Knie sinken? Wie sie es anfangs getan hatten? Die Arme ausbreiten? Schrein? Kann man sich umarmen? Es ist so lächerlich, wie wenn man jemand zornig anschreien wollte, während nebenan alle Glocken eines Münsters läuten! Die fürchterliche Leere schloß sie wieder von allen Seiten ein.
Anders schüttelte den Kopf. »Man muß etwas beschränkt sein, um die Natur schön zu finden. So einer sein, wie der da unten, der lieber selbst spricht, statt einem zuzuhören, der ihm überlegen ist. Man muß sich durch sie an Schulaufsätze und schlechte Gedichte erinnert fühlen und imstande sein, sie im Augenblick des Sehens in einen Öldruck zu verwandeln. Sonst bricht man zusammen. Man muß dümmer sein als sie, um ihr standzuhalten, und muß schwätzen, damit man nicht die Sprache verliert.«
Zum Glück hielt ihre Haut der Hitze nicht stand. Schweiß brach aus. Eine Ablenkung war geschaffen und eine Entschuldigung; sie fühlten sich ihrer Aufgabe enthoben.
Aber während sie dem Haus zugingen, merkte Agathe, daß sie sich darüber freute, unten vor dem Hotel ganz gewiß den fremden Reisenden
anzutreffen. Anders hatte gewiß recht, aber es lag ein großer Trost in der schnatternden, eng angedrängten Gesellschaft dieses Menschen.
Fürchterliche Augenblicke kamen nachmittags im Zimmer. Zwischen der hinausgespreizten, rotgestreiften Markise und dem Steingeländer des Balkons lag ein handbreites blau brennendes Band. Die glatte Wärme, die hart gedämpfte Helligkeit hatten alles, was nicht fest ist, aus dem Zimmer verdrängt. Anders und Agathe hatten nichts zum Lesen mitgenommen; so war ihr Plan gewesen; sie hatten alles, was Gedanke, Normalzustand – und sei es noch so scharfsinniger –, Verknüpfung mit der gewöhnlichen menschlichen Art des Lebens ist, zurückgelassen: nun lagen ihre Seelen da wie zwei hartgebrannte Ziegelsteine, aus denen jeder Tropfen Wasser entwichen ist. Dieses kontemplative Naturdasein hatte sie in eine unerwartete Abhängigkeit von den primitivsten Elementen versetzt.
Endlich kam ein Regentag. Der Wind peitschte. Die Zeit wurde in einer kühlen Weise lang. Sie richteten sich auf wie Pflanzen. Sie küßten sich. Die Worte, die sie sich sagten, erquickten sie. Sie waren wieder glücklich. Es ist nur Gewohnheit, in jedem Augenblick stets schon auf den nächsten zu warten; stau dies, und die Zeit tritt aus wie ein See. Die Stunden fließen zwar, aber sie sind breiter als lang. Es wird Abend, aber es ist keine Zeit vergangen.
Indes folgte ein zweiter Regentag; ein dritter. Was geschienen hatte, neue Steigerung zu sein, glitt als Ende abwärts. Die kleinste Hilfe, der Glaube, daß dieses Wetter eine persönliche Fügung sei, ein ungewöhnliches Schicksal, und das Zimmer ist voll seltsamen Wasserlichts oder wie aus einem Würfel dunklen Silbers ausgehöhlt. Aber wenn keine Hilfe
kommt: wovon kann man sprechen? Man kann noch lächeln, aus weiter Trennung einander zu, – sich umarmen – sich bis zur todähnlichen Müdigkeit schwächen, welche die Erschöpften wie eine endlose Ebene trennt; man kann hinüber sagen: ich liebe dich; oder: du bist schön; oder: ich möchte lieber mit dir sterben, als ohne dich leben; oder: welches Wunder, daß du und ich, zwei so getrennte Wesen, aneinander geweht worden sind. Und man kann vor Nervosität weinen, wenn ganz leis die Langweile das abzunagen beginnt …
Fürchterliche Gewalt der Wiederholung, fürchterliche Gottheit! Anziehung der Leere, die wie der Trichter eines Wirbels immer tiefer hineinzieht, dessen Wände ausweichen. Küsse mich, und ich beiße leicht und immer härter und immer wilder, immer trunkener, blutgieriger, auf den Schrei um Schonung lauschender in deine Lippen, die Schlucht des Schmerzes hinabkletternd, bis wir zum Schluß in der senkrechten Wand hängen und uns vor uns selbst fürchten. Da kommen die tiefen Stöße des Atems zu Hilfe, der den Körper zu verlassen droht, der Glanz im Auge bricht, der Blick rollt nach den Seiten, der Gesichtsausdruck des Sterbens beginnt. Tausendfältiges Entzücken aneinander und Staunen wirbelt in der Verzückung. Auf wenige Minuten konzentrierter Flug durch Seligkeit und Tod, endend, erneut, die Körper schwingen wie heulende Glocken. Aber am Schluß weiß man doch: war es doch nur tiefer Sündenfall in eine Welt, in der es auf hundert Stufen der Wiederholung schwebend abwärts geht.
Agathe stöhnte: »Du wirst mich verlassen!«
Anders suchte Worte der Begeisterung. »Nein! Süße! Verschworene!«
»Nein« wehrte Agathe leise ab. »Ich vermag nichts mehr dabei zu fühlen …!«
Da es nun ausgesprochen war, wurde Anders kalt und gab die Mühe auf.
»Wenn wir an Gott geglaubt hätten,« fuhr Agathe fort »würden wir die Reden der Berge und Blumen verstanden haben.«
»Du denkst an Meingast?« forschte Anders, sofort eifersüchtig.
»Nein. Ich habe an den Kunsthistoriker gedacht. Sein Faden reißt niemals ab.« Agathe lächelte müde und schmerzlich. Sie lag am Bett, Anders hatte die Tür zum Balkon aufgerissen, der Wind schleuderte Wasser herein.
»Es ist egal« sagte er rauh. »Denk, an wen du willst. Wir müssen uns nach einem Dritten um-sehn. Der uns zuschaut, beneidet oder Vorwürfe macht.«
Er blieb vor ihr stehn und sagte langsam: »Zwischen zwei einzelnen Menschen gibt es keine Liebe!«
Agathe richtete sich auf einem Ellbogen auf und lag da, mit großen Augen, als ob sie den Tod erwartete.
»Wir sind einem Impuls gegen die Ordnung gefolgt« wiederholte Anders. »Eine Liebe kann aus Trotz erwachsen, aber sie kann nicht aus Trotz bestehn. Sondern sie kann nur eingefügt in eine Gesellschaft bestehn. Sie ist kein Lebensinhalt. Sondern eine Verneinung, eine Ausnahme von den Lebensinhalten. Aber eine Ausnahme braucht etwas, wovon sie Ausnahme ist. Von einer Negation allein kann man nicht leben.«
»Schließ die Tür« bat Agathe. Dann stand sie auf und ordnete ihr Kleid. »Wir wollen also abreisen?«
»Ja« sagte Anders. »Es ist ja alles vorbei.«
»Erinnerst du dich nicht mehr, unter welcher Bedingung wir hergekommen sind?«
Anders antwortete beschämt: »Wir wollten den Eingang ins Paradies finden!«
»Und uns töten,« sagte Agathe »wenn es uns nicht gelingt!«
Anders sah sie ruhig an. »Willst du denn?«
Agathe hätte vielleicht Ja sagen können. Sie wußte nicht, aus welchem Grund es ihr aufrichtiger erschien, langsam den Kopf zu schütteln und nein zu sagen.
»Diesen Entschluß haben wir auch verloren« stellte Anders fest.
Sie stand verzweifelt auf. Sprach, mit den Händen an die Schläfen, auf die eigenen Worte horchend: »Ich wartete … Ich war fast schon überreif und lächerlich … Weil ich trotz meines Lebens noch immer wartete … Ich konnte es nicht benennen und nicht beschreiben. Es war wie eine Melodie ohne Töne, ein Bild ohne Form. Ich wußte, es wird eines Tags von außen auf mich zukommen und wird das sein, was mich lieb hat, und mit dem es kein Übel mehr für mich geben wird, weder im Leben, noch im Tode …«
Anders, der sich ihr jäh zugewendet hatte, fiel parodierend ein, mit einer Gehässigkeit, durch die er sich selbst quälte: »Es ist eine Sehnsucht, ein Fehlendes: die Form ist da, nur die Materie fehlt. Dann kommt ein Bankbeamter oder ein Professor, und dieses Tierchen füllt langsam die Leere aus, die wie ein Abendhimmel gespannt war. Meine Liebe, alle Bewegung im Leben kommt vom Bösen und Rohen; das Gute schläft ein. Ist ein Tropfen eines Duftes; aber jede Stunde ist das gleiche Loch und
gähnende Kind des Todes, das mit schwerem Schotter ausgefüllt werden muß. Du hast vorhin gesagt: wenn wir an Gott glauben könnten! Aber eine Patience tut es auch, ein Schachspiel, ein Buch. Das hat der Mensch heute herausgebracht, daß er sich damit ebensogut trösten kann. Es muß bloß etwas sein, wo sich Brett an Brett legt, um über die leere Tiefe hinwegzuführen.«
»Aber lieben wir uns denn nicht mehr?!« rief Agathe aus.
»Man darf nicht übersehn,« antwortete Anders »wie sehr dieses Gefühl von der Umgebung abhängt. Wie es seinen Inhalt davon erhält, daß man sich ein gemeinsames Leben vorstellt, das heißt, eine Linie zwischen den andern Menschen durch. Vom guten Gewissen, weil alle andern sich so freun, wie diese zwei sich lieben, oder auch vom bösen Gewissen … Was haben wir denn erlebt? Wir dürfen uns nichts Falsches vormachen: Ich war doch kein Narr, als ich das Paradies suchen wollte. Ich konnte es bestimmen, wie man einen unsichtbaren Planeten aus bestimmten Wirkungen erschließt. Und was ist geschehn? Es hat sich in eine seelisch-optische Täuschung aufgelöst und in einen wiederholbaren physiologischen Mechanismus. Wie bei allen Menschen!«
»Es ist wahr,« sagte Agathe »wir haben die längste Zeit schon von dem gelebt, was du das Böse nennst; von der Unruhe, den kleinen Zerstreuungen, von Hunger und Sättigung des Körpers.«
»Dennoch,« antwortete Anders wie in einer überaus schmerzlichen Vision »wenn es vergessen ist, wirst du wieder warten. Tage werden kommen, wo hinter vielen Türen jemand auf einer Trommel schlägt. Gedämpft und beharrlich; schlägt, schlägt.
Tage, als ob du in einem Bordell auf das Knarren der Treppe warten würdest: wird es ein Feldwebel oder ein Bankbeamter sein. Den dir das Schicksal schickt. Um dein Leben in Bewegung zu halten. Und doch meine Schwester bleibst.«
»Aber was soll denn aus uns werden?« Agathe sah nichts vor sich.
»Du mußt heiraten oder einen Geliebten … das meinte ich vorhin.«
»Aber sind wir denn nicht mehr ein Mensch??« fragte sie traurig.
»Auch der einzige Mensch hat beides in sich.«
»Aber wenn ich dich liebe?!« schrie Agathe auf.
»Wir müssen leben. Ohne einander – für einander. Willst du den Kunsthistoriker?« Anders sagte es mit der Kälte einer großen Anstrengung. Agathe wies es bloß mit der Schulter ab. »Ich danke dir« sagte Anders. Er versuchte ihre schlaffe Hand zu fassen und zu streicheln. »Ich bin ja auch noch nicht so – so fest überzeugt …«
Sie schwiegen eine Weile. Agathe schob Laden auf und zu und begann einzupacken. Der Sturm rüttelte an den Türen. Dann wandte sich Agathe um und fragte ruhig und verändert ihren Bruder.
»Aber kannst du dir vorstellen, daß wir morgen oder übermorgen zu Hause ankommen, die Zimmer vorfinden, so, wie wir sie verlassen haben, Besuche zu machen beginnen? …«
Anders bemerkte nicht, wie groß der Widerstand war, mit dem sich Agathe gegen diese Vorstellung sträubte. Er konnte sich alles das auch nicht denken. Aber er fühlte irgendeine neue Spannung, wenn es auch eine traurige Aufgabe war. Er gab in diesem Augenblick nicht genug auf Agathe acht.
28.
Walther bei Anders
Anders dachte nicht an Walther und Clarisse. Da wurde er eines Morgens dringend ans Telefon gerufen: Walther. Warum er nicht zu ihnen käme, sie wüßten, daß er zurückgekehrt sei. Es habe sich vieles verändert, sie warten auf seinen Besuch. Anders lehnte ab und schützte kurz angebunden viel Arbeit nach langer Abwesenheit vor.
Zu seiner Überraschung erschien Walther bald danach in seiner Wohnung; er hatte sich im Büro freigemacht. Die Art, wie er sich nach Agathe und den Erlebnissen der Reise erkundigte, machte den Eindruck von Unsicherheit oder Beschämtheit; er schien mehr zu wissen, als er zeigen wollte. Endlich rückte er mit der Sprache heraus. Er habe jetzt erst gesehn, daß es Wahnsinn sei, an der Treue einer Frau zu zweifeln, die man liebe. Man müsse sich täuschen lassen können, aber müsse es verstehn, sich fruchtbar zu täuschen; zum Beispiel: er habe Unrecht getan, auf Anders eifersüchtig zu sein.
Also, er spricht von Clarisse, sagte sich Anders, plötzlich aufatmend.
»Unrecht« fuhr Walther fort, wenn er natürlich auch nie an mehr als geistige Untreue gedacht habe; aber die einfache körperliche Sympathie feststellen zu müssen, tue dann so weh.
»Ja, ja« nickte Anders.
»Lindner ist jetzt abgereist« ergänzte Walther.
Anders sah auf; es interessierte ihn eigentlich nicht, aber er hatte das Gefühl, daß sich da etwas Neues ereignet habe. »Weshalb?«
Einfach, seine Zeit war um. Aber Clarisse sei
einige Tage lang beängstigend verstimmt gewesen. Geradezu eine Melancholie. Aber das sei es eben; da begriff er erst die ganze Sache. »Stell dir vor,« sagte Walther »daß du eine Frau liebst, und du triffst einen Mann, den du bewunderst, und siehst, daß deine Frau ihn auch liebt und bewundert; und ihr fühlt beide, daß dieser Mann euch unerreichbar überlegen ist.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen.« Anders wölbte lachend die Schultern, Walther blickte ihn ärgerlich an, die beiden Freunde fühlten, daß sie ein altes, oft miteinander gespieltes Spiel markierten.
»Verstell dich nicht« sagte Walther. »So bis zur Unempfindlichkeit eingebildet bist du gar nicht, daß du glaubst, niemand sei dir überlegen!«
»Gut. Die Formulierung ist falsch. Wer ist objektiv überlegen? Herr Ingenieur Kurz oder Herr Ästhetiker Lang, ein Meisterringer oder ein Kurzstreckenläufer? Lassen wir das beiseite. Du meinst, daß man in gefühlhafte Abhängigkeit von einem Menschen gerät, ebenso die Geliebte: Was geschieht dann? Der Mann spielt dabei eine Männer- und eine Frauenrolle, die Frau hat weibliche Empfindung für den überlegenen Mann und eine mehr männliche Neigung für den früher und noch immer Geliebten. Es entsteht also etwas Hermaphroditisches, stimmt das?«
Anders hatte diese Überlegung improvisiert, und er war selbst über das Ergebnis erstaunt, das sie unwillkürlich annahm. Walther blickte ihn überrascht an. Er war nicht einverstanden, es war wieder zuviel Intellekt dabei, aber Anders kam doch der Wirklichkeit überraschend nahe, und er bewunderte den richtigen Instinkt Clarisses, die nach Anders verlangt hatte. Er kam nun ein wenig ins Erzählen.
– Ja, Clarisse sei von Lindner begeistert gewesen, und ganz mit Recht, weil nur eine neue, mehr als immer bloß ein Menschenpaar umfassende Gemeinsamkeit der Willen und Herzen aus dem Chaos wieder eine Menschheit machen könnte. Diese Ideen hatten sie ungeheuer ergriffen. Sie habe ihm nach Lindners Abreise gestanden: solange er dagewesen sei – er hatte sich doch wirklich wundersam verändert –, habe sie immer die Vorstellung beunruhigt, er habe ihre Sünden und die Walthers auf sich genommen und überwundern; klingt nur so, verteidigte Walther, ist aber gar nicht überspannt, denn er und Clarisse: überall komme man hinter ihren Konflikten auf einen Krankheitsstoff der Zeit. Sie möchte mit Anders jetzt wegen Moosbrugger sprechen. Anders war erstaunt.
Ja. Moosbrugger ist natürlich nur eine zufällige Begegnung. Aber wenn man mit so etwas nun einmal zusammengetroffen sei, dürfe man nicht gleichgültig vorbeigehn.
Anders zuckte die Achseln, aber er kam gegen Abend zu Clarisse.
29.
Clarisse, Wotan, Moosbrugger
Er fühlte sich schuldig, an Moosbrugger nicht mehr gedacht zu haben, und war neugierig auf das, was Clarisse wollte. Und nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, bemerkte er, es war ihr dadurch mit einem Mal gelungen, sich mit einer feinen Kralle in ihn festzuhaken, obgleich sie ihm schon ganz
gleichgültig, ja zuwider gewesen war. Als er sie ansah, wußte er, daß er für Moosbrugger etwas unternehmen werde, um seinem bangen, vorwurfsvollen und unbestimmten Zustand wegen Agathe zu entgehn. Sie war, als Anders kam, am Fenster gestanden, die Hände im Kreuz verschränkt, auf breiten Beinen wie beim Ballspiel, – es war eine für sie bezeichnende Stellung, aus der das Lächeln widerspruchsvoll lieblich hervorkam.
»Wir sind schicksalsverflochten,« meinte sie »du und ich, mein Lieber. Walther hat dir erzählt? Ich muß Moosbrugger sehn.«
Sie hielt bei der Begrüßung Anders’ Hand in der ihren, und fuhr mit dem Zeigefinger wie in unabsichtlicher Bewegung darunter hin. »Ich habe Einfluß auf solche Dinge« sagte sie vage.
Es mußten sich in der Zwischenzeit ganz bestimmte Ideenkonglomerate in ihr gebildet haben; man fühlte es an dem Pulsieren der Wandungen. Bei keinem zweiten Menschen, den Anders kannte, wurde alles Innere so Körper wie bei Clarisse, und darin bestand wohl auch diese ungewöhnliche Fähigkeit, ihre Erregung mitteilen zu können.
Ihr Bruder war schon für die Idee gewonnen. Er war Arzt. Anders mochte ihn nicht leiden. Da er als Kind des Wagnerrausches Wotan getauft worden war, glaubte er, überall für einen Juden zu gelten, und betonte seine Abneigung gegen die Juden wie gegen die Musik, da er, mit den andren Freunden aufgewachsen, sich als junger Mensch gezwungen gefühlt hatte, Baudelaire, Huysmans und Peter Altenberg zu lesen, hatte es die Zeit, wo dieser Schliff etwas abstumpfte, fertig gebracht, ein Gemisch von diesen etwa mit Alpenvereinspoesie aus ihm zu machen. Er war auch heute zu Besuch bei seiner
Schwester und Clarisse sagte, daß er irgendwo im Garten oder in den anschließenden Weinbergen arbeite. Da seine Nähe genügte, um Anders zu verstimmen, antwortete dieser ziemlich enttäuscht. Aber Clarisse schien es erwartet zu haben. »Wir brauchen ihn« sagte sie, und sie verstand, diesem Satz einen solchen Druck aus dem Hintergrund der Augen zu geben, als hieße er: es ist zu schade, daß er da ist, wenn wir schon das Glück haben, daß Walther fehlt, aber es muß sein.
»Warum willst du das überhaupt?!« fragte Anders.
Clarisse ging und schloß die Türe, welche offenstand. Dann antwortete sie: Ganz plötzlich sind mir die Unglücke auf den Eisenbahnen eingefallen. Gar nie entsteht eins, indem ein Führer die Lokomotive mit böser Absicht zu einem Zusammenstoß führt; alle entstehn, weil in diesem verworrenen Netz von Schienen, Weichen, Signalen und Befehlen ein Mensch aus Müdigkeit die Kraft des Gewissens verliert, mit der er noch einmal hätte prüfen sollen, ob er das Richtige getan hat … Stimmt das?«
Anders zuckte die Achseln.
»Alles Unglück entsteht daraus, daß man gewähren läßt!« fuhr Clarisse fort. »Das stimmt, Anders, – das habe ich an Walther gesehn. Du weißt schon, was. Jedes Mal, wenn ich nachgegeben habe, waren wir zerstört. Wir haben eben nicht gewußt, daß wir dabei einen Tropfen von dem größten Gift tranken, das es überhaupt gibt.« »Ihr …? Du …? Also es ist jetzt wieder so zwischen Euch?« fragte Anders.
Clarisse blitzte ihn aus den Augen an und nickte. »Was ist das äußerste Gegenteil davon, daß man gewähren läßt, daß man den Eindrücken nachgibt? Sich einprägen!«
Das Figürchen war energisch-elastisch im Zimmer auf und ab gegangen, die Hände auf dem Rücken; nun blieb es stehn und suchte sich mit den Augen an Anders’ Augen festzuhalten, denn die Worte, die Clarisse jetzt suchte, brachten ihren Geist ins Wanken. »Sich einkratzen, sage ich. Ich habe neulich etwas entdeckt, das ganz ungeheuerlich ist, so einfach es klingt: unser halbes Leben ist Ausdruck. Die Eindrücke sind ja gar nichts. Ein Haufen Regenwürmer! Wann verstehst du ein Stück Musik? Wenn du es selbst innerlich machst! Wann verstehst du einen Menschen! Wenn du für einen Augenblick selbst bist wie er! In der Kunst, in der Politik, aber auch in der Liebe suchen wir schmerzhaft, ›uns – aus – zu - drücken‹. Wir ›er-lösen‹ uns hinaus. Siehst du:« sie beschrieb mit der Hand einen waagrecht liegenden spitzen Winkel, der Anders unwillkürlich an einen Phallus erinnerte. »Den Ausdruck; die aktive Form unsres Daseins, die spitzige, die …« Sie wurde ganz erregt von der Bemühung, sich Anders verständlich zu machen. »Wundervoll steckt schon in dem Wort ›er-lösen‹ beides, das Aktive und die Erlösung. Verstehst du, man muß das üben, und schließlich, wenn ich mir und Walther dazu verhelfe, wird alles, was jetzt nicht möglich ist, pfeilgleich sein.«
In diesem Augenblick trat Wotan ein. Anders hatte Clarisse nicht unterbrochen. Sie war trotzdem zurückgewichen und stand aufgeregt, als ob er sie bedränge, an der Wand. Anders war es gewohnt, daß sie schwer die rechten Worte fand und sie oft mit dem ganzen Körper zu packen suchte, so daß dann der Sinn, der den Worten fehlte, in der Bewegung lag. Diesmal war er aber doch etwas erstaunt. Clarisse war aber noch nicht zufrieden, sie mußte
noch etwas sagen. ›Verstehst du, wenn ich ihm untreu bin – oder meinetwegen nimm an, er mir –, dann gräbt man sich ein wie in offenes Fleisch. Dann kann man gar nichts tun, was nicht tief schneidet. Dann kannst du nicht von diesem Tisch da sprechen, ohne daß es eine blutende Empfindung ist.« Ein Lächeln zwängte sich durch ihre Aufregung, weil Siegfried zuhörte, aber Wotan sah ihr ruhig zu wie einer Turnübung. Er hatte den Rock bei der Arbeit abgelegt und war an den Händen und Schuhen voll Erde. Er war noch von Clarisses Brautzeit her gewöhnt, der Mitwisser befremdlicher Geheimnisse zu sein, und mahnte geschäftsmäßig, als er nach der Uhr sah, zur Eile. Anders war die letzte Bemerkung sehr an ihn gerichtet vorgekommen.
Clarisse wechselte rasch das Kleid. Die Tür blieb offen und es schien kaum Zufall zu sein, daß er sie sehen konnte, als sie wie ein Knabe zwischen ihren Röcken stand.
Wotan erzählte: »Der Assistent der Klinik hat mit mir studiert.«
»Aber zum Teufel,« sagte Anders »was wollt ihr eigentlich von ihm?«
Wotan zuckte die Schultern. »Entweder ist dieser Moosbrugger geisteskrank oder ein Verbrecher. Das ist ja richtig. Aber wenn Clarisse sich einbildet, daß sie ihn bessern kann? Ich bin Arzt, und muß dem Anstaltsgeistlichen auch erlauben, daß er sich das einbildet. ›Erlösen!‹ sagt sie. Nun, weshalb soll sie ihn da nicht wenigstens sehn?!« Siegfried posierte Ruhe, bürstete Hosen und Schuhe ab und wusch sich die Hände. Wenn man ihn ansah, konnte man ihm den breiten gestutzten Schnurrbart nicht glauben.
Dann fuhren sie zur Klinik. Anders war in einem Zustand, wo er ohne Widerstand noch viel tollere Dinge mit sich hätte geschehen lassen.
30.
Bei Dr. Fried
Der Arzt, zu dem sie von Wotan geführt wurden, war ein Künstler in seinem Fach.
Das ist etwas, was es in jedem Beruf gibt, wo es auf Kopfarbeit ankommt, und besteht aus unbefriedigtem Gemütsehrgeiz.
In früheren Jahrzehnten gab es Photographen, welche das Bein des zu Verewigenden auf einen Felsblock aus Pappe stellten, heute ziehn sie ihn nackt aus und lassen ihn vor Sonnenuntergang müllern; damals trugen sie einen gelockten Bart und flatternden Schlips, heute sind sie glatt rasiert und betonen das Zeugungsorgan ihrer Kunst – genauso wie eine nackte Negerin durch einen Muschelschurz auf ihre Scham hinweist – durch eine Brille. Solche Künstler gab es aber auch in der Wissenschaft, im Generalstab und in der Industrie. In solchen Berufen gelten sie als interessante Nicht-nur-Fachmenschen und oft auch als Befreier von der Enge des Handwerks. In der Biologie zum Beispiel, der allgemeinen Lehre vom Leben, haben sie herausgefunden, daß man mit mechanischen, toten, kausalen Erklärungen und funktionalen Gesetzen nicht auskomme, sondern das Leben durch das Leben oder, wie sie es nennen, die Lebenskraft erklären müsse, und im Krieg haben sie ganze Divisionen geopfert oder die Bevölkerung weiter Etappenstriche füsilieren lassen, weil sie
es einer gewissen heroischen Großzügigkeit schuldig zu sein glaubten.
Bei Ärzten nimmt diese Romantik oft nur die harmlose Form des Familienratgebers an, welcher Heiraten, Automobilreisen und Theaterbesuch verordnet oder einem Neurastheniker, den die Sorgen des schlecht gehenden Geschäfts zu Boden drücken, rät, acht Wochen lang sich nicht um die Geschäfte zu kümmern. Eine besondere Stellung nahm darin nur die Psychiatrie ein, denn je geringer der exakte Erfolg ist, desto größer ist ganz allgemein der Kunstanteil in einer Wissenschaft, und bis vor wenigen Jahren war die Psychiatrie weitaus die künstlerischste aller modernen Wissenschaften, mit einer fast ebenso scharfsinnigen Literatur wie die Theologie und einem Heilerfolg, der im Diesseits nicht wahrzunehmen war. Ihre Vertreter waren deshalb häufig, und sind es selbst heute noch manchmal, große Künstler, auch Dr. Fried, Wotans Studiengenosse, war ein solcher. Wenn man ihn nach Heilaussichten befragte, lehnte er mit einer ironischen oder müden Gebärde ab, dagegen lag auf seinem Tisch immer ein sauber zwischen Glas präparierter und schön gefärbter Hirnschnitt neben dem Mikroskop, durch das er in die unverständliche Sternwelt des Zellengewebes schaute, und auf seinem Gesicht lag der Ausdruck eines Mannes, welcher eine schwarze Kunst, ein verrufenes und bewundertes Handwerk treibt, das ihn täglich in Berührung mit dem Unbegreiflichen und verworfenen Lüsten bringt. Seine schwarzen Haare waren dämonisch glatt gestrichen, als ob sie sich sonst sträuben müßten, seine Bewegungen waren weich und pervers und seine Augen waren die eines Kartenkünstlers, Hypnotiseurs, Meisterdetektivs, Totengräbers und Henkers.
Von den drei Besuchern beschäftigte er sich von vornherein nur mit Clarisse, Anders wandte er bloß die allernötigste Höflichkeit zu. Da ihn dieser deshalb in Ruhe und mit Ärger beobachten konnte, hatte er bald die Hauptpunkte heraus. Clarisse dagegen, welche ihr Verlangen von vornherein für erfüllt ansah, ging zu stürmisch vor und Dr. Fried sah sich als klinischer Assistent und Privatdozent gezwungen, Schwierigkeiten erkennen zu lassen. Clarisse war Frau und keine Medizinerin, die Wissenschaft aber bedarf der strengen Klausur. Wotan wollte die Verantwortung übernehmen, seine Schwester unter falscher Deklaration einzuführen. Da es öffentlich ausgesprochen war, konnte der Assistent aber nur müd dazu lächeln.
»Da wir keine Ärzte sind,« fragte Anders, »könnten wir nicht ein Schriftstellerpaar sein, das zu Studienzwecken –.« Der Assistent hob abwehrend die Hand: »Wenn Sie Zola und Selma Lagerlöf wären, ich würde durch ihren Besuch entzückt sein, was ich übrigens auch jetzt bin, aber hier werden leider nur wissenschaftliche Interessen anerkannt. Außer –« er machte eine lächelnd platzgebende Gebärde »die Gesandtschaften Ihrer Länder hätten sich für Sie an den Vorstand der Klinik gewandt …«
»Dann weiß ich, was wir tun können,« sagte Anders: »wir erfinden ein wohltätiges Motiv. Wenn die gnädige Frau nicht den Kranken sehn darf, so darf sie doch den Gefangenen besuchen. Ich kann ihr ohne weiters die Legitimation einer wohltätigen Gesellschaft und die Erlaubnis des Landesgerichts verschaffen.«
»Aber freilich. Sie kommen hieher in meine Dienstwohnung, am besten nach der Visite durch den Chef. Es fragt, wenn Sie in meiner Begleitung
sind, selbstverständlich kein Mensch nach Ihrer Erlaubnis. Aber ich muß natürlich eine Deckung von meinem Gewissen haben.«
Clarisse, welche die zu überwindenden Schwierigkeiten begeistert hatten, strahlte, und Dr. Fried sprach von seinem Gewissen zuletzt sehr von oben herab, mit dem Ton etwa eines Fürsten, der sich seinen letzten Untertan heißt.
31.
Vorbereitung auf den Besuch
Es verging ungefähr eine Woche. Clarisse war aufgeregt wie ein nervöses Kind in der Woche vor Weihnachten. Es machte den Eindruck, daß sie ihrer Begegnung mit Moosbrugger eine repräsentative Wichtigkeit beimaß wie der zweier Herrscher.
»Ich glaube, daß ich die Kraft habe, ihm zu helfen, wenn ich ihn sehe« behauptete sie. »Bring ihm lieber eine Wurst mit« antwortete Anders »und Zigaretten.«
Wotan lachte und brachte einen medizinischen Witz an; danach aber machte er wieder den Eindruck, dankbar zu sein für die höhere Energie, welche wie ein hinter dem Horizont befindliches Gewitter von Clarisses Ideen her in sein Dunkel strahlte.
»Vor hundert Jahren wäre man ihm bei der ersten Begegnung weinend an die Brust gesunken« bemerkte Anders.
Walther setzte natürlich hinzu, daß die Gefühle damals noch nicht so gebrochen waren wie heute.
Wotan machte einen Witz über seine Frau, die hysterisch sei, und die vielen ärztlichen Theorien, mit denen er nichts anzufangen wisse. Er hatte schon drei Kinder.
»Wenn sie am Klavier« verteidigte Walther Clarisse »bis zum fortissime spielt, wenn sie aufgeregt ist und die Tränen in den Augen hat: ist sie nicht vollkommen im Recht, wenn sie sich weigert, in die Tram zu steigen, auf die Klinik zu fahren und sich dort so zu benehmen, als ob das ›nur Musik‹ und nicht wirkliche Tränen gewesen wären!?«
»Sie ist vollkommen im Unrecht« antwortete Anders. »Denn Moosbruggers Gefühle für eine Wurst sind unangegriffen und gesund, dagegen wird ihn das eindringliche Benehmen Clarisses nur bedauern lassen, daß er ihr nicht ein Messer in den Bauch stoßen kann.«
»Meinst du wirklich?« Clarisse gefiel das. Sie dachte nach und sagte: »Er hat nur auf Ersatzweiber Zorn gehabt: das war es.«
»Er ist ein Narr« sagte Anders klar und ruhig.
Um Clarisses Mund kämpften ein Lachen, eine Schwierigkeit, und der Wunsch, Anders begreifen zu lassen, daß sie sich mit ihm verständigte. »Du bist ein Pessimist!« sagte sie schließlich; nichts sonst, außer: »Nietzsche!« Würde es Anders verstehn, Walther ahnen, was sich da eben ereignet hatte? Ihre Gedanken hatten sich zu einem ganz kleinen Paket zusammengepreßt, zu einem Satz und einem Wort, so wunderbar auf den kleinsten Raum gebracht wie das Einbruchswerkzeug eines Verbrechers, dem nichts widerstand; es regte sie abenteuerlich auf. Sie nahm jetzt jeden Abend sogar ins Schlafzimmer ein Buch von Nietzsche mit. »Gibt es einen Pessimismus der Stärke?« Das war der Satz, welcher ihr eingefallen war; er geht weiter: »… eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins?« Daran erinnerte sie sich nicht mehr genau, aber ein ungegliederter Inbegriff dieser Eigenschaften schwebte ihr vor, verknüpft mit Anders, der aus – ja, jetzt tauchte dieses Wort auf - »Tiefe des widermoralischen Hangs« – während sie immer gegen den moralischen Hang kämpfen mußte, mit Walther Mitleid zu empfinden – alles ins Lächerliche zog, und also sonderbar verknüpft mit ihr. Sie war halb ohnmächtig, als diese Zusammenhänge aufblitzten, halb Philosophie und halb Ehebruch, und alles in ein einziges Wort gepreßt wie in ein Versteck. Und wie eine neue Lawine rollte ein Satz herab, »das Verlangen nach dem Furchtbaren als dem würdigen Feind« und ergriff sie, und Bruchstücke aus einem langen Zitat wirbelten um sie: »Ist Wahnsinn vielleicht nicht notwendig das Symptom der Entartung? Gibt es vielleicht Neurosen der Gesundheit? Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr? Aus welchem Selbsterlebnis mußte sich der Grieche den Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken?« Das alles lag in einem Lachen, einem Wort und einem Zerren um den Mund. Walther bemerkte nichts. Anders sah sie gleichmütig lustig an – welche Härte lag in dieser Unbekümmertheit! – und mahnte zur Eile.
Als sie zur Endstation der elektrischen Bahn gingen, fragte sie Anders: »Wenn er ›nur ein Narr‹ ist, warum gehst denn dann du hin?«
»Ach, mein Gott,« erwiderte er, »ich tue immer das, was ich nicht glaube.« Er war überrascht, weil Clarisse ihn nicht ansah, sondern strahlend gradaus blickte und ihm heftig die Hand drückte.
32.
Besuch der Klinik
Die Klinik war in einem alten, zur Zeit Josefs II. aufgelassenen Kloster untergebracht. Da sie zu früh gekommen waren, mussten sie auf dem Gang vor seinen zwei Dienstzimmern eine Viertelstunde auf Dr. Fried warten, welcher einen Kurs für Studenten abhielt. Dieses unenergische Zeitverlieren war Anders angenehm. Er konnte über einen Lichthof weg, durch zwei Fenster und eine schöne bunte Glastüre, zusehen, wie jener demonstrierte. Eine hübsche, fette, junge Frau saß in einem Krankenstuhl und sah ebenso sanft wie geschmeichelt vor sich hin. Es kam Anders oft vor, daß sie lächelte. Dr. Fried nahm ihre Hand und hob sie hoch, hielt ihr etwas vor die Augen, lehnte sich mit der geschniegelten Zärtlichkeit eines Tierbändigers über ihren Stuhl, während er zu den Studenten hinabsprach. Durch die drei Glasscheiben wurde das viel eindringlicher. Anders dachte, wie schön das Leben hier sein müsse, in diesem Kloster der Wissenschaft, und wie seltsam, mit diesen kranken puppenhaften Menschen. Und wie sehr der Ehrgeiz, der Geist, das Glück, der Opferwille unserer Zeit in solchen stillen unbekannten Seen sich sammle, von denen man nichts sieht und hört, während das bewunderte Leben flach und ausgetrocknet ist.
In dem hohen Saal, der wohl einst eine Kapelle gewesen war, entstand jetzt Bewegung, und bald darauf kam Dr. Fried eilig über die bunten Steinfliesen des Gangs daher. Er führte seine Gäste, nachdem er sie in seiner immer etwas gesuchten Weise gebeten hatte, sich durch nichts aus der Fassung bringen zu lassen, ohne ihnen etwas davon zu sagen, auf einem weiten Umweg zu Moosbrugger, sein Reich vor ihnen eröffnend. Sie schritten die schöne breite Treppe hinab, kamen durch einige Kanzleiräume und einen winkligen, kurzen, unheimlichen, mit weiß getünchten Balken eingedeckten Gang an einer seitlichen Stelle ins Freie. Dr. Fried schloß eine schwere Eisentür hinter ihnen, sie atmeten in der Sonne, die auf den breiten freien Weg fiel, unfreiwillig auf, und staunten über zwei Kinder, die dort ruhig spielten, obgleich sie bemerkten, daß sie erst auf den allen zugänglichen Weg gelangt waren, der von der Einfahrt zu den hinten liegenden Wirtschaftsgebäuden führte.
Nachdem sich auf der andern Seite abermals schwere Eisenplatten hinter ihnen geschlossen hatten, befanden sie sich in jener Welt, welche Clarisse schon wochenlang unbegreiflich angezogen hatte, nicht nur mit dem Schauer des Geheimnisvollen und Abgeschlossenen, sondern als ob es ihr bestimmt wäre, dort etwas zu erleben, das man sich vorher nicht vorstellen kann. Zunächst unterschied diese Welt sich aber in nichts von einem großen alten Park, der in einer Richtung sanft anstieg und zwischen Gruppen schöner Bäume villenartige weiße Gebäude enthielt. Hinter seinen höchsten Punkten gab das Aufsteigen des Himmels das Gefühl einer schönen Aussicht, und auf einem dieser Aussichtspunkte bemerkte man jetzt schon von
weitem Kranke mit Wärterinnen, die dort in Gruppen standen oder auf Bänken saßen und wie weiße Engel aussahen. Als sie hinzugekommen waren, durchschritten die Besucher eilig diesen umgitterten Platz mit Blumen und Bänken, denn er bot nur ein Vorspiel. Sie bemerkten, dass allen Frauen in dieser friedlichen Abteilung das Haar offen auf die Schultern fiel. Sie hatten abstoßend häßliche Gesichter, mit fett verwachsenen, weichen Zügen. Eine zog sich den Strumpf hoch, und man sah ein sehr weißes, häßliches Bein. Eine andere, alte gab dem Arzt einen Brief an ihren Mann mit. »Adolph, Geliebter!« begann er, und soviel Clarisse sehen konnte, war er ziemlich zusammenhängend abgefaßt. »Immer die gleiche Sache« erklärte Dr. Fried: »Wann kommst Du? Hast Du mich vergessen?« »Du beförderst ihn doch gleich?!« bettelte die Alte. »Gewiß« versprach er und zerriß ihn, sobald die Oberschwester das Tor hinter ihnen geschlossen hatte; er besaß eine Sammlung solcher Briefe, erzählte er. Sie waren zwischen diesen weißen Menschenschatten hindurchgeglitten, ohne stehen geblieben zu sein; im Augenblick, wo es zu spät war, um sich umzukehren, fiel Clarisse die Seltsamkeit auf, dass sie nicht unterschieden hatte, welche die Kranken und welche die Wärterinnen waren.
Sie standen im Eingang des Pavillons Speranze, einer »ruhigen Abteilung« für Männer. Den stärksten Eindruck machte auf Clarisse ein paralytischer Herr, welcher allem Anschein nach einst der guten Gesellschaft angehört hatte. Er saß aufrecht im Bett, mochte Ende der Fünfzig sein und hatte einen sehr weißen Teint. Ein weißer Spitzbart und dichtes weißes Haar umrahmten sein gepflegtes und durchgeistigtes Gesicht, das unwahrscheinlich edel war
wie aus einem schlechten Roman; er nickte den Besuchern melancholisch zu, als sie ihn grüßten, und antwortete leise und melancholisch auf einige Worte, die der Arzt im Vorbeigehn an ihn gerichtet hatte, als sie schon an einem andern Bett standen.
Ein fröhlicher, dicker alter Maler saß darin, dicht am hellen Fenster, hatte Papier und Bleistifte auf seiner Decke liegen und zeichnete den ganzen Tag. Dr. Fried stiebitzte rasch ein Blatt und reichte es Clarisse; der Alte kicherte und hatte sich wie ein Weibsbild. Anders sah Clarisse über die Schulter; was er erblickte, war ein vollendet gezeichneter Entwurf zu einem Figurengemälde in einem Saal, mit peinlicher Korrektheit ausgeführt, so gesund und professoral wie aus der Staatsakademie. »Überraschend gut!« sagte er unwillkürlich. »Ei, siehst Du!« rief der Kranke. »Dem Herrn gefällt es, zeig ihm doch mehr, zeig ihm! Überraschend gut, hat er gesagt, oh, ich weiß schon, du lachst bloß, aber ihm gefällt es.« Er sagte das gemütlich und schien mit dem Arzt auf Neckfuß zu stehn, der seine Bilder nicht ernst nahm. Dicht neben ihm, im nächsten Bett, hing schon ein Idiot, der erste einer Reihe des Grauens. Alles am Körper schief, saßen sie in ihren Betten, die Unterkiefer vorgestreckt und hängend, unsauber, führten sie gewaltsame malmende Bewegungen aus, wenn sie nach Worten rangen. Ein Alter mit Greisenwahn, dünn wie ein Ledersack, in den die roten Äuglein wie zwei Knöpfchen versenkt waren, schloß die Reihe. Wie ein fürchterliches Glissando hatte dieses Zimmer auf Clarisse gewirkt. Im Beginn, bei dem schönen Märtyrer, hatte es sie fast sinnlich erregt, Frau zwischen solchen Doppelwesen aus Kind und Mann zu sein; Trost, Huschendes, nachts mit Blumen Berühren, fuhr ihr durch den Kopf. Das
steigerte sich noch durch die Überlegenheit, die sie gegen den offenbar ganz unkünstlerischen Dr. Fried empfand, den vor den Zeichnungen seines Kranken nicht die leiseste Ahnung davon berührte, daß es – sie hatte im Augenblick vor dem Fortgehn rasch nachgelesen und erinnerte sich jetzt genau – »Psychosen der Gesundheit« gebe; selbst eine so ehrbare und anerkannte Kunst wie die akademische hatte also ihre verleugnete, beraubte, aber zum Verwechseln ähnliche Schwester im Irrenhaus! Clarisse glaubte in diesem Augenblick, die Männer rings um sich in den Betten anblickend, die »Doppelwesen aus Gott und Bock« vor sich zu haben. Übrigens dachte auch Anders etwas, das nicht allzuweit davon entfernt war; die Zeichnungen erinnerten ihn daran, dass niemals eine einzelne Eigenschaft oder Tat,und sei sie noch so auffallend, an sich krank oder gesund und ebensowenig bös oder gut sei, sondern stets nur ein Symptom, ein Hinweis auf ein Ganzes, ein in der Moral übrigens schlecht erforschtes Ganzes, in dessen Rahmen sie ihren Platz erhält. Er hatte aber kaum ein paar Worte darüber Clarisse zugeflüstert, als das grauenvolle dumpfe Schwarz, das die Seelen der Idioten ausstrahlten, jede Illusion wegwischte, und schon begann etwas Neues und Dramatisches, das Clarisse keine Zeit ließ.
Als sie aus dem Zimmer traten, schlossen sich ihnen mehrere große dickschultrige Männer an, mit freundlichen, fleischigen Feldwebelgesichtern über sauberen Kitteln, und man begann ein Schreien und Schnattern zu hören, wie wenn man sich einer Volière nähert: »Die Unruhigenabteilung!« kündigte der Assistent an. Die Türe hatte keine Klinke; als sie ein Wärter mit einem Stecher öffnete, schickte sich Clarisse an, als erste einzutreten, aber Dr.
Fried zog sie jäh zurück. Der Wärter paßte einen Augenblick lang groß und breit vor dem schmalen Spalt, den er geöffnet hatte, dann erst schob er sich rasch hinein und ein zweiter folgte ihm, der auf der andern Seite des Eingangs Stellung bezog. So traten sie ein, Clarisse begann das Herz zu klopfen, und mit ähnlicher Vorsicht wurden sie jedes Mal, wenn sie sich einem Bett näherten, von den Wärter-riesen, als Vorhut, Flankendeckung und im Rücken gesichert. Was in den Betten saß, flatterte aufgeregt und schreiend mit Armen und Augen, jeder in einen Weltraum hinein, den er allein vor sich trug, und doch alle scheinbar in einer tobenden Konversation begriffen, wie fremde, in einen gemeinsamen Käfig gesperrte Vögel, von denen jeder die Sprache einer andern Rasse spricht. Manche trugen die Hände mit Schlingen, die ihnen nur wenig Spielraum gewährten, an den Bettrand gebunden: »Wegen Selbstmordgefahr!« erklärte der Arzt und nannte die Krankheiten; Paralyse, Paranoia und Dementia praecox waren die Rassen, denen diese fremden Vögel angehörten.
Einer von ihnen schrie den Gästen schon entgegen, als sie noch durch viele Betten von ihm getrennt waren, fuhr in dem seinen hin und her, als ob er sich verzweifelt befreien wolle, obgleich er nicht zu den Angebundenen gehörte, und übertönte den Chor mit großen Gesten, Beschimpfungen und Klagen. Er war Clarisse schon lange aufgefallen und je mehr sie sich ihm näherte, desto mehr beunruhigte es sie, daß sie durchaus nicht verstehen konnte, was er ausdrücken wollte: als sie hinkamen, erzählte der Oberwärter irgendetwas leise dem Arzt, und dieser traf eine Anordnung, dann sprach er den Kranken an. »Wer ist der Herr?« fragte der Irre; viele
fragten so, und Fried antwortete darauf, Anders sei ein Arzt aus Stockholm. »Nein, dieser!« Fried lächelte und sagte, das sei eine Ärztin aus Wien. Clarisse fühlte aus irgendeinem Grund ihr Herz schlagen. »Nein,« kam es zurück »das ist der siebente Sohn des Kaisers!« »Das ist nicht wahr« antwortete Dr. Fried und fügte, zu Clarisse gewandt, um einen Scherz zu haben, hinzu: »Sagen Sie es ihm selbst.« »Es ist nicht wahr, mein Freund« sprach Clarisse, die vor Aufregung kaum ein Wort herausbrachte, den Kranken an. »Aber du bist der siebente Sohn …?!« »Nein, nein« versicherte Clarisse und lächelte vor Erregung. »Du bist es.« Clarisse fiel durchaus nicht ein, was sie noch antworten solle, sie sah hilflos freundlich dem Irren in die Augen, der sie für einen Prinzen hielt, und in ihrem Innern bildete sich schon die Möglichkeit, ihm irgendwie recht zu geben. Aber in diesem Augenblick schien sein Blick zu schwer zu werden für den ihren, der ihn festhalten wollte; ein Gleiten, Fallen begann, und schon im nächsten Augenblick rissen die Augen wie Hunde an der Kette und die Schimpfworte bildeten einen dicken Schaum vor dem Maul. »Du Hund, Du lügendes Schwein …!« Aber schon packten die Wärter zu und drückten den Mann, der sich auf den Knien am Ende der Bettstatt aufgerichtet hatte, mit einer Gewalt, die ihn sofort beruhigte, auf sein Lager nieder. Fried lächelte, Clarisse wurde rot vor Verwirrung; ihr war zumut, wie wenn man im abfahrenden Lift plötzlich das Gefühl unter den Füßen verliert; alle Kranken, an denen sie schon vorbeigekommen waren, schrien hinter ihr drein, und alle, die sie noch nicht besucht hatte, schrien ihr entgegen. Sie wußte nicht, wie sie an ihnen vorbeigekommen war, aber der letzte, zu dem sie trat, war ein beruhigender, fröhlicher Alter,
der ein ganz vernünftiges Gespräch mit Dr. Fried begann und freundliche Witzchen über Wotan und Anders machte; sie waren aber mitten in dieser Unterhaltung begriffen, als er plötzlich erst Clarisse zu bemerken schien. Auch in sein Wesen kam nun dieses beängstigende Gleiten; seine Worte nahmen rasch etwas immer Schnatternderes an; Unflätigkeiten flossen immer dichter darein; und ehe man ihn hindern konnte, führte er mit lebhaften Worten Clarisse sein Glied vor und setzte erregt an, vor ihr zu masturbieren. »Mach keine Schweinereien!« sagte streng der Arzt, und die Wärter machten rasch ein schweigendes kleines Bündel aus dem Alten.
Das auffallende Interesse, das sie gefunden zu haben glaubte, die Mischung von Männlichkeit und Unmündigkeit in den Betten, die Schamlosigkeit, die als Krankheit hier etwas Alltägliches war, und mit lustiger Strenge hingenommen wurde, beschäftigten Clarisse lebhaft, aber der Zauberkünstler verstand seine Schaustücke noch zu steigern. Sie überschritten einen Gang und trafen dort auf sonntäglich aussehende Frauen und hübsche kleine Mädchen, welche den Mann oder Vater besuchen kamen und voll Vertrauens und Höflichkeit den Arzt grüßten. Es war, wie wenn man aus dem Dampfraum eines Hitzebads durch frischkühles Wasser gleitet und wieder in eine Höllenkammer hinein, denn das Tor, das sie jetzt öffneten, führte, nach den Mienen der Begleiter zu schließen, zu noch Schlimmerem. Sie traten zunächst in einen abgeschlossenen Hof, der von einer Galerie umzogen war und einer Pergola glich. Wie ein Würfel von Schweigen stand die leere Luft darin, dann erst entdeckte man die Menschen, die stumm an den Wänden saßen. Am Eingang kauerten idiotische
Jungen, rotzig und unsauber, als ob sie ein grotesker, an den Pfeilern des Tors angebrachter Bildhauereinfall wären. Neben ihnen, als erster an der Wand und von den übrigen abgerückt, saß ein einfacher Mann, noch in seiner dunklen Sonntagskleidung und war in seinem Nirgendshingehören unendlich rührend. Die andern machten mehr den Eindruck jener schweigenden Gewöhnung, welche man in Gefängnissen kennt; sie grüßten scheu und höflich und trugen kleine Bitten vor. Nur einer, ein junger Mensch, drängte sich heran und begann plötzlich zu querulieren; Gott weiß, womit er vorher seine Zeit verbracht hatte. »Ich will hinaus!« bat er. »Wann läßt du mich hinaus?!« »Darüber hat der Direktor zu entscheiden, nicht ich« suchte ihn der Assistent abzuspeisen, aber jener ließ nicht nach. Seine Bitten wiederholten sich, wurden zur Litanei, und allmählig kam ein Ton von Drohung in seine Stimme, von Bedrängen, etwas Schwirrendes, Um-flatterndes, wissenlos Gefährdendes. Die Wärter drückten ihn auf die Bank nieder, er verstand ihre Gewalt und kroch stumm wie ein Hund in das Schweigen zurück.
Sie pochten viermal mit der Faust an das eiserne Tor, das zum nächsten Hof führte, aus dem Unruhe herausdrang, und auf dieses Zeichen mußten sich alle, die dort durcheinander wirrten, an den Wänden aufstellen oder auf die Bänke setzen, die um das Viereck liefen; obgleich sie es wie militärisch gedrillte Sträflinge taten, wandten die Wärter beim Eintritt noch besondere Vorsicht an. Dr. Fried schärfte den Besuchern eilig ein, mindestens zwei Schritte Abstand von den Häftlingen zu halten, und sobald einer von diesen auch nur die kleinste Bewegung aus der Reihe heraus machte, packten
ihn schon die Wärter. »Es kommt alles darauf an, jede Unruhe schon im Keim zu ersticken« sagte Dr. Fried. Sie waren sieben gegen dreißig; in einem stillen, ummauerten, nur von Irren bewohnten Hof, darunter Mörder. Gleich bei der Tür stand einer; Dr. Fried zeigte ihn. Er war ein mittelgroßer, mittelkräftiger Mann mit einem braunen Vollbart und stechenden Augen; er lehnte mit verschränkten Armen in der Ecke, schwieg und sah den Besuchern böse zu. Clarisse hatte das Gefühl, sie könnte mit ihm sprechen. »Was die Ärzte nicht verstehn,« sagte sie sich, »ist, daß diese Menschen, obgleich sie hier den ganzen Tag ohne Aufsicht beisammen eingesperrt sind, einander nichts tun, und nur uns, die wir von außen zu ihnen kommen, aus der ihnen fremden Welt, gefährlich sind!« Dr. Fried hatte indessen einen zweiten Mörder sich ausgesucht und ihn angesprochen. Es war ein kleiner, untersetzter Mensch mit einem kahl geschorenen Sträflingsschädel, der sich nach oben stark verjüngte, stand stramm vor dem Arzt von seiner Bank auf und zeigte, dienstwillig antwortend, zwei Zahnreihen, die zum Steineknacken waren. »Fragen Sie ihn, warum er hier ist« flüsterte Dr. Fried Anders zu. »Warum bist du hier?« fragte Anders. »Das weißt du sehr gut« war die Antwort. »Ich weiß es nicht,« beharrte Anders »warum bist du hier?« »Das weißt du sehr gut!!!« »Warum bist du unhöflich gegen mich? Ich weiß es wirklich nicht.« »Weil ich will! Ich kann tun, was ich will!!« »Aber man soll doch nicht ohne Grund unhöflich sein.« »Das geht dich nichts an! Ich darf tun, was ich will! Verstehst du?!! Was ich will!!!« Ich möchte mit dem Kerl jetzt nicht allein sein, dachte sich Anders; die Antworten waren immer heftiger geworden, zum Schluß ranzte der Irre
wie ein Unteroffizier, lachte mit irgend etwas seines Gesichts, und unwillkürlich glaubte Anders, daß er ihn im nächsten Augenblick an der Kehle packen und ins Gesicht beißen würde, wenn er nicht die Wärter fürchtete. Die Szene war Anders peinlich geworden, er fühlte sich die dumme Rolle eines Menschen spielen, der ein im Tierpark gefangenes Tier reizt, und wollte sich schon ärgerlich an Dr. Fried wenden, damit er ein Ende mache, als Clarisse, die das Gespräch beobachtet hatte, nicht mehr an sich halten konnte und sich einmengte. »Ich komme von Wien!« sagte sie zu dem Kranken; sinnlos wie ein beliebiger Laut, den man einer Trompete entlockt, sie wußte keineswegs, was sie damit wollte, noch, wie ihr das einfiel, aber sie spürte eine schmetternde Zuversicht, daß ihr etwas gelingen würde. Und wirklich schien ein Wunder zu geschehn. Obgleich sie sich nirgends anders befanden als in Wien, ging ein Glanz über den Mörder, eine Weichheit breitete sich über sein Gesicht, und er war ganz verändert. »Oh, Wien! Eine schöne Stadt!« antwortete er. Dr. Fried lachte, aber Clarisse wurde von brennender Röte übergossen.
Es war sicher, daß sie einen Einfluß auf diese unverstandenen Menschen ausübte. Das dumpf Schreckliche, was noch kam, änderte daran nichts mehr. Sie hörten schon von weitem einen Schrei, und es blieb immer der gleiche; sie näherten sich den Einzelzellen. Als sie die erste Zellentür öffneten, blickten sie in einen kahlen Raum, der nichts enthielt als einen Menschen, einen zugedeckten Abort in der Ecke und eine niedere Liegestatt. Der nackte Mann stand in der Mitte des Raums; er war fast so groß wie Anders, ziemlich muskulös, hatte einen braunblonden Bart und glanzlos helle
Schamhaare. Er nahm nicht Kenntnis von der geöffneten Tür und den Menschen, die ihm zusahen; er stand mit gespreizten Beinen da, hielt den Kopf gesenkt, hatte dicken Speichel im Bart, und machte immer die gleiche Bewegung, wie ein Pendel. Es war ein flach kreisendes Vornherumwerfen des Oberleibs, mit einem Ruck, immer nach der gleichen Seite, mit einer Bewegung der Finger dazu, als ob er zählte, während der Arm als steifer Winkel an den Körper angepreßt blieb. Er begleitete jede Bewegung mit einem lauten, ächzenden Schrei, keuchend, von einer ungeheuren Anspannung der Muskulatur hervorgepreßt. »Er muß ermüden,« erklärte Dr. Fried »früher kann man nichts tun. Das dauert stundenlang« und er führte in die nächste Zelle, zu einem blödsinnigen Alten, der die Besucher gleichmütig anblinzelte. Er hatte geträumt, daß ihn seine Frau betrüge, und er erschlug sie nach dem Erwachen; er war Trinker. In der folgenden Zelle saß ein Arzt, stumpfsinnig brütend. In der letzten ein Advokat. Er trug Straßenkleidung, bloß ohne Kragen, hatte schwarzes Haar und einen schwarzen Vollbart und sah aus, als ob er sogleich zu einer Verteidigung aufs Gericht gehen könnte, oder vielleicht auch wie ein politischer Märtyrer vor der Hinrichtung. Er war aus Triest. Bloß wenn er sprach oder aufhorchte, spürte man etwas wie ein mühseliges Verstehen, eine widerstrebende Zähigkeit, durch die sein Geist sich durchkämpfen mußte; man würde es kaum gewahr geworden sein, hätte man ihn anderswo getroffen als in der Tobsuchtszelle. »Doktor,« sagte er »immer kommen Sie mit Fremden; wer ist die Dame?« »Ein Arzt aus Paris.« »Immer kommen Sie mit Fremden, ich will auch einmal mitkommen. Zeigen Sie mir …« Er schickte sich im gleichen Augenblick an, höflich die Tür für
Clarisse anzufassen. »Addio Avvocato!« sagte schnell der Arzt, und die Wärter schlossen mit einem merklichen gesellschaftlichen Respekt den Kranken ein.
Der Weg führte nun von den Pavillons durch den Garten wieder zum Hauptgebäude zurück, das sie durch einen anderen Eingang betraten. Es wurde friedlich; sie durchschritten einige Zimmer, wo Patienten mit Erkältungen und dergleichen Krankheiten lagen, die augenblicklich wichtiger waren als ihre geistige Zerstörung, oder auch besondre Fälle, die zu Zwecken des Experiments herausgeholt worden waren. Die Wärter waren zurückgeblieben, man begegnete jungen Ärzten, die in weißen Kitteln in der Nähe der Fenster schrieben oder mit Präparaten hantierten. Es war klar, daß die Führung beendet war und nun bald Moosbrugger kommen mußte. Aber Dr. Fried hatte noch eine Überraschung. Auf dem Fliesengang tauchten Wärterinnen auf, ein großer Saal öffnete sich, und Anders wie Clarisse glaubten plötzlich in ein lebendiges Blumenbeet zu blicken. Es war der Saal der hysterischen Frauen, durch den sie schritten. Sie lagen in den Betten, standen allein oder in kleinen Gruppen umher. Sie schienen alle aufgelöstes nachtschwarzes Haar zu haben und trugen blütenweiße Kleider. Etwas unsagbar Schönem und dramatisch Bewegtem glich dieser Saal, das man nicht ausdrücken konnte, weil in der Eile keine Einzelheiten haften blieben. »Schwestern!!« fühlte Clarisse, sie hatte die Empfindung, mit einem Schwarm wundervoller Liebesvögel höher auffliegen zu können, als jede Erregung des Lebens oder der Kunst es gewährte. Anders gelang es, einiges festzuhalten. Er fing Blicke auf, die ihm galten, demütig verliebtes dem Arzt in den Weg Streichen, von einer Stärke
der erotischen Sanftheit, wie er sie noch nie erlebt hatte. In den Betten lagen in ihren weißen Jacken, das Haar dunkel über die Polster gebreitet, Frauen, welche mit Bauch und Beinen unter der dünnen Decke das Drama der Liebe aufführten. Mit einem Mitspieler gepaart, der unsichtbar blieb, aber fühlbarer da war, gegen den sie übertrieben die weißen Arme stemmten, der übertrieben die Wogen des Busens aufwühlte, dem sich der Mund mit übermenschlicher Gewalt entzog und der Bauch mit übermenschlichem Verlangen entgegenwölbte, während die Augen inmitten dieses obszönen Schauspiels unschuldig mit der bezaubernden, leblosen Schönheit großer dunkler Blumen leuchteten.
Clarisse wie Anders waren tief verwirrt von diesem Blumenbeet der Liebe und der Leiden, von einem krankhaften und doch berauschenden Lebensduft, dem Schimmern, Hindurchgleiten, Nicht-stehenbleiben-Dürfen und doch -Mögen, von Liebe, Zynismus, Traum und Krankheit. Sie bemerkten kaum, daß sie ein großes leeres Zimmer danach durchschritten und noch eines, sie traten in einen dritten großen Raum, in dessen Mitte vier Menschen um einen Tisch saßen, der Arzt blieb in einer durch irgendetwas Besonderes kaum und doch auffallenden Weise stehen, und als sie aufsahen, füllte langsam ihren Blick die breite ruhige Gestalt Moosbruggers aus.
Was Clarisse weiter erblickte, war seltsam genug: eine Kartenpartie. Moosbrugger saß mit drei Männern am Tisch, von denen einer den weißen Kittel des Arztes, der zweite einen dunklen, schlecht sitzenden Anzug, und der dritte die etwas verschmierte Sutane eines Priesters trug, der zu Hause ist und keinen Besuch erwartet. Es waren dies, wie sie bald
erfuhr, Dr. Pfeifenstrauch, einer der Sachverständigen, welche bei der Gerichtsverhandlung Moosbrugger für zurechnungsfähig erklärt hatten, der weißgekleidete zweite Assistent der Klinik und der Pfarrer, welchem dort die Seelsorge oblag. Sie spielten zu dritt, so daß immer einer pausierte. Dieser Anblick eines gemütlichen Bockspiels am Ende eines Golgathawegs reizte Clarisse sogleich zum Widerspruch. Anders lachte. Sie begriff nicht, daß dieses Arrangement von Dr. Fried mit den andern verabredet worden war, um Moosbrugger unbefangen beobachten zu können. Die albernen, lächerlich gut zu diesem die Würde des Erlebten zerstörenden Anblick passenden Geschenke, die sie in Händen trug, brannten sie in die Finger; sie hätte sie am liebsten zur Erde geschleudert. Anders nahm ihr aber rechtzeitig die beiden Päckchen aus der Hand, Moosbrugger stand stramm und galant auf, der Arzt stellte ihm Clarisse vor, er fing ihre unsichere Hand mit seiner Tatze und machte eine stumme, schnelle Verbeugung in den Hüften wie ein Junge. Dann bat Dr. Fried, daß man sich nicht stören lassen möge, das Fräulein aus Paris sei hier, um die Wohlfahrtsanstalten zu studieren und sich zu überzeugen, daß in Österreich die Kranken so gut aufgehoben seien wie nirgends in der Welt.
»Pik war ausgespielt, nicht Karo, Herr Moosbrugger!« sagte der Anstaltsarzt, der ihn aufmerksam beobachtet hatte, so daß ihm die Ablenkung nicht entging, der sein Schutzbefohlener anheimgefallen war; Moosbrugger lächelte generös unaufmerksam zu dieser Ermahnung, während er sonst achtsam wie ein Falke spielte, ja die Gefahr eines gewalttätigen Ausbruchs jedes Mal befürchten ließ, wenn er nicht durch Kartenpech, das jeder haben
kann, sondern durch einen Fehler unterlag. Diesmal aber begann er bloß, nachdem er gehört hatte, daß Clarisse aus Paris gekommen sei, seine Stiche bis zwanzig französisch zu zählen, denn bis zu dieser Zahl konnte er es, wenn es ihn auch im Spiel störte.
33.
Dr. Pfeifenstrauch
Anders hatte Dr. Pfeifenstrauch sofort wiedererkannt. Der abgeplattete, nach hinten und in die Tiefe gewölbte Schädel, die Bart- und Haarstummel, welche an dem Mann hingen, die kleinen Hände und kurzen Nägel waren ihm unvergeßlich geblieben. Es war nun schon recht lange her, daß ihn Anders, einer plötzlichen Eingebung folgend, aufgesucht hatte; das geschah in jener ersten Zeit, wo es ihn nicht duldete, das Schicksal Moosbruggers widerstandslos zu ertragen. Er erinnerte sich genau, wie er zu seinem eigenen Erstaunen einen vorüberfahrenden Einspänner anrief, und sich gerade von diesem Fuhrwerk, das er sonst nie benützte, hinaus zu Dr. Pfeifenstrauch tragen ließ; denn dieser wohnte weitab in einem Arbeiterviertel. Die Fenster klirrten und der Wagen roch nach muffigem Leder wie ein Fechtboden. Am Tag zuvor hatte ein Bekannter Anders sonderbare Geschichten von Dr. Pfeifenstrauch erzählt.
Dr. Pfeifenstrauch war praktischer Arzt ohne Praxis; auf dem unscheinbar kleinen Schild im Hauseingang war er als gerichtlicher Sachverständiger legitimiert, aber es waren keine Sprechstunde
angegeben. Kein zweites Wort der deutschen Sprache vermochte derart seine Abneigung zu erregen wie das angesehene Wort »Heilkunde«; er ordinierte nicht. Er arbeitete aber auch nicht auf einer Klinik, noch irgend einem andern Institut der reinen oder angewandten Wissenschaft. Man hatte Anders erzählt, daß er in jungen Jahren einige gerichtsmedizinische Arbeiten veröffentlicht habe, welche ihm die Berufung als Sachverständigen eintrugen; seither, und er mußte jetzt ein Mann stark in den Vierzig sein, war nicht ein Strich aus seiner Feder gekommen. Er lebte von einer kleinen Rente und den bescheidenen Honoraren, welche ihm seine Gutachten eintrugen, in einer von ihm selbst erfundenen, sparsamen und den Geist anregenden Art, die es verdient, wenn auch nicht zur Nachahmung, aufgezeichnet zu werden. Er stand nämlich spät auf und aß dann auf nüchternen Magen ein Stückchen Aal oder geräucherten Fisch, das er nicht mit der Gabel, sondern aus einer kleinen, mehr-zackigen und scharfen Angel in den Mund führte. Die scharfen Haken nötigten zu vorsichtiger und langsamer Bewegung der Lippen und zu einem umsichtigen Benagen, was bei jemand, der ein Nachtleben führt, außerordentlich wichtig ist, indem es die Sekretion in einer sonst nicht erreichbaren Stärke anregt. Hatte er es eilig, so begnügte er sich wohl auch damit, ein Stück Knochen, während er sich wusch und seine Kleider reinigte (weibliche Bedienung durfte seine Wohnung nur in seiner Abwesenheit betreten) abzunagen, und in früheren Jahren verfocht er die Lehre, daß das Volk, welches die Speisen mit dem Messer zu Mund führt, nach einer alten, den Gebildeten verloren gegangenen Weisheit handle. Hatte er nun seinen Speichel
angeregt und die Magensäfte in Erwartung gesetzt, so verzehrte er eine so gewaltige Menge Milchsuppe mit Gemüse und Schmalzbrot, wie sie sich nur nach solcher Vorbereitung aufnehmen ließ, und dies eben war sein Patent, denn er setzte seinem Innern noch eine Hochpolitur durch starken schwarzen Kaffee auf, die er im Lauf des Tags und der Nacht einige Male erneuerte, aber sonst nahm er während vierundzwanzig Stunden nichts weiter zu sich und konnte ungestört von den Schwächen des Körpers nur den Bedürfnissen des Geistes leben.
Es gibt solche Menschen, welche das Leben eines Heiligen oder eines Bohemiens führen, ganze Universitäten zusammenlesen, in den entlegensten Winkeln irgend einer Sache Bescheid wissen, wie ein böser Hofhund, der keinen zweiten duldet, über ein außerordentlich scharfes kritisches Urteil verfügen, und doch schöpferisch nicht mehr hervorbringen als während ihres ganzen Lebens ein paar, in ihrem Unverhältnis lächerlich kleine spezialistische Veröffentlichungen. Solche Männer kennen etwa alle ungedruckten Schriften der Scholastiker und wissen, wieviel Federn nach diesen Autoren die Engel besaßen und wieviele die Erzengel. Oder sie haben die Wirkungen studiert, welche die Bekanntschaft mit den Affen in der europäischen Philosophie, Literatur und Malerei hinterlassen hat. Denn wir geben uns über diese Wirkung keine Rechenschaft und das ist sehr merkwürdig, denn wir dürfen für das klassische Altertum von seinem Beginn an diese Bekanntschaft voraussetzen, dem nördlichen Europa muß sie aber irgendwann – vielleicht in der Zeit der Troubadours – neu gewesen sein und ganz erschütternd gewirkt haben oder auch nicht, was nicht minder merkwürdig wäre.
Dr. Pfeifenstrauchs Besonderheit war die wissenschaftliche Behandlung des pathologischen Verbrechers. Als Anders zu ihm kam und seinen Namen nannte, kannte er natürlich nicht nur den zwischen seinem Vater und Professor Schwung geführten Streit in allen Einzelheiten, obgleich das Jus in diesem Fall ja nur ein angrenzendes Nachbargebiet war, sondern wußte auch in allen andern Nachbargebieten Bescheid, von der medizinischen Seite des Falls als natürlich zu schweigen. Nun ist es, wenn zwei Universitätsprofessoren sich dergestaltig spezialisieren, gewöhnlich eine natürliche Alterserscheinung, sozusagen eine leichte Leibesübung, die sie sich neben ihrer den Rest der Alterskraft beanspruchenden Lehrtätigkeit übrig gelassen haben; wenn ein Mann sich aber unter Verzicht auf jede gehobene bürgerliche Lebensstellung von verhältnismäßig jungen Jahren an einer solchen besonderen Leidenschaft hingibt, so geht man selten fehl, indem man auf eine wunderliche Anlage seines Charakters schließt. Als Anders sich seinerzeit genau über den Fall Moosbruggers unterrichtet und von Dr. Pfeifenstrauch alle sachverständigen Möglichkeiten erfahren hatte, in ihm einen Unverantwortlichen zu sehn, fragte ihn dieser, wozu er das eigentlich wissen wollte und im Zusammenhang mit welcher wissenschaftlichen Frage er die Erscheinung bearbeite. Anders erwiderte, seine eigene Verlegenheit in dieser Angelegenheit hinter einem Ton des Leichtsinns verbergend, er wolle diesen Menschen retten.
Da sagte Dr. Pfeifenstrauch: »Wenn ich das gewußt hätte, hätte ich Ihnen gar keine Auskunft gegeben. Das ist Unsinn.« Das vertrauliche Gespräch,das auf diese rücksichtslose Äußerung folgte, hatte
auf Anders einen tiefen und unheimlichen Eindruck gemacht. »Wir alle sind unzurechnungsfähig,« sagte Pfeifenstrauch ungefähr »wenn man davon ausgeht, daß wir von Kräften in uns und um uns abhängen, auf die wir keinen oder nur einen beschränkten Einfluß haben. Aber es handelt sich eben darum, ob wir aus guten oder aus bösen Kräften bestehn. Es ist ein Nonsens, die Existenz böser Menschen zu leugnen, um die Wichtigkeit der Medizin zu übertreiben; denn wenn alle Menschen krank sind, bleiben keine bösen Menschen mehr übrig.«
»Und wenn es so wäre?!« wandte Anders selbstverständlich ein. »Es wäre doch nicht mehr zu wünschen, als daß wir das Abnormale heilen könnten!«
»Glauben Sie das wirklich?« Pfeifenstrauch sah ihn zweifelnd an. »Das ist einfach eine Utopie. Es hieße, einen völlig ausgeglichenen sozialen Zustand wünschen, der auch den Schwächsten nicht ins Verderben dreht, und dazu den psychotechnisch erzeugten Normalmenschen. Ich setze das eigentlich nicht von Ihnen voraus. Es wäre eine langweilige Welt. Sobald ein Mensch ein ungewöhnliches Gefühl äußerte, würde man ihn in die Maschine spannen und durch Zufügung oder Entzug von Keimdrüsensubstanz oder dergleichen einebnen.«
»Daß unser öffentliches Leben dahin steuert, ist leider keine Utopie, aber ich räume ein, daß es keine wünschenswerte Zukunft bedeutet.«
»Mir ist die Betreuertätigkeit,« sagte Dr. Pfeifenstrauch »welche man gewöhnlich mit der Vorstellung des Arztes verbindet, unausstehlich. Ich helfe nicht einmal den Bohemiens im Kaffeehaus oder in der Kneipe. Sei krank! So bist du vereinzelt. Verlassen von den Menschen und unmittelbar im Atemkreis Gottes!«
»Hm. Meiner Ansicht nach handelt es sich aber doch auch noch um andres: Nehmen wir an, wir könnten einen Paranoiker von seiner fixen Idee durch ein chemisches Mittel befrein, so würden wir das doch tun. Und angesichts der andren Verbrecher, deren Symptome auf Krankheiten hinweisen, die wir wohl beschreiben, aber nicht behandeln können, müßten wir die Schuld uns geben, und der Staat müßte eigentlich für jeden solchen Fall eine Buße zugunsten neuer Forschungen zahlen!«
»Man sieht, daß Sie kein Mediziner sind!« Dr. Pfeifenstrauch lachte. »Ihnen imponieren die schweren Fälle, in denen handgreiflich das ganze Willenssubjekt pathologisch ist. Genauso« fügte er mit einem Ausdruck zynischer Verachtung hinzu »wie unsren Gesetzgebern nur den Eindruck eines Geisteskranken macht, was kein vernünftiges Wort mehr hervorbringt oder wie ein Tier um sich beißt. Es gibt aber doch mittlere und Grenzfälle, wo in einer sonst ausbalancierten Psyche Hemmungen unterwertig oder Antriebe überwertig werden. He? Wie ist es zum Beispiel mit einer leichten Alkoholvergiftung. Oder einer sexuellen Entwicklungsstörung?«
Anders, also examiniert, meinte, daß das in solchen Fällen handelnde Ich zweifellos verändert sei; das Ich sei normal, aber sein Zustand wäre als abnormal zu bewerten.
»Und bei Liebe?! Oder Eifersucht?! Sind dies keine abnormalen Zustände normaler Wesen? Nein, mein Herr. Das Ich ist ein fließender Ring in der Ursachenkette, und diese ist gar keine Kette, sondern ein Gefilz; wir sind unsre eigene Mitursache und Mitfolge. Nehmen Sie an, ein Herr A kommt zu einem Herrn B und reizt ihn zur Eifersucht
gegen einen C. Danach geht er zu C und bestellt ihn irgendwohin, wo ihn B unter verdächtigen Umständen treffen muß. Es geschieht, und B tötet den C: war A daran Schuld?« »Zweifellos.« »Aber A hätte weder den B noch den C zu treffen brauchen? B wie C hätten gegen seine Einflüsterungen immun sein können, und so weiter. Wenn A schuld ist, sind auch alle diese Nebenumstände schuld. Das ist eine ganz schmierige Geschichte! Mit welchem Recht bezeichnen wir, – wenn wir wissenschaftlich bleiben wollen! – einen dieser Umstände gerade als den Hauptumstand? Weil wir den Menschen treffen wollen, und unser Rachebedürfnis es für unvernünftig erkennt, wie Xerxes ein Meer zu peitschen.«
»Es erscheint mir aber doch,« sagte Anders, der anfing, eines solchen Gespräches müde zu werden, das niemals ein Ende findet, weil die reine Theorie wie die Luft nach allen Seiten ausweicht, wenn sie nicht an praktischen Erfolgen zu prüfen ist »daß man Folgendes sagen kann: der Affekt und die Regung dazu sind erfahrungsgemäß mit einem solchen Erfolg verknüpft, das Übrige nicht. Und ebenso muß dem Psychiater nur die Frage vorgelegt werden: sind Symptome an dem Verbrecher wahrnehmbar, welche erfahrungsgemäß mit den Symptomen einer Krankheit verknüpft sind?«
»Passen Sie auf: Ein Plattenbruder erschlägt einen Menschen. Sind die Symptome Plattenbruder und Totschlag miteinander verknüpft oder nicht?«
»Aber Plattenbruder ist keine Krankheit.«
»Warum nicht?!« Dr. Pfeifenstrauch lachte jetzt ganz vergnügt. »Sehen Sie, so ist es: Man legt uns einen besonderen und persönlichen Fall vor; wir
vergleichen ihn mit dem, was wir wissen; und den Rest, das, was wir nicht wissen, muß der Delinquent verantworten. Oder mit andern Worten, trotz allen Pomps der Gerechtigkeit und der Wissenschaft läuft das Ganze zum Schluß darauf hinaus, daß der Richter sagt: Ich hätte das nicht getan, und der Psychiater hinzufügt: Meine Geisteskranken hätten sich nicht so benommen.«
Als Anders hörte, daß dieser Mann so ironisch über die Würde seines Berufs sprach, faßte er wieder Mut und legte ihm nahe: »Wenn Sie so denken, warum handeln Sie nicht mild? Warum haben Sie diesen kranken braven Riesen Moosbrugger unter den Galgen gebracht? Helfen Sie mir wenigstens jetzt, ihn wegzuholen!«
Aber Pfeifenstrauch pfauchte und war sofort verändert, als ob man ihn erschreckt hätte. »Ich habe keine Ursache, gut in Ihrem Sinn zu sein, ich bin es im Sinn der menschlichen Gesellschaft, welche durch solche Personen nicht beunruhigt werden will!!«
Etwas an Anders mußte ihn anziehen. Vielleicht die Lust am Paradoxen, welche unter der begütigenden Verteidigungsstellung vorguckte, oder es war die männliche offene Erscheinung, welche Pfeifenstrauch wie einen verliebten Zwerg reizte, mit vergifteten Pfeilspitzen zu prahlen, über die er gebot. Er zog Laden auf und zog Papiere und Lichtbilder hervor; es waren seine »Opfer«, wie er sagte. Anders sah plötzlich die ganze Reihe von Sensationsprozessen vor sich erwachen, deren Berichte er im Lauf seines Lebens gelesen und längst wieder vergessen hatte, geputzte und rohe, zum Unglück bestimmte und scheinbar alltägliche Gesichter von Männern und Frauen lächelten aus dem Blatt Zeitungspapier oder
aus Photographien heraus oder blickten geniert ins Leere. Anders merkte ganz deutlich die Grenze, wo seine Erinnerung aufhörte, als Pfeifenstrauch, der die Erläuterungen dazugab, immer weiter zurückblätterte.
Dieser Mann benahm sich seltsam. Er wahrte gewohnheitsmäßig die Miene, welche zu wissenschaftlichen Ausführungen gehört, und darüber lag noch die der grausamen Belustigung, welche zwei Menschen von Geist zeigen, wenn ihnen menschliches Elend und traurige Schicksale zu Anregungen ihrer Theorie werden: aber unter beiden Ausdrücken dieses Gesichts verbarg sich noch ein dritter, der sich nur zuweilen flüchtig verriet. Aus Gott weiß welchen Gründen schien Pfeifenstrauch ein zärtliches Verhältnis zu den Opfern seines Verstandes zu haben, von deren Bildern umgeben er ein Leben ohne Geliebte und Freunde führte, so wie es Jäger für das Wild fühlen, das sie sowohl hegen wie jagen, aber mit weniger Unbefangenheit des Gewissens gepaart, als sie sich bei diesen waldgrünen Menschen findet. Es war gegen Männer wie eine Rivalität, gegen Frauen wie ein Kampf mit Geschlechtslist und Geschlechtstriumph. Wenn eines seiner Opfer zum Tod verurteilt worden war, sprach er von ihm in einem besonderen Ton. Von dem oder jener sagte er: »sie wären mir beinahe entwischt.« Aber er sagte das stets, ohne den Ton eines Mannes ganz aufzugeben, dem die Pflicht auferlegt ist, für das einzustehn, was er erkannt hat. Er leugnete sogar, daß es Simulanten gebe, sie waren für ihn nichts als »widerspenstige Grenzfälle«. Und er gestand nicht ein, daß er seine Opfer unerbittlich wie eine Spinne angriff, sondern sagte bloß, daß ihm leider sehr selten ein Fall begegne, den er mit
begründeter ärztlicher Überzeugung in Schutz nehmen könne.
Als Anders mit Clarisse das Zimmer betrat, worin sich Moosbrugger befand, hatte er natürlich sogleich diesen Menschen wiedererkannt, und sie begrüßten einander, so weit es die Lage zuließ, mit höflichem Wiedererinnern, aber Anders war es peinlich, diesen Mann in der Umgebung Moosbruggers zu finden, und Pfeifenstrauch beobachtete mit mißtrauischer Neugierde den Besucher, dessen Teilnahme an dem Fall er kannte.
34.
Kartenpartie
Moosbrugger, der gutmütig-selbstbewußte Kranke mit dem riesenhaften Körper, dessen Masse fast eine fühlbare Gravitationskraft ausstrahlte, reizte den kleinen, häßlichen Schlingensteller mehr als die Angel, mit deren Hilfe er jeden Morgen seine Sekrete anregte. Seit Clarisse im Zimmer war, hatte sich der Mörder breit in seinen Stuhl zurückgelehnt, die Fäuste auf dem Tisch, und bald begann er eine umständliche Erzählung. »Sie können es mir glauben, meine Herrn« – er sagte nur Herren, denn er hatte Erfahrung; man soll bei Frauen zumindest im Anfang immer so tun, als ob man sie nicht mitzähle, – »ich habe auf der Polizei nur darum alles zugegeben, weil mich der Kommissär darum gebeten hat. Der Kommissär hat mich inständigst gebeten: ›Herr Moosbrugger, gönnen Sie mir doch den Erfolg!‹ hat er gebeten, und da habe ich dann eben gesagt: ›Gut, wenn sie einen Erfolg haben
wollen, gehn Sie her, und machen wir Protokoll‹.« Das war sein Paradestück, und er führte es Clarisse vor. »Sehn Sie, und das hat der Herr Gerichtspräsident, der immer parteiisch war, eben anzweifeln wollen! ›Es wird sich nicht ganz so abgespielt haben‹ hat er gesagt.« Moosbrugger suchte dabei das Hochdeutsch des Richters recht lächerlich nachzuäffen. »Aber der Kommissär hat es ihm gegeben! Er hat gesagt, daß er es wirklich gesagt hat. ›Herr Moosbrugger,‹ habe ich gesagt ›wenn Sie schon nicht aus eigenem Ihr Gewissen erleichtern wollen, verschaffen Sie mir die persönliche Genugtuung, daß Sie es mir zuliebe tun‹: Das hat er gesagt. Und da hab ich gesagt: ›Meine volle Hochachtung vor dieser Aussage des Herrn Polizeikommissärs. Obwohl der Herr Kommissär mich mit den Worten entlassen hat, wir sehen uns wohl nie wieder, so habe ich doch die Ehre und das Vergnügen, Sie wiederzusehn.‹« Moosbrugger erhob sich bei diesen letzten Worten zur Hälfte und deutete eine elegante Verbeugung wie in einem Tanzlokal an.
Der Zweite Assistent lachte. Humor findet man selten bei Geisteskranken, und alle hielten sie das für Humor. Moosbrugger war ihnen in seiner breiten, protzigen und doch grundanständigen Art angenehm geworden; was er sagte, hatte Hand und Fuß, wenn auch nicht gerade immer an der rechten Stelle. Es war – obgleich ihr ärztliches Bewußtsein jederzeit mit gutem Gewissen einen solchen Einfluß geleugnet hätte – doch irgendwie sein Verderben, daß man in seiner Gesellschaft das Gefühl, es mit einem Wesen der Unterwelt zu tun zu haben, verlor. Der geistliche Herr hatte ihn geradezu gern. Wenn er sich an die schweren und bestialischen Verbrechen erinnerte, die dieser lammfromme Mann
begangen haben sollte, schlug er innerlich erschrocken ein Kreuz, als ob er sich auf einer sündhaften Regung ertappt hätte, und sagte sich, daß man eine so verwickelte Angelegenheit dem Willen des Herrn überlassen müsse. Daß dieser Wille sich als Werkzeug – wie zweier gegeneinander arbeitender Hebel, von denen man vorläufig nicht wissen konnte, welcher der stärkere sein werde, – der Willen des Zweiten Assistenten und Dr. Pfeifenstrauchs bediente, war dem Pfarrer dabei keineswegs unbekannt geblieben. Denn der junge Assistent war schon seit dem Studium des Gerichtsakts und der Gutachten erster Instanz überzeugt, daß Moosbrugger ein Geisteskranker sei. Die Strittigkeit des Falls rief in ihm als junger Arzt sogar einen gewissen Stolz in der Ablehnung des alten Vorurteils hervor, dass man nicht schwer geisteskrank sein und doch einen völlig gesunden Verstand haben könne. Ja gewisse Bemerkungen des Richters, welche auf die Zweckmäßigkeit von Moosbruggers Überlegungen hinwiesen, – wie: »Mit einem Wort, Sie wollen sagen, es ist kein Mord, sondern Totschlag? Warum haben Sie sich dann die blutigen Hände abgewischt? Warum haben Sie das Messer weggeworfen?« Oder: »Gegen zehn Uhr sind Sie nach Hause gekommen, wuschen sich und zogen frische Wäsche und Kleider an, warum!? Weil es Sonntag war? Nicht, weil Sie blutig waren??« Oder: »Sie sind mittags in ein Gasthaus gegangen und haben dort mit Appetit gegessen, dann sind Sie wieder in den Park hinunter gegangen; Ihre Tat hat Sie also nicht im geringsten geniert, dies alles zu tun?!« - riefen in dem jungen modernen Psychiater geradezu ein Gefühl der wissenschaftlichen Solidarität mit Moosbrugger hervor. Moosbruggers Erklärung, dass er immer nur simuliert habe,
erklärte er für eine kennzeichnende Dissimulation, das ist das bekannte Streben vieler Geisteskranker, ihren Mangel zu bestreiten und zu verheimlichen. Dr. Pfeifenstrauch dagegen wußte natürlich, daß die Entscheidung nicht von der Meinung dieses jungen Mannes abhänge, nach dessen Berichten und eigenen Beobachtungen erst Dr. Fried das Gutachten ausarbeitete, das durch den Vorstand der Klinik zu unterschreiben war und dann erst Moosbruggers Schicksal besiegelte. Dieser Weg war weit, und je unbefangener man seinem eignen Ergebnis gegenübersteht, desto uneigennütziger kann man auf Umstände hinweisen, welche jedes andre Ergebnis ausschließen, wenn man auch gar nicht bestreiten will, daß anfangs andre Annahmen manches für sich haben. Was Dr. Pfeifenstrauch zu verteidigen hatte, war einfach genug, daß Moosbrugger ein desequilibrierter, schwer belasteter, neuropathischer Mensch sei, ja, man konnte darin so weit gehen, wie man nur wollte, ohne doch zuzugeben, dass er die Symptome einer der paar großen Krankheiten zeige, welche einwandfrei die Verantwortung ausschließen. Er wies deshalb freigiebig auf alle Symptome hin, die pathologisch sein mochten, sobald er sie nur an Moosbrugger bemerkte, aber er vergaß niemals beizufügen, daß dies gar nichts bedeute. Wollte man selbst alle strafausschließenden Krankheiten, die es überhaupt gibt, bei einem Menschen annehmen, so käme es doch erst noch auf ihren Grad an. Es ist aber unmöglich, den Grad der Zurechnungsfähigkeit nach dem Grad der Geistesgesundheit zu bestimmen. Niemand sei dessen fähig. Die Ärzte nicht, weil sie nur dazu Kompetenz haben, den Krankheiten nachzuforschen; die Richter, weil es ihnen an der wissenschaftlichen Kenntnis fehlt, um
Beziehungen zwischen Geist und Körper festzustellen; nur die Religion verlange klar die persönliche Verantwortung gegenüber Gott, und so sei das Ganze schließlich nichts als eine religiöse Überzeugungsfrage. Dies war das Gift, mit dessen Hilfe Pfeifenstrauch den wissenschaftlichen Eifer seines Gegners ein wenig zu lähmen hoffte.
Solche Debatten fanden, zwischen Geben und Ausspielen eingestreut, unbefangen vor Moosbrugger statt, denn Moosbrugger war begeistert von Pfeifenstrauch. Nicht nur schmeichelte es seiner Eitelkeit, ständig den Mittelpunkt der Unterhaltung zu bilden, auch Pfeifenstrauchs Theorie, daß er, Moosbrugger, nur ein vor das Forum Gottes und nicht vor das der Psychiater gehörendes Phänomen sei, fand seine volle Billigung. »Erinnern Sie sich, ob zur Zeit der Tat Ihr Bewußtsein weg war oder trüb war?« »Sicher nicht« antwortete er. »Eben« sagte Pfeifenstrauch. »Und wenn selbst. Auch ich handle nicht immer bewußt.« Oder es gewann Moosbrugger einen schweren Pagat ultimo, und Pfeifenstrauch schmeichelte ihm: »Welch prächtiger, zielstrebiger Wille! Es ist ja möglich, daß gerade im Augenblick der Tat ein solcher Wille und eine solche Vernunft auf den Entschluß nicht eingewirkt haben, aber dann ist er eben strafbar; das ist ja förmlich die Definition der bösen Tat!« Die Intelligenz Moosbruggers begriff solche Gründe sehr gut, und es kam vor, daß er selbst den jungen Psychiater foppte, dessen Beruf bei ihm in Ungnade war. Von der Natur schlecht behandelt sein, erblich belastet sein, das waren Vorstellungen, die ein angenehmes wehleidiges Empfinden in ihm erregten, aber im übrigen hatte er bald alles weg, was für seine Hinrichtung sprach, und kam ihm zur Hilfe. Er hatte es auch
gern, wenn man seine Augen und Reflexe betrachtete, und machte freiwillig darauf aufmerksam, wenn er die andern im Spiel mit Hilfe seiner Intelligenz und der Ruhe seiner Nerven bemogelt hatte. Schöne Worte, die in den Gesprächen häufig wiederkehrten und eine bedeutungsvolle Stellung darin innehatten, und solche Wendungen wie motivierende Kraft der Strafe, oder Erhöhung der Würde der Gesetze, oder Notwendigkeit, mit dem volkstümlichen Empfinden in Einklang zu bleiben, flossen mit einem Mal elegant aus seinem Mund. »Und wenn es sein muß, muß es sein« war sein steinerner Schluß. Er sah dabei jedes Mal Pfeifenstrauch zärtlich an, ehrgeizig nach Beifall suchend. Der gute Pfarrer, der schon manches gesehen hatte, schüttelte zuweilen den Kopf. Aber er freute sich darüber, daß sich die Wissenschaftler nicht einigen konnten, und paßte ebenso scharf auf wie Moosbrugger. Er erinnerte sich nicht mehr, wie die Sache nach dem kanonischen Recht zu entscheiden sein würde; die »Würde der Gesetze« gefiel ihm, aber auch der Spott auf die irdische Gerechtigkeit gefiel ihm nicht übel. »Laßt Sie gewähren,« dachte er sanft »das letzte Wort spricht Gott.« Und da er sich dieses Grundsatzes wegen wenig an dem Wortgefecht beteiligte, gewann er im Tarock.
35.
Clarisse bei Dr. Fried
Clarisse hatte dunkel erkannt, daß diese Männer Moosbrugger beobachteten; Moosbrugger aber beobachtete sie, Clarisse. Von Zeit zu Zeit kam er
heimlich und suchte ihren Blick zu überraschen und zu fangen. Der Besuch dieser schönen und vornehmen Frau – ein wenig zu unbedeutend kam ihm bloß die Kleinheit und Magerkeit Clarisses vor – schmeichelte ihm sehr nach allen Ehrungen, die ihm ohnedies schon widerfuhren. Er zweifelte nicht einen Augenblick, dass seine buschbärtige Männlichkeit sie verliebt gemacht habe. Sie hatte wohl ein Bild von ihm gesehen, und wenn sein Blick in dem Clarisses Erwiderung fand, so entstand ein Lächeln unter seinem Schnurrbart, das dieser Sieg bestätigte und mit einer an Dienstmädchen erprobten Überlegenheit eigentümlich komisch wirkte. Dieses Spiel beunruhigte Clarisse. Sie ahnte, daß Moosbrugger sich in einer Falle befand, und ihr Fleisch am Leibe kam ihr wie ein ihm vorgeworfener Köder vor, während ringsum die Jäger lauerten.
Als Anders ihr am Heimweg den Vorgang erklärte und einen Bericht über sein Gespräch mit Pfeifenstrauch hinzufügte, faßte sie einen Entschluß. Sie verdammte sich, weil sie nicht rechtzeitig durchschaut hatte, was sich vor ihr abspielte. Das war ein Spiel würdeloser Teufel um eine Seele. Sie wußte nun auch, wie sie Moosbrugger hätte entgegentreten sollen: Wie ein Engel! Sie sah die Luft, durch welche sie gingen, mehrere Minuten lang schwarz und weiß gleich einem Schachbrett vor sich. »Oder wie eine Schwester …« dachte sie in der Folge. Sie fühlte, daß dies eine Verbesserung, aber zugleich derselbe Gedanke war wie ihr erster Einfall. Das Bewußtsein, Schwestern zu haben in den Weiten der Welt, die zu jeder Stunde da sein können, selbst wenn sie noch nie gekommen sind, erfüllte ihr Herz mit einem schwebenden Regen von Licht und Tränen. Sie war sehr aufgeregt. Es erschien ihr nötig, daß sie
noch einmal zurückgehe. Das war es! Anders mochte sich auch in diesem Fall mit ein paar Gedanken beruhigen, aber nicht aufs Denken kommt es an, sondern … daß … man … Ihr Herz stockte. »Du folgst ihm nach!« Dieser Gedanke, halb die Feststellung von etwas schon Geschehendem, halb ein Befehl, füllte sie bis in die schauernden Spitzen der kleinen Brüste aus. War denn nicht Nietzsche im Irrenhaus gewesen? Verhöhnt von den Besitzern der Vernunft, ohnmächtig, sich ihnen zu erklären! Was sie noch eben gekränkt hatte, daß sie sich ohnmächtig vertieft hatte überlisten lassen von den drei Teufeln bei Moosbrugger und sie nicht rechtzeitig durchschaut hatte, erschien ihr plötzlich als ein ungeheures, in der Leere des Morgens schwebendes Symbol. Sie trug etwas, das hoch von ihren Schultern aufragte. Der Auftrag, Moosbrugger zu befrein, und das Geheimnis, daß sie damit Nietzsches Nachfolge antrete, oder daß Moosbrugger für Nietzsche leide, war wie eine geschlossene Faust, deren Finger sie in diesem Augenblick noch nicht unterscheiden konnte, wo sie ihr das Herz aus der Brust rissen. So ging Clarisse nach Hause.
Indes vergingen einige Tage in solcherart sich steigernder Unruhe, bevor sie abermals zu Dr. Fried ging; diesmal ohne irgend jemand etwas davon zusagen. Sie traf ihn nach der Vorlesung, bevor er seinen Rundgang machte. Dr. Fried fühlte sich geschmeichelt. Er entstammte einer Familie des dumpfen Mittelstands. Der Wunsch, aufzusteigen, Macht und Verehrung zu genießen, hatte ihn das Studium des Arztes wählen lassen, denn dieser, der nur zu Menschen kommt, die auf seine Hilfe warten, und sie fügsam entgegennehmen, der zum Unterschied vom Beamten aber nicht durch fremde, sondern
eigne, geistige Macht herrscht, schwebte ihm als Ideal vor. Und da der Weg handfester Jungen über Anatomie und Paukarzt seiner Natur nicht entsprach, war seine Aufmerksamkeit auf die höchste Möglichkeit, die des Psychiaters gefallen.
Clarisse sagte diesem Mann ohne Umweg: »Erklären Sie ihn für unzurechnungsfähig!« Sie sprach nicht einmal den Namen aus. Fried sah sie erstaunt an. »Meine Gnädige,« fragte er »welches Interesse haben Sie daran?« Clarisse war über seine Unverschämtheit erschrocken; es fiel ihr keine Antwort ein. Aber da ihr nichts anderes einfiel, hatte sie plötzlich gesagt: »Weil er nichts dafür kann!«
Dr. Fried musterte sie jetzt scharf. »Woher wissen Sie das so sicher?«
Clarisse hielt seinem Blick kraftvoll stand und antwortete geradezu so, als ob sie nicht sicher sei, ob sie ihn der Mitteilung eines solchen Geheimnisses würdigen dürfe: »Er ist hier, weil er einen andern vertritt.« Dann zuckte sie scharf die Schultern, sprang von ihrem Stuhl auf und ging zum Fenster. »Sie verstehen mich nicht« rief sie zurück, als sie keine Antwort fand. »Er erinnert mich an jemand.«
»Aber das ist doch kein Grund für die Wissenschaft!« sagte endlich Dr. Fried gedehnt.
»Ich hatte gedacht, Sie würden es tun, wenn ich Sie bitte.« Clarisse sagte das ganz einfach und wandte sich ihm wieder zu.
Diese Frau hatte Fried schon bei ihrem ersten Besuch stark berührt; nun war er sicher, daß sich die Fäden einer keineswegs alltäglichen Begegnung bereits um sie und ihn spannen.
»Sie nehmen das zu leicht!« erwiderte Dr. Fried zur Hälfte geschmeichelt und vorwurfsvoll. Er lehnte sich faustisch in seinem Sessel zurück, fuhr mit
Blick auf sein Studio fort: »Ich will gerne mit Ihnen darüber sprechen. Haben Sie sich überhaupt überlegt, ob Sie dem Mann etwas Gutes erweisen, wenn Sie ihm statt einer Bestrafung die Internierung wünschen? Der Aufenthalt in solchen Mauern ist kein Vergnügen …« Er schüttelte schwermütig das Haupt.
Clarisse erwiderte klar: »Zuerst muss der Henker fort von ihm!«
»Sehen Sie,« meinte Fried »meiner Ansicht nach ist Moosbrugger ja Epileptiker. Seine Anfälle können Minuten bis Wochen dauern. Sie sind eingeleitet von qualvoll beängstigenden Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen. Aber die Dämmerzustände übergehen oft auch unmerklich aus und in volle Geistesklarheit, und außerdem ist selbst im paroxysmalen Stadium das Bewußtsein nie ganz aufgehoben, sondern nur in verschiedenen Graden vermindert. – Man könnte also wohl etwas für ihn tun. Aber die Sache liegt keinesfalls so, daß man als Arzt seine Verantwortung ausschließen müßte! Er ist höchstens ein Grenzfall.«
»Also werden Sie etwas für ihn tun?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich muß den Fall doch erst prüfen.« Fried lächelte.
»Aber Sie sind doch keinen Augenblick im Zweifel darüber, daß der Mann krank ist!« beharrte Clarisse.
»Das natürlich nicht. Sie haben es ja gehört. Aber darüber habe ich ja gar nicht zu urteilen. Ich soll beurteilen, ob sein freier Wille bei der Tat ausgeschlossen war, ob sein Bewußtsein während der Tat getrübt war, ob er Einsicht in sein Unrecht besaß, und dergleichen. Das sind lauter metaphysische Fragen! Als Arzt ist natürlich alles für mich determiniert, aber hier muß ich auch auf den Richter Rücksicht nehmen.«
»Dann dürfen Sie sich nicht dazu hergeben!« Die selbstgefällige Überlegenheit, mit der Fried sich bespiegelte, gab Clarisse ihre ganze Kraft wieder. »Aber vermögen Sie sich vorzustellen,« wandte Fried ein »welche grausame Bestie dieser jetzt ruhige Halbkranke sein kann?«
»Das kümmert uns jetzt nicht« schnitt Clarisse diesen Versuch ab. »Sie fragen auch bei einer Lungenentzündung nicht, ob Sie einem guten Menschen zum Weiterleben verhelfen! Jetzt haben Sie nur zu verhindern, dass Sie nicht selbst Gehilfe eines Mordes werden!«
Fried hob wehmütig die Hände. »Ist denn nicht auch die Liebe eine Störung des Geistes?« kam er ihr zu Hilfe. »Es gibt doch kaum einen Menschen, welcher in seinem geheimen Liebesleben nicht wenigstens angedeutet einen Unsinn verbirgt, etwas, das er nur dem Mitschuldigen zeigt. Niemand kann besser verstehen als ich, daß ein Geisteskranker einen gesunden Menschen an vielerlei erinnert. In der Öffentlichkeit muss man dagegen einschreiten; im Privatleben kann man sich aber nicht immer mit der gleichen Rigorosität gegen alles Derartige wappnen. Und Nervenärzte, schließlich ist die Heilkunde ja doch auch eine Kunst, können großen Erfolg in Wahrheit nur haben, wenn sie zu den Erscheinungen in ihren Patienten in einem gewissen Sympathieverhältnis und Rapport stehen.« Er sah Clarisse fragendan. »Für uns Ärzte ist alles krank, so wie für einen Chemiker alles Chemie ist« sagte er entschieden, wenn auch seufzend. »Wir haben aber kein Recht und kein Verlangen, in andre Auffassungen einzugreifen. Wir sehen hier täglich Seelen leiden; wir müssen uns aber in unseren Grenzen halten: wir bedürfen eigentlich selbst am meisten des Trostes …«
»Was werden Sie also tun?« fragte Clarisse, indem sie beim Abschied ihren Widerwillen überwand und einen langen Kuß auf ihre Hand duldete.
»Ich weiß es noch nicht. Ich muß es mir überlegen« beharrte Fried, der damit gerne ein Zugeständnis ihres Entgegenkommens erpreßt hätte.
36.
Waldspaziergang
Unglücklicherweise machte in diesen Tagen Walther auf Clarisse einen ehelichen Überrumpelungsversuch. Wotan hatte ihm diesen Rat gegeben. Wotan hat schon drei Kinder, obgleich er unter den Freunden niemals für voll gegolten hatte, und schwor darauf, daß nervöse Frauen sich nur gesund fühlen, wenn man sie rücksichtslos behandle. Aber Clarisse hatte sich noch nie so erbittert gewehrt wie diesmal. Es kam zu einer erschütternden Szene zwischen den Gatten, Walther wurde von Clarisses geradezu schwärmerischer Abneigung besiegt und mußte auf einen Band von Nietzsche sexuelle Urfehde schwören. Aber in Clarisse blieb auch nach ihrem Sieg, von dem Sturm, der sie gerüttelt hatte, eine namenlose Aufregung und Einsamkeit zurück. Dazu kam, daß die Ergebnislosigkeit ihres Besuchs bei Fried und dessen allzu deutliche Anspielungen einen schweren Eindruck auf sie gemacht hatten.
Sie war wieder fest überzeugt, daß sie in einer unheimlichen Weise die Männer anzog.
Sie lief morgens nach dem Bad, fast aus der Wanne, ohne Aufenthalt in den Wald. Das Blinkende, Glitzernde, Tropfensprühende des weißen Wassers
war noch um sie. Wie ein Stachelpanzer aus scharfen auswärts gerichteten Messerspitzen. Es war ein geradezu unheimliches Reinlichkeitsgefühl, eine äußerste Reizbarkeit des Reinlichkeitsbedürfnisses, während sie dem Haus – einstweilen nur mit diesem Gedanken spielend – entfloh. Es umschloß den Muffgeruch ehelicher Betten. Wie ein Mistkäfer wollte Walther immer wieder den Kopf in diesen stets bereitstehenden warmen Müll wühlen.
Sie lag am Waldrand. Mit dem Gesicht so, daß sie noch in die kleinen, wie Nasenlöcher offenen und dunklen Fenster ihres Hauses sah. Erdbeerenduft brannte in der Morgensonne. Gewächse kitzelten sie. Das Stechende, Harte, Heiße, das Rücksichtslose der Natur tat ihr unsäglich wohl. Sie fühlte sich der Enge des persönlichen Verhältnisses entrückt. Sie sah esweit. Es mußte offenbar so sein; daß Walther immer wieder der dunklen Anziehung erlag, die von ihr ausstrahlte, aber er ging dadurch zugrunde. Sie müßte also das Opfer bringen. Hatte Anders dafür erwählt. Eine sonderbare Bestätigung war es, daß Anders seit einiger Zeit sie täglich mehr erregte. Und das Überraschende: daß Anders es war, welcher Moosbrugger in ihr Leben gebracht hatte. Alle bedeutsamen, reichen, reifen Begebenheiten sind so, daß die Wege von überall her zu ihnen führen.
Während sie die warme Erde fühlte, auf der sie lag, ausgestreckt wie auf einem Kreuz, Nägel aus Sonnenstrahlen drangen durch ihre aufwärts gekehrten Hände, nahm nun allmählig das Wort »verleugnen« ihre Gedanken ein. Walther müsse sie erst verleugnen lernen, dann werde er befreit sein, fiel ihr vorerst ein, und um diese klare Einsicht begann der strahlende Kranz ähnlicher sichtbar zu werden. Alle werden mich verleugnen. Erst, wenn ihr mich alle
verleugnet habt, werdet ihr mündig sein. Erst wenn ihr alle mündig geworden seid, will ich euch wiederkehren, dachte sie, immer tiefer in den Wald gehend. Wie Ansätze von Gedichten war alles das. Golgathalied, nannte sie es. Ein ungeheurer Abschied erfüllte sie mit Trauer, Lust und herrlichen Gedichten, deren zweite Zeile sich in dem weiten Übermaß von Erregung und Schönheit verlor. »Wäre ich jetzt nur ein wenig abergläubisch oder nicht von so harter Gesundheit,« sagte sie sich »so würde ich mich jetzt fürchten müssen.« Seit sie Moosbrugger kennengelernt hatte, fühlte sie sich gewaltsam verändert. Eine unausdrückbare Sicherheit und Leichtigkeit beseelte ihr Denken. Sie hörte Antworten, eh sie noch recht gefragt hatte, sie brauchte ihre Gedanken nicht mühsam aufzubaun, sie kamen auf sie zu wie die Umrisse ganzer Städte. Eine Spannung, als müßte sie im nächsten Augenblick in einen Tränenstrom ausbrechen, begleitete diese ungeheure Leistung. Wenn sie ging, hatte sie Mühe, ihre Schritte zu zügeln, die bald davonstürmten,bald von einer Überraschung festgehalten wurden. Glück und eine eigenartige, heldische Düsterkeit trennten sich nicht mehr in ihrem Gemüt, das sie wie ein strahlendes Gewitter beglückte. Was sie aber am tiefsten verwunderte, war die ungeheure Unfreiwilligkeit in diesem Sturm von Freiheit. Glück und Leid, Erlösung und Opfer schienen mit bedingender Notwendigkeit zueinander zu gehören; die Gedanken waren bald so, als wäre ihr Gehirn nur das Instrument, mit dem ein fremdes und göttlicheres Wesen schrieb, eine in-ihr-wohnende Macht, bald waren sie so, daß jedes Ding, worauf ihr Auge fiel, oder jede Erinnerung, welche der Strahl des Gedächtnisses beleuchtete, die Führung übernahm
und an das nächste Ding abgab, so daß Clarissens Gedanken neben ihr herzulaufen schienen, und ein stürmischer Wettlauf mit ihrem Körper begann, bis sie erschöpft einhalten mußte und sich in die Waldbeeren warf.
So fand sie Anders, den ein Gefühl, über das er sich keine Rechenschaft geben wollte, schon morgens zu seinen Freunden herausgeführt hatte, wo er von Walther, der im Begriff war, ins Büro zu fahren, die Richtung erfuhr, in der Clarisse das Haus verlassen hatte. Sie sah ihn kommen, bunt in den bunten Waldkräutern liegend und seinem Blick entzogen. Sein Gesicht, das sich unbeobachtet glaubte und nur in vegetativem Rapport mit den Hindernissen lebte, durch die es daherkam, bereitete ihr durch die vielen, unbewußten, männlich entschlossenen Bewegungen darin ein wunderliches Gefühl, ein angenehmes Grauen. Sie gab sich nicht zu erkennen, als Anders beinahe schon auf sie getreten wäre, und er hielt überrascht an, als er sie fast unter sich liegend gewahrte, den Blick lächelnd zu ihm emporgestreckt.
»Bleib stehn!« bat Clarisse. »Du stehst jetzt wie ein Verhängnis über mir.« Anders lächelte, aber unter ihrem emporgestemmten Blick wich ihr Auge dem seinen aus.
»Ihr stellt mir verschiedene Aufgaben; Walther und du« sagte Clarisse zögernd. »Aber« so kehrte ihr Blick jetzt zurück »weshalb ist er bei mir und nicht du? Es ist so rätselhaft, wie ein Kind das erstgeborene ist und eins das zweite.«
»Aber du hast ja gar kein Kind« lachte Anders, hart ihren Körper »ins Auge fassend«, wie sie fühlte.
»Vielleicht will ich eins.«
»Bitte!«
»Sprich nicht so, Anders.« Es gibt Augenblicke, wo man die Dämonie eines Menschen … durchschaut und ihr trotzdem erliegt.
»Wir müssen Moosbrugger befrein« sagte Clarisse. »Wenn es nicht anders geht, müssen wir ihm zur Flucht verhelfen. Willst du?« Anders zuckte, die Hände in den Hosentaschen, die Schultern. Der blinde Wille, der von diesem kleinen Wesen ausging, dieser sinnlos wuchernde Wille erstickte ihn wie die Brombeerranken, zwischen denen es von unbekannten Insekten flog und wimmelte; unmenschlich, aber angenehm.
»Dann komm!« sagte Clarisse. »Wir wollen in den Wald hineingehn, wo wir ganz allein sind.« Sie war aufgesprungen. »Aber du bist ja ganz erhitzt!« rief sie aus. »Du wirst dich erkälten.«
Anders glühte in der Tat von dem Anstieg durch die Sonne. Sie hatte ein Tuch um, nahm es ab und warf es ihm über den Kopf. Es war noch warm von ihren Schultern und Armen. Und während ihre Hände zu seinem Kopf hinaufturnten, hatten sie etwas behend Gespreiztes wie warme Eidechsenfüße im Mauerwerk. Sie spannte das Tuch um seinen Kopf und Nacken und streichelte es zurecht. »Den großen Anders gefangen« sagte sie im Kinderspielton; es fehlte nicht viel, so hätte er sie ergriffen, denn ihre Stimme hätte dazu gar nicht viel anders zu klingen brauchen; er begann unter ihren Händen zu zittern.
Sie waren mittags nicht nach Hause gekommen, streiften umher, aßen Beeren, waren von Hitze und Hunger trocken wie Geigenholz; Clarisse fütterte Anders mit einem Stück harten Brots, das sie in der Tasche trug.
»Wir verleben die Stunden« sagte Clarisse. »Die
Mühle der Zeit mahlt trocken. Körnchen um Körnchen fühlst du fallen. Ohne zu denken, bist du viel glücklicher, als wenn du denkst. Viel reiner.« Anders ließ ihre vielen wirren, langen und kleinen Reden gewähren, ohne darüber nachzudenken. Sie brach ein trockenes Zweiglein ab und reichte es ihm hin; wie bei Kindern, wenn sie so etwas tun, lag etwas dahinter, wofür der Begriff nicht vorhanden war. Oder sie eilte vor ihm her, schlüpfte voraus, unter Ästen hin, zwischen Stauden durch, die zurück schlugen. Pausenlos. Einem geheimgehaltenen Ziel zu. Blieb plötzlich in der Wildnis stehn, ohne Ziel, zwischen Bäumen, deren Fuß nach Moder roch und Sonnenlosigkeit, drehte sich um und lachte: »Du hast mir nachfolgen müssen!«
»Also, was ist eigentlich mit Moosbrugger?« fragte Anders.
»Du mußt jemand finden, der ihm zur Flucht verhilft.«
»Erklär mir zuerst, warum du das willst.«
»Es ist mein Unglück, daß ich immer in euch den Bären erwecke.«
»Den Bären?«
»Die spitze Schnauze, mit Zähnen, welche alles zerreißen.«
»Walther glaubt, daß jeder Mensch ein Tier hat, dem er gleicht. Aber er hat nicht recht; jeder hat mehrere Tiere in sich. Man muß ihn davon erlösen.«
»Ich versteh deine Bilder nicht, Clarisse.«
»Moobsrugger hat einen Lustmord begangen, nicht wahr? Was ist das? Die Lust hat sich in ihm getrennt vom Menschlichen. Ist das nicht bei Walther auch so? Und bei dir? Moosbrugger hat dafür das Opfer bringen müssen. Ich habe dir erzählt,
daß ich ein schwarzes Muttermal dort habe. Ich bin gezeichnet. Darum beeinfluße ich Euch. Und ich bin selbst schwach – ich habe das in der Familie geerbt …«
Während sie das sagte, bogen sich ihre Finger wie Krallen ein, die Lichter ihrer Augen leuchteten in dem Dickicht. Anders fühlte, daß sie ihn umarmen wollte. Aber sie bezähmte sich.
Anders sagte zu all dem nicht ja und nicht nein. Die Räuberromantik dieser Streifung war kindisch und doch irgendwie aufregend. Clarisses Reden waren so unverständlich wie der Duft nach Pilzen und Fichten, dumpfem Boden und Sonnenschein auf Zweigen. Er hatte das Bedürfnis, der quälenden Unsicherheit über seine und Agathes Zukunft zu entrinnen, das blinde Vertrauen, daß es noch immer gut gewesen sei, wenn er in entscheidenden Augenblicken dem erstbesten Antrieb folgte, und Clarisse war voll wirrer Impulse. Was sie wollte, widerstrebte ihm. Seine Ethik war keine der Unmoral, und es erschien ihm sinnlos, Moosbrugger zu befrein. Aber zugleich, weil es sinnlos war, hätte er gerne gewußt, wohin es führe; oder wohin Clarisse ihn führe.
Sie mußten endlich zurückkehren, weil Clarisse nachmittags eine Einladung angenommen hatte. Jedes Mal, wenn Clarisse unterwegs auf ihren Wunsch zurückkam, lachte er bloß. Der Zufall wollte es, daß sie einem Mann begegneten, der einen Bären führte. Schon von weitem wurde Clarisse unruhig, und während er dadurch erst auf die zwei Figuren aufmerksam wurde, kämpfte sich in ihr schon eine unbestimmte Überlegung durch. Plötzlich, als sie eben vorbeigehen wollten und Anders neugierig und respektvoll und mit einiger
Scheu die Begegnenden musterte, lachte sie wirklich sonderbar auf und wiederholte: »Ich zähme jeden Bär!« Dabei griff sie mit der Hand nach dem Tier, um es am Maulkorb zu fassen, und Anders hatte die größte Mühe, sie rasch genug von dem erschreckt brummenden Tier zurückzureißen.
37.
Atelier
Die Freunde Clarisses, zu denen sie Anders begleitete, hatten in ihrer kleinen Atelierwohnung einen Kreis von Menschen versammelt und es wurde Musik gemacht. Clarisse war unauffällig in diesem Element; ihr sonderbares Wesen, das Anders im Lauf des Tags doch einige Mal aufgefallen war, ordnete sich diesem aufgeregten Umkreis natürlich ein; während die Rolle des Sonderlings darin eigentlich ihm zufiel.
Es wurde Musik gemacht. Verzückt und verborgen, und die Menschen lauschten. In Anders meldete sich der Widerstand. Diese Übergänge von lieblich, leise, sanft zum Herrischen, Pathetischen, Brausenden – Musiker bemerken das nicht, weil für sie der Vorgang eben gleichbedeutend ist mit Musik, und also mit etwas gänzlich Ausgezeichnetem – erscheinen einem Menschen, der nicht von dem Vorurteil, daß es Musik geben müsse, befangen ist, als so unvermittelte und schlecht begründete Vorgänge wie nur irgendein jäher Übergang von Freude zu Trauer oder Zorn, aus dem man im gewöhnlichen Leben zumindest auf einen schlecht erzogenen, wenn nicht auf einen mit krankhaft beweglichen Gefühlen
schließt. Sie haben weder einen natürlichen Anfang, noch ein natürliches Ende, sondern brauen wie Wolken durcheinander. Die Musik ist niemals, was das Natürliche wäre, zornig auf einen X, einen bestimmten Menschen, sondern sie gerät in eine »zornartige«unbestimmte Wallung, und es läßt sich auch nie unterscheiden, ob etwas Zorn ist oder vielleicht bloß Ärger oder vielleicht schon Totschlag.
Da mußte Anders an Moosbrugger denken. Er sah jenes große Zimmer von fester Würfelform vor sich, mit seinen hygienisch weißen Wänden, dem spiegelnden Fußboden und der hellen Freundlichkeit breiter Fenster, worin der verwirrte Sinn Moosbruggers sich zu strammer Zufriedenheit glättete, während diese, doch sicher normalen Menschen sich eine Stunde lang anstrengten, um sich wie Wahnsinnige zu gebärden.
Anders konnte sich keine Vorstellung von der Seele eines großen Musikers machen, aber das, was im Durchschnitt für große Musik gilt, erschien ihm wie ein Kasten, der alle Inhalte der Seele einschließt, aus dem man aber alle Laden herausgezogen hat, so daß nun innen der ganze Inhalt durcheinander liegt, während die Wände außen von zarten, harten und abgestuften Ornamenten bedeckt sind.
Er dachte jetzt an Walther. Er dachte sonst nicht oft über Menschen nach; das war ein Fehler von ihm. Er wußte aber, daß es auch eine Kraft ist; alle Gräben sind verkehrte Berge. Er dachte nicht über Menschen nach, aber er geriet manchmal in einen Wirkungsbereich. Spürte, daß von einem Menschen ein Netz von Kreuz- und Querlinien ausging, und daß er – an und für sich ein Stück gleichgültigen Korks – einen kleinen Magnet trug, der ihn in
diesem Feld von Kraftlinien zu bewegen begann. Er wußte seit seiner Rückkehr, daß zwischen Clarisse und ihm etwas »los« sei; es bewegte sich. Er dachte wahrscheinlich deshalb nicht nach über Menschen, weil er auch über sich nicht nachdachte; er mochte die Hamletmenschen und Dostojewskijfiguren nicht; er dachte seinen Gedanken nach, er selbst war sich uninteressant. Als eines Tags zwischen ihm und Clarisse die Spannungen da waren, kam ihm dies vor, als schritte er durch die Strahlungen einer glühenden Platte oder als schien ihm die Sonne schon lang in den Nacken und er merke es erst jetzt. Es war zum erstenmal ganz deutlich heute morgens bei dem Vorfall mit dem Tuch.
Walther, der Clarisse geheiratet hatte, sein Jugendfreund, war sein Gegenteil: er dachte viel und leidenschaftlich über sich nach. Er nahm alles ernst, was ihm begegnete. Weil es ihm begegnete. Als ob das eine Auszeichnung wäre. Er schien einen Schallverstärker für kleine moralische Geräusche in sich zu tragen. Es ist aber wahrscheinlich das Anzeichen von Durchschnittsmenschen, daß sie alles, was sie selbst betrifft, tief nehmen, während schöpferische Menschen alles sofort in die Breite ausdehnen müssen. Immerhin hatte Walther Clarisse »entdeckt«.
Und das mit dem Tuch, heute morgens, war so gewesen: Es war noch warm von ihren Schultern und Armen. Sie spannte es über seinen Nacken und streichelte es. Und ihre Hände hatten dabei etwas zärtlich Behendes wie warme Eidechsenfüßchen.
Wenn er sich Walther recht bezeichnend vorstellen wollte, lag er an einem Waldrand. Er hatte dann kurze Hosen an, trug schwarze Strümpfe und hatte nicht die Beine eines Manns, weder die muskulösen, noch die dünnen, sondern die eines Mädchens;
eines nicht sehr schönen Mädchens mit sanften unschönen Beinen. Er legte die Hände unter den Kopf, sah hinaus in die Landschaft und den Himmel, und man wußte, daß man ihn dann störte. Er ist das – dachte Anders –, was man einen schwachen Menschen nennt. Wenn ich ihm das sagen würde, würde er heftig widersprechen. Und beweisen könnte ich es ihm doch nie. Was man ist, ist also eigentlich nur das, wofür man von allen gehalten wird; eine Reaktion der andern. Aber es ist doch das Einfachste, wenn man ihn einen schwachen Menschen nennt.
Aber vom Rechtsstudium trieb es ihn zur Musik; von der Musik zum Theater; vom Theater zu einem Kunstgeschäft; vom Kunstgeschäft wieder zur Kunst; von der Kunst –? Ja, jetzt sitzt er fest, hat keine Kraft mehr, sich noch einmal zu verändern, ist zufrieden unglücklich, schimpft auf uns alle und geht pünktlich in sein Büro. Und während er in seinem Büro ist, wird vielleicht zwischen Clarisse und mir etwas geschehn, das ihn, wenn er es aber erführe, in einen ungeheuren Aufruhr versetzen würde, als ob der ganze Ozean der Geistesgeschichte brandete. Und mir ist doch eigentlich alles gleichgültig. Clarisse, wie sie sich da verbiegt und die Finger verkrampft hält, während die andern Töne beuteln und schütteln, ist eigentlich wie eine Karikatur auf meine Empfindung, daß kein Gefühl, kein Gedanke es wert ist, das Letzte zu sein, daß man bei nichts bleiben soll, weil der Himmel unendlich aufwärts geht. Wie mag sie ihn quälen. Aber sie hat etwas rings um sich! Sie muß immer etwas tun. Einfach aus Spannung, aus Abstoß, um über die letzte Minute noch hinauszukommen. Und er? Eigentlich ist er der geborene begabte Durchschnittsmensch; er ist unglücklich, aber er hat Glück und alle Menschen
lieben ihn; alle Menschen laden ihn ein zum Bleiben; mit gigantischer Anstrengung zieht er immer wieder die Füße aus dem Boden, worin sie so schön verwurzeln könnten. Anders lächelte bös. Eigentlich ist er gar kein schwacher Charakter. Es ist unerhört schwer, nichts zu erreichen, wenn man kein Talent hat.
In der Pause setzte sich Clarisse zu Anders. »Ich kann nicht mehr« sagte sie. »Wenn ich Musik höre, möchte ich entweder lachen oder weinen oder davonlaufen.«
»Mit Lindner?« fragte Anders.
»Das war nur ein Versuch.« Sie fing seine Hand und hielt sie fest.
Anders sagte ärgerlich: »Primitive Menschen seid Ihr Musiker. Welche subtile, noch nie dagewesene Motivation wäre nötig, um unmittelbar nach stillem Insichgehn einen tosenden Ausbruch möglich zu machen! Ihr macht es mit fünf Tönen!«
»Das verstehst du nicht, Anderle« lachte Clarisse.
»Und das stört dich nicht?« Anders forderte sie höhnisch heraus.
»Betrogen werden hat für uns keinen Sinn. Wir müssen unser Alles einsetzen. Wir können uns nur selbst betrügen.« Ihre Finger schlangen sich um seine Hand. »Musik ist oder ist nicht.«
»Du wirst mir mit einem Zirkusmenschen davongehn« sagte Anders nachdenklich. Er sah finster in die wirr verknäulte Menschengruppe hinein. »Aber du hast vielleicht recht. Ein paar Trompetentöne. Eingebildete Signale. Lauf darauf zu.«
Es ging gegen Abend. Grau wandernde Wolken waren am Himmel hinter den Atelierfenstern. Die Spitzen eines Baums reichten von unten heran. Häuser standen mit den Dächerrücken nach oben.
»Wie sollten sie sonst?« dachte Anders und doch, es gibt Minuten, wo das kleine Leid, das man empfindet, in die Welt wie auf eine dumpfe Riesentrommel fällt. Er dachte an Agathe und war unsagbar traurig. Dieses kleine Wesen an seiner Seite trieb mit einer unnatürlichen Geschwindigkeit vorwärts. Wie unter dem Druck eines Programms. Das war nicht die natürliche Entwicklung einer Liebe. Überhaupt konnte von Liebe keine Rede sein. Darüber war er sich ganz klar. Und doch gab er willenlos nach. Ein unbestimmter Gedanke tröstete ihn; etwa so: Ein Mensch wird beleidigt, und macht eine große Erfindung; so kommen die wirklichen Taten des menschlichen Willens zustande. Nie in der geraden Linie. Ich liebe Agathe und lasse mich von Clarisse verführen. Clarisse glaubt, daß der kleine Aufruhr, den sie macht, ihr Wille ist, aber meiner liegt reglos darunter wie das Wasser unter den Wellen.
Die Musik, welche in dem dunkelnden Raum die Augen der Menschen wie Lichter anzündete und die Körper wie Rauch durcheinander blies, hatte wieder begonnen.
38.
Clarisses Verführung
Die Zugeherin war schon fort. Walther in der Mitte seiner Bürozeit, Anders wählte, ohne sich ganz über die Bedeutung dieser Wahl Rechenschaft zu geben, jetzt solche Stunden für seine Besuche. Dennoch geschah nichts bis zu einem Sonntag. Da hatte Walther eine Einladung bekommen, die ihn bis zum
Abend in die Stadt rief, und eine halbe Stunde zuvor, nach dem Mittagsbrot, war Anders nichtsahnend gekommen und trüber Laune, denn die Aussicht auf einen Nachmittag in Gegenwart des Freunds hatte ihn so wenig gelockt, daß er den Weg eigentlich nur aus Gewohnheit antrat. Als Walther sich aber sogleich zu verabschieden begann, empfand es Anders wie ein Signal. Auch Clarisse hatte an das Gleiche gedacht. Das wußten sie beide.
Sie werde ihm vorspielen, sagte Clarisse. Clarisse begann. Anders winkte vom Fenster Walther nach, der heraufgrüßte. Den Blick im Zimmer, beugte er sich immer weiter hinaus, dem Entschwindenden nach. Clarisse brach plötzlich ab, kam auch ans Fenster: Walther war nicht mehr zu sehn. Clarisse spielte weiter. Anders kehrte ihr jetzt den Rücken zu, als kümmerte es ihn nicht; im Fenster lehnend. Clarisse hörte wieder zu spielen auf, lief ins Vorzimmer, Anders hörte, wie sie die Kette vor die Tür legte. Als sie zurückkehrte, drehte er sich langsam um; schwieg; schwankte. Sie spielte weiter. Er ging zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie stieß die Hand, ohne den Kopf zu wenden, mit der Schulter weg. »Schuft!« sagte sie; spielte weiter. »Sonderbar?« dachte er. »Will sie Gewalt spüren?« Die Vorstellung, die sich ihm aufdrängte, daß er sie an beiden Schultern packen und vom Klavierstuhl herunterreißen solle, kam ihm so komisch vor, wie an einem unsicheren Zahn zu wackeln. Er fühlte sich dadurch beengt. Ging in die Mitte des Zimmers hinein. Spannte das Gehör und suchte nach Anlässen. Bevor ihm aber noch irgendetwas einfiel, sagte sein Mund: »Clarisse!« Das hatte sich gepackt, gurgelnd aus dem Hals gelöst, war wie ein fremdes Geschöpf aus seinem Hals gewachsen. Clarisse
stand folgsam auf und war bei ihm. Sie hatte die Augen weit offen. In diesem Augenblick begriff er erst, daß Clarisse künstlich, vielleicht ohne es zu wissen, die Aufregung einer ungeheuren Opferhandlung hervorzurufen suchte. Da Clarisse neben ihm stand, mußte im nächsten Augenblick die Entscheidung fallen, aber die ganze Gewalt dieser Hemmungen bemächtigte sich Anders’; seine Beine trugen ihn nicht mehr, er brachte kein Wort hervor und warf sich ins Sofa.
Im gleichen Augenblick warf sich Clarisse auf seinen Schoß. Ihre Armeidechsen schlangen sich um seinen Kopf und Hals. Sie schien an ihren Armen zu zerren, ohne sie aber aus der Umschlingung lösen zu können. Heiße Luft fuhr aus ihrem Mund und brannte ihm unverständliche Worte ins Gesicht. Sie hatte Tränen in den Augen. Da zerbrach alles, was ihn sonst machte. Auch er stieß etwas hervor, das sinnlos war, aber vor den Augen der beiden schwankten die Adern wie ein Gitter, ihre Seelen gingen wie Stiere aufeinander los, und dieser Aufruhr war von dem Gefühl einer ungeheuren moralischen Entscheidung begleitet. Nun hielten sie beide nicht mehr ihre Worte, ihr Gesicht, ihre Hände. Die Gesichter preßten sich, feucht von Tränen und Schweiß nur noch als Fleisch aneinander; alle Worte der Liebe, die nachzuholen waren, überstürzten sich, als würde der Inhalt einer Ehe verkehrt ausgeschüttet, die lasziven, abgehärteten Worte, die erst mit der späten Vertraulichkeit kommen, zuerst, unvermittelt, anstachelnd, und doch nicht ohne Entsetzen darüber. Anders hatte sich halb aufgerichtet; alles war so schlüpfrig, daß das Ineinandergleiten keinen Laut mehr von sich gab.
Clarisse riß ihren Hut vom Nagel, stürmte fort.
Er mit ihr. Wortlos. Wohin? Diese Frage war dabei lächerlich einsam in seinem Gehirn, das von dem Sturm leergefegt worden war.
Clarisse raste über Wege, Wiesen, durch Hecken hindurch, durch Wald. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sanft gebrochen werden, sondern wurde nach dem Fall böse und hart. Sie befanden sich schließlich in dem an den Wald anschließenden Tiergarten an einer ganz abgelegenen Stelle. Dort stand ein kleines Rokokolusthaus. Leer. Dort stellte sie sich ihm noch einmal. Diesmal mit vielen Worten und Geständnissen. Gehetzt von der Ungeduld der Begierde und der Angst, daß Menschen vorbeikommen könnten. Es war entsetzlich. Diesmal wurde Anders ganz kalt und hart von Reue. Er ließ sie zurück. Er kümmerte sich nicht, wie sie nach Hause käme, sondern raste davon.
Als Anders spät in die Wohnung zurückkehrte, fand er Walther vor. Clarisse war noch böse und betonte sanftes eheliches Zueinanderstimmen. Aber mit einem einzigen schmollenden Blick ließ sie Anders fühlen, daß sie doch zusammengehörten. Erst hinterdrein fiel ihm auf, wie sonderbar der Ausdruck ihrer Augen zweimal an diesem Nachmittag gewesen war: rasend und verrückt.
39.
Anders bei Moosbrugger
Anders hatte in der Erregung eingewilligt, Moosbrugger zu befrein. Nun gab er diesem Einfall nach, weil es bereits so weit gekommen war. Er glaubte nicht daran und traf die Vorbereitungen,
überzeugt, daß die Durchführung doch nicht möglich sein werde.
Clarisse war wieder zu Dr. Fried gegangen. Sie benahm sich sonderbar. Verlangte noch einmal, daß der Arzt Moosbrugger rette. Dieser zuckte jetzt schon die Achseln, ohne die Hände aus den Taschen zu tun. Er hatte gehört, daß Anders Gegner habe und nicht mehr lange seine Stellung in der Parallelaktion halten werde, die ihm Respekt eingeflößt hatte. »Verrückte junge Leute« dachte er. Der erste Eindruck, den Clarisse auf ihn gemacht hatte, war vorbei, es beleidigte ihn, daß dieser nicht stärker erwidert worden war. Aber Clarisse ließ sich nicht abschrecken. Sie trug einen zweiten Einfall vor. Sie wolle als Schwester in die Klinik aufgenommen werden. Fried setzte ihr kühl und wichtig auseinander, wieviele Bedingungen für diesen Zweck sie nicht erfülle. Dann, erklärte Clarisse, wünsche sie selbst als Kranke in die Anstalt zu kommen. Dabei, um Fried nicht ansehn zu müssen und durch einen zornigen Blick vielleicht ihre Bitte zu verderben, sah sie zur Seite und ein wenig zur Höhe, und vielleicht irrten ihre Augen auch umher. Dr. Fried lächelte und erklärte ihr als tadelloser und unnahbarer medizinischer Bürokrat, daß viele nervöse Frauen hysterische Anwandlungen haben, daß aber nicht die Klinik dafür da sei, sondern eine gewisse strenge Schule des Lebens; er war jetzt ganz der Mann des Ernstes und der eignen Kraft, der sich an den harten Aufstieg zu erinnern scheint.
Dennoch gelang es Anders mit Hilfe Pfeifenstrauchs noch einmal, in die Klinik einzudringen; Clarisse hatte es nach diesem vergeblichen Versuch von ihm verlangt. Er traf Moosbrugger breit zwischen den Arglistigen thronend. Es war etwas
Heroisches, der vergebliche Kampf eines Riesen um diesen Menschen. Er schien die Bewunderung, die er scheinbar fand und naiv lächerlich genoß, doch auch durch irgendeine Eigenschaft zu verdienen. In der ärgsten Entstellung durch Wahnsinn ist es noch ein Ich, welches um Geltung kämpft. Wie ein Heldenlied war er, inmitten einer Zeit, welche schon ganz andere Lieder schafft, aber durch ihre gewohnheitsmäßige Bewunderung noch immer das alte konserviert. Wehrlose bewunderte Gewalt, einer Keule gleich zwischen den Pfeilen des Geistes. Man konnte über diesen Menschen lachen, aber fühlen, daß seine Komik erschütternd war.
»Haben Sie einen Freund?« fragte Anders in einem unbewachten Augenblick.
Anders suchte sie auf. Es war jener Automatismus, der ihn trug, welcher alle gewagten Taten begleitet. Er war eigentlich gar nicht überrascht, als er in eine Wohnung trat, welche wie vierzig andre in diesem Vorstadthaus aussah, und eine junge Frau in der Küche wirtschaftend antraf, welche den vierzig andren Hausfrauen gleichen mußte. Auch das Mißtrauen, mit dem er empfangen wurde, wich in nichts von dem Mißtrauen ab, das man oft in diesen Kreisen findet. Er mußte sogleich beim Eintreten etwas sprechen und wurde durch diese europäisch allgemeineren Höflichkeiten, die er vorbrachte, sogleich in eine ganz unpersönliche Beziehung gebracht. Von Verbrechen war in diesem Umkreis kein Hauch. Es war eine derbe junge Frau, und ihr Busen regte sich unter der Bluse wie ein Kaninchen unter einem Tuch.
Anders hatte Glück und traf Karl Biziste gleich beim ersten Versuch. Wieder trug ihn ein automatisches Spiel seiner Glieder und Gedanken hin;
diesmal aber gab Anders acht und verfolgte mit Neugierde, was mehr mit ihm geschah, als daß er es tat. Sein Gefühl war dabei das gleiche wie damals, als er verhaftet worden war. Von dem Augenblick an, wo Clarisses Interesse ihn vorsichtig wie die Spitze eines Fadens zu berühren begonnen hatte, bis jetzt, wo das Geschehen sich schon zu einem dicken Strick drehte, waren die Dinge ihren eigenen Weg gegangen, wo eins das andere gab, mit einer Notwendigkeit, die ihn nur mitnahm. Es erschien ihm unsagbar sonderbar, daß der Lebensweg der meisten Menschen dieser der Dinge ist, der ihn so befremdete, wogegen es für andre Menschen ganz natürlich ist, sich von den Gelegenheiten tragen zu lassen und so schließlich zu einer festen Existenz emporgehoben zu werden. Anders fühlte auch, daß er bald nicht mehr werde umkehren können, aber das machte ihn so neugierig, wie wenn man plötzlich die unaufhaltsame Bewegung des eigenen Atmens beachtet.
Und noch eine Bemerkung machte er. Wenn er sich vorstellte, wieviel Unheil aus dem entstehen konnte, was er vorhatte, und daß es bald nicht mehr in seiner Macht stehen würde, den Beginn zu vermeiden. Mit einer bösen Tat, die er schon auf dem Gewissen fühlte, als ob sie geschehen sei, sah die Welt, durch die er ging, verändert aus. Fast wie mit einer Vision im Herzen. Gottes oder einer großen Erfindung oder eines großen Glücks. Selbst der Sternenhimmel ist eine soziale Erscheinung, ein Gebilde der gemeinsamen Phantasie unsrer Gattung Mensch, und ändert sich, wenn man aus ihrem Kreis austritt.
»Moosbrugger« sagte sich Anders »wird von Neuem Unheil stiften, wenn ich ihm zur Freiheit
verhelfe. Unleugbar wird er früher oder später wieder seiner Anlage verfallen, und ich werde die Verantwortung dafür tragen.« Aber wenn er versuchte, sich schwere Vorwürfe deswegen zu machen, um sich aufzuhalten, war etwas durchaus Verlogenes daran. Etwa so, wie wenn man sich stellen würde, als ob man durch einen Nebel hindurch klar sähe. Die Leiden jener Opfer waren wirklich nicht gewiß. Hätte er die leidenden Geschöpfe vor sich gesehen, so wäre er wahrscheinlich in heftiges Mitleiden verfallen, denn er war ein Mensch der Schwingungen und also auch der Mitschwingungen. Solange diese Suggestivkraft des Erlebens mit den Sinnen aber fehlte und alles nur ein Kräftespiel der Vorstellungen blieb, waren das Angehörige einer Menschheit, die er am liebsten abgeschafft oder doch sehr verändert hätte, und kein Mitleid schmälerte die Gefühlskraft dieser Abneigung. Es gibt Menschen, welche das entsetzt; sie stehn unter einer sehr starken moralischen oder sozialen Suggestion, behaupten, aufzuschreien, sobald sie das entfernteste Unrecht bemerken, und sind empört über die Schlechtigkeit und Gefühlskälte, die sie in der Welt häufig finden. Sie zeigen heftige Gefühle, aber in den meisten Fällen sind es solche, welche ihre Vorstellungen und Grundsätze ihnen aufnötigen, das ist eine Dauersuggestion, welche wie alle Suggestionen etwas Automatisches und Mechanisches hat, dessen Weg in den Bereich der lebendigen Gefühle gar nicht eintaucht. Der unbefangen lebende Mensch ist im Gegensatz zu ihnen bös und gleichgültig gegenüber allem, was seinen eigenen Kreis nicht berührt; er hat nicht nur die Gleichgültigkeit eines Massenmörders passiv, wenn er in der Morgenzeitung die Unfälle und das Unglück des vergangenen Tags
liest, sondern er wünscht ihm gleichgültigen Personen, wenn sie ihn ärgern, leicht auch sehr aktiv jedes Unglück auf den Hals. Gewisse Erscheinungen legen es nahe anzunehmen, daß die fortschreitende auf gemeinsamen Werken ruhende Zivilisation auch die unterdrückten und eingekerkerten Antagonisten dieser Gefühle stärkt. Also dachte Anders im Gehn. Die Opfer Moosbruggers waren abstrakt, Bedrohte, wie all die Tausende, welche den Gefahren der Fabriken, der Eisenbahn und Automobile ausgesetzt sind.
Wenn er so um sich blickte, während er zu Herrn Biziste ging, glaubte er festzustellen, daß alles Leben, daß wir geschaffen haben, nur durch Vernachlässigung der pflichtmäßigen Obsorge für unseren entfernten Nächsten ermöglicht worden ist. Wir dürften sonst keine Maschinen auf die Straße stellen, die ihn töten, ja, wir dürften ihn gar nicht auf die Straße lassen, so wie vorsichtige Eltern es in der Tat mit ihren Kindern tun. Statt dessen leben wir aber mit einem alljährlich statistisch vorausberechenbaren Perzentsatz von Morden, die wir lieber begehn, als daß wir von unsrer Art zu leben und der Entwicklungslinie, die wir einzuhalten hoffen, abwichen. Anders fiel plötzlich eine allgemeine Arbeitsteilung auch darin auf, bei der es immer Sache besonderer Menschengruppen ist, Schäden zu heilen, welche die unerläßliche Tätigkeit anderer verursacht; niemals halten wir aber eine Energie damit auf, daß wir von ihr selbst Mäßigung verlangen; und schließlich gibt es noch ganz bestimmte Organe wie die Parlamente, Könige und dergleichen, welche ganz dem Ausgleichdienen. Anders schloß daraus, daß es durchaus nichts bedeute, wenn er Moosbrugger zur Flucht
verhelfe, denn es seien genug andere da, welche dazu berufen sind, dem etwa entstehenden Schaden vorzubeugen, und wenn sie ihre Schuldigkeit tun, kann es ihnen nicht mißlingen, wodurch seine persönliche Tat nicht ärger als eine Unregelmäßigkeit erschien. Daß er als Einzelner es trotzdem nicht so weit kommen lassen dürfe, dieses außerdem persönliche, moralische Verbot war in solchem Zusammenhang nicht mehr als ein verdoppelter Sicherheitskoeffizient, und der Wissende war in der Lage, ihn zu vernachlässigen.
Die von diesen bestimmten Gedanken weithin vorschwebende Vision einer anderen Ordnung der Dinge, welche aufrichtiger, man könnte sagen, technisch phrasenloser war, begleitete Anders, während ihn das Abenteuer lockte und er müde des unentschiedenen Lebens eines Menschen von heute war.
So war dieser Weg nicht unähnlich dem Anders wohlbekannten Sprung von einem zehn Meter hohen Turm ins Wasser. Man sieht im Flug das eigne Bild in einem immer rasender entgegenkommenden Wasserspiegel auftauchen, kann kleine Fehler der Haltung richtig stellen, aber im übrigen nichts mehr ändern an dem, was geschieht.
Anders tat, als er die ihm angegebene kleine Wirtschaft gefunden hatte, alles so, wie es ihm von Fräulein Hörnlicher anbefohlen worden war. Er berief sich auf sie, brachte dem Wirt seinen Wunsch vor und Anders war entlassen.
40.
Clarisses Wahnsinn bricht aus
Während sich das abspielte, war Anders zwei Mal bei Clarisse.
Das erste Mal verbrachte er einen Abend bei ihr und Walther in dem kleinen Haus in den Weinbergen, wo sie gemietet hatten. Das Ehepaar musizierte, als Anders ankam; er setzte sich in den Garten und lauschte. Plötzlich fragt er sich: warum bin ich nicht eifersüchtig? Er stellt sich Walther vor und haßt ihn; aber es ist kein echter Haß; die Abneigung galt eigentlich ebensosehr Clarisse, die dieses Leben teilte und dazu paßte. Er hätte in diesem Augenblick heulen mögen wie ein Hund und fühlte, daß er und Clarisse bloß einer Gelegenheit erlegen waren. Als es vorbei war, befand er sich in dem leicht fiebernden Zustand, der manchmal tief ins eigne Leben schneidenden Erkenntnissen vorangeht. Clarisse kam ihn suchen.
»Kennst du auch diese Augenblicke, wo man bis ins Fernste durchsichtig zu sein scheint?«
»Nein,« sagte er »ich will mich gar nicht sehen. Was sollte man da auch sehen. Unser Leben ist ein Gewebe von Widersprüchen ohne Dezision. Ich werde einen langen Urlaub nehmen …«
Anders fühlte jetzt wieder den schlanken Teufel an seiner Seite. Sie hatten übersehn, daß im Wohnzimmer das Licht verlöschte. Sie wußten nicht, wie lange sie abwesend gewesen waren, hörten plötzlich Walthers Schritte und gingen ihm etwas trotzig entgegen.
Vor seinem zweiten Besuch wurde Anders von Walther telefonisch angerufen und dringend
gebeten zu kommen. Clarisse, berichtete Walther, sei besorgniserregend verändert; er wisse nicht, was es zwischen ihr und Anders gegeben habe, aber es sei herzloser Eigensinn, wenn Anders sich jetzt nicht um sie kümmere. Anders eilte hin.
Er fand Clarisse in einer eigenartigen Aufregung, die sogleich auffallen mußte. Das Wirbelnde, Trommelnde ihres Wesens war ungeschwächt vorhanden, aber darüber schien ein schwarzes Tuch gelegt worden zu sein. »Sie hat beim Frühstück die Zeitung gelesen« berichtete Walther »und es stand wahrhaftig nichts Besondres darin; ein Zugszusammenstoß in Amerika mit einigen Toten und einer in Frankreich, irgendeine Typhusepidemie, der tägliche Totschlag, das wöchentliche Automobilunglück und ein paar Touristenunfälle in den Alpen. Aber es ist mit ihr nicht zu reden; sie behauptet, diese Vorstellungen nicht mehr los werden zu können.«
Clarisse sah Anders an, als ob sie ihn nicht gleich erkennen würde. Es schien ihm aber, daß sie nicht nur genau gewußt hatte, daß er kommen müsse, sondern es darauf angelegt hatte. Sie hatte ihn nicht nur gleich im Augenblick des Eintretens erkannt, sondern ihr ganzer Ausdruck war noch tief ausgehöhlt von einer Erwartung, in die seine Anwesenheit jetzt wie eine Kugel in eine Schale paßte. Und doch schien etwas sie zu behindern, sein vor ihr Stehn anzuerkennen. Er ärgerte sich über diese Affektation.
Endlich lächelte Clarisse und reichte ihm die Hand. So gibt ein kranker Hund die Pfote. Als hätte sie etwas angestellt. »Walther übertreibt« sagte sie. »Aber ich weiß nicht, was mir ist. Ich habe zuerst alles ganz ruhig wie immer gelesen.« Sie begann tief und aufgeregt zu atmen, in ihre Augen kam
etwas Hilfloses. Walther trat zu ihr, legte den Arm um ihre Schulter und zog sie beruhigend an sich. Sie machte sich mit einer Gebärde des Ekels frei. »Aber habt Ihr das niemals bemerkt?« stieß sie nun heftig hervor. »Es sind fürchterliche Unglücke geschehn. Auf jeder Seite findest du Armut und Krankheit. Ich habe Walther gebeten, auf die Redaktionen zu gehn, aber er will nicht!«
Anders wollte eine Antwort geben, aber er begriff blitzschnell, daß das falsch war. Also sagte er rücksichtslos und gerade: »Was geht alles das dich an?«
Der grobe Angriff brachte Clarisses Aufregung zum Stehn.
»Kannst du helfen?« fuhr Anders fort. »Wie willst du es machen?«
Clarisse sah ihn mit Augen an, deren Pupillen sich unwillig und eingeschüchtert sträubten.
»Aber verstehst du nicht,« sagte sie »daß du das täglich liest, ohne etwas zu tun. Jeder Morgen, wenn du die Zeitung öffnest, legt dir einen Berg von Leid auf, und du spürst nicht mehr davon, als ob sich dir eine Fliege auf die Stirn setzen würde? Werde ich verrückt oder seid Ihr Gewohnheitsmenschen?«
Sie riß heftig die Zeitung an sich, die übel zusammengefaltet auf einem Tischchen lag, und begann vorzulesen: »›Der Tourist, welcher, wie wir gemeldet haben, Sonntag auf dem Hochtor abgestürzt ist, ist der 31jährige Privatbeamte Max Prevenhuber.‹ Kannst du das nicht verstehn? Jedes Wort ist voll Verantwortung. Sonntag. Abgestürzt. Privatbeamter. Wäre er an einem andern Tag abgestürzt? Wäre er Sonntag ins Gebirge gefahren, wenn er nicht Beamter wäre? Ja vielleicht, wenn er nicht Max hieße? Und warum hat ihn niemand geschützt? Warum
hat niemand die tausend andren geschützt, welche jeden Tag zugrundegehn, weil wir nicht an sie denken?«
»Du hast dich überarbeitet, Clarisse;« sagte Walther verzweifelt »ich schicke dir Dr. X., er soll es dir verbieten.«
Clarisse sah ihn nur mit einem hochmütigen Blick an. »Riecht ihr denn nicht die Leichen?« fragte sie ruhig. »Ich rieche sie immerzu!« In diesem Satz, den sie sehr einfach aussprach, lag wirkliche Gegenwart und es ging von ihm eine stumme Erschütterung aus. Die beiden Männer standen unschlüssig da. Endlich antwortete Anders sanft: »Irgend etwas hat dich wirklich überreizt, Clarisse. Ich sage nicht, daß es falsch ist, was du sagst. Aber ein gesunder Mensch ist dagegen abgeriegelt.«
Clarisse hob traurig ein wenig die Hände. »Wann wird wieder ein Erlöser kommen, der das Ungerade gerade macht und diese grenzenlose Verwirrung erhellt?«
»Niemals« erwiderte Anders. Wieder hatte er das unbestimmte Gefühl: Sie meint mit all dem dich. Er sprach breit und hart davon, daß das Bedürfnis nach einer einfachen Lösung der verwirrten Zeit eine Schwäche sei, eine lächerliche Einbildung.
Walther konnte kaum noch an sich halten, aber er schwieg dazu, denn es war zu sehn, wie Clarisses Melancholie sich etwas erleichterte, während ihr Blick an Anders hing. Seine feste Gleichgültigkeit schüchterte sie ein, und was sich nicht ohne einige Selbstgefälligkeit und Komödie breit gemacht hatte, zog sich in ihr wieder ein; in einen Punkt hinter den Augen, fühlte sie. Aber der Punkt blieb da.
Anders wußte, als er fortging, daß sie nicht nachgegeben hatte. Walther begleitete ihn ein Stück
Wegs. »Sie war schon einmal so,« sagte er »auf unsrer Hochzeitsreise.« Anders erinnerte sich. Das war in England und sie lief bedrückt und begeistert von dem fremden Land fort, ließ sich aber schon nach einem Tag wieder finden. »Du solltest jedenfalls einen Arzt fragen« sagte Anders.
»Sie will nicht, aber ich werde es tun. Sie hat diese nervöse Unsicherheit aus der Familie. Sie sind alle nicht ganz normal.«
»Mein Gott, wer ist es ganz …« tröstete Anders. Aber als er allein war, schüttelte er sich. Eine physiologische Störung ist so dinglich und unmenschlich wie eine Mauer; unangenehm gleichgültig fühlte er sich. Clarisse war also hysterisch? Ein sehr unangenehmes Gefühl gesellte sich hinzu: eine halbgetane Sache! Wieder war dieses Geheimnis mit Clarisse, in das er sich eingelassen hatte, etwas, das ihn nur streifte; »ein Gleichnis« sagte er und spuckte wider seine Gewohnheit aus. Aber er unterließ es sogar, sich in den nächsten Tagen nach Clarisses Befinden zu erkundigen, so unangenehm war ihm das Ganze geworden.
41.
Im Sanatorium
Zur freudigen Überraschung Walthers leistete Clarisse keinen Widerstand. »Ich muß es allein auf mich nehmen.« Sie fühlte ihren Kopf wie ein Berghaupt, um das Wolken ziehen; sie empfand Sehnsucht nach dem Horizontalen, sich ausstrecken, niederlegen, in einer stärkeren Luft als der der Stadt. Grünes, Umrankendes, Lichtdämpfendes schwebte
ihr vor; Land, wie eine starke Hand, die zum Schlafen zwingt.
Anders hatte sich angeboten, sie hinzubringen; Walther konnte vom Dienst nicht weg; litt wie unter einem Messer, als er die beiden abreisen sah.
Als Clarisse in dem Sanatorium eintraf, musterte sie es wie ein General. Mit ihrer Niedergeschlagenheit mischte sich schon wieder ein Gefühl ihrer Mission und Göttlichkeit, sie prüfte die Einrichtungen und Ärzte selbstbewußt auf die Frage, ob sie imstande sein würden, die Umwälzung der Weltideen zu umhegen, welche von hier nun ausgehen würden.
Die Diagnose, die man ihr gestellt hatte, war allgemeine Erschöpfung und Neurasthenie; Clarisse lebte ruhig und sorgsam bedient. Die fortwährenden Stöße, welche ihren Körper wie eine Eisenbahnfahrt geschüttelt hatten, hörten auf; sie glaubte plötzlich zu erkennen, daß sie krank gewesen sei, während nun der Boden unter ihr wieder fester und elastischer wurde; sie empfand Zärtlichkeit für ihren gesundenden Körper, welcher ihren Geist nun auch »sorgsam bediente«, wie sie, erfreut von dieser Einheit des Geschehens, feststellte.
Sie beschaffte sich Schreibzeug und ging daran, ihre Erfahrungen niederzuschreiben. Sie schrieb einen Tag lang beinahe vom Morgen bis zum Abend. Ohne Bedürfnis nach Luft und Essen; es fiel ihr auf, daß die körperlichen Tätigkeiten fast ganz zurücktraten, nur eine gewisse Scheu vor der sanatoriumstrengen Hausordnung bewog sie, in den Speisesaal zu gehn. Sie hatte vor einiger Zeit irgendwo einen Aufsatz über Franz von Assisi gelesen; in dem Heft, das sie anlegte, kehrte er wieder, in ganzen Abschnitten mit geringfügigen
persönlichen Änderungen wiederholt, aber ohne daß sie das störte. Die Originalität geistiger Leistungen wird heute noch falsch eingeschätzt. Der überkommene Heldensinn streitet bei jedem neuen Gedanken und jeder Erfindung noch immer um die Priorität, obgleich wir aus der Geschichte dieser Streitigkeiten längst wissen, daß jede neue Idee in mehreren Köpfen zugleich entstanden ist, und er findet es aus irgend einem Grund richtiger, sich das Genie als eine Quelle vorzustellen statt eines Stroms, in den vieles gemündet ist und der vieles verbindet, obgleich die genialsten Gedanken nicht mehr sind als Veränderungen anderer genialer Gedanken und kleine Beigaben. Darum »haben wir« auf der einen Seite »keine Genies mehr« – weil wir nämlich den Ursprung allzudeutlich zu sehen glauben und uns durchaus nicht dazu verstehen wollen, an das Genie einer Leistung zu glauben, die sich aus lauter Gedanken, Gefühlen und sonstigen Elementen zusammensetzt, welche wir einzeln unvermeidlich schon da und dann angetroffen haben müssen. Andrerseits übertreiben wir das Originale – zumal dort, wo die Prüfung an den Tatsachen und am Erfolg fehlt, also überall, wo es sich um nichts weniger als unsre Seele handelt – in einer so sinnlosen und verkehrten Weise, daß wir sehr viele Genies haben, deren Kopf nicht mehr Inhalt besitzt als ein Zeitungsblatt, aber dafür eine auffallende und originelle Aufmachung. Diese, verbündet mit dem falschen Glauben an die unvermeidliche Ursprünglichkeit des Genies, aus den unzähligen Elementen einer Zeit jene Gebilde des geistigen Lebens zu schaffen, die nicht mehr sind als Versuche und doch den vollen Ernst der Sachlichkeit haben, gehört zu jener flauen Stimmung voll Zweifel an
die Möglichkeit des Genies und Anbetung vieler Ersatzgenies, die heute herrscht.
Clarisse, für welche Genie eine Sache des Willens war, gehörte, trotz vieler Schwächen, die sie besaß, weder zu den grell aufgemachten Menschen, noch zu den entmutigten. Sie schrieb mit großer Energie nieder, was sie gelesen hatte, und hatte das richtige Gefühl der Originalität dabei, indem sie sich diese Materie aneignete und wie in einer lebhaft flackernden Verbrennung geheimnisvoll zu ihrem eigenen und innersten Wesen werden fühlte. »Durch Zufall sind,« schrieb sie hin »während ich schon an die Abreise dachte, drei Erinnerungen in meinem Kopf zusammengestoßen. Daß die Sienesen im Jahre … ein Bild …. in die Kirche trugen, daß Dante … sagt, welcher Brunnen heute noch auf der Piazza … steht. Und daß Dante von der Frömmigkeit des bald danach heilig gesprochenen Franz von Assisi sagte: ›Wie ein strahlendes Gestirn stieg sie unter uns auf.‹« Wo sie sich nicht mehr an die Namen erinnerte, setzte sie Punkte. Das hatte später Zeit. Die Worte »wie ein strahlendes Gestirn aufgehn« fühlte sie aber in ihrem Leibe. Daß sie – nebenbei gedacht – der Aufsatz ergriff, den sie gelesen hatte, besaß seinen Grund darin, daß sie sich nach besseren Zeiten sehnte; aber nicht als Flucht, sondern so – das fühlte sie –, daß etwas Aktives geschehen müßte.
»Dieser Franz von Assisi« schrieb sie hin »war ein wohlhabender Sieneser Bürgerssohn, ein Tuchhändler und vordem ein flotter Bursche. Menschen von heute wie Anders, welche mit der Wissenschaft Kontakt haben, fühlen sich durch sein späteres Gehaben an gewisse manische Zustände erinnert, und es soll gar nicht geleugnet werden, daß sie damit recht haben. Aber was 1913 zur Geisteskrankheit
wird, kann 13 … bloß eine einseitige Belastung mit Gesundheit gewesen sein. Gewisse Krankheitsbilder sind nicht persönliche, sondern auch soziale Erscheinungen.« Diesen Satz unterstrich sie. In Klammern warf sie einige Worte dazu: (Hysterie. Freud. Rausch; seine Formen sind je nach der Gesellschaft verschieden. Psychologie der Massen liefert Bilder, die von klinischen nicht sehr verschieden sind). Dann kam ein Satz, den sie wieder unterstrich: Es ist nicht ausgeschlossen, daß das, was heute bloß zur inneren Destruktion wird, einstens wieder konstruktiven Wert haben wird.
Es fuhr ihr durch den Kopf, daß Dante und Franz von Assisi überhaupt die gleiche Person gewesen seien; es war eine ungeheure Entdeckung, aber sie schrieb sie nicht nieder, sondern nahm sich vor, diese Frage später zu prüfen und im nächsten Augenblick war auch ihr Glanz verloschen. »Das Entscheidende ist,« schrieb sie hin »daß damals ein Mensch, den wir heute mit gutem Gewissen in ein Sanatorium stecken würden, leben, lehren und seine Zeitgenossen führen konnte! Daß die Besten der Zeitgenossen ihn als eine Ehre und Erleuchtung empfanden! Daß Siena damals ein Mittelpunkt der Kultur war.« Aber an den Rand schrieb sie: »Alle Menschen sind ein Mensch?« Dann fuhr sie ruhiger fort: »Es fesselt mich, mir vorzustellen, wie es damals aussah? Jene Zeit hatte nicht viel Intelligenz. Sie prüfte nicht; sie glaubte wie ein gutes Kind, ohne sich über das Unwahrscheinliche zu erregen. Die Religion hing mit dem Lokalpatriotismus zusammen; nicht der einzelne Sieneser kam in den Himmel, sondern die Stadt Siena würde einmal als Ganzes dorthin versetzt werden. Denn man liebte den Himmel durch die Stadt durch. (Die
Heiterkeit, der Schmucksinn, die weiten Ausblicke kleiner italienischer Städte!) Religiöse Eigenbrötler waren selten; man war stolz auf die Stadt; das Gemeinsame war ein gemeinsames Erlebnis. Der Himmel gehörte dieser Stadt, wie hätte es anders sein sollen?! Die Priester galten nicht als besonders religiöse Menschen, waren bloß eine Art Beamte; denn Gott war in allen Religionen immer etwas weit und unsicher, aber der Glaube, daß Gottes Sohn zu Besuch gekommen war, daß man noch die Auszeichnungen derer besaß, die ihn mit eigenen Augen gesehen haben, gab eine ungeheure Lebendigkeit, Nähe und Sicherheit des Erlebnisses, als deren Bestätigung eben die Priester da waren. Offizierskorps Gottes. Wenn in dieser Mitte nun einer von Gott gestreift wird, wie der heilige Franz, so ist das nur eine neue Beruhigung, welche die bürgerliche Heiterkeit des Erlebnisses nicht stört. Weil alle glaubten, konnten es einige in besondrer Weise tun, und so kam zu der einfachen legitimen Sicherheit der geistige Reichtum. Denn in Summa fließen mehr Kräfte aus der Opposition als aus der Übereinstimmung …«
Hier bildeten sich auf Clarisses Stirn tiefe Falten. Es fiel ihr Nietzsche ein, der Feind der Religion: es blieb ihr noch Schweres zu vereinen. »Ich maße mir nicht an, die Riesengeschichte dieser Gefühle zu kennen,« sagte sie sich »aber eines ist sicher: heute ist das religiöse Erlebnis nicht mehr Handlung aller, einer Gemeinde, sondern nur Einzelner. Und wahrscheinlich ist es deshalb krank.«
Sie hörte zu schreiben auf und ging lange im Zimmer hin und her, aufgeregt die Hände aneinander oder mit dem Zeigefinger die Stirn reibend. Sie floh nicht aus Mutlosigkeit in vergangene und entfernte Zeiten, sondern es war ihr durchaus klar, daß
sie, in diesem Zimmer auf- und abschreitend, mit dem vergangenen Siena zusammenhänge. Gedanken ihrer letzten Tage mengten sich ein, sie war in irgend einer Weise nicht nur bestimmt, sondern schon in der Tat begriffen, die Aufgabe zu übernehmen, welche sich in den Jahrhunderten wiederholte wie Gott in jeder neuen Hostie. Sie dachte aber nicht an Gott; das war merkwürdigerweise der einzige Gedanke, der ihr nicht einfiel, so als ob er gar nicht dazugehörte; vielleicht hätte er sie gestört, denn alles andre war so lebendig, als ob sie sich morgen in die Eisenbahn setzen müsse, um hinzufahren. Bei den Fenstern winkten große Massen grüner Blätter herein; Baumkugeln; das ganze Zimmer war davon in wässriges Grün getaucht; diese Farbe, »mit der damals meine Seele gefüllt worden ist«, wie sie später sagte, spielte als Leitfarbe dieser Gedanken noch eine große Rolle in ihr.
Als sie am nächsten Tag ihre Aufzeichnungen durchlas, verwarf sie diese. Sie nahm ein neues Blatt Papier und zog durch die Mitte ein Kreuz. Es überraschte sie kaum noch, daß dieses nackte, also zerlegte Stück Papier sogleich zu leben begann. Man brauchte es bloß anzusehn und entdeckte mit seiner Hilfe sogleich eine Fülle merkwürdiger Bestätigungen. Alles Obere strebt hinab, alles Untere hinauf: Grundgesetz des Daseins! Clarisse trug links oben das Wort »Mann« ein und rechts unten das Wort »Frau«. Nicht nur streben sie in diese Lage, sondern die Frau vermännlichte sich heute, und der Mann verweiblicht. »Es gibt heute ja keine Männer mehr!« sagte sich Clarisse. Als sich ihr das mit ihrem magischen Kreuz bestätigt hatte, suchte sie nach anderem. »Der Regen fällt abwärts, der Rauch steigt auf;« sie setzte sofort hinzu, daß Tränen von oben
kommen, aus einer großen Seele, aber abwärts ziehn: sagte ihr das Kreuz nicht alles, was sie in einem wochenlangen Kampf gegen das Mitleid mit Walther erfahren hatte?! Fieberhaft setzte sie ihre Untersuchung fort. Es gibt Eckenmenschen, deren Leben, was immer geschehn mag, von oben nach oben zieht oder in der »untern Horizontale« bleibt; es sind Menschen des Niveaus, sie ändern die Welt nicht. Auch Diagonalmenschen gibt es, aber sie hielt sich jetzt nicht bei ihnen auf, denn es lockte sie schon die Entdeckung der Doppelmenschen: sie sinken und steigen; ihr Leib sinkt, ihre Seele steigt! Sie gehen von Leid zu Kraft über. Oder von Helligkeit zu Düsternis. Sie sind in zwei Schichten zu Hause. Ohne Zweifel waren das die Menschen, zu denen sie gehörte. Die Stimmung ihres Eintreffens gestern in diesem Sanatorium mit der sofort einsetzenden »Sehnsucht nach dem Horizontalen« wurde heftig lebendig in ihr, eine unausdrückbare Traurigkeit, »so weich wie die Fäden eines Regens« zog sie abwärts. Sie drehte die Zimmerbeleuchtung auf, obgleich es noch Vormittag war, in das grüne Blätterlicht sprengten sich rötliche blasse Lichtkeile ein. Sie schauderte vor Einsamkeit. Es schien ihr, daß die rötlichen Lichtkeile in der Mitte des Zimmers ein Kreuz bildeten, und sie stellte sich darunter. In diesem Augenblick erkannte sie mit Bestimmtheit, daß sie selbst ein »Doppelmensch« sei und die Entspannung einer großen Aufklärung verbreitete sich wohltätig in ihr.
Sie begriff sich aber nun in der ungeheuren Gefahr, krank zu werden. Man hatte sie hieher gebracht, wo sie krank werden mußte. Sie verhehlte sich nicht, daß sie in Wahrheit auch bereits ganz nahe einer schweren Erkrankung sei. Schuld war
die Weichherzigkeit Walthers, der sie hieher geschickt hatte. Sie hätte ihm nicht folgen sollen. Nun gut, sie war ihm aber gefolgt. Sie sagte sich: »ich soll wahnsinnig werden.« Sie wiederholte es. Laut flüsternd. Unter dem Kreuz.
Aber Geisteskrankheit war nicht einfach Sturz in Finsternis. Die Geisteskranken erschienen ihr als am Rande der Gesundheit angesiedelte Wesen; ein Nichts, und sie werden fortgetrieben; mit ungeheurer Anstrengung – mit der sich die Leistungen der Gesunden nicht vergleichen lassen – müssen sie sich emporarbeiten. »Ausnahmemenschen« fühlte Clarisse; Erkrankung ist eine falsche Auffassung, gegen die sie sich, im Namen einer höheren Moral, zu verteidigen verpflichtet war.
Sie mußte ohne Verzug fliehn. In diesem Augenblick schwebte ein Leben voll Visionen, Halluzinationen, Engeln, noch stärkeren Gebilden, die sie nicht erklären konnte, um sie. Vielleicht wirkten alte Vorstellungen mit, von italienischer Musik, grausamer Heiterkeit des Südens und brauner Freiheit, vielleicht verursachte es ihr einen wollüstigen Schmerz, in »grausamer Unschuld« so erfüllt von sich zu sein, daß man nicht an den Schmerz denken kann, den man anderen zufügt, sie mußte etwas Ganzes, Ungeteiltes, Rücksichtsloses tun, alles zurücklassen. Mißtrauen, Ekel, Zaghaftigkeit schlichen im Zimmer um sie herum, und eine Stimme in ihr rief: »Auf nach Siena!«
In diesem Augenblick überblickte sie ihre Lage ganz klar und ruhig. Sie stand am Kreuzweg. Doppelmensch. Gesund und krank. Die beiden ungeheuren Feinde Christus und Nietzsche begegneten sich in ihr. Der Schauer der Männerfeindschaft und ihrer Bewegung im Leibe eines Weibes
zersprengte fast den kleinen zitternden Körper Clarisses. Irgendetwas vergewisserte sie: Beides waren Leidende, die sie erlösen mußte. Nietzsche, sagte sie sich, starb im Irrenhaus und Christus am Kreuz. Sie wußte: Sie starben an der Halbheit. Aber sie waren eins; zusammen ein Ganzes.
Schweiß zitterte unter ihren Haaren und die Lippen standen offen. Konnte sie sich da mit Walther abgeben und dem Schmerz, den sie ihm, »in grausamer Unschuld«, zufügen mußte!? Sie preßte ihre Lippen heftig zu. Um Gott, ihres Vaters, willen durfte sie in diesem Augenblick nichts halb tun. »Wahnsinn« sagte sie sich abschließend »ist nichts anderes, als daß man ohne Halbheit und Maß das tut, was alle andern maßvoll und halb tun.« Sie verfügte über Mittel, weil sie die Sanatoriumsrechnung noch nicht beglichen hatte. Sie erfand eine Geschichte, daß sie ihren Mann, der unterwegs in der Nähe sei, überraschen und eine Nacht fortbleiben wolle, und brachte die Bedenken der Pflegerin durch ein hohes Trinkgeld zum Schweigen.
42.
Nach Rom
Zwischen Florenz und Rom wachte Clarisse auf. Sie bemerkte, daß sie ihren Plan, nach Siena zu reisen, abgeändert hatte. Kleine, wie aus grünem Werg locker gedrehte Bäumchen standen längs der Bahn. Dann wurde die Ebene von einem runden Hügel mit runden Bäumen unterbrochen. Clarisse sagte befriedigt zu sich, daß die Formen der Landschaft, wenn man sie ohne Vorurteil betrachtet, hier
häßlicher seien als in der Heimat. Aber sie waren von einem fremden Marsch gespannt, den sie umso deutlicher erkannte. Ihr war, sie müßte, wenn sie sich anstrengte, eine kriegerische Melodie hören können; aber der dahinspringende Zug machte das zunichte. Statt dessen sah sie zwei Bäurinnen nach, die auf einem Weg gingen, der schmal und gerade wie eine mit Obstbäumen bepflanzte Pflugfurche zwischen den Feldern lief. Ein Hahn und sieben Hennen trippelten vor den Frauen her, wie es Hündchen tun. Clarisse stellte das als eine wichtige Tatsache fest, von der sie vielleicht später Gebrauch machen werde. Das 36-stündige Rütteln des Zugs hatte sie erschüttert und müde gemacht.
Aber nun begannen Städtchen vorbeizufliegen und Clarisse wurde wieder aufmerksam. Solche Städtchen, die lagen auf einem Berg wie ein flacher Haufe alter, abgegriffener, schmutziger Kupferstücke; doch mit dem geheimnisvollen Feuer dieses Metalls. Hingeworfen. Clarisse machte unbekümmert um die Mitreisenden die große generöse Gebärde nach, mit der sie hingeworfen worden waren. Städtchen, aus einem graubraunen Lehmklotz herausgeschnitten durch Risse und Spalten. Städtchen mit starken Horizontal- und Vertikalstrichen. Aber sie hatte etwas unausdrückbar Schönes erwartet und war etwas enttäuscht, im Grunde nicht mehr als die betriebsame, bepflanzte toskanische Landschaft zu finden. »Erarbeiten muß man es!« fühlte sie und rieb die Finger aneinander.
Plötzlich aber stand irgendein rundes, verfallenes Kastell vor Wolken und Himmel, und ihr Herz begann einige Minuten später heftig zu schlagen. Dörfer stürzten vorbei wie Burgen, wie Basaltgebilde. Die verdammte Gutmütigkeit der nordischen
Landschaft hörte hier auf. Ein starkes altes Weib ging über einen Bahnschranken, mit der roten Wächterfahne in der Hand, rote Blumen folgten. Rote Kopftücher.
In Rom hielt es Clarisse nicht aus. Der Bahnhofplatz mit den Palmen, den Geschäften und der Nähe großer Hotels stieß sie zurück. »Es ist die Stadt des Papstes« sagte sie sich und löste für den Rest ihres Geldes eine Fahrkarte, die sie nach einer kleinen Stadt zurückbrachte, welche sie im Vorbeifahrn gesehn hatte. Ohne Geld ging sie in eine Herberge. Es war etwas sehr Plötzliches und sehr Sonderbares, diese Tatsache Geld; sie hielt den Leuten des Gasthofs eine ziemlich lange Rede, um sie sich dienstbar zu machen, die diese höflich und ohne Verständnis anhörten. Als zweite Notwendigkeit erschien ihr, wie von oben gefallen, ganz als ob alles darauf angelegt gewesen wäre, Anders zu rufen, und sie schickte ein langes Telegramm in deutscher Sprache an ihn ab.
43.
Insel der Gesundheit
Es war gegen elf Uhr, fast eine verspätete Märznacht, wo die Sterne durch einen Schleier von Frost zittern, als Anders, der nach Hause kam und seinen Garten durchschritt, den Telegraphenboten traf. Beim Schein einer Lampe an der weißen Mauer brach er die Depesche auf und las sie. Sie war lang und wirr, aber in einem Rhythmus niedergeschrieben, der die Überlegung raubte. Wie ein Pfeil zwischen nah nebeneinander stehenden
Mauern schnellte dieser in die Höhe, breitete sich verschlungen aus, etwas Unsichtbares rollte, schlug, eilte über die Wipfel der Bäume und Firste der Häuser. Spitz gewölbt wie hochgezogene Augenbrauen stand der Himmel darüber, flimmernd kalt waren die Sterne.
Anders reiste ab, und als er mit Clarisse zusammengetroffen war, fanden sie in der Nähe an der Küste einen schönen Ort. Es war eine kleine, dem Festland nah vorgelagerte Insel, die ein altes, halb aufgelassenes Fort trug, und vor diese Insel geschoben lag noch eine riesige Sandbank mit Bäumen und Sträuchern, die wie eine große leere zweite Insel war, die ihnen allein gehörte. Man schien ihrer Beständigkeit nicht getraut zu haben, denn es waren keinerlei Zeichen von Ansiedlung oder Besitzverteilung auf ihr zu sehn. Eine halbverfallene Hütte zur Aufbewahrung von Netzen und anderem Fischergerät fand sich auf ihr, aber auch die war verlassen und verfallen. Ungefesselt lebten Wind, Wellen, weißer Sand, spitze Gräser und allerhand kleine Tiere beisammen; so leer und stark war hier der Zusammenklang des Lebens, als ob man Blechbecken aufeinanderschlüge.
Dahinter die eigentliche Insel trug grünbewachsene hohe Festungswälle; Geschütze, die nicht einschüchterten, sondern zum Staunen waren wie vor-weltliche Tiere; Wassergräben, in deren Nähe es viele unheimliche Ratten gab; und mitten zwischen den Ratten ein kleines würfelförmiges Wirtshaus mit einer vierseitigen Pyramide als Dach unter dichten Bäumen, worin Anders und Clarisse wohnten. Es war zugleich die Kantine des Forts, und es standen den ganzen Tag in der Nähe dunkelblaue Soldaten mit gelben Tressen auf den Armen herum.
Man hatte da nicht eigentlich das Gefühl des Lebens von Menschen, sondern eher eine das Herz leerende Beklemmung wie von Deportation oder dergleichen. Auch die jungen Männer, welche mit einem Gewehr im Arm vor den mit Segelplachen zugedeckten Geschützen spazieren gingen, verstärkten diesen Eindruck; wer hatte sie dorthin gestellt, wo war, in welcher Weite, das Gehirn dieses Wahnsinns, der sich in einem lustlosen, pedantischen, katatonisch starr wiederholten Automatismus äußerte.
Es war die rechte Insel für Anders und Clarisse. Anders taufte sie die Insel der Gesundheit, weil jeder Wahnsinnseinfall darauf hell wurde vor diesem dunklen Hintergrund. In ihrem kleinen Wirtshaus bewohnten sie ein Zimmer, in welchem kaum die unentbehrlichsten Möbel standen, aber von der Mitte der Decke hing ein gläserner Luster herab, und an den Wänden hingen große Spiegel in bemalten Glasrahmen. Wenn sie von der Insel der Gesundheit auf ihre Wohninsel zurückblickten, stand sie mit ihren Kanonen, Scharten, Bastionskämmen, Häuschen und Bäumen da wie ein geöffneter, zahnlückiger, verwackelter, dunkler, irrsinniger Mund, und wenn sie von dort auf das Eiland blickten, schwebte es in der Luft, als wäre es bloß eine Spiegelung.
Sie hatten bald überall Tafeln entdeckt, auf denen zu lesen war, daß auf diesen Inseln das Zeichnen und Malen verboten sei. Sie stehn im Bereich aller Festungen der Welt, aber Clarisse sagte: »Wie ungeheuerlich würde man es empfinden, wenn es einen Punkt auf der Erde gäbe, auf dem es hieße: Hier ist das Beten verboten! Wie lügen sie, wenn sie zu wissen vorgeben, was Kunst ist!« Anders
antwortete nach einer Weile, während der ihn seltsame Ideen berührten: »Ein heilig erbitterter Spion wäre denkbar, der alle diese Festungspläne verriete.« Aber daß es ihnen verboten war, zu zeichnen und malen, brachte sie zunächst auf einen andren Einfall, den sie anfangs wie eine Rache ausführten. Clarisse schlief wenig; sie stand manchmal schon beim ersten Morgengrauen auf und setzte auf die Insel über, Anders folgte gemächlich mit dem hellen Tag und sah Clarisse nicht mehr, die weit weg in irgend einer Sandfalte oder hinter einem kleinen Hügel lag. Aber er war kaum einige Schritte gegangen, so stieß er auf eine Spur. Zwei Steine und eine darüber gelegte Feder vielleicht; das hieß: ich wünsche dich zu sehn, komm zu mir, aber du wirst mich nicht finden, so schnell wie der Vogel fliegt. Oder es lag ein runder, ausgesuchter Stein im Weg, den er ging: das hieß, ich bin hart, stark und gesund. War es aber ein Stück Kohle im weißen Sand, so bedeutete es: ich bin heute schwarz, trübe und traurig. Solcher Zeichen waren noch viele. Ein Zündholz bedeutete: ich bin heiß, hitzig und erwarte dich. Zwei große Steine, mit den Rücken gegeneinander: ich bin böse auf dich. Eine Astgabel, in einem Strauch, an die ein Stück Band gebunden war: Wenn uns auch ein weiter Weg trennt, so wende ich dir doch mein Antlitz zu und ziehe dich zu mir.
Und dann kamen die Zeichnungen im Sand. Pfeile und Kreise, ein brennendes Herz und ein springendes Pferd, alle gewöhnlich nur mit so wenig Linien angedeutet, daß sie nur dem Eingeweihten verständlich waren, und eine zusammengepreßte Sprache darstellend, in der sich die Herzschläge aufeinandertürmten. Diese Zeichen legten sie an im Sand, ritzten sie in die Balken der Hütte oder in
die glatte Fläche eines Steins, vergaßen sie, fanden sie nach Tagen wieder und brannten vor Glück.
»Man hat in Pompeji« sagte Anders »das Abbild einer Frau gefunden, das die Dämpfe, in die sich ihr Körper im Bruchteil einer Sekunde auflöste, als ihn der furchtbare Feuerstrom einhüllte, wie eine Statue in die versteinernde Lava eingesiegelt hatten. Diese fast nackte Frau, der das Hemd bis zum Rücken hinaufgerutscht war, als sie, im eiligen Lauf eingeholt, vornüber aufs Gesicht und die vorgehaltenen Arme stürzte, während der kleine Knoten ihrer Haare unordentlich aufgesteckt, aber fest im Nacken saß, war nicht schön, nicht häßlich, nicht üppig von Wohlleben, noch abgezehrt von Armut, nicht verrenkt vom Schreck, noch ohne Angst ahnungslos überwältigt, aber gerade wegen all dessen war diese vor vielen Jahrhunderten aus dem Bett gesprungene und auf den Bauch geworfene Frau so unsagbar lebendig geblieben, daß sie in jeder Sekunde wieder aufstehen und weitereilen könnte.« Clarisse verstand ihn aufs Wort. Wenn sie ihre Gefühle und Gedanken in den Sand grub, mit irgend einem Zeichen, das voll davon war wie ein Boot, das kaum noch die Vielfalt der Lasten tragen kann, und der Wind wehte dann einen Tag lang darauf, Tierspuren liefen darüber hin oder ein Regen zeichnete Pockennarben darein und verwischte die Schärfe der Umrisse, wie die Sorgen des Lebens ein Gesicht verwischen, gar aber, wenn man alles ganz vergessen hatte und nun durch einen Zufall wieder darauf stieß und plötzlich vor sich stand; vor einer Sekunde gepreßt voll von Gefühl und Gedanke, und eingesunken, verwaschen, klein und kaum kenntlich geworden, aber eingewachsen zwischen rechts und links, nicht vergangen ohne Scheu von
den Gräsern und Tieren umlebt, Welt, Erde geworden: Dann –? Schwer zu sagen, was dann war, die Insel bevölkerte sich mit vielen Clarissen; sie schliefen im Sand, sie fuhren auf dem Licht durch die Luft, riefen aus den Kehlen von Vögeln, es war eine Wollust, überall sich selbst zu berühren, überall auf sich selbst zu stoßen, eine unsägliche Empfindsamkeit, es brach ein Taumel aus den Augen dieser Frau und vermochte Anders anzustecken, so wie der Anblick der Wollust eines Menschen die höchste eines andren entzündet. »Weiß Gott, was es ist,« dachte Anders »das Liebende veranlaßt, das Geheimnis ihrer Anfangsbuchstaben in die Rinde von Bäumen zu ritzen, mit denen es wächst; das Siegel und Wappen erfunden hat; die Magie der aus ihrem Rahmen blickenden Bilder; um schließlich bei der Spur auf der photographischen Platte zu enden, die alles Geheimnis verloren hat, weil sie fast schon wieder wie die Wirklichkeit ist.«
Aber es war nicht nur das. Es war auch die Mehrdeutigkeit. Etwas war ein Stein und bedeutete Anders; aber Clarisse wußte, daß es mehr als Anders und ein Stein war, nämlich auch alles Steinharte an Anders und alles Schwere, das sie bedrückte, und aller Einblick in die Welt, den man gewann, wenn man erst einmal verstanden hatte, daß die Steine wie Anders waren. Oder eine Astgabel und ein Loch im Sand hieß: hier ist Clarisse, aber zugleich: sie ist eine Hexe und reitet ihr Herz. Viele Gefühle, die sonst getrennt sind, drängten sich um solch ein Zeichen, man wußte nie recht, welche, aber allmählich beobachtete Anders auch an seinen eignen Empfindungen eine solche Unsicherheit der Welt. Es hoben sich eigenartig erfundene Gedankengänge Clarisses ab, die er beinahe verstehen lernte.
Clarisse sah eine Weile lang Dinge, die man sonst nicht sieht. Anders konnte das ausgezeichnet erklären. Es war vielleicht Wahnsinn. Aber ein Förster sieht auf einem Spaziergang eine andere Welt als ein Botaniker oder ein Mörder. Eine Frau sieht den Stoff eines Kleids, ein Maler einen See flüssiger Farben an seiner Stelle. Ich sehe durchs Fenster, ob ein Hut hart oder weich ist. Wenn ich auf die Straße blicke, sehe ich ebenso, ob es draußen warm oder kalt ist, ob Menschen lustig, traurig, gesund oder kränklich sind; ebenso sitzt der Geschmack einer Frucht manchmal schon in den Fingerspitzen, die sie anfühlen. Anders erinnerte sich: wenn man etwas verkehrt ansieht, zum Beispiel in der Camera des kleinen Photographenapparats, bemerkt man übersehene Dinge. Ein Hin- und Herschwenken von Bäumen und Sträuchern oder Köpfen, die dem freien Auge reglos erscheinen. Oder die hüpfende Eigenart des menschlichen Gangs kommt einem zu Bewußtsein. Man ist erstaunt über die fortwährende Unruhe der Dinge. Ebenso sind unwahrgenommene Doppelbilder im Gesichtsfeld, denn das eine Auge sieht ja etwas anders als das zweite; Nachbilder lösen sich wie allerfeinste farbige Nebel vor den Augenblicksbildern auf; das Gehirn unterdrückt, ergänzt, formt die vermeinte Wirklichkeit; das Ohr überhört tausend Geräusche des eigenen Körpers, die Haut, die Gelenke, die Muskeln, das innerste Ich senden ein Ineinanderspiel unzähliger Empfindungen, die stumm, blind und taub den unterirdischen Tanz des sogenannten Wachseins aufführen. Anders erinnerte sich, wie er einmal, nicht gar so hoch im Gebirge, nur früh im Jahr in einen Schneesturm geriet; er war damals Freunden entgegengegangen, die einen Weg herabkommen sollten, und
er hatte sich schon gewundert, sie noch nicht getroffen zu haben, als das Wetter sich plötzlich änderte, die Klarheit sich verfinsterte, ein heulender Sturm losbrach und Schnee in dichten Wolken spitzer Eisnadeln auf den Einsamen schleuderte, als ob es diesem ans Leben ginge. Obgleich Anders schon nach wenigen Minuten den Schutz einer verlassenen Hütte erreichte, hatten ihn Wind und Schneemassen bis an die Knochen erreicht, und die eisige Kälte wie der anstrengende Kampf gegen den Orkan und die Wucht des Schnees hatten ihn in der kürzesten Zeit ermüdet. Als das Unwetter ebenso rasch vorbeiging, wie es gekommen war, setzte er freilich seinen Weg fort und er war nicht der Mann, sich durch ein solches Ereignis einschüchtern zu lassen, wenigstens war sein bewußtes Selbst ganz frei von Aufregung und jeder Art Überschätzung der überstandenen Gefahr, ja er fühlte sich äußerst aufgeräumt. Aber er mußte dennoch erschüttert worden sein, denn mit einem Mal hörte er die Partie sich entgegenkommen und rief sie heiter an. Aber niemand antwortete. Er rief nochmals laut – denn im Schnee konnte man leicht vom Weg ab und aneinander vorbeikomme – und lief, so gut er es vermochte, in der wahrgenommenen Richtung, denn der Schnee war tief, er hatte sich nicht darauf gefaßt gehabt und den Aufstieg ohne Skier oder Reifen unternommen. Nach etwa fünfundzwanzig Schritten, bei deren jedem er bis an die Hüften einbrach, mußte er vor Erschöpfung stillhalten, aber in diesem Augenblick hörte er wieder die Stimmen in angeregtem Gespräch und so nahe, daß er die Sprechenden, die nichts verdecken konnte, unbedingt hätte sehen müssen. Niemand war jedoch da als der weiche, hellgraue Schnee. Anders nahm seine Sinne zusammen und das
Gespräch wurde deutlicher. »Ich halluziniere« sagte er sich. Dennoch rief er abermals; ohne Erfolg. Er begann sich vor sich selbst zu fürchten und prüfte sich auf jede Weise, die ihm einfallen mochte, sprach laut und zusammenhängend, rechnete im Kopf kleine Aufgaben aus und machte mit Armen und Fingern schwierige Bewegungen, deren Ausführung volle Herrschaft über sich erforderte. Das alles gelang, ohne daß die Erscheinung wich. Er hörte ganze Gespräche, voll überraschenden Sinns und in klangvoller Mehrstimmigkeit. Da lachte er, fand das Erlebnis interessant und begann es zu beobachten. Aber auch das machte die Erscheinung nicht verschwinden, die erst abklang, als er umgekehrt und schon etliche hundert Meter abgestiegen war, während seine Freunde überhaupt nicht diesen Rückweg genommen hatten und keine menschliche Seele in der Nähe war. So unsicher und sich ausdehnend ist die Grenze zwischen Wahn und Gesundheit. Es überraschte ihn eigentlich nicht, wenn Clarisse mitten in der Nacht ihn zitternd weckte und behauptete, eine Stimme zu hören. Wenn er sie fragte, war es keine Menschenstimme und keine Tierstimme, sondern eine »Stimme von etwas«, und dann hörte er plötzlich auch ein Geräusch, das in keiner Weise auf ein dingliches Wesen zu beziehen war, und im nächsten Augenblick, während Clarisse immer heftiger zitterte und die Augen wie ein Nachtvogel aufriß, schien etwas Unsichtbares im Zimmer zu gleiten, schleifend an den Spiegel in gläsernem Rahmen zu stoßen, unkörperlich zu drängen, und auch in Anders schoß panikartig – nicht eine Angst, ein Bündel von Ängsten, eine Welt der Angst empor, so daß er alle Vernunft aufbieten mußte, um selbst zu widerstehen und Clarisse zur Ruhe zu bringen.
Aber er bot nicht gern die Vernunft auf. In dieser Unsicherheit, welche die Welt in der Umgebung Clarisses annahm, konnte man sich seltsam glücklich fühlen. Die Zeichnungen im Sand und Modelle aus Steinen, Federn und Ästen nahmen nun auch für ihn einen Sinn an, als ob hier, auf der Insel der Gesunden, sich etwas erfüllen wollte, das von seinem Leben schon einige Mal berührt worden war. Es schien ihm der Grund des menschlichen Lebens eine ungeheure Angst vor irgendetwas, ja geradezu vor dem Unbestimmten zu sein. Er lag im weißen Sand zwischen dem Blau der Luft und des Wassers, auf der kleinen, heißen Sandplatte der Insel zwischen den kalten Tiefen des Meers und Himmels. Hinter den Hügeln mit Disteln tollte Clarisse und spielte wie ein Kind. Er fürchtete sich nicht. Er sah das Leben von oben. Diese Insel war mit ihm davongeflogen. Er begriff seine Geschichte. Hunderte von menschlichen Ordnungen sind gekommen und gegangen; von den Göttern bis zu den Nadeln des Schmucks, und von der Psychologie bis zum Grammophon, jede eine dunkle Einheit, jede ein dunkler Glaube, die letzte, die aufsteigende zu sein, und jede nach einigen hundert oder tausend Jahren geheimnisvoll zusammensinkend und zu Schutt und Bauplatz vergehend: Was ist dies anderes als ein Herausklettern aus dem Nichts, jedes Mal nach einer anderen Seite versucht? Als einer jener Sandberge, die der Wind bläst, dann eine Weile lang die eigene Schwere formt, dann wieder der Wind verweht? Was ist alles, was wir tun, andres als eine nervöse Angst, nichts zu sein: von den Vergnügungen angefangen, die keine sind, sondern nur noch ein Lärm, ein anfeuerndes Geschnatter, um die Zeit totzuschlagen, weil eine dunkle Gewißheit mahnt, daß
endlich sie uns totschlagen wird, bis zu den sich übersteigenden Erfindungen, den sinnlosen Geldbergen, die den Geist töten, ob man von ihnen erdrückt oder getragen wird, den angstvoll ungeduldigen Moden des Geistes, den Kleidern, die sich fortwährend verändern, dem Mord, Totschlag, Krieg, in denen sich ein tiefes Mißtrauen gegen das Bestehende und Geschaffene entlädt: was ist alles das andres als die Unruhe eines Mannes, der sich bis zu den Knien aus einem Grab herausschaufelt, dem er doch niemals entrinnen wird, eines Wesens, das niemals ganz dem Nichts entsteigt, sich angstvoll in Gestalten wirft, aber an irgend einer geheimen Stelle, die es selbst kaum ahnt, hinfällig und Nichts ist.
Anders erinnerte sich an jenen Mann im grünen Kreis der Laterne, den er mit Clarisse und Lindner beobachtet hatte. Hier auf der Insel der Gesundheit war sogar dieses verzweifelte Geschöpf, das sich aus dem Dunkel, Geschlechtslust stehlend hervorgekrümmt hatte, wenn eine Frau vorbeiging, nichts Grundverschiedenes von andren Menschen. Was waren Walthers empfindsame Musik oder Lindners Staatsgedanken dem gemeinsamen Wollen vieler Menschen anderes als einsamer Exhibitionismus? Was ist selbst der Erfolg eines Staatsmanns, der mitten im menschlichen Betrieb steht, anderes als betäubende Ausübung mit dem Schein einer Befriedigung? In der Liebe, in der Kunst, in der Habsucht, in der Politik, in der Arbeit und im Spiele suchen wir unser schmerzvolles Geheimnis auszusprechen: Der Mensch gehört nur halb sich selbst, die andre Hälfte ist Ausdruck. Alle Menschen verlangen nach ihm in ihrer Seelennot. Der Hund bespritzt den Stein mit sich und riecht zu seinem Exkrement: Spuren hinterlassen in der Welt, sich in der Welt ein
Denkmal setzen, eine Tat, von der noch nach hunderten Jahren gesungen werden wird, ist der Sinn alles Heroismus. Ich habe etwas getan: Das ist eine Spur, ein ungleiches, aber unvergängliches Abbild. Ich habe etwas getan: knüpft Teile der Materie an mich. Selbst etwas nur auszusprechen, heißt schon, einen Sinn mehr haben zur Aneignung der Welt. Selbst nur wie Walther etwas zu beschwätzen, hat diesen Sinn. Anders lachte, weil ihm einfiel, daß Walther verzweifelt mit dem Gedanken herumgehn werde: Ach, ich wüßte wohl etwas dazu zu sagen …! Es ist das tiefe Grundgefühl des Bürgers, das immer stummer und beruhigter wird. Aber Anders kam auf der Insel der Gesundheit dazu, allen Ehrgeiz seines Lebens zu widerrufen. Was sind selbst Theorien andres als beschwätzen? Und am Ende solcher Stunden dachte Anders an nichts andres mehr als an Agathe, die ferne, die untrennbare Schwester, von der er nicht wußte, was sie tat. Und er erinnerte sich wehmütig ihres Lieblingsausspruchs: »Was kann ich also für meine Seele tun, die wie ein ungelöstes Rätsel in mir wohnt? Die dem sichtbaren Menschen die größte Willkür läßt, weil sie ihn auf keine Weise beherrschen kann?«
Clarisse legte währenddessen ihr Zeichenspiel aus; manchmal sah er sie wie ein flatterndes Tuch über die Düne huschen. »Wir spielen hier unsre Geschichte,« verlangte sie »auf der Lichtbühne dieser Insel.« Es war im Grunde nur die Übertreibung dieses sich in die Unsicherheit Einprägen-Müssens. Einst, als Clarisse mit Walther noch in der Oper saß, hatten sie oft gesagt: »Was ist alle Kunst! Wenn wir unsere Geschichte spielen könnten!« Auch das tat sie nun. Alle Liebenden sollten es tun. Alle Liebenden haben das Gefühl, was wir erleben, ist
etwas Wunderbares, wir sind erwählte Menschen, aber sie sollten es vor einem großen Orchester und einem dunklen Zuschauerraum spielen müssen – wirkliche Liebende auf der Bühne und nicht bezahlte Personen: nicht nur ein neues Theater entstünde, sondern auch eine ganz neue Art der Liebe, die sich ausbreiten würde, Menschengebärden durchleuchten würde wie feines Astwerk, statt sich wie heute ins Dunkel des Kinds zu verkriechen. Das sagte Clarisse. Nur kein Kind! Statt etwas zu leisten, bekommen die Menschen Kinder! Zuweilen nannte sie die kleinen Erinnerungen, welche sie für Anders in den Sand legte, ihre geheimen Kinder, oder sie nannte jeden Eindruck, den sie überhaupt aufnahm, so, denn er schmolz in sie hinein wie die Frucht. Zwischen ihr und den Dingen bestand ein fortwährendes Zeichenaustauschen und Verständigen, ein Verschworensein, erhöhte Korrespondenz, ein brennend lebhafter Lebensvorgang. Manches-mal steigerte sich das so stark, daß Clarisse glaubte, aus ihrem schmalen Körper herausgerissen zu werden, und wie ein Schleier über die Insel flog, rastlos, bis ihre Augen an einem kleinen Stein oder einer Muschel hängen blieben und ein gläubiges Erstaunen sie festbannte, weil sie schon einmal und immer hier gewesen war und ruhig als Spur im Sande gelegen hatte, während eine zweite Clarisse wie eine Hexe über die Insel geflogen war.
Zuweilen erschien ihr ihre Person nur noch als ein Hindernis, unnatürlich eingeschoben in den lebhaften Vorgang zwischen der auf sie einwirkenden Welt und der Welt, auf die sie wirkte. In den Augenblicken der höchsten Steigerung schien dieses Ich zu zerreißen und zu verlöschen. Mochte sie Walther mit diesem Körper untreu sein und dieser »an
der Haut befestigten Seele«, es bedeutete nichts: Die frigide, abweisende Clarisse verwandelte sich zu manchen Stunden in einen Vampyr, unersättlich, als ob ein Hindernis fortgefallen wäre und sie sich zum ersten Mal diesem bis dahin verbotenen Genuß hingeben dürfe. Sie schien es manchmal darauf anzulegen, Anders auszusaugen; »ich muß noch einen Teufel aus dir austreiben!« sagte sie, er besaß eine rote Sportjacke, die mußte er manchmal auf ihr Verlangen sogar in der Nacht anlegen, und sie ließ nicht ab, bis er unter seiner gebräunten Haut blaß wurde. Ihre Leidenschaft für ihn und überhaupt alle Gefühle, die sie äußerte, gingen nicht tief – das spürte Anders deutlich –, aber manchmal irgendwie an Tiefe vorüber unmittelbar ins Bodenlose.
Und auch sie traute Anders durchaus nicht ganz. Er verstand die Größe ihres Erlebnisses nicht völlig. Sie hatte in diesen Tagen natürlich alles durchschaut und erkannt, was ihr vorher noch verschlossen gewesen war. Sie hatte vorher unendlich Schweres erlebt, den Sturz aus der fast schon erreichten größten Höhe des Unternehmungsgeistes in tiefste Beklemmung. Es scheint, daß der Mensch aus der gewöhnlichen wirklichen Welt, wie wir alle sie kennen, durch Vorgänge verdrängt werden kann, die sich nicht in ihr ereignen, sondern überirdisch oder unterirdisch sind, und ebenso kann er durch sie ins Unermeßliche gesteigert werden. Sie beschrieb es auf der Insel Anders folgendermaßen: Eines Tags war alles rings um Clarisse erhöht gewesen; die Farben, die Gerüche, die geraden und krummen Linien, die Geräusche, ihre Gefühle oder Gedanken und jene, die sie in andern Menschen erregte; was sich ereignete, mochte kausal, notwendig, mechanisch, psychologisch sein, aber es war
außerdem noch von einem geheimen Antrieb bewegt; es mochte sich genau ebenso am Tag vorher ereignet haben, heute war es in einer unbeschreiblichen und glücklichen Weise anders. »Ach,« sagte sich Clarisse sofort »ich bin vom Gesetz der Notwendigkeit, wo jedes Ding von einem andern abhängt, befreit, denn die Dinge hingen von ihrem Gefühl ab.« Oder vielmehr war da eine fortwährende Aktivität des Ich und der Dinge, die aufeinander eindrangen und einander nachgaben, als ob sie sich auf den zwei verschiedenen Seiten der gleichen elastischen Membran befänden. Clarisse entdeckte, daß es ein Schleier von Gefühl war, aus dem sie hervorging, und auf der andern Seite die Dinge. Sie erhielt wenig später die fürchterlichste Bestätigung: Sie nahm dann alles, was um sie vorging, genau so richtig wahr wie früher, aber es war völlig beziehungslos und entfremdet worden. Ihre eigenen Gefühle kamen ihr fremd vor, als ob sie ein anderer empfände oder ob sie in der Welt umher-trieben. Es war, als ob sie und die Dinge einander schlecht angepaßt wären. Sie fand keinen Halt mehr in der Welt, nicht das notwendige Mindestmaß von Zufriedenheit und Selbstgenügsamkeit, vermochte nicht mehr durch innere Bewegungen das Gleichgewicht gegen die Geschehnisse der Welt aufrechtzuerhalten und fühlte mit unsagbarer Not, wie sie unaufhaltsam aus der Welt hinausgedrängt wurde und dem Selbstmord (oder vielleicht dem Wahnsinn) nicht mehr entrinnen konnte. Wieder war sie von der gewöhnlichen Notwendigkeit ausgenommen und einem geheimen Gesetz unterworfen; aber da entdeckte sie im letzten, gerade zur Rettung noch hinreichenden Augenblick das Gesetz, das niemand vor ihr bemerkt hatte:
Wir – das heißt, Menschen, welche nicht Clarisses Einblick haben, – bilden uns ein, daß die Welt eindeutig sei, wie immer sich die Sache mit den Dingen außen und den Vorgängen innen verhalten möge; und was wir ein Gefühl nennen, ist eine persönliche Angelegenheit, die zu unsrem eigenen Vergnügen oder Unbehagen dazukommt, aber sonst nichts in der Welt ändert. Clarisse dagegen erkannte, daß die Gefühle die Welt ändern. Nicht etwa nur so, wie es rot vor den Augen wird, wenn wir in Zorn geraten, – auch das übrigens; man hält es nur irrtümlich für etwas, das eine gelegentliche Ausnahme ist, ohne zu ahnen, welches tiefe und allgemeine Gesetz man berührt! – vielmehr so: Die Dinge schwimmen in Gefühl, wie die Seerosen auf dem Wasser nicht nur aus Blatt und Blüten und Weiß und Grün bestehn, sondern auch aus »sanftem Daliegen«. Gewöhnlich stehn sie dabei so ruhig, daß man das Ganze nicht bemerkt; das Gefühl muß ruhig sein, damit die Welt ordentlich ist und bloß vernünftige Beziehungen in ihr herrschen. Aber angenommen zum Beispiel, daß ein Mensch eine ganz schwere und vernichtende Demütigung erleidet, an der er zugrunde gehen müßte, so kommt es vor, daß sich statt dieser Scham eine überlegene Lust an der Demütigung einstellt, ein heiliges oder lächelndes Gefühl von der Welt, und dieses ist dann nicht bloß ein Gefühl wie jedes andere oder eine Überlegung, gar nicht etwa, daß wir uns damit trösten würden, Demut sei tugendhaft, sondern es ist ein Sinken oder Steigen des ganzen Menschen auf einen andren Plan, ein »in die Höhe Sinken«, und alle Dinge verändern sich in Übereinstimmung damit, man könnte sagen, sie bleiben dieselben, aber sie befinden sich jetzt in einem andern Raum oder es ist
alles mit einem andren Sinn gefärbt. In solchen Augenblicken erkennt man, daß außer der Welt für alle, jener festen, mit dem Verstand erforschbaren und behandelbaren, noch eine zweite, bewegliche, Singuläre, Visionäre, Irrationale vorhanden ist, die sich mit ihr nur scheinbar deckt, die wir aber nicht, wie die Leute glauben, bloß im Herzen tragen oder im Kopf, sondern die genau so wirklich draußen steht wie die geltende. Es ist ein unheimliches Geheimnis, und wie alles Geheimnisvolle wird es, wenn man es auszusprechen sucht, leicht mit dem Allergewöhnlichsten verwechselt. Clarisse selbst hatte erlebt, – als sie Walther betrog, und obgleich das nicht anders hätte sein dürfen, weshalb sie keine Reue anerkannte – wie die Welt schwarz wurde; aber das war keine wirkliche Farbe, sondern eine ganz unbeschreibliche, und später wurde diese »Sinnfarbe« der Welt, wie Clarisse das nannte, hart gebranntes Braun.
Clarisse war sehr glücklich an dem Tag, wo sie begriff, daß ihre neuen Erkenntnisse die Fortsetzung ihrer Bemühungen um Genie seien. Denn was unterscheidet anderes das Genie vom gesunden gewöhnlichen Menschen, als daß der geheime Anteil des Gefühls an allem Geschehen bei diesem beständig und unbemerkt, bei jenem dagegen unaufhörlichen Irritationen unterworfen ist. Übrigens sagte auch Anders, daß es viele mögliche Welten gibt. Verständige Menschen passen sich der Welt an, starke aber passen die Welt sich an. Solange die »Sinnfarbe« der Welt, wie Clarisse das nannte, fest blieb, hatte auch das Gleichgewicht in der Welt etwas Festes. Seine unbemerkte Festigkeit mochte sogar als etwas Gesundes und gewöhnlich Unentbehrliches gelten, so wie auch der Körper alle die Organe nicht
spüren darf, die sein Gleichgewicht erhalten. Ungesund ist auch ein labiles Gleichgewicht, das schon beim ersten Anlaß umkippt und in die untere Lage gerät. Das sind die Geisteskranken, sagte sich Clarisse, vor denen sie Angst hatte. Aber am höchsten,Eroberer im Bereich der Menschlichkeit sind die, deren Gleichgewicht ebenso verletzlich, aber voll Kraft ist, und immer wieder gestört, immer wieder neue Gleichgewichtsformen erfindet.
Es ist eine unheimliche Balance, und niemals hatte sich Clarisse so sehr wie diesmal als ein am schmalsten Rand zwischen Vernichtung und Gesundheit angesiedeltes Wesen gefühlt. Aber wer der Entwicklung von Clarisses Gedanken bis hierher gefolgt ist, wird bereits wissen, daß sie damit auch dem »Geheimnis der Erlösung« auf die Spur gekommen war. Dieses war ja als die Aufgabe in ihr Leben getreten, das durch allerhand Beziehungen gehemmte Genie in sich, Walther und ihrer Umgebung zu befrein, und es ist leicht einzusehn, daß dies geschieht, indem man der Verdrängung nachgeben muß, welche die Welt gegen jeden genialen Menschen ausübt, ins Dunkel getaucht wird, aber dort, auf der anderen Seite, die Welt in einer neuen Farbe heraushebt. Es war dies bei ihr die Bedeutung der Seelenfarbe Dunkelrot, einer wunderbaren, unbeschreiblichen und durchsichtigen Tönung, in die Luft, Sand und Gewächse getaucht waren, so daß sie sich überall wie in einer roten Kammer von Licht bewegte.
Die »Entwicklerkammer« nannte sie das einmal, selbst von der Ähnlichkeit mit einem Raum überrascht, in dem man aufgeregt und angestrengt inmitten scharfer Dünste über die zarten, kaum noch erkenntlichen Gebilde gebeugt ist, welche sich auf
der Platte zeigen. Ihre Aufgabe war es, die Erlösung vorzuleben, nur Anders erschien ihr als ihr Apostel, welcher nach einer Weile von ihr in die Welt hinausgehen werde und als erste Walther und Lindner erlösen müsse. Von da an ging es immer rascher mit ihr.
Der Stoß wirrer und regelloser Ideen, den Anders täglich empfing, und die Bewegung dieser Gedanken in einer uneinsichtigen, aber doch deutlich durchfühlbaren Richtung hatten ihn in der Tat allmählig mit sich genommen, und was sein Leben von dem der Wahnsinnigen unterschied, war nur noch ein Bewußtsein seiner Lage, die er durch eine Anstrengung unterbrechen konnte. Er tat es aber lange nicht. Denn während er sich unter verständigen Menschen und solchen des wirkenden Lebens eigentlich immer nur wie ein Gast gefühlt hatte, zumindest mit einem Teil seines Wesens, und so fremd oder sinnlos, wie es ein Gedicht wäre, das er inmitten der Generalversammlung einer Aktiengesellschaft plötzlich vorzutragen begänne, fühlte er hier in diesem Nichts von Gewißheit eine erhöhte Sicherheit und lebte gerade mit diesem Teil seines Wesens zwischen den Gebilden des Abersinns nicht in der Luft, sondern so sicher wie auf festem Boden. Es ist ja in Wahrheit Glück nichts Vernünftiges, das an einem bestimmten Tun oder dem Besitz gewisser Dinge ein für allemal hinge, sondern weit eher eine Stimmung der Nerven, durch die alles zum Glück wird oder nichts; soweit hatte Clarisse schon recht. Und die Schönheit, Güte, Genienhaftigkeit einer Frau, das Feuer, das sie entzündet und unterhält, ist durch keinen richterlichen Wahrspruch festzustellen, sondern es ist ein Delirium zu zweien. Man dürfte behaupten, sagte sich Anders, daß
unser ganzes Sein, welches wir im Grunde nicht begründen können, sondern als Gott wohlgefällig im ganzen hinnehmen, während wir aus dieser Voraussetzung die Einzelheiten sehr wohl abzuleiten vermögen, nichts als ein Delirium vieler sei, aber wenn Ordnung Vernunft ist, so ist überhaupt schon jede einfache Tatsache der Keim eines Wahnsinns, wenn wir sie außer aller Ordnung betrachten. Denn was haben Tatsachen mit unsrem Geist zu tun?! Er richtet sich nach ihnen, aber sie, sie stehn da, niemandem verantwortlich wie Berggipfel oder Wolken oder die Nase im Gesicht eines Menschen; die im Gesicht der schönen Diotima hätte man zuweilen mit zwei Fingern quetschen mögen, die Clarissens schnupperte gespannt gleich der eines Hühnerhunds und vermochte die ganze Aufregung des Unsichtbaren mitzuteilen.
Er konnte aber der Ordnung Clarisses bald nicht mehr folgen. Man ritzt an der Stelle, wo man sich gerade befindet, ein Zeichen in einen Stein: daß dies ebensogut Kunst ist wie die größte, war nachzufühlen. Und Clarisse wollte Anders nicht besitzen, sondern – jedes Mal in einem neuen Sprung – mit ihm leben. »Ich nehme nicht wahr,« sagte sie »sondern ich nehme fruchtbar.« Ihre Gedanken schillerten, die Dinge schillerten. Man sammelt nicht seine Einfälle, um ein Ich daraus zu bilden wie einen kalten Schneemann, wenn man in immer neuen Katastrophen wächst wie sie, ihre Gedanken wuchsen »im Freien«; man schwächt sich dadurch, daß man alles zerstreut, aber man regt sich zu einem unheimlichen Wachstum an. Clarisse begann ihr Leben in Gedichten auszudrücken; Anders fand es auf der Insel der Gesunden ganz natürlich. Aber in unsren Gedichten ist zuviel
starre Vernunft, die Worte sind ausgebrannte Begriffe, die Syntax reicht Stock und Seil wie für Blinde, der Sinn kommt vom Boden nicht los, den alle festgetreten haben, die erweckte Seele kann in solchen Eisenkleidern nicht wandeln. Clarisse fand heraus, daß man Worte wählen müsse, welche keine Begriffe sind; da es die aber nicht zu geben schien, wählte sie dafür das Wortpaar. Wenn sie »Ich« sagte: niemals war dieses Wort fähig, so lotrecht aufzuschießen, wie sie es fühlte, aber »Ichrot« ist noch von nichts festgehalten und flog empor. Ebenso vorteilhaft ist es, die Worte aus den grammatikalischen Bindungen zu befrein, die ganz verarmt sind. Clarisse legte zum Beispiel Anders drei Worte vor und bat ihn, sie zu lesen, in welcher Reihenfolge er wolle. War es »Gott«, »rot« und »fährt«, so las er »Gott fährt rot« oder »Gott, rot, fährt«, das heißt sein Gehirn griff sie gleich als Satz auf oder trennte sie durch Beistriche, um zu betonen, daß es dies nicht tue. Clarisse nannte es die Chemie der Worte, daß sie sich immer zu Gruppen zusammenschließen, und gab Gegenmaßregeln an. Ihre Lieblingsauskunft war, daß sie mit Ausrufungszeichen oder Unterstreichungen arbeitete. »Gott!! rot!!! fährt!« Solche Pfähle halten auf und das Wort staut sich an ihnen zu seinem vollen Sinn. Auch unterstrich sie die Worte ein bis zehnmal und solch eine von ihr geschriebene Seite sah bisweilen aus wie eine geheimnisvolle Notenschrift. Ein anderes Mittel, das sie aber weniger geläufig anwandte, war die Wiederholung; durch sie wurde das Gewicht des wiederholten Worts größer als die Kraft der syntaktischen Bindung, und das Wort begann ohne Ende zu sinken. »Gott fährt grün grün grün grün.« Es war ein unerhört schwieriges Problem, die Zahl der
Wiederholungen so richtig zu bemessen, daß sie genau das ausdrückte, was gemeint war.
Eines Tags kam Anders mit einem Band von Goethes Gedichten, den er zufällig bei sich führte, und schlug ihr vor, aus jedem einer Anzahl Gedichte mehrere Worte herauszugreifen, zusammenzusetzen und zu sehen, was herauskäme. Es kamen solche Gedichte heraus: … Es kann nicht übersehn werden, daß von diesen Gebilden ein wirrer, dunkler Reiz ausgeht, etwas vulkanisch Loderndes, als ob man in den Bauch der Erde blickte. Und wenige Jahre nach Clarisse ist ja in der Tat auch ein ähnliches Spiel mit Worten ahnungsvolle Mode der Gesunden geworden.
Clarisse nahm merkwürdige Folgerungen voraus. Feuerflocken aus dem Vulkan des Wahnsinns wurden von den Dichtern geraubt; irgendwann in Urzeiten und später, so oft ein Genie wiederkehrte; diese lodernden, noch nicht zu bestimmten Bedeutungen eingeengten Wortverbindungen wurden in die Erde der gewöhnlichen Sprache gepflanzt und bilden deren Fruchtbarkeit. »Die ja bekanntlich von ihrem vulkanischen Ursprung kommt. – Aber« so schloß Clarisse »daraus folgt, daß der Geist immer wieder zu Urelementen zerfallen muß, damit das Leben fruchtbar bleibt.« Damit war die Verantwortung einer ungeheuren Verantwortungslosigkeit in die Hände Clarisses gelegt; sie wußte, daß sie eigentlich ungebildet war, aber es erfüllte sie nun eine heroische Respektlosigkeit gegenüber allem, was vor ihr geschaffen worden war.
So weit vermochte Anders den Spielen Clarisses zu folgen, und die Respektlosigkeit der Jugend erleichterte es ihm, in den zertrümmerten Geist die neuen Gebilde hineinzuträumen, die sich daraus
formen ließen; ein Vorgang, der sich unter uns mehrmals wiederholt hat, sowohl um 1900, als man das Andeutende und Skizzenhafte liebte, wie nach 1910, wo man in der Kunst dem Reiz der einfachsten konstruktiven Elemente unterlag und die Geheimnisse der sichtbaren Welt anklingen hieß, indem man eine Art optisches Alphabet aufsagte.
Allein der Verfall Clarisses schritt rascher vorwärts, als Anders zu folgen vermochte. Eines Tags kam sie mit einer neuen Entdeckung. »Das Leben entzieht der Natur Kräfte auf Nimmerwiederkehr« begann sie, wobei sie an die Gedichte anknüpfte, welche der Natur Worte entreißen, um sie langsam unfruchtbar werden zu lassen, indem das Leben diese der Natur entzogenen Kräfte in einen neuen Zustand »Bewußtsein« verwandelt, aus dem es keine Rückkehr gibt. Es lag auf der Hand, und Clarisse wunderte sich, daß noch niemand dies vor ihr bemerkt hatte. Dies kam davon, daß ihre Moral die Menschen hinderte, gewisse Dinge zu bemerken. »Alle physikalischen, chemischen usw. Reize, die mich treffen,« erklärte sie »verwandle ich in Bewußtsein; aber niemals ist noch das Umgekehrte gelungen, sonst könnte ich ja mit meinem Willen diesen Stein aufheben. Also stört das Bewußtsein beständig das Kräftesystem der Natur. Es ist die Ursache aller nichtigen, oberflächlichen Bewegung, und die Erlösung verlangt, daß man es vernichtet.«
Clarisse machte auch gleich noch eine weitere Entdeckung. Die untergegangenen brodelnden, riesenwüchsigen, phantastischen Wälder der Carbonzeit sind es, was heute unter dem Einfluß der Sonne als Psychisches wieder frei wird, und durch die Ausbeutung der damals untergegangenen, Energie entsteht die große geistige Energie der Jetztzeit. Sie
sagt: bisher war es nur Spiel, nun muß es ernst werden; da wird sie ihm unheimlich.
Es war Abend, Anders und sie gingen zur Kühlung im Dunkel spazieren, in einem kleinen Teich trommelten Hunderte von Fröschen, und die Grillen schrillten, so daß die Nacht aufgeregt war wie ein Negerdorf, das zum Tanz antritt. Clarisse verlangte von Anders, daß er mit ihr in den Teich gehe und sich töte, damit ihr Bewußtsein allmählig zu Sumpf, Kohle und reiner Energie werde.
Dies war ein wenig zuviel. Anders lief Gefahr, wenn ihre Ideen in dieser Richtung weiterliefen, daß Clarisse ihm in einer der nächsten Nächte den Hals abschnitt.
Er telegraphierte an Walther, sofort zu kommen, da sein Versuch, Clarisse zu beruhigen, fehlgeschlagen sei und er die Verantwortung nicht länger übernehmen könne.
44.
Abrechnung
Sie schlafen alle drei in dem Zimmer. Walther sagt nichts darüber. Tut, als ob es sich verstünde, weil Anders auf Clarisse aufpassen mußte. Clarisse zu Bett. Um ihr Gelegenheit zu lassen, sich zu entkleiden, gehn sie vor die Tür; an den Strand; dort am Rand der Melancholie der abendlichen See setzt sich Walther auf einen an den Strand geworfenen, verdorrten Pflock. Seine eigene Lebenstrauer überwältigt ihn; jetzt ist wieder er der Wehrlose.
»Sie ist der Stern meines Lebens« sagt er. »Nun geht sie in Nacht unter. Ich muß ihr folgen. Was
wird aus uns werden?« Geht aus sich heraus, erzählt: »Ich bin am kritischen Punkt. Kämpfe, leide, wie du es dir nicht vorstellen kannst.« Anders, ebenfalls melancholisch: »Gut geht es nur denen, die unterkriechen. Schließlich ist das um so viel besser als Alleinsein – wie es besser ist, unter das Protektorat Englands zu geraten, statt ein unabhängiger Zulu zu sein.«
Sie sprachen lang. Der Abend war dunkel. Sterne standen in großer Einsamkeit im Raum verteilt. Anders bemerkte, daß von Zeit zu Zeit in Walthers Reden Banalitäten einflossen. »Ohne Liebe kein Leben, keine Phantasie, keine Freude!« Es sei ihm, als ob sie gestorben wäre und nur von fern eine Erinnerung zurückklinge. Keine Sonne erwärmt das Gemüt. Manchmal ein heller Augenblick sei wie ein warmer Tautropfen auf ein Eisfeld. Aber für diese »unaussprechlichen«, »ureigensten« Dinge sei das Tageslicht viel zu hell. Überhaupt: »man kennt sich und kennt sich doch nie, du weißt nicht, was ich in diesen Tagen mitgemacht habe.« Diese Banalitäten dringen in die Rede ein, wie bei Clarisse die Wahnideen; immer dichter. Es befriedigt Anders. Walther tut ihm sogar leid. Es wird ihm so hart und plötzlich alles genommen und der Halt entzogen. Gefühl, daß man, wenn man für den andern überhaupt nur Weichheit aufbringt, ihm schon genug getan hat.
Anders tröstete Walther und gab ihm praktische Ratschläge.
45.
Der Grieche
Es war beschlossen worden, Clarisse in ein neues Sanatorium zurückzubringen; sie ließ es ohne Widerstand und fast schweigend geschehn. Sie fühlte sich von Anders schwer enttäuscht und sah ein, daß sie in eine Krankenanstalt zurückkehren müsse, »um den Kreislauf noch einmal durchzumachen«; er war so schwer, daß er selbst ihr nicht gleich beim ersten Mal gelingen konnte.
Sie richtete sich an dem neuen Aufenthaltsort sicher ein, wie ein Mensch, der in ein Hotel wiederkehrt, wo er ein erfahrener Stammgast ist. Walther blieb vier Tage bei ihr. Er fühlte die Wohltat, daß Anders nicht mitgekommen war, und er allein Clarisse beherrschen konnte, gestand sich das aber nicht ein. Die Art, wie er sich gegen Anders verhalten hatte, sollte große Höhe haben und er glaubte auch, daß ihm dies gelungen sei; aber jetzt, wo es vorbei war, meldete ihm etwas sehr Unangenehmes, daß er sich während der ganzen Zeit vor Anders gefürchtet hatte. Sein Körper wollte eine männliche Genugtuung. Er nahm keine Rücksicht auf Clarisse und redete sich ein, daß sie nicht krank sei, sondern am ehesten sich erholen werde, wenn man sie neben körperlicher Pflege seelisch möglichst wie eine gewöhnliche Frau behandle. Aber er wußte dennoch, daß er sich das nur einrede. Zu seinem Erstaunen fand er weniger Widerstand bei Clarisse, als er es gewohnt war. Er litt. Er empfand Ekel vor sich. Er hatte sich in der ersten Nacht eine kleine Verletzung zugezogen, die ihn schmerzte: Unter körperlichen Schmerzen und Schauder vor seiner Roheit glaubte er sie und sich zu
geißeln. Dann war sein Urlaub zu Ende. Es fiel ihm nicht ein, seinem Büro zu desertieren. Er mußte seine Seele mit der Uhr in der Hand einpacken.
Clarisse unterzog sich einer Mastkur, welche man ihr verordnet hatte, da man an eine nervöse Überreizung als Folge körperlichen Herabgekommenseins glaubte. Sie war abgemagert und struppig wie ein Hund, der sich wochenlang im Freien herumgetrieben hat. Die ungewohnte Ernährung, deren Wirkung sie zu fühlen begann, machte Eindruck auf sie. Sie duldete auch Walther sanft wie die Kur, die ihr fremde Körper aufnötigte und sie zwang, grobe Stoffe zu verschlingen. Schwermütig nahm sie alles hin, um sich das Zeugnis der Gesundheit vor sich selbst zu erwerben. »Ich lebe nur auf meinen eigenen Kredit« sagte sie sich. »Niemand glaubt an mich. Vielleicht ist es nur ein Vorurteil, daß ich lebe?« Es beschäftigte sie, während Walthers Anwesenheit, sich mit Materie zu füllen und irdischen Ballast einzunehmen, wie sie es nannte.
Aber an dem Tag, wo Walther abreiste, war der Grieche da. Er wohnte im Sanatorium, vielleicht schon länger als Clarisse, aber da war er ihr in den Weg getreten. Er sagte zu einer Dame, als Clarisse vorbeiging: »Ein Mensch, der soviel gereist ist wie ich, vermag überhaupt nicht eine Frau zu lieben.« Es konnte sogar sein, daß er gesagt hatte: »ein Mensch, der soweit her kommt wie ich …« Clarisse verstand sogleich, daß es ein ihr geltendes Vorzeichen war, was diesen Menschen in ihren Weg führte. Noch am gleichen Abend schrieb sie ihm einen Brief.
Sein Inhalt war: »Ich bin die einzige Frau, die Sie lieben werden.« Sie begründete es ausführlich. »Sie sind von guter Mannesgröße,« schrieb sie ihm »aber haben eine frauenähnliche Figur und weibliche
Hände. Sie haben eine ›Geiernase‹, das ist eine Adlernase, der das unnütze Übermaß von Kraft genommen ist; es ist schöner als eine Adlernase. Sie haben große, dunkle, tiefe Augenhöhlen; schmerzhafte Lasterhöhlen. Sie kennen die Welt, die Überwelt und Unterwelt. Ich habe gleich bemerkt, daß Sie mich hypnotisieren wollten, obgleich Ihr Blick eigentlich müde und furchtsam war. Sie haben erraten, daß ich ihr Schicksal bin. Ich bin nicht hier, weil ich krank bin. Sondern weil ich instinktiv immer die rechten Mittel wähle. Mein Blut läuft langsam. Niemand hat je an mir Fieber konstatieren können. Schlechterdings unnachweisbar irgend eine lokale Entartung; kein organisch bedingtes Magenleiden, wie sehr auch immer, als Folge der Gesamterschöpfung die tiefste Schwäche des gastrischen Systems. Mag Ihnen übrigens unser Arzt was immer sagen, als Summa bin ich gesund, mag ich selbst als Winkel krank sein. Beweis: eben jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herauslösung, die mich hierher gebracht hat. Ich habe mit unbedingter Sicherheit erraten, was augenblicklich not tut; ein typisch krankes Wesen kann überhaupt nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen. Achten Sie auf mich. Ich habe deshalb auch mit unbedingter Sicherheit erraten, was Ihnen nottut. Sie sind der große Hermaphrodit, auf den alle warten. Ihnen haben die Götter Männliches und Weibliches zu gleichen Teilen geschenkt. Sie werden die strahlende Welt von dem dunklen, unsagbaren Zwiespalt der Liebe erlösen. Oh, wie ich es verstanden habe, als Sie ausriefen, daß keine Frau Sie festzuhalten vermag! Ich aber bin der große weibliche Hermaphrodit. Dem kein Mann zu genügen vermochte. Einsam trage ich den Zwie-Spalt. Den Sie
nur im Geist und also dennoch noch als Sehnsucht besitzen, die wir überwinden müssen. Mit einem schwarzen Schild davor. Kommen Sie. Eine göttliche Begegnung hat uns hiehergeführt. Wir dürfen unsrem Schicksal nicht ausweichen und die Welt neue hundert Jahre warten lassen …!«
Am nächsten Tag brachte ihr der Grieche den Brief zurück. Er tat es aus Diskretion persönlich. Er sagte ihr, daß er ihr keinen Anlaß geben wolle, ihm derartiges zu schreiben. Seine Ablehnung war vornehm und bestimmt. Sein Gesicht, kinodämonisch, hypnotiseurhaft männlich, wäre, in jeden beliebigen Menschenauflauf hineingestellt, augenblicklich der Mittelpunkt des Bildes geworden. Aber seine Hände waren frauenhaft schwach, die Kopfhaut unter dem dichten schwarzblauen sorgfältigen Scheitel zuckte zuweilen unfreiwillig, und seine Augen zitterten ein wenig, während sie Clarisse betrachteten. Clarisse hatte sich in der Tat unter dem Einfluß der Mastkur und neuer Stimmungen schon in den wenigen Tagen körperlich verändert; sie war dicker und grober geworden, und ihre arbeitsharten Klavierhände, die sich in der Aufregung spannten und krallten, erregten in dem Levantiner eine eigenartige Furcht; er mußte sie immerzu betrachten, hatte Fluchtimpulse und konnte nicht aufstehn.
Clarisse wiederholte ihm, daß er seinem Schicksal nicht ausweichen dürfe und griff nach ihm. Er sah die entsetzliche Hand daherkommen und vermochte sich nicht zu regen. Erst als ihr Mund an seinen Augen vorbei zu seinem glitt, fand er die Kraft, aufzuspringen und zu fliehn. Clarisse hielt ihn am Beinkleid fest und suchte ihn zu umschlingen. Er stieß einen leisen Laut des Ekels und der Angst aus und erreichte den Ausgang.
Clarisse war entzückt. Sie behielt das Gefühl zurück, daß dieser Mann von ungeheurer Reinheit sei; aber auch die Unanständigkeiten, welche sie selbst begangen hatte, waren in diesem Gefühl gefärbt. Ihr Atem ging hoch und breit; die Genugtuung,dem Befehl ihrer inneren Stimme über die letzten Rücksichten weg gefolgt zu sein, spannte ihre Brust wie Metallfedern. Eigentlich vergaß sie für vierundzwanzig Stunden alles, was sie hierhergeführt hatte, Sendung und Leiden; ihr Herz schloß keine Pfeile mehr gegen den Himmel, sie kamen, alle vordem abgesandten, einer nach dem andern zurück und durchbohrten es. Sie litt mit Stolz qualvolle Schmerzen des Verlangens. Vierundzwanzig Stunden lang. Diese frigide junge Frau, welche den Rausch des Geschlechts nicht kennen gelernt hatte, solange sie gesund war, empfing ihn wie eine Marter, die in ihrem Körper mit solcher Gewalt tobte, daß er nicht einen Augenblick stillhalten konnte und von fürchterlichstem Nervenhunger umhergetrieben wurde, während ihr Geist beglückt an dieser Gewalt feststellte, daß die grenzenlose Macht aller Geschlechtsbegierde, von der sie die Welt erlösen mußte, in sie gefahren sei. Die Süße dieser Qual, die ruhelose Ohnmacht, ein Bedürfnis, sich diesem Mann in den Weg zu werfen und vor Dankbarkeit zu weinen, das Glück, dem sie sich nicht verwehren konnte, war ihr ein Beweis, mit welchem ungeheuren Dämon sie den Kampf aufgenommen hatte. Diese Geisteskranke, welche noch nicht geliebt hatte, tat es jetzt mit allem, was in ihr noch verschont geblieben war, wie eine gesunde Frau, nur verzweifelt stark, als wollte sich dieses Gefühl mit der äußersten ihm möglichen Kraft von den Schatten losringen, die es umgaben und unwiderstehlich umdeuteten.
Wie alle Frauen wartete sie, daß der wiederkäme, der sie zurückgestoßen hatte. Vierundzwanzig Stunden vergingen, da – ungefähr zur gleichen Stunde wie gestern – klopfte wirklich der Grieche an Clarisses Tür. Eine ihm unerklärliche Kraft führte den willensschwachen und weiblich empfindenden Mann in die Situation zurück, in welcher der brutale Angriff gegen ihn abgebrochen war, ohne ein Ende gefunden zu haben. Er kam, wohlüberlegte Reden vorschützend und unantastbar schön gekleidet und frisiert, aber seine Augäpfel zitterten, als er Clarisse ansah, wie die Brüste eines Mädchens, die zum ersten Mal berührt worden sind. Clarisse machte nicht viel Federlesens. Sie wiederholte ihm, er dürfe nicht ausweichen, auch der Gott habe am Ölberg Angst gelitten, und griff ihn an. Seine Knie zitterten, und seine Hände legten sich kraftlos wie Tücher vor ihre, um sie abzuwehren. Aber Clarisse umschlang ihn mit Armen und Beinen und verschloß seinen Mund mit dem heißen Phosphathauch des ihren. In seiner höchsten Angst verteidigte sich der Grieche mit dem Geständnis, daß er homosexuell sei. Der Unglückliche wußte sich nicht zu helfen, als sie ihm darauf erklärte, daß er sie gerade deshalb lieben müsse.
Er war einer jener halb kranken, halb mondänen Menschen, die durch die Sanatorien wandern, welche für sie Hotels sind, in denen man interessantere Bekanntschaften macht als in den gewöhnlichen. Er sprach mehrere Sprachen und hatte die Bücher gelesen, von denen die Rede war. Eine südosteuropäische Elegance, schwarzer Scheitel und träg dunkles Auge trugen ihm die Bewunderung aller Frauen ein, welche am Mann Geist und Dämonie lieben. Seine Lebensgeschichte war wie eine
Lotterie von Nummern der Hotelzimmer, in die er eingeladen worden war. Er hatte nie in seinem Leben gearbeitet, wurde von seiner reichen Kaufmannsfamilie ausgestattet und war einverstanden mit dem Gedanken, daß sein jüngerer Bruder nach dem Tode des Vaters die Leitung der Geschäfte übernehme. Er liebte die Frauen nicht, wurde aber aus Eitelkeit ihre Beute und besaß nicht genug Entschiedenheit, um seiner Neigung für Männer anders als gelegentlich in den Kreisen der großstädtischen Prostitution zu folgen, wo sie ihn ekelte. Er war eigentlich ein großer dicker Knabe, in dem die Neigung dieses unbestimmten Alters zu allen Lastern niemals Späterem Platz gemacht und sich bloß in den Schutz einer melancholischen Trägheit und Unentschlossenheit eingebettet hatte.
Diesem unseligen Mann war noch nie widerfahren, daß eine Frau ihn so anpackte wie Clarisse. Ohne daß er es an irgend einer Bestimmtheit fassen konnte, wandte sie sich an seine Eitelkeit. »Großer Hermaphrodit« sagte sie immer wieder, und aus ihren Augen leuchtete etwas, das wie »Großer Kaiser« war, spielhaft für ihn und doch Rausch. »Merkwürdige Frau« sagte der Grieche. »Du bist der große Hermaphrodit,« sagte sie »der weder die Frauen zu lieben vermag, noch die Männer! Und deshalb bist gerade du berufen, sie von der Erbsünde, die sie schwächt, zu erlösen!«
Von den drei Männern Walther, Lindner und Anders, welche Clarisses Leben beeinflußten, hatte Lindner, ohne daß es ihr selbst je klar geworden war, den stärksten Eindruck auf sie geübt, indem er ihren Ehrgeiz – wenn man das Verlangen des Geistes nach Flügeln so nennen darf – durch seine Art am mächtigsten erregte. Seine Männerbünde,
klirrend wie Erzengel in ihrer Phantasie, von denen sie als Frau ausgeschlossen war, hatten sich zu dem Gedanken umgeformt, daß der starke und erlöste Mensch homosexuell sei: »Gott selbst ist homosexuell;« sagte sie dem Griechen »er fährt in den Gläubigen, er überwältigt ihn, erfüllt ihn, schwächt ihn, vergewaltigt ihn, behandelt ihn wie eine Frau und fordert von ihm Hingabe, während er die Frauen von der Kirche ausschließt. Erfüllt von seinem Gott, geht der Gläubige neben den Frauen wie zwischen krausen, kleinlichen Elementen, die er nicht bemerkt. Liebe ist Untreue an Gott, Ehebruch, beraubt den Geist seiner Menschenwürde. Sündigkeitswahn und Seligkeitswahn locken das Handeln der Menschheit ins Ehebruchbett. Du mein weiblicher König, nimmst mit mir die Sünden der Menschheit auf dich, um sie zu erlösen, indem wir sie begehn, obgleich wir sie schon durchschauen.«
»Verrückt – verrückt« murmelte der Grieche, aber zugleich leuchteten ihm Clarisses Ideen widerstandslos ein und berührten einen Punkt seines Lebens, der noch nie mit solchem Ernst und solcher Leidenschaft behandelt worden war. Clarisse rüttelte seine träge Seele wach wie ein im tiefsten Dunkel tobender Traum, aber sie behandelte ihn dabei wie ein älterer Knabe in der Pubertät einen kleineren fängt und betastet, um die verrückten Opfer des ersten Liebeskults an ihm zu vollziehn. Seine Würde als interessanter Mann litt auf das heftigste unter der ihm aufgezwungenen Rolle, aber zugleich kam diese tief in ihm vergrabenen Phantasien entgegen und Clarisses rücksichtslose Besuche versetzten ihn in einen zitternden Zustand der Hörigkeit. Er fühlte sich nirgends mehr sicher vor ihr, sie lud ihn zu Wagenfahrten ein, während deren sie sich hinter
dem Rücken des Kutschers an ihm vergriff, und seine größte Angst war, daß sie es einmal im Sanatorium vor allen Leuten tun werde, ohne daß er sich wehren könne. Schließlich zitterte er, sobald sie ihm nur in die Nähe kam, aber ließ alles mit sich geschehn. »Cette femme est folle« – diesen Satz sagte er dabei leise, unaufhörlich klagend in drei Sprachen her wie ein Schutzgebet.
Endlich aber – das sonderbare, halb durchsichtige Verhältnis fiel auf und er glaubte zu fühlen, daß man bereits über ihn spotte – riß ihn seine Eitelkeit heraus; weinend fast vor Schwäche suchte er alle Kraft zusammen, um diese Frau von sich abzuschütteln. Als sie in den Wagen stiegen, sagte er mit abgewandtem Gesicht, daß es das letzte Mal sei. Auf der Fahrt zeigte er ihr einen Schutzmann, behauptete, daß er mit ihm ein Verhältnis habe und dieser nicht mehr dulden wolle, daß er mit Clarisse verkehre; wie um einen Fels schlang er seine Blicke um diesen massigen, in der Straße stehenden Mann, wurde vom wegrollenden Wagen losgerissen, aber fühlte sich durch seine Lüge doch gestärkt, als hätte man ihm etwas zuhilfe geschickt. Auf Clarisse wirkte es jedoch verkehrt. Den Geliebten ihres »weiblichen Königs« zu sehn, wirkte wie eine überraschende Materialisation auf sie. Sie hatte sich schon in Gedichten als Hermaphrodit bezeichnet und glaubte nun zum ersten Mal an ihrem Körper zwitterhafte Eigenschaften bemerken zu können. Sie vermochte es kaum zu erwarten, daß sie das Freie erreichten. Der Grieche fürchtete sich vor dem Kutscher und stieß sie zurück. Er hauchte ihr ins Gesicht, daß es die letzte Fahrt sei. Der Kutscher, ohne sich umzusehn, scheinbar ahnend, daß etwas hinter ihm vorgehe, trieb die Pferde an.
Plötzlich war ein Gewitter von drei Seiten heraufgezogen und hatte sie überrascht. Die Luft war dick und voll unheimlicher Spannung, Blitzstrahlen zuckten und Donner rollte heran.
»Ich empfange heute abend den Besuch meines Geliebten,« sagte der Grieche »du darfst nicht zu mir kommen!«
»Wir reisen ab, heute Nacht!« antwortete Clarisse. »Nach Berlin, der Stadt der ungeheuren Energien!«
Mit erschütterndem Krach schlug in diesem Augenblick ein Blitz nicht weit von ihnen in die Felder, und die Pferde rissen galoppierend an den Strängen.
»Nein!« schrie der Grieche auf und verbarg sich unwillkürlich an Clarisse, die ihn umfing.
»Thessalische Hexe dünk ich mich!« schrie sie in den Aufruhr, der nun von allen Seiten losbrach. Blitzfeuer brüllte, Wasser und Erde stoben vermengt vom Boden auf, Schrecken rüttelte die Luft. Der Grieche zitterte wie ein elektrisierter armer Tierkörper. Clarisse jauchzte, umschlang ihn mit »Blitzarmen« und schlug in ihn ein. Da sprang er aus dem Wagen.
Als Clarisse lange nach ihm – sie hatte den Kutscher gezwungen, langsam durch das Gewitter zu fahren, und langsam weiter, als wieder die Sonne schien und Wagenleder, Felder und Pferde dampften, während sie Geheimnisvolles sang, – nach Hause kam, fand sie einen Zettel des Griechen auf ihrem Zimmer, worin er ihr noch einmal mitteilte, daß der Schutzmann auf seinem Zimmer sei, sich ihren Besuch verbat und am nächsten Morgen abzureisen erklärte. Beim Abendessen erfuhr Clarisse, daß seine Abreise Wahrheit sei. Sie wollte zu ihm
eilen, aber sie nahm wahr, daß alle Frauen sie beobachteten. Auf den Gängen wollte die Unruhe nicht enden. So oft Clarisse den Kopf aus der Tür steckte, um in das Zimmer des Griechen zu huschen, kamen Frauen vorbei. Diese dummen Personen sahen Clarisse spöttisch an, statt zu begreifen, daß der Schutzmann sie alle verhöhnte. Und Clarisse traute sich aus irgend einem Grund mit einem Mal nicht mehr, aufrecht und harmlos zu der Tür des Griechen zu gehn. Endlich wurde es still und sie schlich ohne Schuhe hinaus. Sie kratzte leise an der Türe, aber niemand antwortete, obgleich durch das Schlüsselloch Licht herausfiel. Clarisse preßte die Lippen an das Holz und flüsterte. Drinnen blieb es still; man hörte ihr zu, aber würdigte sie keiner Antwort. Der Grieche lag mit dem »Schutzmann« im Bett und verachtete sie. Da faßte sie, die noch nie geliebt hatte, der namenlose Schmerz demütiger Eifersucht. »Ich bin seiner nicht würdig,« flüsterte sie »er hält mich für krank« und flüsternd glitten ihre Lippen das Holz hinunter in den Staub. Eine herzzerreißende Begeisterung betörte sie, leise wimmernd stieß sie gegen die Tür, um zu ihm zu kriechen und seine Hand zu küssen, und begriff nicht, daß es ihr vereitelt war.
Als sie in ihrem Bett erwachte und dem Zimmermädchen läutete, erfuhr sie, daß der Grieche abgereist sei. Sie nickte, als ob das zwischen ihnen so verabredet gewesen wäre.
»Ich reise auch« sagte Clarisse.
»Ich muß es dem Arzt melden« das Mädchen.
Kaum hatte es das Zimmer verlassen, sprang Clarisse aus dem Bett und schüttete wie rasend ihren Besitz in einen Handkoffer; was nicht hineinging und das übrige Gepäck ließ sie zurück. Das
Mädchen glaubte, der Herr habe den Münchner Zug genommen.
Clarisse floh. »Irrtum ist nicht Blindheit,« murmelte sie »Irrtum ist Feigheit! Er hat seine Aufgabe erkannt, aber er besaß nicht genug Mut für sie!«
Während sie aus dem Haus schlich, an seinem verlassenen Zimmer vorbei, faßten sie wieder der Schmerz und die Scham. »Er hat mich für krank gehalten!« Tränen rannen ihr über die Wangen. Sie wurde sogar gerecht gegen das Gefängnis, dem sie nun entsprang, mitleidig nahm sie Abschied von den Mauern und den Bänken vor der Tür. Die Menschen hatten es hier gut mit ihr gemeint, so gut sie es eben verstanden. »Sie wollten mich heilen« lächelte Clarisse. »Aber Heilen ist Zerstören!«
Und als sie im Eilzug saß, dessen stürmende Sprünge sie kräftigend durchdrangen, wurden ihre Entschlüsse klar. Wie kann man irren? Nur, indem man nicht sieht. Wie kann man aber nicht sehn, was doch zu sehen ist?! Indem man sich nicht zu sehen getraut. Clarisse erkannte wie ein weiteres grenzenloses Feld das allgemeine Gesetz menschlicher Entwicklung: Irrtum ist Feigheit; wenn die Menschen einmal nicht feig sein werden, wird die Erde einen Sprung vor machen. Gut, wie der Zug mit ihr ohne Aufenthalt dahinbrauste. Sie wußte, daß sie den Griechen einholen müsse.
46.
Internierung
Clarisse nahm ein Schlafwagenabteil. Als sie den Wagen betrat, sagte sie sofort dem Schaffner: »Hier müssen drei Herren sein, sehen Sie nach, ich muß sie unbedingt sprechen!« Alle Mitreisenden standen, wie ihr schien, unter dem starken persönlichen Einfluß, der von ihr ausging, und befolgten ihre Befehle. Auch die Kellner im Speisewagen. Trotzdem mußte der Schaffner erklären, daß er den Griechen, Walther und Anders nicht gefunden habe. Darauf erkannte sie sich im Spiegel mit völlig klarem sinnlichen Eindruck bald als weiße Teufelin, bald als blutrote Madonna.
Als sie am Morgen in München den Zug verließ, fuhr sie in ein vornehmes Hotel, nahm ein Zimmer, rauchte den ganzen Tag, trank Kognak und schwarzen Kaffee und schrieb Briefe und Telegramme. Irgend ein Umstand hatte sie zu der Annahme gebracht, daß der Grieche nach Venedig gereist sei und sie gab ihre Anweisungen ihm, den Hotels, konsularischen Vertretungen und Ämtern. Sie entwickelte große Geschäftigkeit. »Eilen Sie!« sagte sie zu den roten Boys, welche den ganzen Tag für sie galoppierten. Es war eine Stimmung wie bei einem Brand, wenn die Feuerwehren anrasseln und die Hörner klagen, oder bei einer Mobilisierung, wo Pferde trappeln, unendliche Züge helmbewehrter, entschlossener Gesichter wie träumend durch die Straßen marschieren, die Luft voll zugeworfener Blumen und grauenschwerer Spannung ist.
Am Abend reiste sie selbst nach Venedig weiter.
Sie stieg in Venedig in einer von Deutschen
besuchten Pension ab, wo sie während der Hochzeitsreise gewohnt hatte; man erinnerte sich dunkel der jungen Frau. Das gleiche Leben wie in München begann, mit Mißbrauch von Alkohol und Alkaloiden, nur sendete sie jetzt keine Depeschen und Boten mehr aus. Seit dem Augenblick, wo sie in Venedig eingetroffen war, vielleicht weil am Bahnhof nicht schon die Abgesandten der Behörden mit Meldungen standen, besaß sie die Gewißheit, daß der Grieche ihr durch das Netz gegangen und in seine Heimat geflohen sei. Nun galt es, den Sturm zu hemmen und sich zum letzten Angriff ohne Übereilung und mit den strengsten Maßnahmen gegen sich selbst vorzubereiten.
Es stand fest, daß sie nach Griechenland segeln werde, aber vorher mußte das rasende Verlangen nach dem Mann, das sie beinahe zu weit vorgerissen hatte, bezähmt werden. Clarisse nahm außer Kaffee und Kognak keine Mahlzeiten zu sich, kleidete sich nackt aus und verriegelte sich in ihrem Zimmer, in welches sie auch die Bedienung nicht einließ. Der Hunger und noch irgendetwas, das sie nicht wahrzunehmen vermochte, versetzten sie in eine tagelange fieberähnliche Verwirrtheit, worin die ungeduldige Geschlechtserregung allmählig zu einer vibrierenden Stimmung abklang, in die sich allerhand Sinnestäuschungen einmengten. Der Mißbrauch starker Mittel hatte ihren Leib unterhöhlt, sie fühlte, wie er unter ihr zusammenzubrechen begann. Beständiger Durchfall; an einem Zahn entstand eine Lücke und beunruhigte sie Tag und Nacht; auf ihrer Hand begann sich eine häßliche kleine Warze zu bilden. Aber gerade dies trieb sie dazu, ihren Geist immer leidenschaftlicher anzuspannen, wie im Rennen vor dem Ziel,
wenn man jedes Bein mit dem Willen heben muß. Sie hatte sich Pinsel und Farbtöpfe verschafft, aus Stuhllehne, Bettkante und einem Bügelbrett, das sie vor ihrer Zimmertür gefunden hatte, baute sie ein Gerüst, das sie längs der Wände verschob, und begann die Wände ihres Zimmers mit großen Entwürfen zu bemalen. Es war die Geschichte ihres Lebens, die sie an die kahle Wand kreuzigte, und so groß war dieser Vorgang der inneren Reinigung, daß Clarisse überzeugt war, in hundert Jahren würde die Menschheit zu den Zeichnungen und Aufschriften wallfahren, um die ungeheuren Kunstwerke zu sehn, mit denen die größte Seele ihre Zelle bedeckt hatte.
Vielleicht waren es wirklich große Werke für jemand, der imstande sein müßte, den Beziehungsreichtum, der sich in ihnen zusammengeknäuelt hatte, auseinanderzufalten. Clarisse schuf sie in einem ungeheuren Spannungsgefühl. Sie empfand sich groß und schwebend. Sie war über den artikulierten Ausdruck des Lebens hinaus, welcher Worte und Formen schafft, die ein für alle angerichtetes Kompromiß sind, wieder bei der zauberhaften ersten Begegnung mit sich selbst angelangt, dem Irrsinn des ersten Staunens über das Göttergeschenk Wort und Bild. Was sie schuf, war verzerrt, war wirr gehäuft und doch arm, war zügellos und doch nur einem steifen Zwang gehorchend; äußerlich. Innerlich war es: Zum erstenmal der Ausdruck ihres ganzen Wesens; ohne Absicht, ohne Überlegung, fast ohne Wille, unmittelbar etwas Zweites, Bleibendes, Größeres werdend, die Transsubstantiation des Menschen zu einem Stück Ewigkeit; endlich die Erfüllung von Clarisses Sehnsucht. Sie
sang, während sie malte; »von lichten Göttern stamme ich ab!« sang sie.
Als man in ihr Zimmer eindrang, starrten verständnislose Augen wie die Lichter feindseliger Tiere diese Wände an. Clarisse hatte ein Schiffsbillet gelöst, eine Bettdecke und ein zu einem Turban zusammengedrehtes Tuch als ihre kaiserliche Ausstattung zurechtgelegt, um sie mit an Bord zu nehmen. Dann war ihr eingefallen, daß ein Mensch, der sich auf heiligen Wegen befindet, kein Geld bei sich haben dürfe, ohne einer lächerlichen Inkongruenz zu verfallen, und sie hatte ihren Schmuck und ihr Geld an lachende Gondelführer verteilt. Als sie am Markusplatz vor dem zu ihrer Abreise versammelten Volk eine Rede halten wollte, hatte ihr ein Herr zugesprochen und sie sanft nach Hause gebracht. Da dieser Mann aber die Unvorsichtigkeit beging, sie dem Schutz ihrer Gastgeber zu empfehlen, drangen nun alle bei ihr ein, die Padrona zeterte über angerichteten Schaden, gab Befehl, auf Clarisses Eigentum Beschlag zu legen, schimpfte in gemeinen Worten, als kein Eigentum zu finden war; und das Personal kicherte. Eine fürchterliche Grausamkeit starrte Clarisse von allen Seiten an, jener Urhaß der toten Materie, deren ein Teil den andern vom Platz drängt, wenn nicht Verständnis und Anziehung sie aneinander zu einem schließen. Clarisse nahm schweigend Turban und Mantel, um dieses Land zu verlassen und an Bord zu gehn. An den Stufen des Kanals kam ihr aber das immer freundliche braun-schwarze Stubenmädchen nach und bat sie zu warten, da ein Herr sich die Ehre geben wolle, ihr vor der Abreise noch etwas zu zeigen. Clarisse blieb schweigend stehn; sie war müde und hatte eigentlich nicht mehr die Kraft zu reisen.
Als die Gondel mit dem Herrn und zwei fremden Männern kam, sah sie dem Mädchen ernst in die freundlichen Augen, die jetzt beinah in einem nassen Schimmer schwebten, und dachte das schwere Wort Ischariot. In der Gondel hielt sie ruhig und ernst den fremden Herrn im Auge und hatte den klaren Eindruck, daß er sich vor ihre scheue. Es befriedigte sie. Sie kamen zum Denkmal des Colleone und nun sprach der fremde Herr sie zum ersten Mal an. »Wollen wir nicht hier hineingehn?« sagte er, auf ein Gebäude neben der dort stehenden Kirche weisend. »Hier ist etwas besonders Schönes zu sehn.« Clarisse ahnte die Falle, welche ihr der Beamte der öffentlichen Sicherheit stellte. Aber dieser Verdacht hatte keinen Wert für sie. Ich bin müde und krank, sagte sie sich. Er will mich ins Spital locken. Es ist unvernünftig von mir, daß ich folge. Aber mein Wahnsinn ist bloß, daß ich aus ihrer allgemeinen Ordnung herausfalle und meine Kausalität nicht die ihre ist: nur Störung in einer nebensächlichen, von ihnen überschätzten Funktion. Ihr Verhalten ist krassester Unethizismus. In ihren kausalen Beziehungen ist, was ich tue und wie ich es tue, krank; weil sie das andre nicht sehn.
Als sie in das Haus eintrat, verteilte sie den Rest ihres Schmuckes und ihr Tuch an die Wärterinnen, die ihn entgegennahmen, sie ergriffen und an ein Bett schnallten. Nun begann Clarisse zu weinen, und die Wärterinnen sagten: »Poveretto!«