MoE 3 | Zweites Buch | Dritter Teil | Kapitel 20-29

So kam es, daß Ulrich wieder bei Graf Leinsdorf erschien.
Er traf Se. Erlaucht umgeben von Stille, Devotion, Feierlichkeit und Schönheit vor dem Schreibtisch an, wie er über einem hohen Stoß Akten die Zeitung liegen hatte und in ihr las. Der reichsunmittelbare Graf schüttelte bekümmert den Kopf, nachdem er Ulrich noch einmal sein Beileid ausgesprochen hatte. »Ihr Papa ist einer der letzten wahren Vertreter von Besitz und Bildung gewesen« sagte er. »Ich erinnere mich noch gut an die Zeit, wo ich mit ihm im böhmischen Landtag gesessen bin: er hat das Vertrauen verdient, das wir ihm immer geschenkt haben!«
Der Höflichkeit wegen erkundigte sich Ulrich, welche Fortschritte die Parallelaktion in der Zeit seiner Abwesenheit gemacht habe.
»Wir haben halt jetzt wegen der Schreierei auf der Straße vor meinem Haus, die Sie ja noch mitgemacht haben, eine ›Enquete zur Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung inbezug auf die Reform der inneren Verwaltung‹ eingesetzt« erzählte Graf Leinsdorf. »Der Ministerpräsident selbst hat gewünscht, daß wir ihm das vorderhand abnehmen, weil wir als ein patriotisches Unternehmen sozusagen das allgemeine Vertrauen genießen.«
Ulrich versicherte mit ernstem Gesicht, daß jedenfalls schon der Name glücklich gewählt sei und eine gewisse Wirkung verspreche.
»Ja, auf den richtigen Ausdruck kommt viel an« meinte Se. Erlaucht nachdenklich und fragte plötzlich: »Was sagen Sie denn zu der Geschichte mit den Triestiner Gemeindeangestellten? Ich finde, daß es für die Regierung hoch an der Zeit war, sich zu einer entschlossenen Haltung aufzuraffen!« Er machte Miene, Ulrich die Zeitung, die er bei seinem Eintritt zusammengefaltet hatte, hinüberzureichen, entschloß sich aber im letzten Augenblick, sie selbst noch einmal zu öffnen, und las mit lebhaftem Eifer seinem Besuch eine langatmige Auslassung vor. »Glauben Sie, daß es einen zweiten Staat in der Welt gibt, wo so etwas möglich wäre?!« fragte er, als er damit fertig war. »Das tut die österreichische Stadt Triest nun schon seit Jahren, daß sie nur Reichsitaliener in ihre Dienste nimmt, um damit zu betonen, daß sie sich nicht zu uns, sondern zu Italien gehörig fühlt. Ich bin einmal an Kaisers Geburtstag dort gewesen: nicht eine einzige Fahne hab ich in ganz Triest gesehn, außer auf der Statthalterei, der Steuerbehörde, dem Gefängnis und den paar Kaserndächern! Wenn Sie dagegen am Geburtstag des Königs von Italien etwas in einem Triester Büro zu tun haben, so werden Sie keinen Beamten finden, der nicht eine Blume in seinem Knopfloch hat!«
»Aber warum hat man das bis jetzt geduldet?« erkundigte sich Ulrich.
»Warum soll mans denn nicht dulden?!« antwortete Graf Leinsdorf mißvergnügt. »Wenn die Regierung die Gemeinde zwingt, ihre ausländischen Angestellten zu entlassen, dann heißt es gleich, daß wir germanisieren. Und diesen Vorwurf fürchtet eben jede Regierung. Auch Seine Majestät hört ihn nicht gern. Wir sind ja keine Preußen!«
Ulrich glaubte sich zu erinnern, daß die Küsten- und Hafenstadt Triest von der ausgreifenden Venetianischen Republik auf slawischem Boden gegründet worden sei und heute eine große slowenische Bevölkerung umschließe; selbst wenn man sie also, obwohl sie außerdem die Pforte des Orienthandels der ganzen Monarchie war und von dieser in jeder gedeihlichen Weise abhing, bloß als eine Privatangelegenheit ihrer Einwohner ansehen mochte, kam man nicht um die Tatsache herum, daß ihr zahlreiches slawisches Kleinbürgertum dem bevorzugten italienisch sprechenden Großbürgertum auf das leidenschaftlichste das Recht bestritt, die Stadt als seinen Besitz anzusehn. Ulrich sagte das.
»Das ist schon richtig« belehrte ihn Graf Leinsdorf. »Aber sobald es heißt, daß wir germanisieren, sind die Slowenen sofort mit den Italienern verbündet, wenn sie sich sonst auch noch so wild in den Haaren liegen! In einem solchen Fall bekommen die Italiener auch die Unterstützung aller anderen Nationalitäten. Das haben wir oft genug erlebt. Wenn man realpolitisch denken will, muß man halt, ob man will oder nicht, die Gefahr für unser Einvernehmen doch in den Deutschen sehn!« Graf Leinsdorf schloß sehr nachdenklich und verharrte so auch eine Weile, denn er hatte den großen politischen Entwurf berührt, der ihn beschwerte, ohne ihm bis nun deutlich geworden zu sein. Plötzlich belebte er sich aber wieder und fuhr erleichtert fort: »Aber es ist denen andern diesmal wenigstens gut gesagt worden!« Er setzte mit einer vor Ungeduld unsicheren Bewegung abermals seinen Zwicker auf die Nase und las nun Ulrich mit genußvoller Betonung noch einmal alle Stellen des in der Zeitung wiedergegebenen Erlasses der kaiserlich-königlichen Statthalterei in Triest vor, die ihm besonders gefielen. »›Wiederholte Mahnungen der staatlichen Aufsichtsbehörden haben nichts gefruchtet... Schädigung der Landeskinder... Angesichts dieser den behördlichen Anordnungen gegenüber hartnäckig beobachteten Haltung hat sich nunmehr der Statthalter in Triest genötigt gesehen, den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen durch Einschreiten von seiner Seite Geltung zu verschaffen...‹: Finden Sie nicht, daß das eine würdige Sprache ist?« unterbrach er sich. Er hob den Kopf, senkte ihn aber sogleich wieder, denn sein Verlangen war schon auf die Schlußstelle gerichtet, deren urbane Amtswürde nun seine Stimme mit ästhetischer Genugtuung unterstrich: »›Des weiteren bleibt es« las er vor »der Statthalterei ja jederzeit vorbehalten, etwa einlangende Einbürgerungsgesuche einzelner solcher öffentlichen Funktionäre, insoweit dieselben vermöge besonders langer Kommunaldienstzeit bei tadelloser Haltung einer ausnahmsweisen Berücksichtigung würdig erscheinen, individuell einer wohlwollenden Behandlung zu unterziehen, und es besteht bei der kaiserlich-königlichen Statthalterei die Geneigtheit, in solchen Fällen über etwaiges Einschreiten unter voller Wahrung ihres Standpunktes bis auf weiteres von einer sofortigen Durchführung dieser Verordnung abzusehen.‹ So hätte die Regierung immer sprechen sollen!« rief Graf Leinsdorf aus.
»Meinen Erlaucht nicht, daß auf Grund dieser Schlußstelle... am Ende doch wieder alles beim alten bleiben wird?!« fragte Ulrich ein klein wenig später, nachdem der Schwanz der kurialen Satzschlange gänzlich in seinem Ohr verschwunden war.
»Ja, das ist es eben!« erwiderte Se. Erlaucht und drehte wohl eine Minute lang den Daumen der einen Hand um den der andern, wie er es immer tat, wenn ein schweres Nachsinnen in ihm arbeitete. Dann aber sah er Ulrich prüfend an und eröffnete sich. »Erinnern Sie sich, daß der Innenminister, wie wir bei der Einweihung der Polizeiausstellung gewesen sind, einen Geist der ›Hilfsbereitschaft und Strenge‹ in Aussicht gestellt hat? Nun, ich verlange ja nicht, daß man die hetzerischen Elemente, die dann vor meiner Tür Lärm geschlagen haben, gleich alle einsperren soll, wohl aber hätte der Minister dafür vor dem Parlament würdige Worte der Abwehr finden müssen!« sagte er gekränkt.
»Ich dachte, das wäre in meiner Abwesenheit geschehn!?« rief Ulrich mit natürlich gespieltem Erstaunen aus, denn er gewahrte, daß ein echter Schmerz im Gemüt seines wohlwollenden Freundes wühle.
»Nix is geschehn!« sagte Se. Erlaucht. Er sah Ulrich abermals mit seinen sorgenvoll vorgequollenen Augen forschend ins Gesicht und eröffnete sich weiter: »Aber es wird etwas geschehn!« Er richtete sich auf und lehnte sich schweigend in seinen Stuhl zurück.
Er hatte die Augen geschlossen. Als er sie wieder öffnete, begann er im ruhigen Ton einer Erklärung: »Sehen Sie, lieber Freund, unsere Verfassung vom Jahre achtzehnhunderteinundsechzig hat der deutschen Nationalität und in ihr wieder dem Besitz und der Bildung unbestritten die Führung im versuchsweise eingeführten Staatsleben gegeben. Das war ein großes, vertrauensvolles und vielleicht sogar nicht ganz zeitgemäßes Geschenk der Generosität Seiner Majestät; denn was ist seither aus Besitz und Bildung geworden?!« Graf Leinsdorf erhob eine Hand und ließ sie ergeben auf die andere sinken. »Als Seine Majestät im Jahre achtzehnhundertachtundvierzig den Thron bestieg, zu Olmütz, also gleichsam im Exil –« fuhr er langsam fort, wurde aber plötzlich ungeduldig oder unsicher, zog mit zitternden Fingern ein Konzept aus seinem Rock, kämpfte mit dem Kneifer aufgeregt um den rechten Platz auf der Nase und las das Weitere vor, stellenweise mit ergriffen bebender Stimme und immer angestrengt mit dem Entziffern seines Entwurfes beschäftigt: »– war er umtost von dem wilden Freiheitsdrang der Völker. Es gelang ihm, den Überschwang desselben zu bändigen. Er stand, wenn auch nach einigen Konzessionen an den Willen der Völker, zum Schluß doch als Sieger da, noch dazu als gnädiger und huldreicher Sieger, der die Verfehlungen seiner Untertanen verzieh und ihnen die Hand zu einem auch für sie ehrenvollen Frieden bot. Die Verfassung und die anderen Freiheiten waren zwar von ihm unter dem Drucke der Ereignisse verliehen worden, immerhin waren sie ein freier Willensakt Seiner Majestät, die Frucht seiner Weisheit und seines Erbarmens und der Hoffnung auf die fortschreitende Kultur der Völker. Aber dieses schöne Verhältnis zwischen Kaiser und Volk ist in den letzten Jahren durch hetzerische, demagogische Elemente getrübt worden –« Graf Leinsdorf brach die Vorlesung seiner Darstellung der politischen Geschichte, darin jedes Wort sorgfältig überlegt und gefeilt war, da ab und blickte nachdenklich das Bild seines Vorfahren, des Maria-Theresien-Ritters und Marschalls an, das vor ihm an der Wand hing. Und als Ulrichs der Fortsetzung harrender Blick den seinen davon abzog, sagte er: »Weiter geht es noch nicht.«
»Aber Sie sehen, daß ich in der letzten Zeit eingehend diese Zusammenhänge erwogen habe« erläuterte er. »Das, was ich Ihnen da vorgelesen habe, ist der Anfang der Antwort, die der Minister dem Parlament hätte geben müssen, in der Angelegenheit der gegen mich gerichteten Demonstration, wenn er seinen Platz richtig ausgefüllt hätte! Ich hab mir das jetzt selbst nach und nach ausgedacht, und ich kann Ihnen wohl anvertraun, daß ich auch Gelegenheit haben werde, es Seiner Majestät vorzulegen, sobald ich damit fertig bin. Denn, sehen Sie, die Verfassung vom Jahre einundsechzig hat nicht ohne Absicht dem Besitz und der Bildung die Führung anvertraut; darin sollte eine Gewähr liegen: aber wo sind heute Besitz und Bildung?!«
Er schien sehr böse auf den Minister des Innern zu sein, und um ihn abzulenken, bemerkte Ulrich treuherzig, daß man doch wenigstens vom Besitz sagen könne, er sei heute außer in den Händen der Banken auch in den erprobten des Feudaladels.
»Ich habe gar nichts gegen die Juden« versicherte Graf Leinsdorf aus eigenem, als hätte Ulrich etwas gesagt, das diese Berichtigung erfordere. »Sie sind intelligent, fleißig und charaktertreu. Man hat aber einen großen Fehler begangen, indem man ihnen unpassende Namen gegeben hat. Rosenberg und Rosenthal zum Beispiel sind adelige Namen; Löw, Bär und ähnliche Viecher sind von Haus aus Wappentiere; Meier kommt vom Grundbesitz; Gelb, Blau, Rot, Gold sind Schildfarben: diese ganzen jüdischen Namen« eröffnete Se. Erlaucht überraschend »sind nichts als eine Insolenz unserer Bürokratie gegen den Adel gewesen. Er hat damit getroffen werden sollen und nicht die Juden, und darum hat man den Juden neben diesen Namen auch noch solche gegeben, wie Abeles, Jüdel oder Tröpfelmacher. Dieses Ressentiment unserer Bürokratie gegen den alten Adel könnten Sie, wenn Sie vollen Einblick hätten, nicht selten auch heute noch beobachten« weissagte er düster und verstockt, so als ob der Kampf der zentralen Verwaltung mit dem Feudalismus nicht längst von der Geschichte überholt worden und den Lebenden völlig aus dem Gesicht geschwunden wäre. Und wirklich konnte sich Se. Erlaucht über nichts aus so reinem Herzen ärgern wie etwa über die gesellschaftlichen Vorrechte, die hohe Beamte vermöge ihrer Stellung genossen, mochten sie auch Fuchsenbauer oder Schlosser heißen. Graf Leinsdorf war kein eigensinniger Krautjunker, er wünschte zeitgemäß zu fühlen, und es störten ihn solche Namen weder an einem Parlamentarier, mochte er selbst Minister sein, noch an einem einflußreichen Privatmann, auch sperrte er sich niemals gegen die politische und wirtschaftliche Geltung des Bürgertums, aber gerade hohe Verwaltungsbeamte mit bürgerlichen Namen reizten ihn mit einer Inbrunst, die ein letzter Rest ehrwürdiger Überlieferungen war. Ulrich fragte sich, ob nicht Leinsdorfs Bemerkung durch den Gatten seiner Kusine hervorgerufen worden wäre; auch das war nicht unmöglich, aber Graf Leinsdorf fuhr fort zu reden und wurde, wie es immer geschah, alsbald von einer Idee, die ihn offenbar schon lange beschäftigte, über alles Persönliche hinausgehoben. »Die ganze sogenannte Judenfrage wäre aus der Welt geschafft, wenn die Juden sich entschließen wollten, hebräisch zu sprechen, ihre alten eigenen Namen wieder anzunehmen und orientalische Kleidung zu tragen« erklärte er. »Ich gebe zu, daß ein soeben erst bei uns reich gewordener Galizianer im Steireranzug mit Gamsbart auf der Esplanade von Ischl nicht gut aussieht. Aber stecken Sie ihn in ein lang herabwallendes Gewand, das kostbar sein darf und die Beine verdeckt, so werden Sie sehen, wie ausgezeichnet sein Gesicht und seine großen lebhaften Bewegungen zu dieser Kleidung passen! Alles, worüber man sich jetzt Witze erlaubt, wäre dann am richtigen Ort; selbst die kostbaren Ringe, die sie gerne tragen. Ich bin ein Gegner der Assimilation, wie sie der englische Adel praktiziert; das ist ein langwieriger und unsicherer Prozeß: Aber geben Sie den Juden ihr wahres Wesen zurück, und Sie sollen sehen, wie diese ein Edelstein, ja geradezu ein Adel besonderer Art unter den Völkern sein werden, die sich um den Thron Seiner Majestät dankbar scharen oder, wenn Sie sich das lieber alltäglich und ganz deutlich vorstellen wollen, auf unserer Ringstraße spazieren gehn, die dadurch so einzigartig in der Welt dasteht, daß man auf ihr inmitten der höchsten westeuropäischen Eleganz, wenn man mag, auch einen Mohammedaner mit seinem roten Kappl, einen Slowaken im Schafpelz oder einen Tiroler mit nackten Beinen sehen kann!«
Hier konnte Ulrich nicht anders, als seiner Bewunderung für den Scharfblick Sr. Erlaucht Ausdruck zu geben, dem es nun auch vorbehalten gewesen sei, den »wahren Juden« zu entdecken.
»Ja, wissen Sie, der echte katholische Glaube erzieht dazu, die Dinge zu sehn, wie sie wirklich sind« erläuterte der Graf huldvoll. »Aber Sie würden nicht erraten, wie ich darauf geführt worden bin. Nicht durch den Arnheim, von den Preußen red ich jetzt nicht. Aber ich habe einen Bankier, natürlich mosaischer Religion, mit dem ich schon seit langer Zeit regelmäßig konferieren muß, und da hat mich anfangs sein Tonfall immer etwas gestört, so daß ich auf das Geschäftliche nicht recht habe aufpassen können. Er spricht nämlich genau so, wie wenn er mir einreden möchte, daß er mein Onkel wäre; ich meine, so, wie wenn er grade vom Pferd abgestiegen wäre oder vom großen Hahn zurückkäme; so, wie unsere eigenen Leute reden, möchte ich halt sagen: Kurz und gut aber, hie und da, wenn er in Eifer kommt, mißlingt ihm das, und dann, kurz gesagt, jüdelt er halt. Das hat mich sehr gestört, habe ich, glaub ich, anfangs schon bemerkt; weil das nämlich immer gerade in den geschäftlich wichtigen Augenblicken vorgekommen ist, so daß ich unwillkürlich schon darauf gewartet habe und auf das andere schließlich gar nicht mehr habe aufpassen können oder einfach aus allem etwas Wichtiges herausgehört habe. Da bin ich dann aber eben darauf gekommen: Ich hab mir einfach jedesmal, wenn er so zu reden angefangen hat, vorgestellt, er spricht hebräisch, und da hätten Sie nun hören sollen, wie angenehm es dann klingt! Direkt bezaubernd; es ist eben eine Kirchensprache; so ein melodisches Singen – ich bin sehr musikalisch, muß ich da einfügen: mit einem Wort, er hat mir von da an die schwersten Zinseszins- oder Diskontberechnungen förmlich wie am Klavier eingeflößt.« Graf Leinsdorf lächelte aus irgendeinem Grunde melancholisch dazu.
Ulrich erlaubte sich, die Bemerkung einzuflechten, daß die also durch die wohlwollende Teilnahme Sr. Erlaucht Ausgezeichneten voraussichtlich seinen Vorschlag ablehnen dürften.
»Natürlich werden sie nicht wollen!« meinte der Graf. »Aber dann würde man sie eben zu ihrem Glück zwingen müssen! Die Monarchie hätte da geradezu eine Weltmission zu erfüllen, da kommt es nicht darauf an, ob der andere zunächst will! Wissen Sie, man hat schon manchen zuerst zwingen müssen. Aber bedenken Sie auch, was es heißt, wenn wir später mit einem dankbaren jüdischen Staat verbündet wären, statt mit den Reichsdeutschen und Preußen! Wo unser Triest sozusagen das Hamburg des Mittelländischen Meeres ist, abgesehen davon, daß man diplomatisch unüberwindlich wird, wenn man außer dem Papst auch noch die Juden für sich hat!«
Abgerissen fügte er an: »Sie müssen nämlich daran denken, daß ich mich jetzt auch mit Währungsfragen befasse.« Und wieder lächelte er eigentümlich schwermütig und zerstreut.
Es war auffallend, daß Se. Erlaucht wiederholt dringend um Ulrichs Besuch gebeten hatte und nun, wo dieser endlich gekommen war, nicht von den Fragen des Tages sprach, sondern verschwenderisch seine Ideen vor ihm ausstreute. Aber wahrscheinlich waren, während er seinen Zuhörer entbehren mußte, sehr viele Gedanken in ihm entstanden, und sie schienen der Unruhe der Bienen zu gleichen, die weit ausschwärmen, aber sich wohl zur rechten Zeit mit ihrem Honig sammeln werden.
»Sie könnten mir vielleicht einwenden,« begann Graf Leinsdorf von neuem, obwohl Ulrich schwieg »daß ich mich bei früheren Gelegenheiten wiederholt recht abfällig über die Finanz geäußert habe. Das will ich gar nicht bestreiten: denn was zuviel ist, ist natürlich zuviel, wir haben im heutigen Leben zu viel Finanz; aber gerade deshalb müssen wir uns mit ihr beschäftigen! Schaun Sie: Die Bildung hat dem Besitz nicht das Gleichgewicht gehalten, das ist das ganze Geheimnis der Entwicklung seit achtzehnhunderteinundsechzig! Und darum müssen wir uns mit dem Besitz beschäftigen.« Se. Erlaucht machte eine kaum merkliche Pause, gerade lang genug, dem Zuhörer anzukündigen, daß nun das Geheimnis des Besitzes käme, fuhr dann aber in düsterer Vertraulichkeit fort: »Sehen Sie, an einer Bildung ist das wichtigste das, was sie dem Menschen verbietet: es gehört nicht zu ihr, und damit ist es erledigt. Ein gebildeter Mensch wird zum Beispiel niemals die Soße mit dem Messer essen; weiß Gott, warum; das kann man nicht in der Schule beweisen. Das ist der sogenannte Takt, dazu gehört ein bevorzugter Stand, zu dem die Bildung aufblickt, ein Bildungsvorbild, kurz, wenn ich so sagen darf, ein Adel. Ich gebe zu, daß der unsere nicht immer so war, wie er hätte sein können. Und gerade darin liegt der Sinn, der geradezu revolutionäre Versuch der Verfassung von achtzehnhunderteinundsechzig: Besitz und Bildung hätten an seine Seite treten sollen. Haben sie es zustande gebracht? Haben sie die große Aussicht, die ihnen die Gnade Seiner Majestät damals eingeräumt hat, auszunutzen vermocht?! Ich bin überzeugt, Sie werden auch nicht behaupten, daß die Erfahrungen, die wir jede Woche an dem großen Versuch Ihrer Frau Kusine erleben, solchen Hoffnungen entsprechen!« Seine Stimme belebte sich wieder, und er rief aus: »Wissen Sie, es ist ja sehr interessant, was sich alles heute Geist nennt! Ich hab neulich Seiner Eminenz, dem Kardinal, auf der Jagd in Mürzsteg davon erzählt – nein in Mürzbruck ist es gewesen, auf der Hochzeit der kleinen Hostnitz! – da schlagt er die Händ zusammen und lacht: ›Alle Jahr‹ sagt er ›was andres! Da siehst, wie anspruchslos wir sind: fast seit zweitausend Jahren erzählen wir den Leuten nichts Neues!‹ Und das ist sehr wahr! Der Glaube besteht nämlich in der Hauptsache darin, daß man immer das gleiche glaubt, möchte ich sagen, wenn das auch eine Ketzerei ist. ›Siehst du,‹ sagt er ›da bin ich immer auf der Jagd, weil schon mein Vorgänger unter Leopold von Babenberg auch auf die Jagd gegangen ist. Aber ich töte kein Tier,‹ – er ist nämlich bekannt dafür, daß er nie auf der Jagd einen Schuß löst – ›weil mir eine innere Zuwiderheit sagt, daß sich das zu meinem Kleid nicht schickt. Und zu dir kann ich ja davon sprechen, weil wir schon als Buben miteinander tanzen gelernt haben. Aber ich werde niemals öffentlich auftreten und sagen: du sollst auf der Jagd nicht schießen! Mein Gott, wer weiß, ob es wahr wäre, und jedenfalls ist es ja keine Kirchenlehre. Die Leut bei deiner Freundin treten aber mit so etwas auf, kaum daß es ihnen eingefallen ist! Da hast du das, was man heute Geist nennt!‹ Er hat leicht lachen,« sprach Graf Leinsdorf nun wieder in eigenem Namen weiter »weil sein Amt beharrlich ist. Wir Laien haben aber das schwere Amt, auch in dem unbeharrlichen Wechsel das Gute zu finden. Das habe ich ihm auch gesagt. Ich habe ihn gefragt: ›Wozu hat Gott überhaupt zugelassen, daß es eine Literatur gibt, eine Malerei und so weiter, wo sie uns im Grunde so fad sind?!‹ Da hat er mir eine sehr interessante Erklärung gegeben. ›Hast du schon etwas von der Psychoanalyse gehört?‹ fragt er mich. Ich hab nicht recht gewußt, was ich antworten darf. ›Also‹ sagt er ›du wirst vielleicht erwidern, daß sie eine Schweinerei ist. Darüber wollen wir nicht streiten, das sagen alle Leute; trotzdem laufen sie zu diesen neumodischen Ärzten mehr als in unsern katholischen Beichtstuhl. Ich sag dir, sie laufen in hellen Scharen hin, weil das Fleisch schwach ist! Sie lassen ihre heimlichen Sünden besprechen, weil ihnen das ein großes Vergnügen ist, und wenn sie schimpfen, so sag ich dir, was man schimpft, das kauft man! Ich könnte dir aber auch beweisen, daß das, wovon sich ihre ungläubigen Ärzte einbilden, daß sie es erfunden haben, nichts ist, als was die Kirche schon in ihren Anfängen gemacht hat: den Teufel austreiben und die Besessenen heilen. Bis ins einzelne geht diese Übereinstimmung mit dem Ritual des Exorzismus, zum Beispiel, wenn sie mit ihren Mitteln versuchen, den Besessenen dahin zu bringen, daß er von dem zu erzählen anfangt, was in ihm steckt: das ist auch nach der Kirchenlehre genau der Wendepunkt, wo sich der Teufel zum erstenmal anschickt auszufahren! Wir haben uns bloß entgehen lassen, das rechtzeitig den veränderten Bedürfnissen anzupassen und statt von Unfläterei und Teufel von Psychose, Unbewußtem und dergleichen heutigem Zeug zu reden.‹ Finden Sie das nicht sehr interessant?« fragte Graf Leinsdorf. »Es kommt aber vielleicht noch interessanter, denn: ›Wir wollen jedoch nicht davon reden, daß das Fleisch schwach ist,‹ hat er gesagt ›sondern davon sprechen, daß auch der Geist schwach ist! Und da ist die Kirche wohl klug gewesen und hat sich nichts passieren lassen! Der Mensch fürchtet nämlich den Teufel, der ihm ins Fleisch fährt, auch wenn er so tut, als bekämpfe er ihn, lange nicht so sehr wie die Erleuchtung, die ihm vom Geist kommt. Du hast Theologie nicht studiert, aber du hast wenigstens Achtung vor ihr, und das ist mehr als ein weltlicher Philosoph in seiner Verblendung je erreicht: ich kann dir sagen, die Theologie ist so schwer, daß einer, wenn er sich fünfzehn Jahre nur mit ihr allein beschäftigt hat, erst weiß, daß er nicht ein einziges Wort von ihr wirklich versteht! Und da möchte natürlich kein Mensch glauben, wenn er wüßte, wie schwer es im Grunde ist, alle würden sie bloß auf uns schimpfen! Geradeso würden sie schimpfen, – verstehst du jetzt?‹ hat er listig gesagt – ›wie sie jetzt auf die anderen schimpfen, auf die, was ihre Bücher schreiben und Bilder malen und Behauptungen aufstellen. Und wir lassen heute deren Anmaßung mit freudigem Herzen Raum, denn du kannst mir schon glauben: je ernster es einer von denen meint, je weniger er bloß für die Unterhaltung sorgt, und für seine Einkünfte, je mehr er also in seiner irrigen Weise Gott dient, desto fader ist er den Leuten, und desto mehr schimpfen sie auf ihn. ›Das ist das Leben nicht!‹ sagen sie. Wir aber wissen ja, was das wahre Leben ist, und werden es ihnen auch zeigen, und weil wir auch warten können, wirst du vielleicht selbst noch erleben, daß sie voller Wut über die vergebliche Gescheitheit zu uns zurückgelaufen kommen. An unseren eigenen Familien kannst du es heute schon beobachten: und zur Zeit unsrer Väter haben sie, weiß Gott, geglaubt, daß sie aus dem Himmel eine Universität machen werden!‹
Ich möchte nicht behaupten,« schloß Graf Leinsdorf diesen Teil seiner Mitteilungen und eröffnete einen neuen »daß er alles wörtlich gemeint hat. Die Hostnitz in Mürzbruck haben nämlich einen berühmten Rheinwein, den der General Marmont im Jahr achtzehnhundertfünf dort zurückgelassen und vergessen hat, weil er so rasch auf Wien hat marschieren müssen; und von dem haben sie bei der Hochzeit geschenkt. Aber in der Mehrheit hat der Kardinal schon sicher das Rechte getroffen. Und wenn ich mich nun frage, wie ich das verstehen soll, so kann ich nur sagen: richtig ist es gewiß, aber stimmen tut es wohl nicht. Das heißt, es kann ja keinen Zweifel daran geben, daß die Leute, die wir da eingeladen haben, weil man uns sagt, daß sie den Geist unserer Zeit vorstellen sollen, mit dem wirklichen Leben nichts zu tun haben, und die Kirche kann auch ruhig abwarten; aber wir zivilen Politiker können nicht warten, wir müssen nun einmal aus dem Leben, wie es ist, das Gute herauspressen. Der Mensch lebt ja nicht vom Brot allein, sondern auch von der Seele: die Seele gehört sozusagen dazu, daß er das Brot recht verdauen kann; und darum muß man einmal –«: Graf Leinsdorf war der Meinung, daß die Politik die Seele antreiben müsse. »Das heißt, es muß etwas geschehen,« sagte er »das verlangt unsere Zeit. Dieses Gefühl haben heute sozusagen alle Menschen, nicht nur die politischen. Die Zeit hat so was Interimistisches, was auf die Dauer niemand aushält.« Er hatte die Idee gefaßt, daß man dem zitternden Gleichgewicht der Ideen, auf dem das nicht minder zitternde Gleichgewicht der europäischen Mächte ruhte, einen Stoß geben müsse. »Es ist beinah Nebensache, was für einen!« versicherte er Ulrich, der mit gespieltem Schreck erklärte, Se. Erlaucht sei in der Zeit ihrer Trennung beinahe ein Revolutionär geworden.
»Ja warum nicht!« entgegnete Graf Leinsdorf geschmeichelt. »Seine Eminenz ist natürlich auch der Meinung gewesen, daß es wenigstens einen kleinen Schritt vorwärts bedeuten täte, wenn man Seine Majestät bestimmen könnte, das Ministerium des Innern anders zu besetzen, aber auf die Dauer verfangen so kleine Reformen nicht, wenn sie auch noch so notwendig sind. Wissen Sie, daß ich manchmal in meinen gegenwärtigen Überlegungen geradezu an die Sozialisten denke?!« Er ließ seinem Gegenüber Zeit, sich von dem Staunen zu erholen, das er als unvermeidlich voraussetzte, und fuhr dann entschieden fort: »Sie können mir glauben, daß der wahre Sozialismus gar nichts so Schreckliches wäre, wie man annimmt. Sie werden vielleicht einwenden, daß die Sozialisten Republikaner sind: gewiß, man darf halt nicht zuhören, wenn sie reden, aber wenn man sie realpolitisch nimmt, kann man beinahe überzeugt sein, daß eine sozialdemokratische Republik mit einem starken Herrscher an der Spitze gar keine unmögliche Staatsform wäre. Ich für meine Person bin sicher, daß sie, wenn man ihnen bloß ein bißchen entgegenkommt, gern auf die Anwendung roher Gewalt verzichten und vor ihren verwerflichen Grundsätzen zurückschrecken werden; sie neigen ohnehin schon zu einer Abmilderung des Klassenkampfes und der Eigentumsfeindlichkeit. Und es sind wirklich Leute unter ihnen, die noch den Staat vor die Partei stellen, während die Bürgerlichen seit den letzten Wahlen schon völlig in ihren nationalen Gegensätzen radikalisiert sind. Bleibt der Kaiser« fuhr er mit vertraulich gedämpfter Stimme fort. »Ich habe Ihnen schon vorhin angedeutet, daß wir lernen müssen, volkswirtschaftlich zu denken; die einseitige Nationalitätenpolitik hat das Reich in die Wüste geführt: dem Kaiser nun ist dieses ganze tschechisch-polnisch-deutsch-italienische Freiheitsgewurstel – ich weiß nicht, wie ich Ihnen das sagen soll, sagen wir halt: von tiefstem Herzen Wurst. Was Seine Majestät im tiefsten Herzen empfindet, ist nur der Wunsch, daß die Wehrvorlagen ohne Abstriche bewilligt werden, auf daß das Reich stark sei, und dann noch eine lebhafte Abneigung gegen alle Anmaßungen der bürgerlichen Ideenwelt, die er sich wahrscheinlich aus dem Jahre achtundvierzig bewahrt hat. Aber mit diesen beiden Empfindungen ist Seine Majestät ja nichts anderes als sozusagen der Erste Sozialist im Staate: Ich denke, Sie erkennen jetzt die großartige Perspektive, von der ich spreche! Bleibt bloß die Religiosität, in der noch ein unüberbrückbarer Gegensatz besteht, und darüber müßte ich noch einmal mit Seiner Eminenz sprechen.«
Se. Erlaucht versank schweigend in die Überzeugung, daß sich die Geschichte, besonders aber die seines Vaterlands, durch den unfruchtbaren Nationalismus, in den sie sich verrannt hatte, demnächst veranlaßt sehen werde, einen Schritt in die Zukunft zu tun, wobei er sich das Wesen der Geschichte insofern zweibeinig, andererseits aber als eine philosophische Notwendigkeit vorstellte. So war es begreiflich, daß er plötzlich und mit gereizten Augen, wie ein Taucher, der zu tief geraten ist, wieder an die Oberfläche stieß. »Jedenfalls müssen wir uns darauf vorbereiten, unsere Pflicht zu tun!« sagte er.
»Worin sehen Erlaucht aber jetzt unsere Pflicht?« fragte Ulrich.
»Was unsere Pflicht ist? Eben unsere Pflicht zu tun! Das ist das einzige, was man immer tun kann! Aber, um von etwas anderem zu reden« – Graf Leinsdorf schien sich erst jetzt wieder an den Stapel Zeitungen und Akten zu erinnern, auf dem er die Faust ruhen hatte: »Schaun Sie, das Volk verlangt heute eine starke Hand; eine starke Hand braucht aber schöne Worte, sonst läßt sich das Volk sie heute nicht gefallen. Und Sie, grad Sie, mein ich, haben eminent was von dieser Fähigkeit. Was Sie zum Beispiel das letzte Mal gesagt haben, als wir alle vor Ihrer Abreise bei Ihrer Kusine beisammen waren, daß wir eigentlich – wenn Sie sich erinnern – jetzt noch einen Hauptausschuß für die Seligkeit einsetzen müßten, damit sie sich mit unsrer irdischen Akkuratesse im Denken vereinbaren läßt: also ganz so einfach würde das zwar nicht gelingen, aber Seine Eminenz hat herzlich gelacht, wie ich ihm davon erzählt hab; ich hab es ihm nämlich ein bisserl, wie man zu sagen pflegt, unter die Nase gerieben, und wenn er sich auch immer über alles lustig macht, weiß ich doch ganz gut, ob ihm der Spott von der Galle oder vom Herzen kommt. Wir können Sie eben durchaus nicht entbehren, mein lieber Doktor –« Während alle anderen Äußerungen des Grafen Leinsdorf an diesem Tag die Beschaffenheit schwieriger Träume gehabt hatten, war der nun folgende Wunsch, Ulrich möge seine Absicht, die Ehrenstelle eines Sekretärs der Parallelaktion niederzulegen, »wenigstens vorläufig definitiv aufgeben«, so bestimmt und scharf befiedert, und Graf Leinsdorf legte so überfallsartig die Hand auf Ulrichs Arm, daß dieser beinahe den nicht ganz befriedigenden Eindruck gewann, die vorangegangenen ausführlichen Reden seien, weit listiger, als er es voraussah, nur dazu bestimmt gewesen, seine Vorsicht einzuschläfern. Er war in diesem Augenblick recht ärgerlich auf Clarisse, die ihn in solche Lage gebracht hatte; aber da er Graf Leinsdorfs Gefälligkeit gleich in Anspruch genommen hatte, als eine Lücke im Gespräch die erste Gelegenheit dazu bot, und dabei von dem wohlwollenden hohen Herrn, der ohne Aufenthalt weiterreden wollte, sofort auf das freundlichste beschieden worden war, blieb ihm nichts übrig, als widerstrebend die Gegenrechnung zu begleichen.
»Der Tuzzi hat mir auch schon sagen lassen,« erwiderte Graf Leinsdorf erfreut »daß Sie sich vielleicht für einen Mann aus seinem Büro entscheiden werden, der Ihnen alle unangenehme Arbeit abnehmen soll. ›Gut,‹ habe ich geantwortet, ›wenn er es nur überhaupt tut!‹ Schließlich ist das ein Mann mit einem Amtseid, den man Ihnen geben wird, und mein Sekretär, den ich Ihnen auch gern zur Verfügung stellen würde, ist ja leider ein Trottel. Bloß die Reservatsachen werden Sie ihm halt vielleicht doch lieber nicht zeigen, denn ganz angenehm ist es ja schließlich nicht, daß uns der Mann gerade vom Tuzzi rekommandiert wird, aber sonst machen Sie es sich in Zukunft nur so bequem, wie es Ihnen am angenehmsten ist!« schloß Seine Erlaucht huldvoll diese erfolgreiche Unterredung.

Während dieser Zeit und von dem Augenblick an, wo sie allein zurückgeblieben war, lebte Agathe in einer völligen Entspannung aller Beziehungen und hold schwermütigen Willensferne; ein Zustand, der wie eine große Höhe war, wo nur der weite, blaue Himmel zu sehen ist. Sie ging täglich zu ihrem Vergnügen ein wenig durch die Stadt; sie las, wenn sie zu Hause war; sie oblag ihren Geschäften: sie empfand diese sanfte, nichtssagende Tätigkeit zu leben mit dankbarem Genuß. Nichts bedrängte ihren Zustand, kein Festhalten an der Vergangenheit, keine Anstrengung für die Zukunft; wenn ihr Blick auf ein Ding in ihrer Umgebung fiel, so war das so, als lockte sie ein junges Lamm an: entweder kam es sanft heran, sich ihr zu nähern, oder es kümmerte sich eben nicht um sie, – aber nie begriff sie es mit Absicht, mit jener Bewegung des inneren Zugreifens, die allem kalten Verständnis etwas Gewalttätiges und doch Vergebliches gibt, da sie das Glück verscheucht, das in den Dingen ist. Auf diese Weise schien Agathe alles, was sie umgab, viel verständlicher zu sein als sonst, aber vornehmlich beschäftigten sie noch immer die Gespräche mit ihrem Bruder. Wie es der Eigenart ihres ungewöhnlich treuen Gedächtnisses entsprach, das durch keinerlei Vorsätze und Vorurteile seinen Stoff deformierte, tauchten um sie nun wieder die lebendigen Worte, die kleinen Überraschungen des Tonfalls und der Gebärde dieser Gespräche auf, ohne viel Zusammenhang und eher so, wie sie gewesen waren, noch ehe Agathe sie recht aufgefaßt und gewußt hatte, was sie wollten. Trotzdem war alles in höchstem Maße sinnvoll; ihre Erinnerung, in der schon so oft Reue geherrscht hatte, war diesmal voll ruhiger Anhänglichkeit, und in einer schmeichelnden Weise verblieb die vergangene Zeit eng an die Wärme des Körpers geschmiegt, statt sich wie sonst in Frost und Schwärze zu verlieren, die das vergeblich Gelebte empfangen.
Und so, eingehüllt in ein unsichtbares Licht, sprach Agathe auch mit den Rechtsanwälten, Notaren und Geschäftsleuten, zu denen sie ihr Weg führte. Sie stieß nirgends auf Ablehnung; man kam der reizvollen jungen Frau, die durch ihren Vatersnamen empfohlen war, in allem entgegen, was sie wünschte. Sie selbst handelte dabei im Grunde mit ebenso großer Sicherheit wie Geistesabwesenheit: was sie beschlossen hatte, stand fest, aber gleichsam außer ihr selbst, und ihre im Leben erworbene Erfahrenheit – also ebenfalls etwas, das sich von der Person unterscheiden läßt – arbeitete an diesem Beschluß weiter wie ein gewitzter Lohnknecht, der gleichmütig die Vorteile benutzt, die sich seinem Auftrag darbieten; daß sie mit allem, was sie tat, im Begriff war, einen Betrug vorzubereiten, diese Bedeutung ihres Handelns, die sich dem Unbeteiligten stark aufdrängt, setzte sich in ihrer eigenen Auffassung während dieser Zeit überhaupt nicht durch. Die Einheit ihres Gewissens schloß das aus. Der Glanz ihres Gewissens überstrahlte diesen dunklen Punkt, der gleichwohl, wie der Kern in der Flamme, mitten darin lag. Agathe wußte selbst nicht, wie sie es ausdrücken solle: durch ihren Vorsatz befand sie sich in einem Zustand, der von diesem häßlichen Vorsatz himmelweit entfernt war.
Schon am Morgen, nachdem ihr Bruder abgereist war, hatte sich Agathe sorgfältig betrachtet: es hatte mit dem Gesicht durch einen Zufall angefangen, denn ihr Blick war darauf gefallen und nicht mehr aus dem Spiegel zurückgekommen. Sie wurde so festgehalten, wie man manchmal gar nicht gehen möchte, aber doch immer neue hundert Schritte weiter geht bis zu einem zuletzt erst sichtbar gewordenen Ding, wo man dann endgültig umzukehren vorhat und es wieder unterläßt. In dieser Weise wurde sie ohne Eitelkeit von der Landschaft ihres Ich festgehalten, die ihr unter einem Hauch von Glas vor Augen lag. Sie kam zum Haar, das noch immer wie heller Samt war; sie öffnete ihrem Spiegelbild den Kragen und streifte ihm das Kleid von den Schultern; sie zog es schließlich ganz aus und musterte es bis zu den rosigen Decken der Nägel, wo an Händen und Füßen der Körper endigt und kaum noch sich selbst gehört. Noch war alles wie der blinkende Tag, der sich seinem Zenith nähert: aufsteigend, rein, genau und von jenem Werden durchflossen, das Vor-Mittag ist und sich an einem Menschen oder jungen Tier in der gleichen unbeschreiblichen Weise ausdrückt wie an einem Ball, der seinen höchsten Punkt noch nicht erreicht hat, aber nur wenig darunter ist. »Vielleicht durchschreitet er ihn gerade in diesem Augenblick« dachte Agathe. Dieser Gedanke erschreckte sie. Immerhin konnte es aber auch noch einige Zeit dauern: sie war erst siebenundzwanzig Jahre alt. Ihr Körper, unbeeinflußt von Sportlehrern und Masseuren wie von Gebären und Muttergeschäft, war von nichts geformt worden als von seinem eigenen Wachstum. Hätte man ihn nackt in eine jener großen und einsamen Landschaften versetzen können, welche die dem Himmel zugekehrte Seite hoher Bergzüge bilden, so wäre er von dem weiten und unfruchtbaren Wogenschlag solcher Höhe wie eine heidnische Göttin getragen worden. In einer Natur dieser Art gießt der Mittag keine Schwaden von Licht und Hitze herab, er scheint bloß noch eine Weile über seinen Höhepunkt anzusteigen und geht unmerklich in die sinkend schwebende Schönheit des Nachmittags über. Aus dem Spiegel kam das etwas unheimliche Gefühl der unbestimmbaren Stunde zurück.
In diesem Augenblick hatte Agathe daran gedacht, daß auch Ulrich sein Leben vorbeigehn lasse, als währte es ewig. »Vielleicht ist es ein Fehler, daß wir uns nicht erst als Greise kennen gelernt haben« sagte sie zu sich selbst und hatte die schwermütige Vorstellung zweier Nebelbänke, die am Abend zur Erde sinken. »Sie sind nicht so schön wie der strahlende Mittag,« dachte sie »aber was kümmert es diese zwei formlosen Grauen, wie die Menschen sie empfinden! Ihre Stunde ist gekommen und ist so weich wie die glühendste Stunde!« Sie hatte nun dem Spiegel fast schon den Rücken gekehrt, fühlte sich aber von einem in ihrer Stimmung liegenden Hang zur Übertreibung unversehens herausgefordert, sich wieder umzuwenden, und mußte über die Erinnerung an zwei dicke Marienbader Kurgäste lachen, die sie vor Jahren auf einer grünen Bank beobachtet hatte, wo sie einander mit den zärtlichsten und zartesten Empfindungen liebkosten. »Auch ihr Herz schlägt schlank inmitten des Fetts, und in den inneren Anblick versunken, wissen sie nichts von dem Spaß, den der äußere darbietet« hielt sich Agathe vor und machte ein verzücktes Gesicht, während sie es versuchte, ihren Körper dick zu stauchen und in fette Falten zu drücken. Als dieser Anfall von Übermut vorbei war, sah es ganz so aus, als wären ihr einige winzige Tränen des Zorns in die Augen getreten, und sich kühl zusammennehmend, kehrte sie zu einer genauen Betrachtung ihrer Erscheinung zurück. Obwohl sie für schlank galt, beobachtete sie an ihren Gliedern angeregt eine Möglichkeit, daß sie zu schwer werden könnten. Vielleicht war auch der Brustkorb zu breit. Aus der sehr weißen Haut, die im Gesicht vom Blond des Haars verdunkelt wurde wie von Kerzen, die bei Tag brennen, hob sich die Nase etwas zu weit, und auf einer Seite war ihre beinahe klassische Linie an der Spitze eingedrückt. Überhaupt mochte sich überall in der flammenhaften Grundform eine zweite verstecken, die breiter und schwermütiger war, wie ein Lindenblatt, das zwischen Lorbeerzweige geraten ist. Agathe wurde auf sich neugierig, als sähe sie sich zum erstenmal richtig an. So konnten sie leicht die Männer gesehen haben, mit denen sie sich eingelassen hatte, und selbst hatte sie gar nichts davon gewußt. Dieses Gefühl war nicht ganz geheuer. Aber auf irgendeine Weise der Phantasie hörte sie, ehe sie ihre Erinnerungen darüber zur Rechenschaft ziehen konnte, hinter allem, was sie erlebt hatte, den langen, inbrünstig hingezogenen Liebesschrei der Esel, der sie immer eigentümlich erregt hatte: er klingt grenzenlos töricht und häßlich, aber gerade darum gibt es vielleicht kein zweites Heldentum der Liebe, das so trostlos süß wäre wie das seine. Sie zuckte die Achseln über ihr Leben und wandte sich mit dem festen Willen wieder an ihr Bild, darin eine Stelle zu entdecken, wo ihre Erscheinung schon dem Alter nachgäbe. Da waren die kleinen Plätze bei Augen und Ohren, die sich zuerst verändern und anfangs so aussehen, als hätte etwas auf ihnen geschlafen, oder das Rund unter der Innenseite der Brüste, das so leicht seine Klarheit verliert: es würde sie in diesem Augenblick befriedigt und ihr Friede versprochen haben, daran eine Veränderung zu bemerken, aber noch war nirgends eine solche wahrzunehmen, und die Schönheit des Körpers schwebte fast unheimlich in der Tiefe des Spiegels.
In diesem Augenblick kam es Agathe wirklich sonderbar vor, daß sie Frau Hagauer sei, und der Unterschied zwischen den damit gegebenen deutlichen und dichten Beziehungen und der einwärts davon sich zu ihr erstreckenden Ungewißheit war so stark, daß sie selbst ohne Körper dazustehen und ihr Körper zu der Frau Hagauer im Spiegel zu gehören schien, die nun sehen mochte, wie sie mit ihm fertig werde, da er sich an Verhältnisse gebunden hatte, die unter seiner Würde waren. Auch darin lag etwas von dem schwebenden Genuß des Lebens, der manchmal wie ein Schreck ist, und das erste, wozu sich Agathe, nachdem sie sich flüchtig wieder angekleidet hatte, entschloß, führte sie in ihr Schlafzimmer, eine Kapsel zu suchen, die sich dort unter ihrem Gepäck befinden mußte. Diese kleine luftdichte Kapsel, die sie beinahe ebenso lange besaß, wie sie mit Hagauer verheiratet war, und von der sie sich niemals trennte, enthielt eine winzige Menge einer mißfarbigen Substanz, von der man ihr versprochen hatte, daß sie ein schweres Gift sei. Agathe erinnerte sich an gewisse Opfer, die sie hatte bringen müssen, um sich in den Besitz dieses verbotenen Stoffes zu setzen, von dem sie nichts wußte, als was man ihr von seiner Wirkung erzählt hatte, und einen jener wie eine Zauberformel klingenden chemischen Namen, die sich ein Uneingeweihter merken muß, ohne sie zu verstehen. Aber offenbar gehören alle Mittel, die, wie der Besitz von Gift und Waffen oder das Aufsuchen bestehbarer Gefahren, das Ende etwas in die Nähe rücken, zur Romantik der Lebenslust; und es mag sein, daß das Leben der meisten Menschen so bedrückt, so schwankend, mit soviel Dunkel in der Helle und im ganzen so verkehrt verläuft, daß erst durch eine entfernte Möglichkeit, es zu beenden, die ihm innewohnende Freude befreit wird. Agathe fühlte sich beruhigt, als ihre Augen auf das kleine metallene Ding trafen, das ihr in der Ungewißheit, die vor ihr lag, als ein Glücksbringer und Talisman erschien.
Das bedeutete also nichts weniger, als daß Agathe schon in dieser Zeit die Absicht gehabt hätte, sich zu töten. Im Gegenteil, sie fürchtete den Tod genau so, wie es jeder junge Mensch tut, wenn ihm beispielsweise abends vor dem Einschlafen nach einem gesund verbrachten Tag im Bett einfällt: es ist unvermeidlich, daß ich einmal an einem ebenso schönen Tag wie heute tot sein werde. Auch macht es durchaus nicht Lust zu sterben, wenn man einem andern dabei zusehen muß, und das Ableben ihres Vaters hatte sie mit Eindrücken gequält, deren Grauen von neuem hervorkam, seit sie nach der Abreise ihres Bruders allein in dem Haus zurückgeblieben war. Aber: »Ich bin ein wenig tot« – dieses Gefühl hatte Agathe oft, und gerade in Augenblicken wie diesem, wo sie sich soeben erst der Wohlbildung und Gesundheit ihres jungen Leibs bewußt gewesen war, dieser gespannten Schönheit, die in ihrem geheimnisvollen Zusammenhalt so grundlos ist wie der Zerfall der Elemente im Tode, geriet sie leicht aus dem Zustand ihrer glücklichen Sicherheit in einen des Bangens, Staunens und Verstummens, wie man ihn empfindet, wenn man aus einem lebhaft erfüllten Raum plötzlich unter den Schimmer der Sterne tritt. Ungeachtet der Vorsätze, die sich in ihr regten, und trotz der Genugtuung darüber, daß es ihr gelungen sei, sich aus einem verfehlten Leben zu retten, fühlte sie sich jetzt ein wenig von sich abgelöst und bloß in undeutlichen Grenzen mit sich verbunden. Kühl dachte sie an den Tod als einen Zustand, wo man aller Mühen und Einbildungen enthoben ist, und stellte sich ihn als ein inniges Eingeschläfertwerden vor: man liegt in Gottes Hand, und diese Hand ist wie eine Wiege oder wie eine Hängematte, die an zwei große Bäume gebunden ist, die der Wind ein klein wenig schaukelt. Sie stellte sich den Tod als eine große Beruhigung und Müdigkeit vor, befreit von allem Wollen und aller Anstrengung, von jeder Aufmerksamkeit und Überlegung, ähnlich der angenehmen Kraftlosigkeit, die man an den Fingern empfindet, wenn sie der Schlaf von irgendeinem letzten Ding der Welt, das sie noch festhalten, vorsichtig loslöst. Ohne Zweifel hatte sie sich aber damit eine recht bequeme und nachlässige Vorstellung vom Sterben gemacht, wie es eben bloß dem Bedürfnis von jemand entsprach, der den Anstrengungen des Lebens nicht günstig gesinnt ist, und am Ende erheiterte sie sich selbst an der Beobachtung, wie sehr das an die Ottomane erinnere, die sie in den strengen väterlichen Salon hatte stellen lassen, um lesend darauf zu liegen, als einzige von ihr aus eigener Kraft im Haus vorgenommene Veränderung.
Trotzdem war der Gedanke, das Leben aufzugeben, bei Agathe alles andere als bloß ein Spiel. Es erschien ihr tief glaubwürdig, daß auf eine so enttäuschende Bewegtheit ein Zustand folgen müsse, dessen beseligende Ruhe in ihrer Vorstellung unwillkürlich eine Art von körperlichem Gehalt annahm. Sie empfand es so, weil sie kein Bedürfnis nach der spannenden Illusion hatte, daß die Welt zu verbessern sei, und sich jederzeit bereit fühlte, ihren Anteil an ihr ganz aufzulassen, sofern es nur in einer angenehmen Weise geschehen könnte; überdies hatte sie aber auch noch in jener ungewöhnlichen Erkrankung, von der sie an der Grenze zwischen Kinder- und Mädchenzeit befallen worden war, eine besondere Begegnung mit dem Tode gehabt. Damals waren – in einem kaum zu überwachenden Abnehmen ihrer Kraft, das sich in jede kleinste Zeitspanne einzuschieben schien, und im ganzen doch unaufhaltsam schnell – von Tag zu Tag mehr Teile ihres Körpers von ihr abgelöst und vernichtet worden; aber in gleichem Schritt mit diesem Verfall und dieser Abwendung vom Leben ward auch ein unvergeßliches neues einem Ziel Zustreben in ihr geweckt, das alle Unruhe und Angst aus der Kranken verbannte und ein eigenartig gehaltvoller Zustand war, worin sie sogar eine gewisse Herrschaft über die immer unsicherer werdenden Erwachsenen ausüben konnte, die sie umgaben. Es ist nicht unmöglich, daß dieser Vorteil, den sie unter so eindrucksvollen Verhältnissen kennenlernte, später den Kern ihrer seelischen Bereitschaft bildete, sich dem Leben, dessen Erregungen aus irgendeinem Grund nicht ihren Erwartungen entsprachen, auf eine ähnliche Weise zu entziehen; es ist aber wahrscheinlicher, daß es sich umgekehrt verhielt und daß jene Krankheit, durch die sie sich den Forderungen der Schule und des Vaterhauses entzog, die erste Äußerung ihres transparenten, gleichsam für einen ihr unbekannten Gefühlsstrahl durchlässigen Verhältnisses zur Welt gebildet hatte. Denn Agathe fühlte sich einer ursprünglichen einfachen Sinnesart nach warm, lebhaft, ja sogar froh angelegt und leicht zufriedenzustellen, wie sie sich denn auch in die verschiedensten Lebenslagen verträglich geschickt hatte; auch war niemals jener Einsturz zu Gleichgültigkeit in ihr erfolgt, der Frauen widerfährt, die ihre Enttäuschung nicht mehr tragen können: aber mitten im Lachen oder dem Aufruhr einer sinnlichen Abenteurerei, die sich deshalb doch fortsetzten, wohnte die Entwertung, die jede Fiber ihres Leibes müde und sehnsüchtig nach etwas anderem machte, das eben am ehesten als Nichts zu bezeichnen war.
Dieses Nichts hatte einen bestimmten, wenn auch unbestimmbaren, Inhalt. Lange Zeit hatte sie sich bei vielen Gelegenheiten den Satz des Novalis vorgesagt: »Was kann ich also für meine Seele tun, die wie ein unaufgelöstes Rätsel in mir wohnt? Die dem sichtbaren Menschen die größte Willkür läßt, weil sie ihn auf keine Weise beherrschen kann?« Aber das flackernde Licht dieses Satzes erlosch, nachdem es sie rasch wie ein Blitzstrahl erhellt hatte, jedesmal wieder im Dunkel, denn sie glaubte nicht an eine Seele, weil ihr das überheblich und auch für ihre Person viel zu bestimmt vorkam. Sie konnte bloß ebensowenig an das Irdische glauben. Will man das recht verstehen, so braucht man sich nur zu vergegenwärtigen, daß diese Abkehr von der irdischen Ordnung ohne Glauben an eine überirdische etwas zuinnerst Natürliches ist, denn in jedem Kopf macht sich neben dem logischen Denken mit seinem strengen und einfachen Ordnungssinn, der das Spiegelbild der äußeren Verhältnisse ist, ein affektives gelten, dessen Logik soweit man überhaupt von einer solchen reden darf, den Eigenheiten der Gefühle, Leidenschaften und Stimmungen entspricht, so daß sich die Gesetze dieser beiden ungefähr so zueinander verhalten, wie die eines Holzplatzes, wo Klötze rechteckig behauen und versandbereit aufgestapelt werden, zu den dunkel verschlungenen Gesetzen des Waldes mit ihrem Treiben und Rauschen. Und da die Gegenstände unseres Denkens keineswegs ganz unabhängig von seinen Zuständen sind, vermengen sich nicht nur in jedem Menschen diese beiden Denkweisen, sondern sie können ihm bis zu einem gewissen Grad auch zwei Welten gegenüberstellen, zumindest unmittelbar vor und nach jenem »ersten geheimnisvollen und unbeschreiblichen Augenblick«, von dem ein berühmter religiöser Denker behauptet hat, daß er in jeder sinnlichen Wahrnehmung vorkäme, ehe sich Gefühl und Anschauung voneinander trennten und die Plätze einnähmen, an denen man sie zu finden gewohnt sei: als ein Ding im Raum und ein Sinnen, das nun in den Betrachter eingeschlossen ist.
Wie immer also das Verhältnis zwischen Dingen und Gefühl im ausgereiften Weltbild des zivilisierten Menschen auch beschaffen sein möge, kennt doch jeder die überschwänglichen Augenblicke, in denen eine Zweiteilung noch nicht auftritt, als hätten sich dann Wasser und Land noch nicht geschieden und es lägen die Wellen des Gefühls im gleichen Horizont mit den Erhöhungen und Tälern, von denen die Gestalt der Dinge gebildet wird. Es braucht nicht einmal angenommen zu werden, daß Agathe solche Augenblicke ungewöhnlich oft und stark erlebte, sie nahm sie bloß lebhafter, oder, wenn man will, auch abergläubischer wahr, denn sie war stets bereit, der Welt zu glauben und auch wieder nicht zu glauben, so wie sie es seit ihrer Schulzeit gehalten und auch später nicht verlernt hatte, als sie es mit der Logik der Männer näher zu tun bekam. In diesem Sinn, der von Willkür und Laune weit entfernt ist, hätte Agathe, wäre sie selbstgewisser gewesen, den Anspruch erheben dürfen, sich die unlogischeste aller Frauen zu nennen. Aber sie war nie auf den Einfall gekommen, in den abgewandten Gefühlen, die sie erfuhr, mehr als eine persönliche Ungewöhnlichkeit zu erblicken. Erst durch die Begegnung mit ihrem Bruder entstand in ihr eine Wandlung. In den leeren, ganz in den Schatten der Einsamkeit gehöhlten Zimmern, die noch vor kurzem von Gespräch und einer Gemeinsamkeit erfüllt waren, die bis an die innerste Seele drangen, verlor sich unwillkürlich die Unterscheidung zwischen körperlicher Trennung und geistiger Gegenwart, und Agathe fühlte sich, während die Tage ohne Merkzeichen dahinglitten, so eindringlich, wie sie es noch nie erlebt hatte, den eigentümlichen Reiz der Allgegenwart und Allmacht empfinden, der mit dem Übertritt der gefühlten Welt in die der Wahrnehmungen verbunden ist. Ihre Aufmerksamkeit schien nun nicht bei den Sinnen, sondern gleich tief innen im Gemüt geöffnet zu sein, dem nichts einleuchten wollte, als was ebenso leuchtete wie es selbst, und sie meinte, unerachtet der Unwissenheit, deren sie sich sonst anklagte, in der Erinnerung an die von ihrem Bruder gehörten Worte alles, worauf es ankäme, zu verstehen, ohne darüber nachdenken zu müssen. Und wie auf diese Weise ihr Geist von sich selbst so erfüllt war, daß auch der lebhafteste Einfall etwas von dem lautlosen Schweben einer Erinnerung an sich hatte, weitete sich alles, was ihr begegnete, zu einer grenzenlosen Gegenwart; auch wenn sie etwas tat, schmolz zwischen ihr, die es ausführte, und dem, was geschah, eigentlich nur eine Trennung hin, und ihre Bewegung schien der Weg zu sein, den die Dinge selbst herankamen, wenn sie den Arm nach ihnen ausstreckte. Diese sanfte Macht, ihr Wissen und die sprechende Gegenwart der Welt waren aber, wenn sie sich lächelnd fragte, was sie denn tue, kaum von Abwesenheit, Ohnmacht und tiefer Geistesstummheit zu unterscheiden. Mit einer geringen Übertreibung ihres Empfindens hätte Agathe von sich sagen können, daß sie nun nicht mehr wisse, wo sie sei. Sie war nach allen Seiten in etwas Stillstehendem darin, wo sie sich hochgehoben und verschwunden zugleich fühlte. Sie hätte sagen können: Ich bin verliebt, aber ich weiß nicht, in wen. Ein klarer Wille, den sie sonst immer an sich vermißt hatte, erfüllte sie, aber sie wußte nicht, was sie in seiner Klarheit beginnen solle, denn alles, was es Gutes und Böses in ihrem Leben gegeben hatte, war ohne Bedeutung.
So dachte Agathe nicht nur, während sie die Kapsel mit dem Gift betrachtete, sondern alle Tage daran, daß sie sterben möchte oder daß das Glück des Todes ähnlich dem Glück sein müsse, in dem sie diese Tage verbringe, während sie darauf wartete, daß sie ihrem Bruder nachreisen werde, und inzwischen gerade das tat, wovon er sie abzulassen beschworen hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was geschehen werde, sobald sie bei ihrem Bruder in der Hauptstadt wäre. Fast vorwurfsvoll erinnerte sie sich, daß er manchmal unbekümmert seine Erwartung hatte durchblicken lassen, sie werde dort Erfolge haben und bald einen neuen Gatten oder wenigstens einen Liebhaber finden; denn gerade so würde es nicht kommen, das wußte sie! Liebe, Kinder, schöne Tage, fröhliche Geselligkeit, Reisen und ein bißchen Kunst –: das gute Leben ist ja so einfach, sie verstand seine Gefälligkeit und war nicht unempfindlich gegen sie. Aber, so gerne sie bereit war, sich selbst unnütz zu finden, trug Agathe doch die ganze Verachtung des zum Aufruhr geborenen Menschen gegen diese schlichte Einfachheit in sich. Sie erkannte sie als Betrug. Das angeblich voll ausgelebte Leben ist in Wahrheit »ungereimt«, es fehlt ihm am Ende, und wahrhaftig am wirklichen Ende, beim Tod, immer etwas. Es ist – sie suchte nach einem Ausdruck dafür – wie gehäufte Dinge, die kein höheres Verlangen geordnet hat: unerfüllt in seiner Fülle, das Gegenteil von Einfachheit, bloß eine Verworrenheit, die man mit der Freude der Gewohnheit hinnimmt! Und unvermutet abspringend dachte sie: »Es ist wie ein Haufen fremder Kinder, den man mit anerzogener Freundlichkeit betrachtet, voll wachsender Angst, weil es einem nicht gelingt, das eigene darunter zu erblicken!«
Es beruhigte sie, daß sie sich vorgesetzt hatte, ihr Leben zu beenden, wenn es auch nach seiner letzten Wendung, die ihr noch bevorstand, nicht anders geworden sein sollte. Wie die Gärung im Wein strömte die Erwartung in ihr, daß Tod und Schrecken nicht das letzte Wort der Wahrheit sein werden. Sie empfand kein Bedürfnis, darüber nachzudenken. Sie hatte sogar Angst vor diesem Bedürfnis, dem Ulrich so gerne nachgab, und es war eine angriffslustige Angst. Denn sie fühlte wohl, daß alles, was sie mit solcher Stärke ergriff, nicht ganz frei von einer beständigen Andeutung war, daß es nur Schein sei. Aber ebenso gewiß war im Schein flüssige, gelöste Wirklichkeit enthalten: vielleicht noch nicht Erde gewordene Wirklichkeit, dachte sie: und in einem jener wunderbaren Augenblicke, wo sich der Ort, wo sie stand, ins Ungewisse aufzulösen schien, vermochte sie zu glauben, daß hinter ihr, in dem Raum, wohin man niemals sehen könne, vielleicht Gott stünde. Sie erschrak vor diesem Zuviel! Eine schauerliche Weite und Leere durchdrang sie plötzlich, eine uferlose Helle verfinsterte ihren Geist und versetzte ihr Herz in Angst. Ihre Jugend – leicht bereit zu solcher Besorgnis, wie es Unerfahrenheit mit sich bringt – flüsterte ihr ein, daß sie in Gefahr stehe, Anfänge eines sich bildenden Wahnsinns groß werden zu lassen: Sie strebte zurück. Heftig hielt sie sich vor, daß sie doch gar nicht an Gott glaube. Und wirklich tat sie es nicht, seit man sie gelehrt hatte, es zu tun, was eine Unterabteilung des Mißtrauens war, das sie gegen alles empfand, was man sie gelehrt hatte. Sie war nichts weniger als religiös in jenem festen Sinn, der zu einer überirdischen oder auch nur moralischen Überzeugung hinreicht. Aber erschöpft und zitternd mußte sie sich nach einer Weile abermals eingestehn, daß sie »Gott« gerade so deutlich gefühlt habe wie einen Mann, der hinter ihr stünde und ihr einen Mantel um die Schulter legte.
Nachdem sie genügend darüber nachgedacht hatte und wieder kühn geworden war, kam sie dahinter, daß die Bedeutung des von ihr erlebten Vorgangs gar nicht in jener »Sonnenverfinsterung« gelegen habe, von der ihre körperlichen Empfindungen befallen worden waren, sondern hauptsächlich eine moralische gewesen sei. Eine plötzliche Veränderung ihres innersten Zustands und, abhängend davon, aller ihrer Beziehungen zur Welt hatte ihr für einen Augenblick jene »Einheit des Gewissens mit den Sinnen« verliehen, die sie bisher nur in so geringen Andeutungen gekannt hatte, daß es gerade hinreichte, dem gewöhnlichen Leben etwas Trostloses und Trübselig-Leidenschaftliches zu hinterlassen, ob Agathe nun versuchen mochte, gut zu handeln oder schlecht. Es kam ihr vor, daß diese Veränderung ein unvergleichliches Erfließen gewesen wäre, das ebensowohl von ihrer Umgebung ausgegangen war wie von ihr zu dieser hin, ein Einssein der höchsten Bedeutung mit der geringsten Bewegung des Geistes, der sich kaum von den Dingen abhob. Die Dinge waren von den Empfindungen durchdrungen worden und die Empfindungen von den Dingen in einer so überzeugenden Weise, daß Agathe fühlte, von allem, worauf sie das Wort Überzeugung bisher angewandt hätte, wäre sie nicht einmal berührt worden. Und das war unter Umständen geschehn, die es nach gewöhnlicher Auffassung ausschlossen, sich überzeugt zu geben.
So lag die Bedeutung dessen, was sie in ihrer Einsamkeit erlebte, nicht etwa in der Rolle, die ihm psychologisch, als irgendeinem Hinweis auf eine reizbare oder leicht zerstörbare Persönlichkeit zugekommen wäre, denn sie lag überhaupt nicht in der Person, sondern im Allgemeinen oder im Zusammenhang der Person mit ihm, den Agathe nicht mit Unrecht als einen moralischen ansprach, in dem Sinn, daß es der jungen von sich enttäuschten Frau vorkam, wenn sie immer so leben dürfte, wie in den Minuten der Ausnahme und auch nicht zu schwach wäre, darin zu verharren, so könnte sie die Welt lieben und sich gütig in sie fügen; und anders bringe sie es nicht zustande! Nun erfüllte sie ein leidenschaftliches Zurückstreben, aber solche Augenblicke der größten Steigerung lassen sich nicht mit Gewalt wieder herbeiführen; und mit der Deutlichkeit, die ein blasser Tag, nachdem die Sonne untergegangen ist, annimmt, wurde sie erst mit der Vergeblichkeit ihrer stürmischen Bemühungen gewahr, daß das einzige, dessen sie gewärtig sein durfte und worauf sie in der Tat auch mit einer Ungeduld wartete, die sich unter ihrer Einsamkeit bloß verborgen hatte, jene sonderbare Aussicht wäre, die ihr Bruder einmal mit einer halb im Scherz ausgesprochenen und erklärten Bezeichnung das Tausendjährige Reich genannt hatte. Er hätte wohl ebensogut auch ein anderes Wort dafür gewählt haben können, denn was es Agathe bedeutete, war nur der überzeugende und zuversichtliche Klang nach etwas, das im Kommen ist. Sie hätte das nicht zu behaupten gewagt. Sie wußte ja auch jetzt noch nicht sicher, ob es wahrhaft möglich sei. Sie wußte überhaupt nicht, was es sei. Sie hatte im Augenblick wieder alle Worte vergessen, mit denen ihr Bruder bewies, daß sich hinter dem, was ihren Geist bloß mit leuchtenden Nebeln erfüllte, die Möglichkeit ins Ungemessene weiter erstrecke. Aber solange sie sich in seiner Gesellschaft befunden hatte, war ihr nicht anders zumute gewesen, als bildete sich aus seinen Worten ein Land, und nicht in ihrem Kopf bildete es sich, sondern wahrhaftig unter ihren Füßen. Gerade daß er oft nur ironisch davon sprach, wie überhaupt sein Wechseln zwischen Kühle und Gefühl, das sie früher so oft verwirrt hatte, erfreute Agathe jetzt in ihrer Verlassenheit, durch eine Art Bürgschaft, wirklich gemeint zu sein, die alle unfreundlichen Seelenzustände vor den verzückten voraushaben. »Ich habe wahrscheinlich nur deshalb an den Tod gedacht, weil ich mich davor fürchte, daß er es nicht ernst genug meint« gestand sie sich ein.
Sie wurde vom letzten Tag, den sie in Abwesenheit zu verbringen hatte, überrascht; es war mit einemmal im Hause alles geordnet und ausgeräumt, und nur noch die Schlüssel blieben dem alten Ehepaar zu übergeben, das, testamentarisch versorgt, im Gesindebau zurückblieb, bis das Grundstück einen neuen Besitzer fände. Agathe hatte sich geweigert ins Hotel zu ziehn und wollte bis zu ihrer Abreise, die zwischen Mitternacht und Morgen bevorstand, auf ihrem Platz bleiben. Das Haus war verpackt und vermummt. Eine Notbeleuchtung brannte. Zusammengeschobene Kisten bildeten Tisch und Stuhl. Am Rand einer Schlucht, auf einer Kistenterrasse, hatte sie zum Abendbrot decken lassen. Der alte Diener ihres Vaters balancierte Geschirr durch Licht und Schatten; er und seine Frau hatten es sich nicht nehmen lassen, aus ihrer eigenen Küche zu helfen, damit die gnädige junge Frau, wie sie es ausdrückten, wenn sie das letztemal in ihrem Elternhause speise, nicht schlecht bedient sei. Und plötzlich dachte Agathe völlig außerhalb des Geistes, worin sie diese Tage verbracht hatte: »Ob sie am Ende etwas bemerkt haben?!« Es konnte ja sein, daß sie nicht alle Papiere mit den Vorübungen für die Abänderung des Testaments vernichtet hätte. Sie fühlte kalten Schreck, schrecklich geträumtes Gewicht, das sich an alle Glieder hängt, den geizigen Schreck der Wirklichkeit, der dem Geist nichts gibt, sondern nur von ihm nimmt. In diesem Augenblick gewahrte sie mit leidenschaftlicher Stärke das in ihr neu erwachte Verlangen zu leben. Gewalttätig lehnte es sich gegen die Möglichkeit auf, daß sie daran verhindert werden könnte. Entschlossen suchte sie, als der alte Diener wiederkehrte, sein Gesicht zu erforschen. Aber der Greis ging mit seinem vorsichtigen Lächeln arglos hin und her und empfand irgendetwas Stummes und Feierliches. Sie konnte so wenig in ihn hineinsehn wie in eine Mauer und wußte nicht, ob hinter diesem blinden Glanz noch etwas in ihm wäre. Auch sie empfand nun etwas Stummes, Feierliches und Trauriges. Er war immer der Konfident ihres Vaters gewesen, unweigerlich bereit, ihm jedes Geheimnis seiner Kinder auszuliefern, das er erführe: aber Agathe war in diesem Hause geboren, und alles, was seither geschehen war, ging heute zu Ende, und es rührte Agathe, daß sie und er nun feierlich und allein waren. Sie faßte den Beschluß, ihm ein besonderes kleines Geldgeschenk zu machen, und nahm sich in plötzlicher Schwäche vor, daß sie sagen werde, es geschähe im Auftrag von Professor Hagauer, und überlegte das nicht aus List, sondern aus dem Zustand einer Bußhandlung und in der Absicht, nichts zu unterlassen, obwohl ihr klar war, daß er ebenso unzweckmäßig wie abergläubisch sei. Sie holte auch, ehe der Alte wiederkehrte, noch ihre beiden verschiedenen Kapseln hervor, und die mit dem Bild ihres unvergessenen Geliebten schob sie, nachdem sie den jungen Mann zum letzten Mal stirnrunzelnd betrachtet hatte, unter den Deckel einer schlecht vernagelten Kiste, die auf unbestimmte Zeit zu lagern kommen sollte und anscheinend Küchengeschirr oder Beleuchtungskörper enthielt, denn sie hörte Metall über Metall, wie die Äste eines Baums hinab fallen; die Kapsel mit dem Gift tat sie aber nun an die Stelle, wo sie früher das Bild getragen hatte.
»Wie unmodern ich bin!« dachte sie dabei lächelnd – »gewiß gibt es Wichtigeres als Liebeserlebnisse!« Aber sie glaubte es nicht.
Man hätte in diesem Augenblick ebensowenig sagen können, daß sie es ablehne, zu ihrem Bruder in unerlaubte Beziehungen zu treten, wie daß sie es wünsche. Das mochte von der Zukunft abhängen; aber in ihrem gegenwärtigen Zustand entsprach nichts der Entschiedenheit einer solchen Frage.
Das Licht schminkte die Bretter, zwischen denen sie saß, grellweiß und tief schwarz. Und eine ähnliche tragische Maske, die seiner doch wohl nur schlichten Bedeutung etwas Unheimliches gab, trug der Gedanke, daß sie nun den letzten Abend in dem Haus verbringe, wo sie von einer Frau geboren worden war, an die sie sich niemals hatte erinnern können und von der auch Ulrich geboren worden war. Ein uralter Eindruck beschlich sie, es stünden Clowns mit todernsten Gesichtern und sonderbaren Instrumenten um sie. Sie begannen zu spielen. Agathe erkannte darin einen Wachtraum der Kindheit wieder. Sie konnte diese Musik nicht hören, aber alle Clowns sahen sie an. Sie sagte sich, daß in diesem Augenblick ihr Tod für niemand und nichts ein Verlust wäre, und für sie selbst mochte er auch nur den äußeren Abschluß eines inneren Absterbens bedeuten. So dachte sie, während die Clowns ihre Töne bis zur Decke steigerten, und saß scheinbar auf einem mit Sägemehl bestreuten Zirkusboden, und die Tränen tropften ihr auf die Finger. Es war ein Gefühl tiefer Sinnlosigkeit, das sie früher als Mädchen oft empfunden hatte, und sie dachte: »Ich bin wohl noch bis heute kindisch geblieben?« was sie aber nicht hinderte, gleichzeitig wie an etwas, das durch ihre Tränen maßlos groß aussah, daran zu denken, daß gleich in der ersten Stunde ihres Wiedersehens sie und ihr Bruder einander in solchen Clownskitteln gegenübergetreten seien. »Was bedeutet es, daß es gerade mein Bruder ist, an den sich das anschloß, was ich in mir habe?« fragte sie sich. Und plötzlich weinte sie wirklich. Sie hätte keinen anderen Grund dafür angeben können, daß es geschah, als daß es eben aus Herzenslust geschah, und schüttelte heftig den Kopf, so als ob etwas in ihm wäre, das sie weder auseinander-, noch zusammenzubringen vermöchte.
Dabei dachte sie in einer natürlichen Einfalt, Ulrich werde zu allen Fragen schon die Antwort finden, solange bis der Alte wieder eingetreten war und die Gerührte gerührt betrachtete. »Die junge gnädige Frau...!« sagte er gleichfalls kopfschüttelnd. Agathe sah ihn verwirrt an, aber als sie das Mißverständnis dieses Bedauerns begriff, das ihrer kindlichen Trauer galt, erwachte wieder der Übermut ihrer Jugend in ihr. »Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!« sagte sie zu ihm. Es war ein alter Spruch, den ihr Ulrich entzückt vorgelesen hatte, und der Alte lächelte zu dem ernsten und sanften Schwung dieser Worte, die sie ihm mit Augen vorsagte, die unter Tränen glühten, ein Stummellächeln des Verstehens und blickte, der weisenden Hand seiner Herrin, die sein Verständnis durch eine Irreführung erleichtern wollte, folgend, auf die hochgetürmten Kisten, die fast zu einem Scheiterhaufen aufgerichtet waren. Zum Leichentuch hatte der Greis verständig genickt, bereitwillig zu folgen, wenn ihn der Weg der Worte auch etwas ungeebnet dünkte; aber von dem Worte nackt an erstarrte er, als Agathe ihren Spruch noch einmal wiederholte, zu der höflichen Dienermaske, deren Ausdruck versichert, daß man weder sehen, noch hören, noch urteilen wolle.
Solange er bei seinem alten Herrn gedient hatte, war dieses Wort kein einziges Mal vor ihm ausgesprochen worden, höchstens hatte man entkleidet gesagt; aber die jungen Leute waren jetzt anders, und er würde sie wohl gar nicht mehr zur Zufriedenheit bedienen können. Mit der Ruhe des Feierabends fühlte er, daß seine Laufbahn zu Ende war. Agathes letzter Gedanke vor dem Aufbruch war aber: »Würde Ulrich wirklich alles ins Feuer werfen?«

Der Zustand, in dem Ulrich die Straße betreten hatte, als er das Palais des Grafen Leinsdorf verließ, ähnelte dem nüchternen Gefühl des Hungers; er blieb vor einer Anschlagfläche stehn und stillte seinen Hunger nach Bürgerlichkeit an den Bekanntmachungen und Anzeigen. Die mehrere Meter große Tafel war bedeckt mit Worten. »Eigentlich dürfte man annehmen,« fiel ihm ein »daß gerade diese Worte, die sich an allen Ecken und Enden der Stadt wiederholen, einen Erkenntniswert haben.« Sie kamen ihm mit den stehenden Wendungen verwandt vor, die von den Personen beliebter Romane in wichtigen Lebenslagen geäußert werden, und er las: »Haben Sie schon etwas so Angenehmes und Praktisches getragen wie den Topinam-Seidenstrumpf?« »Durchlaucht amüsiert sich.« »Die Bartholomäusnacht neu bearbeitet.« »Gemütlichkeit im Schwarzen Rössl.« »Schmissige Erotik und Tanz im Roten Rössl.« Daneben fiel ihm noch ein politischer Anschlag auf »Verbrecherische Machenschaften«: er bezog sich aber nicht auf die Parallelaktion, sondern auf den Brotpreis. Er wandte sich um und blickte nach einigen Schritten in die Auslage eines Buchladens. »Das neue Werk des großen Dichters« las er auf einer Papptafel, die neben fünfzehn gleiche, aneinandergereihte Bände gestellt war. Dieser Tafel gegenüber stand in der anderen Ecke der Auslage ein Seitenstück mit dem gedruckten Hinweis auf ein zweites Werk: »Herr und Dame vertiefen sich mit gleicher Spannung in ›Babel der Liebe‹ von...«
»Der ›große‹ Dichter?« dachte Ulrich. Er erinnerte sich, nur ein Buch von ihm gelesen und vorausgesetzt zu haben, er werde niemals ein zweites lesen müssen: seither war der Mann aber trotzdem berühmt geworden. Und Ulrich fiel angesichts der deutschen Geistesauslage ein alter Soldatenwitz ein: »Mortadella!« So war zu seiner Militärzeit ein unbeliebter Divisionsgeneral genannt worden, nach der beliebten italienischen Wurst, und wer nach der Auflösung des Wortspiels fragte, erhielt die Antwort: »Teils Schwein, teils Esel.« Ulrich würde diesen Vergleich angeregt fortgesetzt haben, wäre er daran nicht durch eine Frau verhindert worden, die ihn mit den Worten »Sie warten hier auch auf die Straßenbahn?« ansprach. Dadurch kam er darauf, daß er nicht mehr vor dem Buchladen stand.
Er hatte auch nicht gewußt, daß er inzwischen unbeweglich neben der Tafel einer Haltestelle stehen geblieben war. Die Dame, die ihn das bemerken machte, trug einen Rucksack und eine Brille; sie war eine ihm bekannte Astronomin, Assistentin am Institut, eine der wenigen Frauen, die in dieser männlichen Disziplin etwas Bedeutendes leisten. Er sah ihr auf die Nase und auf die Plätze unter den Augen, die in der gewohnheitsmäßigen Anstrengung des Nachdenkens etwas von Schweißblättern aus Guttapercha angenommen hatten; dann gewahrte er in der Tiefe ihren geschürzten Lodenrock, in der Höhe aber eine Schildhahnfeder auf einem grünen Hut, der über ihrem gelehrten Antlitz schwebte, und lächelte. »Sie gehen ins Gebirge?« fragte er.
Dr. Strastil fuhr auf drei Tage ins Gebirge »ausspannen«. »Was sagen Sie zu der Arbeit von Koniatowski?« fragte sie Ulrich. Ulrich sagte nichts. »Kneppler wird sich darüber ärgern« meinte sie. »Aber die Kritik, die Koniatowski an der Knepplerschen Ableitung des Danielli’schen Satzes übt, ist interessant: finden Sie nicht auch? Halten Sie diese Ableitung für möglich?«
Ulrich zuckte die Achseln.
Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathematikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten. Aber er hielt auch die Logik der Logistiker nicht für ganz richtig. Hätte er weitergearbeitet, er würde nochmals auf Aristoteles zurückgegriffen haben; er hatte darüber seine eigenen Ansichten.
»Ich halte die Knepplersche Ableitung ja trotzdem nicht für verfehlt, sondern bloß für falsch« bekannte Dr. Strastil. Sie hätte ebensogut betonen können, daß sie die Ableitung für verfehlt, aber trotzdem, in wesentlichen Grundzügen, nicht für falsch halte; sie wußte, was sie meinte, aber in der gewöhnlichen Sprache, wo die Worte nicht definiert sind, kann sich kein Mensch eindeutig ausdrücken: unter ihrem Touristenhut regte sich, indes sie sich dieser Urlaubssprache bediente, etwas von dem ängstlichen Hochmut, den die sinnliche Laienwelt in einem Klostermann erregen muß, wenn er sich unvorsichtig mit ihr abgibt.
Ulrich stieg mit Fräulein Strastil in die Straßenbahn: wußte nicht warum. Vielleicht weil ihr die Kritik Koniatowskis an Kneppler so wichtig vorkam. Vielleicht wollte er mit ihr über schöne Literatur sprechen, von der sie nichts verstand. »Was werden Sie im Gebirge machen?« fragte er.
Sie wollte auf den Hochschwab.
»Sie werden dort noch zuviel Schnee vorfinden. Mit Skiern kommt man nicht mehr hinauf und ohne Skier noch nicht« riet er ab, der das Gebirge kannte.
»Dann bleibe ich unten« erklärte ihm Fräulein Strastil. »In den Hütten auf der Färsenalm, die am Anstieg liegen, bin ich schon einmal drei Tage gewesen. Ich will ja nichts als bloß ein wenig Natur!«
Das Gesicht, das die treffliche Astronomin zu dem Worte Natur machte, reizte Ulrich zu der Frage, wozu sie sich eigentlich Natur wünsche.
Dr. Strastil empörte sich ehrlich. Sie könne die ganzen drei Tage auf der Alm liegen, ohne sich zu rühren: wie ein Felsblock! verkündete sie.
»Höchstens weil Sie Wissenschaftlerin sind!« warf Ulrich ein. »Ein Bauer würde sich langweilen!«
Das sah Dr. Strastil nicht ein. Sie sprach von den Tausenden, die an jedem Feiertag zu Fuß, zu Rad, zu Schiff die Natur suchten.
Ulrich sprach von der Landflucht der Bauern, die es nach der Stadt ziehe.
Fräulein Strastil bezweifelte, daß er elementar genug fühle.
Ulrich behauptete, elementar sei neben Essen und Liebe die Bequemlichkeit, aber nicht das Aufsuchen einer Alm. Das natürliche Empfinden, das dazu angeblich treibe, sei vielmehr ein moderner Rousseauismus, ein verwickeltes und sentimentales Verhalten. – Er fühlte sich keineswegs gut sprechen, es war ihm gleichgültig, was er sagte, er fuhr darin nur fort, weil es noch immer nicht das war, was er aus sich herausbefördern wollte. Fräulein Strastil warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Sie war nicht imstande, ihn zu verstehen; ihre große Denkerfahrung in reinen Begriffen nützte ihr nicht das geringste, sie konnte die Vorstellungen, mit denen er bloß behende um sich zu werfen schien, weder auseinanderhalten, noch zusammenbekommen; sie vermutete, daß er rede, ohne zu denken. Daß sie solchen Worten mit einer Hahnenfeder am Hut zuhöre, bereitete ihr die einzige Genugtuung und bestärkte ihre Freude an der Einsamkeit, der sie entgegenreiste.
In diesem Augenblick fiel Ulrichs Blick in die Zeitung seines Nachbarn, und er las in großen Lettern als Überschrift eines Inserats: »Die Zeit stellt Fragen, die Zeit gibt Antwort«: es mochte sich darunter die Empfehlung einer Schuheinlage befinden oder die eines Vortrags, das kann man heute nicht mehr unterscheiden, aber seine Gedanken sprangen plötzlich in das Geleise, das er brauchte. Seine Gefährtin bemühte sich, objektiv zu sein, und gestand unsicher: »Ich kenne leider wenig von der Schönen Literatur, unsereins hat ja keine Zeit. Vielleicht kenne ich auch gar nicht das Richtige. Aber zum Beispiel« – und nun nannte sie einen beliebten Namen – »gibt mir unglaublich viel. Ich finde, wenn uns ein Dichter so lebendig fühlen machen kann, ist das wohl etwas Großes!« Doch weil Ulrich der in Dr. Strastils Geist bestehenden Verbindung einer außerordentlichen Entwicklung des begrifflichen Denkens mit auffälligem Schwachsinn des Seelenverstandes bereits genug zu verdanken glaubte, erhob er sich erfreut, sagte seiner Fachverwandten eine dicke Schmeichelei und stieg eilig aus, wobei er vorschützte, schon zwei Haltestellen zu weit gefahren zu sein. Als er im Freien stand und noch einmal grüßte, erinnerte sich Fräulein Strastil, in letzter Zeit Ungünstiges über seine Leistungen gehört zu haben, und fühlte sich menschlich bewegt durch eine Blutwelle, die seine gefälligen Abschiedsworte erregt hatten, was ihren Überzeugungen nach nicht gerade für ihn sprach; er aber wußte nun und wußte es gleichwohl noch nicht ganz, warum seine Gedanken um die Sache der Literatur kreisten und was sie dort wollten, von dem unterbrochenen Mortadella-Vergleich an bis zur unbewußten Verleitung der guten Strastil zu Geständnissen. Schließlich ging ihn die Literatur nichts mehr an, seit er mit zwanzig Jahren sein letztes Gedicht geschrieben hatte; immerhin war zuvor eine Zeitlang heimliches Schreiben eine ziemlich regelmäßige Gewohnheit von ihm gewesen, und er hatte sie nicht etwa deshalb aufgegeben, weil er älter geworden war oder eingesehen hatte, zu wenig Begabung zu haben, sondern aus Gründen, für die er unter den gegenwärtigen Eindrücken am ehesten irgendein Wort hätte gebrauchen mögen, das nach vielen Anstrengungen ein Münden ins Leere ausdrückt.
Denn Ulrich gehörte zu den Bücherliebhabern, die nicht mehr lesen mögen, weil sie das Ganze des Schreibens und Lesens als ein Unwesen empfinden. »Wenn die vernünftige Strastil ›fühlen gemacht‹ werden will« dachte er (»Womit sie recht hat! Hätte ich ihr widersprochen, so wäre sie mir mit der Musik als Kronzeugnis gekommen!«), und wie das schon geschieht, dachte er teils in Worten, teils wirkte die Überlegung als wortloser Einwurf ins Bewußtsein hinein: wenn also die verständige Dr. Strastil fühlen gemacht werden wollte, so kam es auf das hinaus, was alle wollen, daß die Kunst den Menschen bewege, erschüttere, unterhalte, überrasche, ihn an edlen Gedanken schnuppern lasse oder, mit einem Wort, ihn eben wirklich etwas »erleben« mache und selbst »lebendig« oder ein »Erlebnis« sei. Und Ulrich wollte das auch gar nicht verwerfen. In einem Nebengedanken, der als ein Gemisch von leichter Rührung mit widerstrebender Ironie endete, dachte er: »Gefühl ist selten genug. Eine gewisse Temperatur des Fühlens vor dem Erkalten zu schützen, bedeutet wahrscheinlich, die Brutwärme zu hüten, aus der alle geistige Entwicklung entsteht. Und wenn ein Mensch aus seinem Gewirr von intelligenten Absichten, die ihn mit unzähligen fremden Gegenständen verstricken, für Augenblicke in einen ganz zwecklosen Zustand hinausgehoben wird, wenn er also zum Beispiel Musik hört, ist er beinahe im Lebenszustand einer Blume, auf die Regen und Sonnenschein fällt.« Er wollte zugeben, daß eine ewigere Ewigkeit, als der menschliche Geist in seiner Tätigkeit hat, in seinen Pausen und seinem Verruhen liege; aber nun hatte er bald »Gefühl«, bald »Erleben« gedacht, und das zog einen Widerspruch nach sich. Denn es gab doch Willenserlebnisse! Es gab doch Erlebnisse gegipfelten Tuns! Zwar durfte man wahrscheinlich annehmen, daß jedes von ihnen, wenn es seine höchste, strahlende Bitterkeit erreicht, nur noch Gefühl sei; aber damit stände dann erst recht in Widerspruch, daß der Zustand des Fühlens in seiner vollen Reinheit ein »Verruhen«, ein Versinken der Tätigkeit wäre?! Oder stand es doch nicht in Widerspruch? Gab es einen wunderlichen Zusammenhang, wonach höchste Tätigkeit im Kern reglos wäre? Hier zeigte sich aber, daß diese Folge von Einfällen weniger einen Nebengedanken als einen unerwünschten Gedanken bedeutete, denn Ulrich widerrief in plötzlich erwachendem Widerstand gegen ihre empfindsame Wendung die ganze Betrachtung, in die er hineingeraten war. Er war keineswegs gesonnen, über gewisse Zustände nachzusinnen, und, wenn er über Gefühle nachdächte, selbst in Gefühle zu verfallen.
Dabei kam ihm augenblicklich in den Sinn, daß man am besten und ohne Umschweife das, worauf er es abgesehen hätte, als die vergebliche Aktualität oder ewige Augenblicklichkeit der Literatur bezeichnen könnte. Hat sie denn ein Ergebnis? Entweder ist sie ein ungeheurer Umweg vom Erleben zum Erleben und läuft in sich selbst zurück, oder sie ist ein Inbegriff von Reizzuständen, aus dem in keiner Weise etwas Bestimmtes hervorgeht. »Eine Pfütze« dachte er nun »hat schon jedem unwillkürlich viel öfter und stärker den Eindruck der Tiefe gemacht als der Ozean, und aus dem einfachen Grund, weil man mehr Gelegenheit hat, Pfützen zu erleben, als Ozeane«: So schien ihm, sei es auch mit dem Gefühl, und aus keinem andren Grund gälten die alltäglichen Gefühle für die tiefen. Denn die Bevorzugung des Fühlens vor dem Gefühl, wie sie das Kennzeichen aller gefühlvollen Menschen ist, kommt ebenso wie der Wunsch, fühlen zu machen und fühlen gemacht zu werden, der das Gemeinsame aller dem Gefühl dienenden Einrichtungen ist, auf eine Herabsetzung von Rang und Wesen der Gefühle gegenüber ihrem Augenblick als einem persönlichen Zustand hinaus und weiterhin auf jene Seichtheit, Entwicklungshemmung und völlige Belanglosigkeit, für die es nicht am allgemeinen Beispiel mangelt. »Natürlich muß eine solche Auffassung« dachte Ulrich ergänzend »alle Menschen abstoßen, die sich in ihren Gefühlen wohlfühlen wie der Hahn in den Federn und sich womöglich noch etwas darauf zugute tun, daß die Ewigkeit mit jeder ›Persönlichkeit‹ von vorne anfängt!« Er hatte die klare Vorstellung einer ungeheuren Verkehrtheit, geradezu einer in menschheitlichen Ausmaßen, vermochte das aber doch nicht in einer Weise auszudrücken, die ihn ganz befriedigt hätte, da die Zusammenhänge wohl zu vielseitig waren.
Er beobachtete, während ihn das beschäftigte, die vorbeikommenden Bahnen und wartete auf eine, die ihn möglichst nah an das Innere der Stadt zurückbringen sollte. Er sah die Menschen aus- und einsteigen, und sein technisch nicht unerfahrener Blick spielte zerstreut mit den Zusammenhängen von Schmieden und Gießen, Walzen und Nieten, von Konstruktion und Werkstattausführung, geschichtlicher Entwicklung und gegenwärtigem Stand, aus denen die Erfindung dieser rollenden Baracken bestand, deren sie sich bedienten. »Zum Schluß kommt dann eine Abordnung der Straßenbahnverwaltung in die Waggonfabrik und entscheidet über die Holzverschalung, den Anstrich, die Polsterung, die Anbringung der Arm- und Handstützen, der Aschenbecher und ähnliches,« dachte er nebenbei »und gerade diese Kleinigkeiten machen aus; und die rote oder grüne Farbe des Kastens macht es aus, und der Schwung, mit dem sie über das Trittbrett hineinklettern können, macht für zehntausende Menschen das aus, was sie behalten, das einzige, was für sie von allem Genie übrig bleibt und von ihnen erlebt wird. Das bildet ihren Charakter, gibt ihm Raschheit oder Bequemlichkeit, läßt sie rote Bahnen als Heimat und blaue als Fremde empfinden und bildet jenen unverwechselbaren Geruch aus kleinen Tatsachen, den die Jahrhunderte an ihren Kleidern haben.« Es war also nicht zu leugnen und schloß sich mit einemmal an das andere an, was Ulrichs Hauptgedankenzug bildete, daß zum großen Teil auch das Leben in unbedeutende Aktualität mündet, oder wenn man es technisch ausdrückt, daß sein seelischer Wirkungskoeffizient sehr klein ist.
Und plötzlich, während er sich selbst mit einem Schwung in den Wagen klettern fühlte, sagte er zu sich: »Ich muß Agathe einprägen: Moral ist Zuordnung jedes Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand!« Dieser Satz war ihm in der Art einer Definition mit einemmal eingefallen. Nicht voll entwickelt und ausgegliedert, waren diesem überblank geschliffenen Gedanken aber Einfälle vorangegangen und folgten nach und ergänzten das Verständnis. Eine strenge Auffassung und Aufgabensetzung für die harmlose Beschäftigung des Fühlens, eine ernste Rangordnung standen damit, ungewiß verkürzt, in Aussicht: Gefühle müssen entweder dienen oder einem bis ins Letzte reichenden, noch keineswegs beschriebenen Zustand angehören, der groß wie das küstenlose Meer ist. Sollte man das eine Idee, sollte man es eine Sehnsucht nennen? Ulrich mußte es auf sich beruhen lassen, denn in dem Augenblick, wo ihm der Name seiner Schwester eingefallen war, verdunkelte ihr Schatten seine Gedanken. Wie immer, wenn er an sie dachte, war ihm zumute, er habe während der in ihrer Gesellschaft verbrachten Zeit einen anderen Geisteszustand gezeigt als sonst. Er wußte auch, daß er leidenschaftlich wieder in diesen Zustand zurück wolle. Aber die gleiche Erinnerung bedeckte ihn mit der Schmach, daß er sich angemaßt, lächerlich und trunken betragen habe, nicht besser als ein Mensch, der sich in seinem Taumel auf die Knie vor Zuschauern wirft, denen er nächsten Tags nicht wird ins Antlitz sehen können. Das war, angesichts der maßvoll gebändigten geistigen Beziehung zwischen den Geschwistern, ungeheuerlich übertrieben, und sollte man es nicht völlig für unbegründet halten, so war es nur als Widerspiel zu Gefühlen anzusehen, die noch keine Gestalt hatten. Er wußte, daß Agathe in wenigen Tagen eintreffen müsse, und hinderte nichts. Hatte sie überhaupt etwas Unrechtes getan? Man konnte ja annehmen, sie habe mit dem Erkalten ihrer Laune alles wieder rückgängig gemacht. Aber eine sehr lebhafte Ahnung versicherte ihm, daß Agathe nicht von ihrer Absicht abgestanden sei. Er hätte bei ihr anfragen können. Er fühlte sich wieder verpflichtet, sie brieflich zu warnen. Aber statt diesen Vorsatz auch nur einen Augenblick ernst zu nehmen, stellte er sich vor, was Agathe zu ihrem ungewöhnlichen Verhalten bewogen haben möge: er sah dieses als eine unglaublich heftige Gebärde an, durch die sie ihm ihr Vertrauen schenkte und sich in seine Hand gab. »Sie hat sehr wenig Realitätssinn,« dachte er »aber eine wunderbare Art, das zu tun, was sie will. Unüberlegt, könnte man sagen; aber darum auch unabgekühlt! Wenn sie böse ist, sieht sie die Welt rubinrot!« Er lächelte freundlich und blickte sich unter den Leuten um, die mitfuhren. Böse Gedanken hatte jeder von ihnen, das war sicher, und jeder unterdrückte sie, und niemand nahm sie sich allzu übel: aber keiner hatte diese Gedanken außer sich, in einem Menschen, der ihnen die bezaubernde Unzugänglichkeit eines geträumten Erlebnisses gibt.
Seit Ulrich seinen Brief nicht zu Ende geschrieben hatte, machte er sich nun zum erstenmal klar, daß er nicht mehr zu wählen habe, sondern sich schon in dem Zustand befinde, vor dem er noch zaudere. Nach seinen Gesetzen – er gestattete sich die überhebliche Doppelsinnigkeit, daß er sie heilig nannte – konnte Agathes Fehler nicht bereut, sondern nur durch Geschehnisse, die ihm folgten, gut-gemacht werden, was übrigens wohl auch dem ursprünglichen Sinn des Bereuens entsprach, das ja ein läuternd-feuriger und nicht ein beschädigter Zustand ist. Agathens unbequemen Gatten zu ent-schädigen oder schad-los zu halten, hätte nichts als Zurücknahme eines Schadens, also bloß jene doppelte und lähmende Negation bedeutet, aus der das gewöhnliche gute Verhalten besteht, das sich innerlich zu Null aufhebt. Was Hagauer geschehen sollte, wie eine schwebende Last »aufzuheben«, war aber anderseits nur möglich, wenn man für ihn ein großes Gefühl aufbrachte, und daran ließ sich nicht ohne Schrecken denken. So konnte nach der Logik, in die sich Ulrich zu schicken suchte, bloß etwas anderes gutgemacht werden als der Schaden, und er war nicht einen Augenblick im Zweifel, daß dies sein und seiner Schwester ganzes Leben sein sollte. »Anmaßend gesprochen,« dachte er »heißt das: Saulus hat nicht jede einzelne Folge seiner früheren Sünden gutgemacht, sondern er ist Paulus geworden!« Gegen diese eigentümliche Logik wandten jedoch Gefühl und Überzeugung gewohnheitsmäßig ein, es wäre jedenfalls anständiger und täte späteren Aufschwüngen keinen Abbruch, stellte man vorerst die Rechnung mit dem Schwager glatt und sänne dann auf das neue Leben. Jene Sittlichkeit, die ihn so lockte, war ja überhaupt nicht dazu geschaffen, Geldgeschäfte zu ordnen und Gegensätze, die aus ihnen folgen. An der Grenze jenes anderen Lebens und des alltäglichen mußten darum unlösbare und widerspruchsvolle Fälle entstehn, die man wohl am besten gar nicht erst zu Grenzfällen werden ließ, sondern vorher auf die gewöhnliche, leidenschaftslose Weise der Anständigkeit aus der Welt schaffte. Aber da fühlte Ulrich nun doch wieder, daß man sich nicht an die gewöhnlichen Bedingungen der Güte halten dürfe, wenn man sich in den Bereich der unbedingten Güte vorwagen wolle. Die ihm auferlegte Aufgabe, den Schritt in das Neue hinein zu tun, schien keinen Abstrich zu dulden.
Die letzte Schanze, die ihn noch verteidigte, war mit heftiger Abneigung dagegen besetzt, daß Vorstellungen wie Ich, Gefühl, Güte, andere Güte, Böse, von denen er großen Gebrauch gemacht hatte, so persönlich und zugleich so hoch-hinaus und luft-dünn allgemein seien, wie es eigentlich nur den moralischen Erwägungen sehr viel jüngerer Menschen entspräche. Es erging ihm so, wie es gewiß auch manchem, der seine Geschichte verfolgt, ergehen wird, er griff ärgerlich einzelne Worte heraus und fragte sich etwa: »›Herstellung und Ergebnisse von Gefühlen‹? welch eine maschinelle, rationale, menschenunkundige Auffassung! ›Moral das Problem eines Dauerzustandes, dem sich alle Einzelzustände unterordnen‹ und nichts sonst? welch eine Unmenschlichkeit!« Wenn man das mit den Augen eines vernünftigen Menschen ansah, erschien alles ungeheuer verkehrt. »Das Wesen der Moral beruht geradezu auf nichts anderem, als daß die wichtigen Gefühle immer die gleichen bleiben,« dachte Ulrich »und alles, was der Einzelne dabei zu leisten hat, ist, in Einklang mit ihnen zu handeln!« Aber gerade da hielten die mit Reißschiene und Zirkel geschaffenen Linien der rollenden Örtlichkeit, die ihn umschloß, an einer Stelle, wo sein Auge, aus dem Leib des modernen Verkehrsmittels kommend und an seiner Einrichtung unwillkürlich noch teilhabend, auf eine Steinsäule fiel, die seit der Zeit des Barock am Straßenrand stand, so daß die unbewußt aufgenommene technische Bequemlichkeit der vernünftigen Schöpfung plötzlich in Gegensatz zu der hereinbrechenden Leidenschaft der alten Gebärde geriet, die einem versteinten Leibschneiden nicht gar unähnlich sah. Die Wirkung dieses optischen Zusammenstoßes war eine ungemein heftige Bestätigung der Gedanken, denen sich Ulrich soeben noch hatte entziehen wollen. Hätte sich die Kopflosigkeit des Lebens durch irgendetwas deutlicher zeigen können, als es in diesem zufälligen Blick geschah? Ohne für das Jetzt oder das Einst geschmacksweise Partei zu nehmen, wie es bei solchen Gegenüberstellungen gewöhnlich ist, zögerte sein Geist nicht einen Augenblick, sich ebensowohl von der neuen wie von der alten Zeit allein gelassen zu fühlen, und sah nur die große Vorführung eines Problems darin, das im Grunde wohl ein moralisches ist. Er vermochte nicht daran zu zweifeln, daß die Vergänglichkeit dessen, was man für Stil, Kultur, Zeitwille oder Lebensgefühl ansieht und als solche bewundert, eine moralische Gebrechlichkeit sei. Denn im großen Maßstab der Zeiten bedeutet sie nichts anderes, als es im kleineren des eigenen Lebens wäre, wenn man sein Können ganz einseitig entwickelte und sich in auflösenden Übertreibungen zerstreute, nie ein Maß seines Willens gewänne, nie zu ganzer Bildung sich bildete, und in unzusammenhängenden Leidenschaften bald das, bald jenes täte. Darum schien ihm auch das, was man Wechsel oder gar Fortschritt der Zeiten nennt, nur ein Wort dafür zu sein, daß kein Versuch bis dorthin kommt, wo sich alle vereinen müßten, auf den Weg zu einer das Ganze umfassenden Überzeugung, und damit erst zu der Möglichkeit steter Entwicklung, dauernden Genusses und jenen Ernstes der großen Schönheit, von dem heute kaum mehr als zeitweilig ein Schatten ins Leben fällt.
Natürlich kam es Ulrich als eine ungeheuerliche Überhebung vor, anzunehmen, daß alles gleich nichts gewesen sein solle. Und doch war es nichts. Unermeßlich als Sein, Gewirr als Sinn. Zumindest war es, an seinem Ergebnis gemessen, nicht mehr als das, woraus die Seele der Gegenwart geworden ist, also wenig genug. Während Ulrich das dachte, gab er sich diesem »Wenig« aber mit einem Behagen hin, als wäre es die letzte Mahlzeit vom Tisch des Lebens, die ihm seine Absichten gestatteten. Er hatte den Wagen verlassen und einen Weg eingeschlagen, der ihn rasch in die Mitte der Stadt zurückführte. Es dünkte ihn, daß er aus einem Keller käme. Die Straßen kreischten von Vergnügen und waren frühreif mit Wärme gefüllt wie von einem Sommertag. Der süße Giftgeschmack des Mitsichselbstredens wich aus dem Munde; alles war mitteilsam und in die Sonne gestellt. Ulrich blieb vor fast jeder Auslage stehn. Diese Fläschlein in so viel Farben, eingekapselte Wohlgerüche und unzählige Abwandlungen der Nagelschere: welche Summe von Genie lag doch schon in einem Friseurladen! Ein Handschuhgeschäft: welche Beziehungen und Erfindungen, ehe eine Ziegenhaut über eine Damenhand gezogen wird und das Tierfell vornehmer geworden ist als das eigene Fell! Er staunte die Selbstverständlichkeiten, die unzähligen niedlichen Habseligkeiten des Wohllebens an, als sähe er sie zum erstenmal. Welch reizendes Wort: hab-selig! fühlte er. Und welch ein Glück, dieses ungeheure Übereinkommen des Zusammenlebens! Nichts war hier mehr von der Erdkruste des Lebens zu spüren, von den ungepflasterten Wegen der Leidenschaft, vom – er fühlte wahrhaftig: vom Unzivilisierten der Seele! Hell und schmal flog die Aufmerksamkeit über einen Blumengarten aus Früchten, Edelsteinen, Stoffen, Formen und Verlockungen, deren sanft-eindringliche Augen in allen Farben aufgeschlagen waren. Da man damals die Weiße der Haut liebte und vor der Sonne schützte, schwebten schon einzelne bunte Schirme über der Menge und legten seidene Schatten auf blasse Frauengesichter. Sogar von dem matt goldenen Bier wurde Ulrichs Blick entzückt, das er im Vorbeigehn durch die Spiegelscheiben eines Gasthauses auf Tischtüchern stehen sah, die so weiß waren, daß sie an der Schattengrenze blaue Flächen bildeten. Dann fuhr der Erzbischof an ihm vorbei; eine sanfte, schwere Kalesche, in deren Dunkel Rot und Violett war: es mußte der Wagen des Erzbischofs gewesen sein, denn dieses Pferdefuhrwerk, dem Ulrich nachblickte, sah ganz kirchlich aus und zwei Polizisten nahmen Stellung und salutierten dem Nachfolger Christi, ohne an ihre Vorfahren zu denken, die dem seinen eine Lanze in die Rippen gestochen haben.
Er gab sich diesen Eindrücken, die er soeben noch »die vergebliche Aktualität des Lebens« genannt hatte, mit so großem Eifer hin, daß nach und nach, während er sich an der Welt sättigte, daraus sein gegnerischer früherer Zustand wieder erstand. Ulrich wußte jetzt genau, wo die Schwäche seiner Überlegungen stak. »Was soll es denn bedeuten,« fragte er sich »angesichts dieser Selbstherrlichkeit auch noch ein Ergebnis zu verlangen, das darüber, dahinter, darunter sein soll?! Soll das wohl eine Philosophie sein? Eine alles umfassende Überzeugung, ein Gesetz? Oder Gottes Finger? Oder an seiner Statt die Annahme, daß der Moral bisher eine ›induktive Gesinnung‹ gefehlt habe, daß es viel schwerer sei, gut zu sein, als man geglaubt habe, und daß dazu eine ähnlich endlose Zusammenarbeit vonnöten sein werde wie überall in der Forschung? Ich nehme an, daß es keine Moral gibt, weil sie sich nicht von etwas Beständigem herleiten läßt, sondern daß es nur Regeln zur unnützen Aufrechterhaltung vergänglicher Zustände gibt; und ich nehme an, daß es kein tiefes Glück gibt ohne eine tiefe Moral: dabei scheint es mir aber ein unnatürlicher, bleicher Zustand zu sein, daß ich darüber nachdenke, und es ist überhaupt nicht das, was ich will!« In der Tat hätte er sich weit einfacher fragen können: »Was habe ich auf mich genommen?« und er tat es nun auch. Diese Frage berührte aber mehr seine Empfindsamkeit als sein Denken, ja sie unterbrach dieses und hatte Ulrich von der immer wachen Lust des feldherrlichen Planens schon ein Stück nach dem anderen fortgenommen, ehe er sie erfaßte. Sie war anfangs wie ein dunkler Ton nahe bei seinem Ohr gewesen, der ihn begleitete, dann lag der Ton in ihm selbst, nur eine Oktave tiefer als alles übrige, und nun war Ulrich endlich eins mit seiner Frage und kam sich selbst wie ein wunderlich tiefer Ton in der hell harten Welt vor, um den ein weites Intervall lag. Was hatte er also da wirklich auf sich genommen und versprochen?
Er strengte sich an. Er wußte, daß er nicht nur im Scherz, wenn auch nur als Vergleich, den Ausdruck »Tausendjähriges Reich« gebraucht habe. Wenn man dieses Versprechen ernst nahm, kam es auf den Wunsch hinaus, mit der Hilfe gegenseitiger Liebe in einer so gehobenen weltlichen Verfassung zu leben, daß man nur noch das fühlen und tun kann, was diesen Zustand erhöht und erhält. Daß es eine solche Verfassung des Menschen in Andeutungen gebe, galt ihm als eine Gewißheit, solange er denken mochte. Das hatte als die »Geschichte mit der Frau Major« begonnen, und die späteren Erfahrungen waren nicht groß, aber immer die gleichen gewesen. Wenn man alles zusammenfaßte, so kam es nicht weit davon hinaus, daß Ulrich an den »Sündenfall« und an die »Erbsünde« glaubte. Das heißt, er hätte geradezu annehmen mögen, daß es irgend einmal eine bis an den Grund reichende Veränderung im Verhalten des Menschen gegeben habe, die ungefähr so gewesen sein müsse, wie wenn ein Verliebter nüchtern wird: er sieht dann wohl die ganze Wahrheit, aber etwas Größeres ist zerrissen worden, und die Wahrheit ist überall bloß wie ein Teil, der übrig geblieben und wieder zusammengeflickt worden ist. Vielleicht war es sogar wirklich der Apfel der »Erkenntnis«, der diese Veränderung im Geiste anrichtete und das Menschengeschlecht aus einem ursprünglichen Zustand hinausstieß, in den es erst nach unendlichen Erfahrungen und durch Sünde weise geworden, wieder zurückfinden mochte. Aber Ulrich glaubte nicht an solche Geschichten so, wie sie überliefert werden, sondern so, wie er sie entdeckt hatte: er glaubte wie ein Rechner an sie, der das System seiner Gefühle vor sich liegen hat und daraus, daß sich kein einziges rechtfertigen läßt, auf die Notwendigkeit schließt, eine phantastische Annahme einzuführen, deren Beschaffenheit sich ahnungsweise erkennen läßt. Das war keine Kleinigkeit! Er hatte Ähnliches schon oft genug gedacht, aber noch nie war er in der Lage gewesen, sich binnen wenigen Tagen entscheiden zu müssen, ob er es lebendig ernst nehmen wolle. Leichter Schweiß entstand ihm unter Hut und Kragen, und die Nähe der Menschen, die an ihm vorbeidrängten, regte ihn auf. Was er dachte, bedeutete soviel wie ein Abscheiden von den meisten lebendigen Beziehungen; darüber täuschte er sich nicht. Denn man lebt heute geteilt und nach Teilen mit anderen Menschen verschränkt; was man träumt, hängt mit dem Träumen zusammen und mit dem, was andere träumen; was man tut, hängt unter sich, aber noch mehr mit dem zusammen, was andere Menschen tun; und wovon man überzeugt ist, hängt mit Überzeugungen zusammen, von denen man nur den kleinsten Teil selbst hat: Aus seiner vollen Wirklichkeit handeln wollen, ist also eine ganz unwirkliche Forderung. Und gerade er war sein ganzes Leben lang immer davon durchdrungen gewesen, daß man seine Überzeugungen teilen, daß man den Mut haben müsse, inmitten moralischer Widersprüche zu leben, weil dadurch die große Leistung erkauft werde. War er wenigstens von dem überzeugt, was er da über die Möglichkeit und Bedeutung einer anderen Art zu leben dachte? Keineswegs! Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß sich sein Gefühl darauf in einer Weise einließ, als hätte es die unverkennbaren Anzeichen einer Tatsache vor sich, auf die es jahrelang gewartet habe.
Nun mußte er sich freilich fragen, mit welchem Recht er überhaupt dazu käme, einem Insichverliebten ähnlich, nichts der Seele Gleichgültiges mehr tun zu wollen. Es widerstrebt der Gesinnung des tätigen Lebens, die heute jeder Mensch in sich trägt, und wenn auch gottesüberzeugte Zeiten ein solches Bestreben entwickeln konnten, ist es doch unter der stärker werdenden Sonne wie Dämmerung zergangen. Ulrich fühlte einen Duft von Abgeschiedenheit und Süße an sich, der seinem Geschmack immer mehr widerstrebte. Darum bemühte er sich auch, seine ausgeschweiften Gedanken, sobald es anging, zu beschränken, und hielt sich, wenngleich nicht ganz aufrichtig, vor, daß jenes seiner Schwester wunderlich gegebene Versprechen eines Tausendjährigen Reichs, vernünftig aufgefaßt, nichts bedeute als eine Art wohltuenden Werks; es sollte wohl der Umgang mit Agathe ein Aufgebot an Zartheit und Selbstlosigkeit von ihm fordern, das ihm bisher allzusehr abgegangen war. Er erinnerte sich, so wie man sich an eine ungemein durchsichtige Wolke erinnert, die über den Himmel geflogen ist, an gewisse Augenblicke des vergangenen Beisammenseins, die schon von solcher Art gewesen waren. »Vielleicht ist der Inhalt des Tausendjährigen Reichs nichts als das Anschwellen dieser Kraft, die sich anfänglich nur zu zweien zeigt, bis zu einer brausenden Gemeinschaft aller?« überlegte er etwas befangen. Er suchte wieder Rat bei seiner eigenen »Geschichte mit der Frau Major«, die er sich ins Gedächtnis rief: Die Einbildungen der Liebe, da sie in ihrer Unreife die Ursache des Irrtums gewesen waren, beiseite lassend, sammelte er seine ganze Aufmerksamkeit auf die schonungsvollen Empfindungen der Güte und Anbetung, deren er damals in seiner Einsamkeit fähig gewesen war, und es schien ihm, daß Vertrauen und Neigung zu fühlen oder für einen anderen zu leben, ein zu Tränen rührendes Glück sein müsse, so schön wie das glutvolle Versinken des Tags in den Abendfrieden und ein wenig auch so zum Weinen arm an Vergnügen und geistesstill. Denn dazwischen kam ihm sein Vorhaben nun auch schon komisch vor, etwa so wie die Übereinkunft zweier alten Junggesellen zusammenzuziehn, und an solchen Zuckungen der Phantasie fühlte er, wie wenig die Vorstellung der dienenden Bruderliebe geeignet war, ihn zu erfüllen. Verhältnismäßig anteilslos gestand er sich ein, daß der Beziehung zwischen Agathe und ihm von Anfang an ein großes Maß an Asozialem beigemengt gewesen sei. Nicht nur die Geschäfte mit Hagauer und dem Testament, sondern auch die ganze Gefühlstönung deutete auf etwas Heftiges, und zweifellos war in dieser Geschwisterlichkeit nicht mehr Liebe für einander enthalten als Abstoßung von der übrigen Welt. »Nein!« dachte Ulrich. »Für einen anderen leben wollen, ist nichts als das Fallissement des Egoismus, der nebenan ein neues Geschäft mit einem Sozius eröffnet!«
In der Tat hatte seine innere Anspannung trotz dieser glanzvoll zugeschliffenen Bemerkung ihren Höhepunkt schon in dem Augenblick überschritten, wo er versucht worden war, das ihn unklar erfüllende Licht in ein irdisches Lämpchen zu fassen; und als sich nun zeigte, daß dies ein Fehler gewesen, fehlte seinem Denken bereits die Absicht, eine Entscheidung zu suchen, und er ließ sich bereitwillig ablenken. In seiner Nähe waren gerade zwei Männer zusammengestoßen und riefen sich unangenehme Bemerkungen zu, als wollten sie handgemein werden, woran er mit erfrischter Aufmerksamkeit teilnahm, und als er sich kaum davon abgewandt hatte, stieß sein Blick mit dem einer Frau zusammen, der wie eine fette, auf dem Stengel nickende Blume war. In jener angenehmen Laune, die sich zu gleichen Mengen aus Gefühl und nach außen gerichteter Aufmerksamkeit mischt, nahm er Kenntnis davon, daß die ideale Forderung, seinen Nächsten zu lieben, unter wirklichen Menschen in zwei Teilen befolgt wird, deren erster darin besteht, daß man seine Mitmenschen nicht leiden kann, während das der zweite dadurch wettmacht, daß man zu ihrer einen Hälfte in sexuelle Beziehungen gerät. Ohne zu überlegen, kehrte auch er nach wenigen Schritten um, der Frau zu folgen; es geschah noch ganz mechanisch als Folge der Berührung durch ihren Blick. Er sah ihre Gestalt unter dem Kleid wie einen großen weißen Fisch vor sich, der nahe der Wasseroberfläche ist. Er wünschte sich, ihn männlich zu harpunieren und zappeln sehen zu können, und es lag darin ebensoviel Abneigung wie Verlangen. An kaum merklichen Zeichen wurde ihm auch Gewißheit, daß diese Frau von seinem Hinterdreinstreichen wisse und es billige. Er suchte zu ermitteln, auf welchen Platz sie in der gesellschaftlichen Schichtung gehören möge, und riet auf höheren Mittelstand, wo es schwer ist, die Stellung genau zu bestimmen. »Kaufmannsfamilie? Beamtenfamilie?« fragte er sich. Aber verschiedene Bilder tauchten willkürlich auf, darunter sogar das einer Apotheke: er fühlte den scharf-süßen Geruch an dem Mann, der nach Hause kommt; die kompakte Atmosphäre des Heims, der nichts mehr von den Zuckungen anzumerken ist, unter denen sie kurz vorher die Diebslampe eines Einbrechers durchleuchtet hat. Ohne Zweifel war das abscheulich und doch ehrlos lockend.
Und während Ulrich weiter hinter der Frau herging und in Wahrheit fürchtete, daß sie vor einer Auslage stehen bleiben und ihn zwingen werde, entweder blöde weiterzustolpern oder sie anzusprechen, war irgendetwas immer noch unabgelenkt und hellwach in ihm. »Was mag eigentlich Agathe von mir wollen?« fragte er sich zum erstenmal. Er wußte es nicht. Er nahm wohl an, daß es ähnlich sein werde wie das, was er von ihr wolle, aber er hatte nur Gefühlsgründe dafür. Mußte er sich nicht darüber wundern, wie rasch und unvorhergesehen alles gekommen sei? Außer ein paar Kindheitserinnerungen hatte er nichts von ihr gewußt, und das wenige, was er erfuhr, zum Beispiel die schon einige Jahre dauernde Beziehung zu Hagauer, war ihm eher unlieb. Er entsann sich jetzt auch des eigentümlichen Zögerns, fast Widerstrebens, womit er sich bei der Ankunft seinem Vaterhaus genähert hatte. Und plötzlich nistete sich in ihm der Einfall ein: »Mein Gefühl für Agathe ist nur Einbildung!« In einem Mann, der dauernd anderes wolle als seine Umgebung, dachte er nun wieder ernsthaft, in einem solchen Mann, der immer nur die Abneigung zu fühlen bekomme und nie bis zur Neigung gelange, müsse sich das übliche Wohlwollen und die laue Güte der Menschlichkeit leicht zerlegen und in eine kalte Härte zerfallen, über der ein Nebel von unpersönlicher Liebe schwebe. Seraphische Liebe hatte er die einmal genannt. Man könnte auch sagen: Liebe ohne Gegenspieler, dachte er. Oder ebensogut: Liebe ohne Geschlechtlichkeit. Man liebe heute überhaupt nur geschlechtlich: unter Gleichen möge man sich nicht ausstehn, und in der geschlechterweisen Verkreuzung liebe man sich mit einer wachsenden Auflehnung gegen die Überschätzung dieses Zwangs. Von beidem sei die seraphische Liebe aber befreit. Sie sei die von den Gegenströmungen der sozialen und sexuellen Abneigungen befreite Liebe. Man könnte sie, die allenthalben in Kompanie mit der Grausamkeit des heutigen Lebens zu spüren sei, wahrhaftig die Schwesterliebe einer Zeit nennen, die für Bruderliebe keinen Platz habe, – sagte er sich, ärgerlich zusammenzuckend.
Aber obwohl er zum Schluß nun so dachte, träumte er daneben und abwechselnd damit von einer Frau, die sich in keiner Weise erreichen läßt. Sie schwebte ihm vor wie die späten Herbsttage im Gebirge, wo die Luft etwas zum Sterben Ausgeblutetes in sich hat, die Farben aber in höchster Leidenschaft brennen. Er sah die blauen Fernblicke vor Augen, ohne Ende in ihrer geheimnisvoll reichen Abstufung. Er vergaß ganz die Frau, die wirklich vor ihm ging, war fern jedem Begehren und vielleicht nah der Liebe.
Er wurde erst durch den anhaltenden Blick einer anderen Frau abgelenkt, der ähnlich dem der ersten war, aber nicht so frech und fett wie dieser, sondern gesellschaftlich-delikat wie ein Pastellstrich und doch schon im Bruchteil einer Sekunde sich einprägend: er sah auf, und gewahrte in einem Zustand völliger innerer Erschöpfung eine sehr schöne Dame, in der er Bonadea erkannte.
Der herrliche Tag hatte sie auf die Straße gelockt. Ulrich sah nach der Uhr: er war nur eine Viertelstunde spazieren gegangen, und seit er das Leinsdorfsche Palais verlassen hatte, waren es keine fünfundvierzig Minuten. Bonadea sagte: »Ich bin heute nicht frei.« Ulrich dachte: »Wie lang ist da erst ein ganzer Tag, ein Jahr, und gar ein Vorsatz fürs Leben!« Es war nicht zu ermessen.

So geschah es, daß Ulrich bald darauf den Besuch seiner verlassenen Freundin empfing. Die Begegnung auf der Straße hatte weder für die Vorwürfe ausgereicht, die er ihr über den Mißbrauch seines Namens zu machen wünschte, als sie damit Diotimas Freundschaft gewann, noch hatte sie Bonadea genügend Zeit gelassen, ihm Vorwürfe wegen seines langen Schweigens zu machen und sich nicht nur gegen die Beschuldigung der Indiskretion zu verteidigen und Diotima eine »unvornehme Schlange« zu nennen, sondern dafür auch einen Beweis zu erfinden. Darum war zwischen ihr und ihrem in den Ruhestand getretenen Freund in Eile vereinbart worden, daß sie sich noch einmal aussprechen müßten.
Die erschien, war nicht mehr die Bonadea, die ihr Haar zwischen den Händen wand, bis es ihrem Kopf ein einigermaßen griechisches Aussehen gab, wenn sie sich mit blinzelnden Augen im Spiegel betrachtete und sich vornahm, daß sie ebenso rein und edel sein wolle wie Diotima, noch war es jene, die in wildgemachten Nächten ob solcher Entwöhnungskuren ihrem Vorbild schamlos und mit weiblicher Kundigkeit fluchte, sondern es war wieder die liebe alte Bonadea, der die Löckchen in die nicht sehr kluge Stirn fielen oder aus der Stirn stiegen, je nachdem es die Mode verlangte, und in deren Augen beständig etwas aussah wie die Luft, die über einem Feuer aufsteigt. Während Ulrich daran ging, sie zur Rede zu stellen, weil sie ihre Beziehung zu ihm seiner Kusine preisgegeben habe, setzte sie bedächtig vor einem Spiegel den Hut ab, und als er sich genau zu vergewissern wünschte, wieviel sie gesagt habe, beschrieb sie zufrieden und genau, daß sie Diotima vorgefabelt habe, sie hätte einen Brief von ihm erhalten, worin er sie bäte, dafür zu sorgen, daß Moosbrugger nicht vergessen werde, und wüßte nichts besseres, als sich damit an die Frau zu wenden, von deren hohen Sinn der Briefschreiber oft zu ihr gesprochen hätte. Dann setzte sie sich auf die Lehne von Ulrichs Stuhl, küßte seine Stirn und versicherte bescheiden, daß dies alles doch auch richtig sei, mit Ausnahme des Briefs.
Große Wärme ging von ihrem Busen aus. »Und warum hast du dann meine Kusine eine Schlange genannt? Du selbst warst eine!« sagte Ulrich.
Bonadea richtete die Augen nachdenklich von ihm weg auf die Wand. »Ach, ich weiß nicht,« gab sie zur Antwort »sie ist so nett zu mir. Sie nimmt soviel Anteil an mir!«
»Was heißt das?« fragte Ulrich. »Teilst du jetzt ihre Anstrengungen für das Gute, Wahre und Schöne?«
Bonadea erwiderte: »Sie hat mir erklärt, daß keine Frau so ihrer Liebe leben könne, wie es ihren Kräften entspräche, sie ebensowenig wie ich. Und darum muß jede Frau auf dem Platz, wohin sie vom Schicksal gestellt worden ist, ihre Pflicht tun. Sie ist ja so hochanständig« fuhr Bonadea noch nachdenklicher fort. »Sie redet mir zu, mit meinem Mann nachsichtig zu sein, und behauptet, daß eine überlegene Frau ein bedeutendes Glück in der Bemeisterung ihrer Ehe fände; das stellt sie viel höher als jeden Ehebruch: Und eigentlich habe ich ja selbst auch immer so gedacht!«
Und das war nun wirklich wahr; denn Bonadea hatte nie anders gedacht, sie hatte bloß immer anders gehandelt und konnte darum unbeschwerten Sinnes zustimmen. Als ihr Ulrich das erwiderte, zog es ihm abermals einen Kuß zu; diesmal schon etwas unter der Stirn. »Du verwirrst eben mein polygames Gleichgewicht!« sagte sie mit einem kleinen Seufzer zur Entschuldigung des Widerspruchs, der zwischen ihrem Denken und Handeln entstanden war.
Es stellte sich durch viele Zwischenfragen heraus, daß sie »polyglanduläres Gleichgewicht« habe sagen wollen, ein damals erst den Eingeweihten verständliches physiologisches Wort, das man mit Gleichgewicht der Säfte übersetzen könnte, in der Voraussetzung, daß es gewisse ins Blut wirkende Drüsen seien, die mit ihren Antrieben und Hemmungen den Charakter beeinflussen und namentlich sein Temperament, ja besonders jene Art von Temperament, von der Bonadea in gewissen Zuständen bis zum Leiden viel besaß.
Ulrich runzelte neugierig die Stirn.
»Also irgendeine Drüsensache« sagte Bonadea. »Es ist schon eine gewisse Beruhigung, wenn man weiß, daß man nichts dafür kann!« Sie lächelte wehmütig ihrem verlorenen Freund zu: »Und wenn man schnell aus dem Gleichgewicht kommt, entstehen eben leicht mißglückte Sexualerlebnisse!«
»Aber Bonadea,« fragte Ulrich verwundert »wie sprichst du?«
»Wie ich es gelernt habe. Du bist ein mißglücktes Sexualerlebnis, sagt deine Kusine. Aber sie sagt auch, man kann sich den erschütternden körperlichen und seelischen Folgen entziehn, wenn man sich vorhält, daß nichts, was wir tun, bloß unsere persönliche Angelegenheit ist. Sie ist sehr gut zu mir. Von mir behauptet sie, mein persönlicher Fehler sei es, daß ich in der Liebe zu sehr an einer Einzelheit hängen geblieben bin, statt das Liebesleben im ganzen zu betrachten. Verstehst du, mit der Einzelheit meint sie das, was sie auch ›die rohe Erfahrung‹ nennt: es ist oft sehr interessant, so etwas in ihrer Beleuchtung kennen zu lernen. Aber eines gefällt mir nicht an ihr: denn schließlich hat sie, obwohl sie sagt, daß eine starke Frau ihr Lebenswerk in der Monogamie sucht und es lieben soll wie ein Künstler, doch drei, und mit dir vielleicht vier, Männer in Reserve, und ich habe für mein Glück jetzt keinen!«
Der Blick, mit dem sie ihren fahnenflüchtigen Reservisten dabei musterte, war warm und zweifelnd. Aber Ulrich wollte es nicht bemerken.
»Ihr sprecht über mich?« erkundigte er sich ahnungsvoll.
»Ach, nur zuweilen« erwiderte Bonadea. »Wenn deine Kusine ein Beispiel sucht oder wenn dein Freund, der General, da ist.«
»Womöglich ist auch noch Arnheim dabei?!«
»Er lauscht würdevoll dem Gespräch der edlen Frauen« verspottete ihn Bonadea nicht ohne Begabung zu unauffälliger Nachahmung, fügte aber ernst hinzu: »Sein Benehmen gegen deine Kusine gefällt mir überhaupt nicht. Er ist meistens verreist; und wenn er da ist, spricht er zuviel zu allen, und wenn sie das Beispiel von der Frau von Stern anführt und der –«
»Frau von Stein?« verbesserte Ulrich fragend.
»Natürlich, die Stein meine ich; von der spricht Diotima doch wirklich oft genug. Und wenn sie also von den Beziehungen spricht, die zwischen der Frau von Stein und der anderen bestanden haben, der Vul – – na, wie heißt sie doch: sie hat so einen halb unanständigen Namen?«
»Vulpius.«
»Natürlich. Verstehst du, ich höre da so viele Fremdworte, daß ich schon nicht mehr die einfachsten weiß! Also wenn sie die Frau von Stein mit der vergleicht, so sieht mich der Arnheim dauernd an, als ob ich neben seiner Angebeteten gerade nur für so eine, wie du eben gesagt hast, gut wäre!«
Nun drang Ulrich aber auf Erklärung dieser Veränderungen.
Es stellte sich heraus, daß Bonadea, seit sie den Titel einer Vertrauten Ulrichs in Anspruch nahm, auch im Vertrauen Diotimas große Fortschritte gemacht hatte.
Der Ruf der Mannstollheit, der von Ulrich im Ärger leichtfertig preisgegeben worden war, hatte in seiner Kusine eine unbegrenzte Wirkung erregt. Sie hatte die Neuangekommene, indem sie sie als eine in nicht näher bestimmter Weise für die Wohlfahrt der Menschen tätige Dame ihren Gesellschaften zuzog, einigemal im Verborgenen beobachtet, und dieser Eindringling mit Augen wie weiches Löschpapier, die das Bild ihres Hauses aufsogen, war ihr nicht nur ausgemacht unheimlich gewesen, sondern hatte in ihr auch ebensoviel weibliche Neugierde wie Grauen erregt. Um die Wahrheit zu sagen, wenn Diotima das Wort »Lustseuche« aussprach, hatte sie ähnlich ungewisse Empfindungen, wie wenn sie sich das Treiben ihrer neuen Bekannten vorstellte, und sie erwartete mit unruhigem Gewissen von einem Mal zum andern ein unmögliches Benehmen und Schmach und Schande. Bonadea gelang es aber, dieses Mißtrauen durch ihr ehrgeiziges Verhalten zu mildern, das der besonders wohlerzogenen Aufführung ungeratener Kinder in einer Umgebung entsprach, die ihren sittlichen Wetteifer weckt. Sie vergaß sogar darüber, daß sie auf Diotima eifersüchtig sei, und diese bemerkte mit Staunen, daß ihr beunruhigender Schützling ebenso für das Ideale eingenommen sei wie sie selbst. Denn da war »die gestrauchelte Schwester«, wie sie nun hieß, schon zum Schützling geworden, und bald wandte ihr Diotima eine besonders tätige Teilnahme zu, weil sie sich durch ihre eigene Lage dazu gebracht fühlte, in dem würdelosen Geheimnis der Mannstollheit eine Art weiblichen Damoklesschwertes zu sehn, von dem sie sagte, daß es an einem dünnen Faden selbst über dem Haupte einer Genoveva schweben könne. »Ich weiß, mein Kind,« belehrte sie tröstend die ungefähr gleichaltrige Bonadea »es ist nichts so tragisch wie einen Menschen zu umarmen, von dem man nicht innerlich überzeugt ist!« und küßte sie mit einem Aufwand an Mut auf den unkeuschen Mund, der hingereicht hätte, ihre Lippen zwischen die blutrünstigen Bartstacheln eines Löwen zu pressen.
Die Lage, in der sich Diotima damals befand, war aber die zwischen Arnheim und Tuzzi: eine wagrechte Lage, ließe sich bildhaft sagen, auf die der eine zuviel, der andere zuwenig Gewicht legte. Bei seiner Rückkunft hatte ja selbst Ulrich seine Kusine noch mit einer Kopfbinde und gewärmten Tüchern angetroffen; aber diese weiblichen Plagen, deren Stärke sie ahnend als den Einspruch ihres Körpers gegen die widerspruchsvollen Anleitungen begriff, die er von der Seele erhielte, hatten in Diotima auch jene edle Entschlossenheit wachgerufen, die ihr eigen war, sobald sie nicht so sein wollte, wie jede andere Frau. Es war anfangs freilich fraglich, ob diese Aufgabe von der Seele oder vom Körper her in Angriff zu nehmen, ob sie besser durch eine Veränderung des Verhaltens gegen Arnheim oder gegen Tuzzi zu beantworten sei; aber das entschied sich mit Hilfe der Welt, denn während ihr die Seele und deren Liebesrätsel wie ein Fisch entschlüpften, den man in der bloßen Hand halten will, fand die suchende Leidende zu ihrer Überraschung reichlichen Rat in den Büchern des Zeitgeistes, als sie sich zum erstenmal entschlossen hatte, ihr Schicksal am körperlichen anderen Ende anzupacken, das durch ihren Gatten dargestellt wurde. Sie hatte nicht gewußt, daß unsere Zeit, der sich vermutlich der Begriff der Liebesleidenschaft entrückt hat, weil er eher ein religiöser als ein sexueller ist, es als kindisch verschmäht, sich noch mit der Liebe zu beschäftigen, dafür aber ihre Anstrengungen an die Ehe wendet, deren natürliche Vorgänge sie in allen Abwandlungen mit frischer Ausführlichkeit untersucht. Schon damals waren viele jener Bücher entstanden, die mit dem reinen Sinn eines Turnlehrers von den »Umwälzungen im Geschlechtsleben« sprechen und den Menschen dazu verhelfen wollen, verheiratet und dennoch vergnügt zu sein. In diesen Büchern hießen Mann und Frau nur noch »der männliche und der weibliche Keimträger« oder auch »die Geschlechtspartner«, und die Langweile, die zwischen ihnen durch allerhand geistig-körperliche Abwechslung vertrieben werden sollte, taufte man »das sexuelle Problem«. Als Diotima in diese Literatur eindrang, krauste sich ihr erst die Stirn, dann aber glättete sich diese; denn es war ein Stoß in den Ehrgeiz, daß ihr eine beginnende große Bewegung des Zeitgeistes bisher entgangen sei, und endlich faßte sich die Hingerissene an die Stirn vor Staunen darüber, daß sie es wohl verstanden habe, der Welt ein Ziel zu schenken (wenn auch noch immer nicht entschieden war, welches), aber noch nie darauf gekommen sei, daß man auch die entnervenden Unannehmlichkeiten der Ehe mit geistiger Überlegenheit behandeln könne. Diese Möglichkeit entsprach sehr ihren Neigungen und gab ihr plötzlich die Aussicht, das Verhältnis zu ihrem Gatten, das sie bisher nur als ein Leiden empfunden hatte, als eine Wissenschaft und Kunst zu behandeln.
»Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute so nahe liegt« meinte Bonadea und bekräftigte es mit der ihr eigenen Vorliebe für Gemeinplätze und für Zitate. Denn es war dann so gekommen, daß sie bald von der schutzbereiten Diotima als deren Schülerin in solchen Fragen angenommen und behandelt wurde. Das geschah nach dem pädagogischen Grundsatz, zu lernen, indem man lehrt, und verhalf einesteils Diotima andauernd dazu, aus den vorläufig noch recht ungeordneten und ihr selbst unklaren Eindrücken ihrer neuen Belesenheit etwas herauszufinden, wovon sie felsenfest überzeugt war, – geleitet von dem glücklichen Geheimnis der »Intuition«, daß man ins Schwarze trifft, wenn man ins Blaue redet; andernteils geriet aber auch Bonadea dabei in einen Vorteil, der ihr jene Rückwirkung ermöglichte, ohne die der Schüler selbst für den besten Lehrer unfruchtbar bleibt: ihr reiches praktisches Wissen bedeutete, wenn sie auch vorsichtig damit zurückhielt, für die Theoretikerin Diotima eine ängstlich beobachtete Erfahrungsquelle, seit die Gattin des Sektionschefs Tuzzi daran gegangen war, an Hand der Bücher die Entwicklung ihrer Ehe zu berichtigen. »Schau, ich bin ja sicher viel weniger gescheit als sie,« erläuterte es Bonadea »aber oft stehen in ihren Büchern Sachen, von denen selbst ich keine Ahnung gehabt hab, und das macht sie manchmal so verzagt, daß sie mit Bedauern sagt: ›Das läßt sich eben nicht am grünen Tisch des Ehebetts entscheiden, sondern dazu gehört leider eine große, am lebenden Material geschulte Sexualerfahrung und Sexualpraxis!‹«
»Aber, um Himmelswillen,« rief Ulrich aus, den das Lachen schon bei der Vorstellung überwältigte, daß sich seine keusche Kusine in die »Sexualwissenschaft« verirrt habe »was will sie denn eigentlich?«
Bonadea sammelte ihre Erinnerungen an die glückliche Verbindung der wissenschaftlichen Interessen der Zeit mit einer gedankenlosen Ausdrucksweise. »Es handelt sich um die beste Ausbildung und Verwaltung ihres Sexualtriebes« entgegnete sie dann im Geist ihrer Lehrerin. »Und sie vertritt die Überzeugung, daß der Weg zu einer beschwingten und harmonischen Erotik durch härteste Selbsterziehung führen muß.«
»Ihr erzieht euch mit Bedacht? Und noch dazu aufs härteste!? Du sprichst ja großartig!« rief Ulrich abermals aus. »Aber sei so freundlich, mir zu erklären, wozu sich Diotima erzieht?«
»In erster Linie erzieht sie natürlich ihren Mann!« verbesserte ihn Bonadea.
»Der Arme!« dachte Ulrich unwillkürlich und bat »Also möchte ich dann wissen, wie sie das macht: Sei doch nicht auf einmal zurückhaltend!«
Wirklich fühlte sich Bonadea bei diesen Fragen durch Ehrgeiz gehemmt wie ein Vorzugsschüler im Examen. »Ihre Sexualatmosphäre ist vergiftet« erklärte sie vorsichtig. »Und wenn sie diese Atmosphäre retten soll, so geht das nur noch so, daß Tuzzi und sie ihr Handeln auf das sorgfältigste überprüfen. Es gibt da keine allgemeinen Regeln. Man muß sich bemühen, den anderen in seinen Lebensreaktionen zu beobachten. Und um richtig beobachten zu können, muß man eine gewisse Einsicht in das Geschlechtsleben haben. Man muß die praktisch erworbene Erfahrung mit dem Niederschlag theoretischer Forschung vergleichen können, sagt Diotima. Es gibt eben heute eine neue, veränderte Einstellung der Frau zum sexuellen Problem: sie verlangt vom Mann nicht nur ein Tun, sondern ein Tun aus richtiger Erkenntnis des Weiblichen verlangt sie!« Und um Ulrich abzulenken oder weil es ihr selbst Spaß machte, fügte sie erheitert hinzu: »Stell dir bloß vor, wie das auf ihren Mann wirken muß, der von diesen neuen Sachen nicht die leiseste Ahnung hat und das meiste darüber beim Auskleiden im Schlafzimmer erfährt, wenn Diotima, sagen wir, im halb aufgelösten Haar die Nadeln sucht und die Röcke zwischen die Beine geklemmt hat und plötzlich davon zu sprechen anfängt. Ich habe das an meinem Mann nachgeprüft, und er ist beinahe erstickt daran: das eine kann man also zugeben, wenn schon ›Dauerehe‹ sein soll, dann hat sie wenigstens den Vorzug, daß sie aus dem Lebenspartner den ganzen erotischen Gehalt herausholt; und das ist es, worum sich Diotima bei Tuzzi bemüht, der ein bisserl unfein ist.«
»Eine harte Zeit ist für eure Männer angebrochen!« neckte sie Ulrich.
Bonadea lachte, und er merkte daran, wie froh sie wäre, gelegentlich dem drückenden Ernst ihrer Liebesschule entwischen zu können.
Aber Ulrichs Forscherwille ließ noch nicht locker; er fühlte heraus, daß seine veränderte Freundin über etwas schweige, worüber sie im Grunde viel lieber gesprochen hätte. Er machte den vertraulichen Einwand, daß dem Vernehmen nach der Fehler der beiden in Mitleidenschaft gezogenen Ehemänner bisher doch eher in einem zu großen »erotischen Gehalt« bestanden haben solle.
»Ja, du denkst eben auch immer nur das!« belehrte ihn Bonadea und begleitete es mit einem Blick, dessen lange Spitze am Ende ein Häkchen hatte, was man ganz gut als Bedauern über ihre gewonnene Unschuld auslegen konnte. »Du mißbrauchst ja auch den physiologischen Schwachsinn des Weibes!«
»Was mißbrauche ich? Da hast du ja ein prächtiges Wort für die Geschichte unserer Liebe gefunden!«
Bonadea gab ihm eine kleine Ohrfeige und ordnete mit nervösen Fingern vor dem Spiegel ihr Haar. Aus dem Glas ihn anblickend, sagte sie: »Das ist aus einem Buch!«
»Natürlich. Aus einem sehr bekannten.«
»Aber Diotima bestreitet das. Sie hat in einem anderen Buch etwas gefunden; das heißt: ›Die physiologische Minderwertigkeit des Mannes‹. Dieses Buch ist von einer Frau geschrieben. Glaubst du, daß es wirklich eine so große Rolle spielt?«
»Ich ahne nicht, was, und kann keinen Ton antworten!«
»Also gib acht! Diotima geht von einer Entdeckung aus, die sie ›die ständige Lustbereitschaft der Frau‹ nennt. Du kannst dir darunter etwas vorstellen?«
»Bei Diotima nicht!«
»Sei nicht so unfein!« tadelte ihn seine Freundin. »Diese Theorie ist sehr delikat, und ich muß mich bemühen, sie dir so zu erklären, daß du keine falschen Schlüsse aus dem Umstand ziehst, daß ich dabei mit dir allein in deiner Wohnung bin. Also diese Theorie beruht darauf, daß eine Frau auch dann geliebt werden kann, wenn sie nicht will. Verstehst du jetzt?«
»Ja.«
»Das läßt sich leider auch nicht leugnen. Hingegen soll der Mann sehr oft, auch wenn er lieben will, nicht können. Diotima sagt, daß das wissenschaftlich bewiesen sei. Glaubst du das?«
»Es soll vorkommen.«
»Ich weiß nicht?« zweifelte Bonadea. »Aber Diotima sagt, wenn man das im Licht der Wissenschaft betrachtet, so versteht es sich von selbst. Denn im Gegensatz zur beständigen Lustbereitschaft der Frau ist der Mann, also kurz gesagt, des Mannes männlichster Teil, sehr leicht einzuschüchtern.« Ihr Gesicht war bronzefarben, als sie es jetzt vom Spiegel abwandte.
»Mich wundert das von Tuzzi« meinte Ulrich ablenkend.
»Ich glaube auch nicht, daß das früher so war,« sagte Bonadea »sondern das kommt als eine nachträgliche Bestätigung von der Theorie, weil sie ihm die alle Tage vorhält. Sie nennt das die Theorie des ›Fiasko‹. Denn weil der männliche Keimträger so leicht dem Fiasko verfällt, fühlt er sich nur dort sexuell sicher, wo er keine wie immer geartete seelische Überlegenheit der Frau zu befürchten hat, und darum haben Männer fast nie den Mut, es mit einer menschlich gleichwertigen Frau aufzunehmen. Zumindest versuchen sie gleich, sie niederzudrücken. Diotima sagt, daß das Leitmotiv aller männlichen Liebeshandlungen, und besonders das der männlichen Überheblichkeit, die Angst ist. Große Männer zeigen sie; damit meint sie den Arnheim. Kleinere verschleiern sie hinter brutaler körperlicher Anmaßung und mißbrauchen das Seelenleben der Frau: damit meine ich dich! Und sie den Tuzzi. Dieses gewisse ›Augenblicklich – oder nie!‹ womit ihr uns so oft zu Fall bringt, ist nur eine Art Überkomp-« Kompresse wollte sie sagen, »Kompensation« half Ulrich aus.
»Ja. Damit entzieht ihr euch dem Eindruck eurer körperlichen Minderwertigkeit!«
»Und was habt ihr zu tun beschlossen?« fragte Ulrich ergeben.
»Man muß sich bemühen, nett zu den Männern zu sein! Und darum bin ich ja auch zu dir gekommen. Wir werden sehen, wie du das aufnimmst!?«
»Aber Diotima?«
»Gott, was geht dich denn Diotima an! Der Arnheim macht Augen wie ein Schneck, wenn sie ihm sagt, daß die geistig höchststehenden Männer leider nur bei minderwertigen Frauen ihre volle Befriedigung zu finden scheinen, während sie bei seelisch gleichgestellten Frauen versagen, was durch die Frau von Stein und die Vulpius wissenschaftlich bewiesen ist. (Siehst du, jetzt macht mir der Name keine Schwierigkeiten mehr. Aber daß sie die bekannte Sexualpartnerin des alternden Olympiers gewesen ist, habe ich natürlich immer gewußt!)«
Ulrich suchte das Gespräch noch einmal auf Tuzzi zu lenken, um es von sich zu entfernen. Bonadea begann zu lachen; sie war nicht ohne Verständnis für die jammervolle Lage dieses Diplomaten, der ihr als Mann ganz gut gefiel, und empfand Schadenfreude und Spießgesellenschaft darüber, daß er unter der Zuchtrute der Seele zu leiden hatte. Sie erzählte, daß Diotima in der Behandlung ihres Gatten von der Voraussetzung ausgehe, daß sie ihn von der Angst vor ihr befreien müsse, und daß sie sich dadurch auch ein wenig mit seiner ›sexuellen Brutalität‹ ausgesöhnt habe. Sie gebe zu, den Fehler ihres Lebens darin erkannt zu haben, daß ihre Bedeutung zu groß für das naive Überlegenheitsbedürfnis ihres männlichen Eheteils sei, und sei daran gegangen, das zu mildern, indem sie ihre seelische Überlegenheit jetzt hinter anpassungsfähiger erotischer Koketterie verberge.
Ulrich fragte lebhaft dazwischen, was sie darunter verstehe.
Bonadeas Blick grub sich ernst in sein Gesicht. »Zum Beispiel sagt sie ihm: ›Unser Leben ist bisher durch den Wettstreit um unsere persönliche Geltung verdorben worden.‹ Und dann gibt sie ihm zu, daß die vergiftende Wirkung des männlichen Geltungsstrebens auch das ganze öffentliche Leben beherrscht –«
»Aber das ist doch weder kokett noch erotisch?!« wandte Ulrich ein.
»Doch! Denn du mußt bedenken, daß sich ein Mann, wenn er wirklich leidenschaftlich ist, gegen eine Frau wie ein Henker gegen sein Opfer beträgt. Das gehört zum Geltungsstreben, wie man das jetzt nennt. Und anderseits wirst du nicht leugnen, daß der Sexualtrieb auch für die Frau wichtig ist?!«
»Natürlich nicht!«
»Schön. Aber die sexuelle Beziehung verlangt zu ihrem beglückenden Verlauf ein Gleich und Gleich. Man muß den Liebespartner, wenn man eine glückhafte Umarmung aus ihm herausholen will, als gleichberechtigt gelten lassen, und nicht nur als eine willenlose Ergänzung für sich selbst« fuhr sie fort, in die Ausdrucksweise ihrer Meisterin geraten, wie sich ein Mensch auf einer glatten Fläche von seiner eigenen Bewegung unwillkürlich und geängstigt fortgeführt sieht. »Denn wenn schon keine andere menschliche Beziehung ein ständiges Drücken und Gedrücktwerden verträgt, um wieviel weniger verträgt das erst die sexuelle –!«
»Oho!« widersprach Ulrich.
Bonadea preßte seinen Arm, und ihr Auge funkelte wie ein stürzender Stern. »Schweig still!« stieß sie hervor. »Es fehlt euch allen die selbsterlebte Kenntnis der weiblichen Psyche! Und wenn du willst, daß ich dir weiter von deiner Kusine erzähle –«: aber da war sie auch am Ende ihrer Kraft, und jetzt funkelten ihre Augen wie die einer Tigerin, an deren Käfig man Fleisch vorbeiträgt. »Nein, ich kann das selbst nicht mehr hören!« rief sie aus.
»Spricht sie wirklich so?« fragte Ulrich. »Hat sie das wirklich gesagt?«
»Aber jeden Tag höre ich ja nichts als Sexualpraxis, geglückte Umarmung, springende Punkte der Liebe, Drüsen, Sekrete, verdrängte Wünsche, erotisches Training und Regulierung des Sexualtriebs! Wahrscheinlich hat jeder die Sexualität, die er verdient, wenigstens behauptet das deine Kusine, aber muß ich denn durchaus eine so hohe verdienen?!«
Ihr Blick hielt den ihres Freundes fest. »Ich glaube, du mußt nicht« behauptete Ulrich langsam.
»Schließlich könnte man doch auch sagen, daß meine starke Erlebnisfähigkeit einen physiologischen Überwert darstellt?« fragte Bonadea mit einem glücklich-zweideutigen Auflachen.
Zu einer Antwort kam es nicht mehr. Als sich in Ulrich längere Zeit danach ein Widerstand fühlen machte, sprühte durch die Ritzen an den Fenstern der lebendige Tag, und wenn man dorthin blickte, glich das verdunkelte Zimmer der Grabkammer eines Gefühls, das bis zur Unkenntlichkeit verschrumpft war. Bonadea lag mit geschlossenen Augen da und gab kein Lebenszeichen mehr. Die Empfindungen, die sie jetzt von ihrem Körper hatte, waren nicht unähnlich denen eines Kindes, dessen Trotz durch Prügel gebrochen worden ist. Jeder Zoll ihres Leibes, der völlig satt und zerschlagen war, verlangte nach der Zärtlichkeit einer moralischen Vergebung. Von wem? Bestimmt nicht von dem Mann, in dessen Bett sie lag und den sie angefleht hatte, sie zu töten, weil ihre Lust durch keine Wiederholung und Steigerung zu brechen war. Sie hielt die Augen geschlossen, um ihn nicht sehen zu müssen. Bloß versuchsweise dachte sie: »Ich liege in seinem Bett!« Das und: »Ich lasse mich nie wieder daraus vertreiben!« hatte sie vor kurzem innerlich geschrien; jetzt drückte es bloß eine Lage aus, aus der nicht ohne peinliche Vorgänge herauszukommen war, die ihr noch bevorstanden. Bonadea knüpfte träge und langsam ihre Gedanken dort an, wo sie abgerissen waren.
Sie dachte an Diotima. Allmählich kamen ihr Worte in den Sinn, ganze Sätze und Bruchstücke von Sätzen, meist aber nur das Gefühl der Genugtuung über ihr Dabeisein, wenn solche unverständliche und unerinnerbare Worte wie Hormone, Glandeln, Chromosome, Zygoten oder innere Sekretion an ihrem Ohr in ganzen Gesprächen vorbeirauschten. Denn die Keuschheit ihrer Lehrerin kannte keine Grenzen, sobald diese durch wissenschaftliche Beleuchtung verwischt wurden. Diotima war imstande, vor ihren Zuhörern zu sagen: »Das Geschlechtsleben ist kein zu erlernendes Handwerk, es soll uns immer die höchste Kunst bleiben, die zu erlernen uns im Leben gegeben ist!«, aber dabei ebensowenig Unwissenschaftliches zu fühlen, wie wenn sie im Eifer von einem »heranzuziehenden« oder einem »schweren Punkt« sprach. Und an solche Ausdrücke erinnerte sich ihre Schülerin nun mit Genauigkeit. Kritische Beleuchtung der Umarmung, körperliche Klärung der Lage, reizbare Zonen, Weg zur Höchstbeglückung der Frau, gut disziplinierte, auf ihre Partnerin achtsame Männer...: Bonadea war sich vor ungefähr einer Stunde von diesen wissenschaftlichen, geistigen und hochvornehmen Ausdrücken, die sie sonst bewunderte, auf das gemeinste betrogen vorgekommen. Sie hatte zu ihrer Überraschung erst mit Bewußtsein bemerkt, daß diese Worte nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für das Gefühl eine Bedeutung haben, als aus deren unbeaufsichtigter Gefühlsseite schon die Flammen züngelten. Sie hatte da Diotima gehaßt. »Über so etwas so zu reden, daß man alle Lust daran verlieren muß!« hatte sie gedacht, und unter gräßlichen Rachegefühlen war es ihr nicht anders erschienen, als daß Diotima, die selbst vier Männer habe, ihr gar nichts gönne und sie auf diese Weise hinters Licht führe. Ja, Bonadea hatte die Aufklärung, durch deren Hilfe die Sexualwissenschaft mit den dunklen Geschlechtsvorgängen aufräumt, wahrhaftig für ein Ränkespiel Diotimas gehalten. Sie konnte das jetzt ebensowenig verstehen wie das leidenschaftliche Verlangen nach Ulrich. Sie suchte sich die Augenblicke zu vergegenwärtigen, wo alle ihre Gedanken und Empfindungen ins Rasen geraten waren: ähnlich unverständlich mag sich ein Verblutender vorkommen, wenn er an die Ungeduld zurückdenkt, die ihn verleitet hat, den schützenden Verband abzureißen! Bonadea dachte an Graf Leinsdorf, der die Ehe ein hohes Amt genannt und Diotimas von ihr handelnde Bücher mit einer Rationalisierung des Dienstweges verglichen hatte; sie dachte an Arnheim, der ein Multimillionär war und die Wiederbelebung der ehelichen Treue aus der Idee des Körpers eine echte Zeitnotwendigkeit genannt hatte; und sie dachte an die vielen anderen berühmten Männer, die sie in dieser Zeit kennengelernt hatte, ohne sich auch nur zu erinnern, ob sie kurze oder lange Beine hatten oder fett oder hager waren: denn sie sah nur den strahlenden Begriff der Berühmtheit an ihnen, der von einer ungewissen körperlichen Masse ähnlich ergänzt wurde, wie man den zarten Wänden einer gebratenen jungen Taube durch eine dicke, von Kräutern geäderte Fülle Inhalt gibt. Bei solchen Erinnerungen schwur sich Bonadea, daß sie nie wieder die Beute eines dieser jäh auftretenden Stürme sein wolle, die Oben und Unten zusammenschlügen, und sie schwor sich das so lebhaft zu, daß sie sich schon, sofern sie nur streng bei ihren Vorsätzen bliebe, im Geist und ohne körperliche Bestimmtheit als die Geliebte des feinsten aller Männer sah, den sie sich aus den Verehrern ihrer großen Freundin heraussuchen wollte. Da es aber vorläufig nicht zu leugnen war, daß sie noch in wenig bekleidetem Zustand im Bette Ulrichs lag, ohne die Augen öffnen zu wollen, ging dieses reichhaltige Gefühl einer willigen Zerknirschung, statt sich weiter ins Tröstliche zu entwickeln, in einen jämmerlichen und aufreizenden Ärger über.
Die Leidenschaft, durch deren Wirken Bonadeas Leben in solche Gegensätze aufgeteilt wurde, entsprang zutiefst nicht der Sinnlichkeit, sondern dem Ehrgeiz. Darüber dachte Ulrich nach, der seine Freundin gut kannte, und schwieg, um nicht ihre Vorwürfe zu wecken, während er ihr Gesicht betrachtete, das seinen Blick vor ihm verbarg. Die Urform aller ihrer Begierden erschien ihm als eine Ehrbegierde, die sich in falsche Bahnen, ja sogar wörtlich in falsche Nervenbahnen verirrt habe. Und warum sollte sich nicht wirklich ein sozialer Rekordehrgeiz, der sonst Triumphe darin feiern darf, die größte Menge Bier zu trinken oder sich die größten Edelsteine an den Hals zu hängen, einmal auch wie bei Bonadea als Nymphomanie äußern können?! Diese Äußerungsform hatte sie nun, nachdem es geschehen war, mit Bedauern zurückgenommen, das sah er ein, und er verstand auch recht gut, daß gerade Diotimas umständliche Unnatur ihr, die der Teufel immer auf ungesatteltem Fleisch geritten hatte, paradiesisch imponieren mußte. Er betrachtete ihre Augäpfel, die ausgetobt und schwer in ihren Säcken lagen; er sah die bräunliche Nase vor sich, die sich mit Entschiedenheit aufschwang, und die roten, zugespitzten Löcher darin; er gewahrte etwas verwirrt die verschiedenen Linien dieses Leibes: die, wo auf dem geraden Korsett der Rippen der runde, große Busen lag; die, wo aus der Zwiebel der Hüften der gehöhlte Rücken wuchs; die der spitzen, steifen Nagelbrettchen über den sanften Kuppen der Finger. Und während er schließlich mit Abscheu lange Zeit einige kleine Haare betrachtete, die aus den vor seinen Augen liegenden Nasenlöchern seiner Geliebten sproßten, beschäftigte auch ihn die Erinnerung, wie verführerisch der gleiche Mensch vor kurzem auf seine Begierden gewirkt habe. Das lebendig-zweideutige Lächeln, mit dem Bonadea zu der »Aussprache« erschienen war, die natürliche Art, in der sie alle Vorwürfe abwehrte oder eine Neuigkeit von Arnheim zum besten gab, ja die diesmal beinahe witzige Genauigkeit ihrer Beobachtungen: sie hatte sich wirklich zu ihrem Vorteil verändert, sie schien unabhängiger geworden zu sein, die in die Höhe und die in die Tiefe ziehenden Kräfte hielten sich an ihr in einem freieren Gleichgewicht, und dieser Mangel an moralischer Schwere hatte Ulrich, der in letzter Zeit unter seinem eigenen Ernst sehr gelitten hatte, wohltuend erfrischt; er konnte selbst jetzt noch fühlen, wie gern er ihr zugehört und das Spiel des Ausdrucks auf ihrem Gesicht betrachtet hatte, das wie Sonne und Wellen war. Und plötzlich fiel ihm ein, während sein Blick das nun grämlich gewordene Gesicht Bonadeas betrachtete, daß eigentlich bloß ernste Menschen böse sein können. »Heitere Menschen« dachte er »könnte man schlechtweg davor gesichert nennen. So wie der Intrigant immer Baß singt!« Irgendwie bedeutete das auf eine nicht ganz geheuerliche Weise auch für ihn selbst, daß tief und finster zusammenhingen; denn es ist sicher, daß jede Schuld erleichtert wird, wenn sie ein heiterer Mensch »von der leichten Seite« begeht, andererseits mochte es aber auch sein, daß dies nur in der Liebe gelte, wo die schwerblütigen Verführer viel zerstörender und unverzeihlicher wirken als die leichtsinnigen, auch wenn sie bloß das gleiche tun. So dachte er hin und her und war nicht nur enttäuscht davon, daß die leicht begonnene Stunde der Liebe in Trübnis endete, sondern auch unerwartet belebt.
Darüber vergaß er die gegenwärtige Bonadea, ohne daß er recht wußte wie, und hatte ihr, den Kopf auf den Arm gestützt und den Blick durch die Wände auf ferne Dinge gerichtet, nachdenklich den Rücken zugekehrt, als sie sich durch sein vollkommenes Schweigen bewogen fühlte, die Augen zu öffnen. In diesem Augenblick dachte er ahnungslos daran, daß er einmal auf einer Reise ausgestiegen sei, ohne an sein Ziel zu kommen, denn ein durchsichtiger Tag, der die Umgebung kupplerisch geheimnisvoll entschleierte, hatte ihn vom Bahnhof fort zu einem Spaziergang verlockt, um ihn mit beginnender Nacht zu verlassen, wo er sich ohne Gepäck in einem stundenweit entfernten Ort vorfand. Überhaupt glaubte er sich zu erinnern, daß er immer die Eigenschaft gehabt habe, unberechenbar lange auszubleiben und nie auf dem gleichen Weg zurückzukehren; und dabei fiel plötzlich von einer ganz fernen Erinnerung, die auf einer Stufe der Kindheit lag, an die er sonst niemals gelangte, Licht in sein Leben. Im Spalt einer unermeßlich kleinen Zeit meinte er das geheimnisvolle Verlangen wieder zu fühlen, von dem ein Kind auf einen Gegenstand zugeführt wird, den es sieht, um ihn zu berühren oder gar in den Mund zu stecken, womit dann der Zauber wie in einer Sackgasse endet; ebensolange kam es ihm wahrscheinlich vor, daß auch das Verlangen der Erwachsenen nichts Besseres und nichts Schlechteres sei, das sie auf jede Ferne zutreibt, um sie in Nähe zu verwandeln, wie es ihn selbst beherrschte und sich durch eine gewisse, von Neugierde bloß maskierte, Inhaltslosigkeit eigentlich deutlich als einen Zwang kennzeichnete; und dieses Grundbild wandelte sich endlich zum dritten Mal in dem ungeduldigen und enttäuschenden Geschehen ab, auf das, von ihnen beiden ungewollt, das Wiedersehen mit Bonadea hinausgelaufen war. Dieses Nebeneinander in einem Bett Liegen kam ihm jetzt höchst kindisch vor. »Aber was bedeutet dann der Gegensatz dazu, die reglose, die luftstille Fernliebe, die so unkörperlich ist wie ein Frühherbsttag?« fragte er sich. »Wahrscheinlich auch nur ein verändertes Kinderspiel« dachte er zweifelnd, und erinnerte sich an die buntgedruckten Tiere, die er als Kind seliger geliebt hatte als heute seine Freundin. Aber da hatte nun Bonadea gerade genug von seinem Rücken gesehn, um ihr Unglück daran zu ermessen, und sprach ihn mit den Worten an: »Du bist schuld gewesen!«
Ulrich wandte sich lächelnd zu ihr und erwiderte ohne Überlegen: »In einigen Tagen wird meine Schwester kommen und bei mir wohnen bleiben: habe ich dir das schon mitgeteilt? Wir werden uns dann kaum sehen können.«
»Wie lange?« fragte Bonadea.
»Dauernd« antwortete Ulrich und lächelte wieder.
»Und?« meinte Bonadea. »Was soll das denn hindern? Vielleicht wirst du mir einreden, daß dir deine Schwester nicht erlaubt, eine Geliebte zu haben!«
»Gerade das will ich dir einreden« sagte Ulrich.
Bonadea lachte. »Ich bin heute harmlos zu dir gekommen, und du hast mich nicht einmal zu Ende erzählen lassen!!« hielt sie ihm vor.
»Meine Natur ist als eine Maschine angelegt, die unaufhörlich Leben entwertet! Ich will einmal anders sein!« entgegnete Ulrich. Sie konnte das unmöglich verstehn, doch erinnerte sie sich jetzt trotzig, daß sie Ulrich liebe. Mit einemmal war sie nicht mehr das schwankende Phantom ihrer Nerven, sondern fand eine überzeugende Natürlichkeit und sagte schlicht: »Du hast ein Verhältnis mit ihr angefangen!«
Ulrich verwies es ihr; ernster, als er wollte. »Ich habe mir vorgenommen, lange Zeit keine Frau anders zu lieben, als wäre sie meine Schwester« erklärte er und schwieg. Dieses Schweigen machte durch seine Dauer auf Bonadea einen Eindruck größerer Entschlossenheit, als ihm vielleicht durch seinen Inhalt zukam.
»Aber du bist ja pervers!« rief sie plötzlich im Ton einer warnenden Prophezeiung aus und sprang aus dem Bett, in Diotimas Weisheitsschule der Liebe zurückzueilen, deren Pforten der reuig Erfrischten ahnungslos offenstanden.

Am Abend dieses Tags traf ein Telegramm ein, und am nächsten Nachmittag Agathe.
Ulrichs Schwester kam nur mit wenigen Koffern an, so wie sie es sich ausgemalt hatte, alles hinter sich zu lassen; immerhin entsprach die Anzahl der Koffer nicht ganz dem Vorsatz: Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Als Ulrich von diesem Vorsatz erfuhr, lachte er darüber: sogar zwei Hutschachteln waren dem Feuer entronnen.
Agathes Stirn bekam den lieblichen Ausdruck einer Kränkung und vergeblichen Nachdenkens über sie.
Ob Ulrich recht hatte, als er den unvollkommenen Ausdruck eines Gefühls bemängelte, das groß und hinreißend gewesen war, blieb dabei ungewiß, denn Agathe verschwieg diese Frage; Fröhlichkeit und Unordnung, wie sie durch ihre Ankunft unwillkürlich erregt wurden, rauschten ihr in Ohren und Augen, wie ein Tanz um eine Blechmusik schwankt: sie war sehr heiter und fühlte sich leicht enttäuscht, obwohl sie nichts Bestimmtes erwartet und sich während der Reise sogar mit Absicht aller Erwartungen enthalten hatte. Sie wurde nur plötzlich sehr müde, als sie sich an die vergangene Nacht erinnerte, die sie durchwacht hatte. Es war ihr recht, daß ihr Ulrich nach einiger Zeit gestehen mußte, er habe, als die Nachricht von ihr eingetroffen sei, eine auf den heutigen Nachmittag gelegte Verabredung nicht mehr abändern können; er versprach, in einer Stunde wieder zurück zu sein, und bettete seine Schwester mit einer zum Lachen reizenden Umständlichkeit auf den Diwan, der in seinem Arbeitszimmer stand.
Als Agathe erwachte, war die Stunde längst schon um, und Ulrich fehlte. Das Zimmer war in tiefe Dämmerung getaucht und erschien ihr so fremd, daß sie über den Gedanken erschrak, sie befände sich doch mitten in dem von ihr erwarteten neuen Leben. Soviel sie wahrnehmen konnte, waren die Wände von Büchern bedeckt wie früher die ihres Vaters und die Tische mit Schriften. Sie schloß neugierig eine Tür auf und betrat den benachbarten Raum: Sie traf dort auf Kleiderschränke, Stiefelkasten, den Boxball, Hanteln, eine schwedische Leiter. Sie ging weiter und kam wieder zu Büchern. Sie gelangte zu den Wassern, Essenzen, Bürsten und Kämmen des Badezimmers, zu ihres Bruders Bett, zu dem jagdlichen Schmuck im Hausflur. Ihre Spur war durch aufflammendes und verlöschendes Licht gekennzeichnet, aber der Zufall wollte es, daß Ulrich nichts davon bemerkte, obwohl er schon im Hause war; er hatte den Vorsatz, sie zu wecken, aufgeschoben, um ihr länger Ruhe zu gönnen, und stieß nun mit ihr in der Treppenhalle zusammen, zu der er aus der wenig benutzten, unter der Erde gelegenen Küche emporkam. Er hatte sich dort nach einer Erfrischung für sie umgesehen, da es an diesem Tag kraft fehlender Voraussicht selbst an der notwendigsten Bedienung im Hause gebrach. Als sie nebeneinander standen, fühlte Agathe erst die bisher ohne Ordnung empfangenen Eindrücke sich zusammenfassen, und es geschah mit einem Unbehagen, das sie verzagt machte, als wäre es das beste, sogleich Fersengeld zu geben. Es war etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte.
Ulrich, der es bemerkte, entschuldigte sich dafür und gab scherzhafte Erklärungen. Er erzählte, wie er zu seiner Wohnung gekommen sei, und erläuterte deren Geschichte im einzelnen, mit den Hirschgeweihen beginnend, die er besaß, ohne auf die Jagd zu gehen, bis zum Boxball, den er vor Agathe tanzen ließ. Agathe sah sich alles mit beunruhigendem Ernst noch einmal an und wandte sogar jedesmal, wenn sie einen Raum verließen, prüfend den Kopf zurück: Ulrich wollte dieses Examen ergötzlich finden, aber mit der Wiederholung wurde ihm seine Wohnung dadurch peinlich. Es zeigte sich, was sonst von Gewohnheit verdeckt war, daß er nur die nötigsten Räume bewohnte und die übrigen wie ein nachlässiger Aufputz an diesen hingen. Als sie nach dem Rundgang beisammen saßen, fragte Agathe: »Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?«
Ihr Bruder versorgte sie mit Tee und allem, was das Haus bot, und ließ es sich nicht nehmen, sie wenigstens nachträglich wirtlich zu empfangen, damit diese zweite Begegnung an leiblicher Aufmerksamkeit nicht hinter der ersten zurückstehe. Hin und her laufend, beteuerte er: »Ich habe alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt.« »Aber es ist ja doch alles sehr hübsch« tröstete ihn jetzt Agathe.
Nun meinte Ulrich, daß es anders wahrscheinlich noch schlechter ausgefallen wäre. »Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind« erklärte er. »Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!«
Und Agathe sagte: »Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.«
»Trotzdem kann es ja so nicht bleiben« berichtigte Ulrich. Er saß jetzt bei ihr am Tisch, und schon damit, daß sie nun immer gemeinsam essen sollten, waren eine Menge Fragen verbunden. Er war eigentlich erstaunt über die Erkenntnis, daß nun wirklich vieles anders werden müsse; er empfand es als eine ganz ungewohnte Leistung, die ihm abverlangt wurde, und hatte anfangs den Eifer des Neulings. »Ein Mensch allein« entgegnete er auf die nachsichtige Bereitwilligkeit seiner Schwester, alles zu lassen, wie es sei »kann eine Schwäche haben: sie geht zwischen seine übrigen Eigenschaften ein und in ihnen unter. Aber wenn zwei eine Schwäche teilen, so bekommt sie im Vergleich mit den nicht gemeinsamen Eigenschaften das doppelte Gewicht und nähert sich einem gewollten Bekenntnis.«
Agathe konnte das nicht finden.
»Mit einem andern Wort, wir dürfen doch als Geschwister manches nicht tun, was wir uns als Einzelne gestattet haben; gerade darum sind wir ja zusammengekommen.«
Das gefiel Agathe. Dennoch tat ihr die verneinende Fassung, daß man bloß beisammen wäre, um etwas nicht zu tun, nicht genug, und nach einer Weile fragte sie, auf seine von vornehmen Lieferanten zusammengetragene Einrichtung zurückkommend: »Ich verstehe es doch noch nicht ganz. Warum hast du dich eigentlich so eingerichtet, wenn du es nicht richtig gefunden hast?«
Ulrich empfing ihren heiteren Blick und betrachtete dabei ihr Gesicht, das ihm über dem etwas zerknitterten Reisekleid, das sie noch anhatte, plötzlich silberglatt vorkam und so wunderlich gegenwärtig, daß es ebenso nahe wie weit von ihm war oder daß sich Nähe und Ferne in dieser Gegenwart aufhoben, so wie der Mond aus Himmelsweiten plötzlich hinter dem Dach des Nachbarn erscheint. »Warum ich es getan habe?« erwiderte er lächelnd. »Ich weiß es nicht mehr. Wahrscheinlich, weil man es ebensogut anders hätte machen können. Ich habe keine Verantwortung gefühlt. Weniger sicher wäre es, wenn ich dir erklären wollte, daß die Unverantwortlichkeit, in der wir heute unser Leben führen, schon die Stufe zu einer neuen Verantwortung sein könnte.«
»Auf welche Art?«
»Ach, auf vielerlei Art. Du weißt doch: das Leben einer einzelnen Person ist vielleicht nur eine kleine Schwankung um den wahrscheinlichsten Durchschnittswert einer Serie. Und ähnliches.«
Agathe hörte nur das, was ihr daran klar war. Sie sagte: »Dabei kommt ›Recht hübsch‹ und ›Sehr hübsch‹ heraus. Man spürt es bald nicht mehr, wie abscheulich man lebt. Aber manchmal ist es gruselig, als ob man scheintot in einer Leichenhalle aufwachte!«
»Wie warst denn du eingerichtet?« fragte Ulrich.
»Spießerisch. Hagauerisch. ›Ganz hübsch.‹ Ebenso unecht wie du!«
Ulrich hatte indes einen Bleistift genommen und entwarf damit auf dem Tischtuch den Grundriß des Hauses und eine Neueinteilung der Räume. Das ging leicht und war so rasch getan, daß Agathes hausmütterliche Bewegung, das Tuch zu schützen, zu spät kam und zwecklos auf seiner Hand endete. Die Schwierigkeiten stellten sich erst wieder bei den Grundsätzen der Einrichtung ein. »Wir haben nun einmal ein Haus« verwahrte sich Ulrich »und müssen es für uns beide anders einrichten; aber im ganzen ist diese Frage heute überholt und müßig. ›Ein Haus machen‹ täuscht eine Schauseite vor, hinter der sich nichts mehr befindet; die sozialen und persönlichen Verhältnisse sind nicht mehr fest genug für Häuser, es bereitet keinem Menschen mehr ein ehrliches Vergnügen, Dauer und Beharrung nach außen darzustellen. Früher einmal hat man das getan und durch die Zahl der Zimmer und Diener und Gäste gezeigt, wer man sei. Heute fühlt fast jeder, daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist, und die jungen Leute lieben entweder die nackte Einfachheit, die wie ein unmöbliertes Theater ist, oder sie träumen von Schrankkoffern und Bobmeisterschaft, vom Tennischampionat und vom Luxushotel an der Autokarawanenstraße mit Golflandschaft und fließender Musik zum Auf- und Zudrehen in den Zimmern.« So sprach er, und tat es ziemlich unterhaltungsmäßig, als hätte er eine Fremde vor sich; er redete sich eigentlich an die Oberfläche empor, weil ihn die Verbindung von Endgültigkeit und Anfänglichkeit in diesem Beisammensein verlegen machte.
Aber nachdem sie ihn hatte zu Ende reden lassen, fragte seine Schwester: »Schlägst du also vor, daß wir im Hotel leben sollen?«
»Ganz gewiß nicht!« beeilte sich Ulrich zu versichern. »Höchstens hie und da auf Reisen.«
»Und für die übrige Zeit wollen wir uns eine Laubhütte auf einer Insel oder eine Blockhütte im Gebirge baun?«
»Wir werden uns natürlich hier einrichten« antwortete Ulrich ernster, als es diesem Gespräch zukam. Die Unterhaltung verstummte eine kleine Weile, er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Agathe tat, als hätte sie etwas an dem Saum ihres Kleides zu schaffen, und bog den Kopf aus der Linie, auf der sich ihrer beider Blicke bisher vereinigt hatten. Plötzlich blieb Ulrich stehn und sagte mit einer Stimme, die schwer hervorkam, aber aufrichtig war: »Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle ›wie soll ich leben?‹«
Auch Agathe hatte sich erhoben, sah ihn aber noch immer nicht an. Sie zuckte die Achseln. »Man muß es versuchen!« sagt sie. Das Blut war ihr in die Stirn gestiegen; als sie den Kopf hob, waren ihre Augen aber blank und übermütig, und nur auf den Wangen zögerte die Röte als davonziehende Wolke. »Wenn wir beisammen bleiben wollen,« erklärte sie »wirst du mir vor allem auspacken, einräumen und umkleiden helfen müssen, denn ich habe nirgends ein Hausmädchen gesehn!«
Das schlechte Gewissen fuhr ihrem Bruder nun wieder in Arme und Beine und machte sie galvanisch beweglich, unter Agathes Anleitung und Mithilfe seine Unachtsamkeit gutzumachen. Er räumte Schränke aus, wie ein Jäger ein Tier ausweidet, und verließ sein Schlafzimmer mit dem Schwur, daß es Agathe gehöre und er selbst irgendwo einen Diwan finden werde. Lebhaft trug er die Gegenstände des täglichen Bedarfs hin und her, die bisher still wie die Blumen eines Ziergartens auf ihren Plätzen gelebt hatten, der wählenden Hand als einziger Veränderung ihres Schicksals gewärtig. Anzüge häuften sich auf Stühlen, auf den Glasborden des Badezimmers wurde durch sorgfältiges Zusammenschieben aller der Körperpflege dienenden Geräte eine Herren- und eine Damenabteilung geschaffen; als alle Ordnung einigermaßen in Unordnung gebracht war, standen schließlich nur noch die leuchtenden Lederpantoffeln Ulrichs verlassen auf der Erde und sahen aus wie ein gekränkter Schoßhund, der aus seinem Körbchen geworfen worden ist, ein Jammerbild der zerstörten Bequemlichkeit in ihrer so angenehmen wie nichtigen Natur. Es fand sich aber nicht Zeit, davon berührt zu werden, denn schon kamen nun Agathens Koffer an die Reihe, und sowenig ihrer gewesen zu sein schienen, so unerschöpflich waren sie an fein zusammengefalteten Dingen, die sich im Hervorgehn ausbreiteten und an der Luft nicht anders aufblühten als die Hunderte Rosen, die ein Zauberer aus seinem Hut zieht. Sie mußten aufgehängt und gelegt, geschüttelt und geschichtet werden, und weil Ulrich auch da mithalf, geschah es mit Zwischenfällen und Lachen.
Bei allen diesen Beschäftigungen konnte er aber eigentlich nichts anderes denken als ununterbrochen das eine, daß er sein Leben lang und noch vor wenigen Stunden allein gewesen sei. Und nun war Agathe da. Dieser kleine Satz: »Agathe ist jetzt da« wiederholte sich in Wellen, erinnerte an das Staunen eines Knaben, dem ein Spielzeug geschenkt worden ist, hatte etwas den Geist Hemmendes an sich, aber anderseits auch eine schier unbegreifliche Fülle an Gegenwart, und führte, alles in allem, immer wieder auf den kleinen Satz zurück: »Agathe ist jetzt da.« »Sie ist also groß und schlank?« dachte Ulrich und beobachtete sie heimlich. Aber das war sie gar nicht: sie war kleiner als er und in den Schultern von einer gesunden Breite. »Ist sie anmutig?« fragte er sich. Das ließ sich nun auch nicht sagen: ihre stolze Nase zum Beispiel war, von der einen Seite gesehn, ein wenig aufgebogen; davon ging ein weit kräftigerer Reiz aus als Anmut. »Ob sie am Ende schön ist?« fragte sich Ulrich in einer etwas wunderlichen Weise. Denn diese Frage fiel ihm nicht leicht, obwohl Agathe, wenn man alles Konventionelle beiseite ließ, eine fremde Frau für ihn war. Ein inneres Verbot, eine Blutsverwandte nicht mit männlicher Liebe anzusehn, gibt es ja nicht, das ist nur Sitte oder auf Umwegen der Moral und Hygiene begründbar; auch hatte der Umstand, daß sie nicht gemeinsam erzogen worden waren, zwischen Ulrich und Agathe das sterilisierte Geschwisterempfinden, wie es in der europäischen Familie herrscht, am Entstehen verhindert: trotzdem genügte schon das Herkommen, ihre Empfindungen für einander, auch die arglose der nur gedachten Schönheit, anfangs einer äußersten Spitze zu berauben, deren Fehlen Ulrich in diesem Augenblick an seiner deutlichen Verblüffung spürte. Etwas schönfinden, heißt ja wahrscheinlich vor allem, es finden: mag es eine Landschaft oder eine Geliebte sein, da liegt es, blickt dem geschmeichelten Finder entgegen und scheint einzig und allein nur auf ihn gewartet zu haben; und so, mit diesem Entzücken darüber, daß sie nun ihm gehöre und von ihm entdeckt sein wollte, gefiel ihm seine Schwester wohl über alle Maßen, aber er dachte doch: »Wahrhaft schön finden, kann man seine eigene Schwester nicht, es kann höchstens schmeicheln, daß sie anderen gefällt.« Aber dann hörte er, wo früher Stille war, minutenlang ihre Stimme, und wie war ihre Stimme? Wellen von Duft begleiteten die Bewegung ihrer Kleider, und wie war dieser Geruch? Ihre Bewegungen waren bald Knie, bald zarter Finger, bald Widerspenstigkeit einer Locke. Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. Es war da, wo zuvor nichts gewesen war. Der Unterschied an Eindringlichkeit zwischen dem lebhaftesten Augenblick, wo Ulrich an seine zurückgelassene Schwester gedacht hatte, und dem leersten der gegenwärtigen Augenblicke bedeutete noch eine so große und deutliche Annehmlichkeit, wie wenn ein schattiger Platz von der Sonne mit Wärme und dem Duft sich öffnender Kräuter erfüllt wird!
Auch Agathe gewahrte, daß ihr Bruder sie beobachtete, aber sie ließ es ihn nicht wissen. In den Augenblicken des Verstummens, wo sie fühlte, wie sein Blick ihren Bewegungen folgte, während Rede und Antwort nicht so sehr aussetzten, als es schien, sie glitten wie ein Fahrzeug mit abgestopptem Motor über eine tiefe und unsichere Stelle, genoß auch sie die Übergegenwart und ruhige Heftigkeit, die mit der Wiedervereinigung verbunden waren. Und als Auspacken und Einräumen beendet und Agathe im Bad allein war, entwickelte sich daraus ein Abenteuer, das wie der Wolf in diese friedliche Augenweide einbrechen wollte, denn sie hatte sich bis auf die Wäsche in einem Zimmer entkleidet, wo nun Ulrich, Zigaretten rauchend, über ihrer Verlassen schaft wachte. Vom Wasser umspült, überlegte sie, was sie tun solle. Bedienung gab es keine, Läuten war voraussichtlich ebenso vergeblich wie Rufen, und es blieb scheinbar nichts übrig, als in Ulrichs an der Wand hängenden Bademantel gehüllt an die Tür zu klopfen und ihn aus dem Zimmer zu schicken. Aber Agathe zweifelte fröhlich, ob es bei der ernsten Vertraulichkeit, die zwischen ihnen zwar noch nicht lebte, aber doch soeben geboren würde, erlaubt sei, sich so wie eine junge Dame zu betragen und Ulrichs Rückzug zu erflehen, und sie beschloß, keine zweideutige Weiblichkeit anzuerkennen und als das natürliche Duwesen, das sie ihm auch in spärlicher Bekleidung zu bedeuten hatte, vor ihm zu erscheinen.
Als sie aber entschlossen bei ihm eintrat, fühlten doch beide eine unerwartete Bewegung des Herzens. Sie trachteten beide nicht verlegen zu werden. Sie konnten die natürliche Folgewidrigkeit, die an der See fast die Nacktheit gestattet, im Zimmer aber den Saumweg am Rand von Hemd oder Höschen zum Schmuggelpfad der Romantik macht, beide einen Augenblick lang nicht von sich abstreifen. Ulrich lächelte unbeholfen, als Agathe, mit dem Licht des Vorraumes hinter sich, in der geöffneten Tür wie eine von batistenem Rauch leicht umhüllte Silberstatue anzusehen war; und sie verlangte mit einer Stimme, deren Unbefangenheit sie viel zu stark ansetzte, nach Strümpfen und Kleid, die sich aber erst im nächsten Zimmer vorfanden. Ulrich führte seine Schwester dahin, und sie schritt zu seinem heimlichen Entzücken ein wenig zu knabenhaft aus, mit einer Art Trotz selbst davon kostend, so wie es Frauen leicht tun, wenn sie sich nicht von ihren Röcken geschützt fühlen. Dann ergab sich etwas Neues, als Agathe ein wenig später halb in ihrem Kleid stak und halb darin stecken geblieben war, denn nun wurde Ulrich zu Hilfe gerufen. Sie empfand, während er in ihrem Rücken hantierte, ohne schwesterliche Eifersucht, ja mit einer Art Annehmlichkeit, daß er sich vorzüglich in Frauenkleidern zurechtfinde, und sie selbst rührte sich mit lebhaften, von der Natur des Vorgangs geforderten Gebärden.
Ulrich fühlte sich dabei, nahe an die bewegte zarte und doch satte Haut ihrer Schultern gebeugt und aufmerksam dem ungewohnten Geschäft ergeben, bei dem sich ihm die Stirn rötete, von einer Empfindung umschmeichelt, die sich nicht recht in Worte fassen ließ, man hätte denn sagen müssen, daß sein Körper ebenso davon angegriffen wurde, daß er eine Frau, wie daß er keine Frau in nächster Nähe vor sich habe; aber man hätte ebensogut auch sagen können, daß er zwar ohne zu zweifeln in seinen eigenen Schuhen stand, sich aber dennoch aus sich hinübergezogen fühlte, als sei ihm da selbst ein zweiter, weit schönerer Körper zu eigen gegeben worden.
Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, war darum das erste, was er seiner Schwester sagte: »Ich weiß jetzt, was du bist: Du bist meine Eigenliebe!« Es klang wohl wunderlich, aber er beschrieb damit wirklich das, was ihn bewegte. »Mir hat eine richtige Eigenliebe, wie sie andere Menschen so stark besitzen, in gewissem Sinn immer gefehlt« erläuterte er. »Und nun ist sie offenbar, durch Irrtum oder Schicksal, in dir verkörpert gewesen, statt in mir selbst!« fügte er ohneweiters hinzu.
Es war sein erster Versuch an diesem Abend, die Ankunft seiner Schwester in einem Urteil festzuhalten.

Später am Abend kam er noch einmal darauf zurück.
»Du mußt wissen,« begann er seiner Schwester zu erzählen »daß ich eine Art von Eigenliebe nicht kenne, ein gewisses zärtliches Verhältnis zu mir selbst, das scheinbar den meisten anderen Menschen natürlich ist. Ich weiß nicht, wie ich das am besten beschreibe. Ich könnte zum Beispiel sagen, daß ich immer Geliebte gehabt habe, zu denen ich in einem Mißverhältnis stand. Sie sind Illustrationen zu plötzlichen Einfällen gewesen, Karikaturen meiner Laune: also eigentlich nur Beispiele meines Unvermögens, in natürliche Beziehungen zu anderen Menschen zu treten. Schon das hängt damit zusammen, wie man sich zu sich selbst verhält. Im Grunde genommen, habe ich mir immer Geliebte ausgesucht, die ich nicht mochte –«
»Aber damit hast du doch nur recht!« unterbrach ihn Agathe. »Wenn ich ein Mann wäre, ich würde mir gar kein Gewissen daraus machen, mit den Frauen aufs unzuverlässigste umzugehn. Ich würde sie auch nur aus Zerstreutheit und Staunen begehren!«
»Ja? Würdest du? Das ist nett von dir!«
»Sie sind lächerliche Schmarotzer. Gemeinsam mit dem Hund teilen sie das Leben des Mannes!« Agathe gab diese Versicherung nicht etwa mit sittlicher Entrüstung ab. Sie war angenehm müde, hielt die Augen geschlossen, hatte sich zeitig zur Ruhe begeben, und Ulrich, der gekommen war, sich von ihr zu verabschieden, sah sie an seiner Stelle im Bett liegen.
Es war aber auch das Bett, in dem sechsunddreißig Stunden früher Bonadea gelegen hatte. Wahrscheinlich kam Ulrich darum wieder auf seine Geliebten zurück. »Ich wollte damit aber nur auf das Unvermögen zu einem sanft begründeten Verhältnis mir selbst gegenüber hinauskommen« wiederholte er lächelnd: »Wenn ich etwas mit Anteil erleben soll, muß es als Teil eines Zusammenhangs geschehn, es muß unter einer Idee stehn. Das Erlebnis selbst möchte ich eigentlich lieber schon hinter mir, in der Erinnerung haben; der aktuelle Gefühlsaufwand dafür kommt mir unangenehm und lächerlich unangebracht vor. So ist es, wenn ich mich rücksichtslos dir zu beschreiben versuche. Und die ursprünglichste und einfachste Idee, wenigstens in jüngeren Jahren, ist schon die, daß man ein verfluchter und neuer Kerl sei, auf den die Welt gewartet habe. Aber über das dreißigste Jahr hält das nicht vor!« Er überlegte einen Augenblick und sagte dann: »Nein! Es ist so schwer von sich selbst zu reden: eigentlich müßte ich ja gerade sagen, daß ich nie unter einer dauernden Idee gestanden habe. Es fand sich keine. Eine Idee müßte man lieben wie eine Frau. Selig sein, wenn man zu ihr zurückkehrt. Und man hat sie immer in sich! Und sucht sie in allem außer sich! Solche Ideen habe ich nie gefunden. Ich bin immer in einem Mann-Mannesverhältnis zu den sogenannten großen Ideen gestanden; vielleicht auch zu den mit Recht so genannten: Ich glaubte mich nicht zur Unterordnung geboren, sie haben mich gereizt, sie zu stürzen und andere an ihre Stelle zu setzen. Ja, vielleicht bin ich gerade von dieser Eifersucht zur Wissenschaft geführt worden, deren Gesetze man in Gemeinschaft sucht und auch nicht für unverbrüchlich ansieht!« Wieder hielt er ein und lachte über sich oder seine Schilderung. »Aber sei das wie immer,« fuhr er ernst fort »jedenfalls habe ich es auf diese Weise, daß ich keine oder jede Idee mit mir verbinde, verlernt, das Leben wichtig zu nehmen. Es erregt mich eigentlich weit mehr, wenn ich es in einem Roman lese, wo es von einer Auffassung geschürzt ist; aber wenn ich es in seiner vollen Ausführlichkeit erleben soll, finde ich es immer schon veraltet und altmodisch-ausführlich und im Gedankengehalt überholt. Ich glaube auch nicht, daß das an mir liegt. Denn die meisten Menschen sind heute ähnlich. Zwar täuschen sich viele eine dringliche Lebensfreude vor, nach der Art, wie man die Volksschulkinder lehrt, munter durch die Blümelein zu springen, aber es ist immer eine gewisse Absichtlichkeit dabei, und sie fühlen das. In Wahrheit können sie einander ebenso kaltblütig morden, wie herzlich miteinander auskommen. Unsere Zeit nimmt die Geschehnisse und Abenteuer, von denen sie voll ist, ja sicher nicht ernst. Geschehen sie, so erregen sie. Sie stiften dann auch sogleich neue Geschehnisse, ja eine Art Blutrache von solchen, ein Zwangsalphabet des B- bis Z-Sagens, weil man A gesagt hat. Aber diese Geschehnisse unseres Lebens haben weniger Leben als ein Buch, weil sie keinen zusammenhängenden Sinn haben.«
So sprach Ulrich. Locker. Wechselnd in der Stimmung. Agathe gab keine Antwort; sie hielt noch immer die Augen geschlossen, lächelte aber.
Ulrich sagte: »Ich weiß nicht mehr, was ich dir erzähle. Ich glaube, ich finde nicht mehr zum Anfang zurück.«
Sie schwiegen eine Weile. Er konnte ausführlich das Gesicht seiner Schwester betrachten, das nicht vom Blick ihrer Augen verteidigt war. Es lag als ein Stück nackten Körpers da, wie Frauen, wenn sie im Frauenbad beisammen sind. Der weibliche unbewachte, natürliche Zynismus dieses nicht für den Mann berechneten Anblicks übte noch immer eine ungewohnte Wirkung auf Ulrich aus, wenn es auch längst nicht mehr jene heftige war wie in den ersten Tagen ihres ersten Beisammenseins, als Agathe gleich ihr Schwesterrecht forderte, möglichst ohne jede seelische Verblümung mit ihm zu sprechen, da er für sie nicht ein Mann wie andere sei. Er erinnerte sich an die mit Schreck vermischte Überraschung, die es ihm als Knaben bereitet hatte, wenn er auf der Straße eine Schwangere oder eine Frau sah, die ihr Kind an der Brust saugen ließ: sorgsam dem Knaben entzogene Geheimnisse wölbten sich dann plötzlich prall und unbefangen in der Sonne. Und vielleicht hatte er lange Zeit Reste solcher Eindrücke mit sich getragen, denn plötzlich war ihm zumute, als fühlte er jetzt ganz frei von ihnen. Daß Agathe Frau war und schon manches hinter sich haben mußte, schien ihm eine angenehme und bequeme Vorstellung zu sein; man mußte sich nicht so in acht nehmen wie bei einem jungen Mädchen, wenn man mit ihr sprach, ja es kam ihm rührend natürlich vor, daß bei einer Frau alles schon moralisch schlaffer sei. Er hatte auch das Bedürfnis, sie in Schutz zu nehmen und durch irgendeine Güte für irgendetwas zu entschädigen. Er nahm sich vor, alles für sie zu tun, was er nur könne. Er nahm sich sogar vor, wieder einen Mann für sie zu suchen. Und dieses Bedürfnis nach Güte gab ihm, kaum daß er es merkte, den verlorenen Faden des Gesprächs zurück.
»Wahrscheinlich verändert sich in den Jahren der Geschlechtsreifung unsere Eigenliebe« sagte er ohne Übergang. »Denn da wird eine Wiese von Zärtlichkeit, in der man bis dahin gespielt hat, abgemäht, um Futter für einen bestimmten Trieb zu gewinnen.«
»Damit die Kuh Milch gibt!« ergänzte Agathe nach einer kleinsten Zeit ungezogen und würdevoll, aber ohne die Augen zu öffnen.
»Ja, das hängt wohl alles zusammen« meinte Ulrich und fuhr fort: »Es gibt also einen Augenblick, wo unser Leben fast alle seine Zärtlichkeit verliert, und diese zieht sich auf jene einzige Ausübung zusammen, die dann damit überladen bleibt: Kommt dir das nicht auch so vor, als ob überall auf der Erde eine entsetzliche Dürre herrschte, während es an einem einzigen Ort unaufhörlich regnete?!«
Agathe sagte: »Mir kommt es vor, daß ich meine Kinderpuppen mit einer Heftigkeit geliebt habe wie nie einen Mann. Als du abgereist warst, habe ich am Dachboden eine Kiste mit meinen alten Puppen gefunden.«
»Was hast du damit getan?« fragte Ulrich. »Hast du sie verschenkt?«
»Wem hätte ich sie schenken sollen? Ich habe sie im Herdfeuer bestattet« erzählte sie.
Ulrich entgegnete lebhaft: »Wenn ich mich an meine früheste Zeit erinnere, so möchte ich sagen, daß damals Innen und Außen kaum noch getrennt waren. Wenn ich auf etwas zu kroch, kam es auf Flügeln zu mir her; und wenn sich etwas ereignete, das uns wichtig war, so wurden davon nicht etwa bloß wir erregt, sondern die Dinge selbst begannen zu kochen. Ich will nicht behaupten, daß wir dabei glücklicher gewesen sind als später. Wir besaßen uns ja noch nicht selbst; eigentlich waren wir überhaupt noch nicht, unsere persönlichen Zustände waren noch nicht deutlich von denen der Welt abgeschieden. Es klingt sonderbar, und ist doch wahr, wenn ich sage, unsere Gefühle, unsere Willnisse, ja wir selbst waren noch nicht ganz in uns darin. Noch sonderbarer ist, daß ich ebenso gut sagen könnte: waren noch nicht ganz von uns entfernt. Denn wenn du dich heute, wo du ganz im Besitz deiner selbst zu sein glaubst, ausnahmsweise einmal fragen solltest, wer du eigentlich seist, wirst du diese Entdeckung machen. Du wirst dich immer von außen sehn wie ein Ding. Du wirst gewahren, daß du bei einer Gelegenheit zornig wirst und bei einer anderen traurig, so wie dein Mantel das eine Mal naß und das andre Mal heiß ist. Mit aller Beobachtung wird es dir höchstens gelingen, hinter dich zu kommen, aber niemals in dich. Du bleibst außer dir, was immer du unternimmst, und es sind davon gerade nur jene wenigen Augenblicke ausgenommen, wo man von dir sagen würde, du seist außer dir. Zur Entschädigung haben wir es allerdings als Erwachsene dahin gebracht, bei jeder Gelegenheit denken zu können ›Ich bin‹, falls uns das Spaß macht. Du siehst einen Wagen, und irgendwie siehst du schattenhaft dabei auch: ›ich sehe einen Wagen‹. Du liebst oder bist traurig und siehst, daß du es bist. In vollem Sinn ist aber weder der Wagen, noch ist deine Trauer oder deine Liebe, noch bist du selbst ganz da. Nichts ist mehr ganz so da, wie es in der Kindheit einmal gewesen ist. Sondern es ist alles, was du berührst, bis an dein Innerstes verhältnismäßig erstarrt, sobald du es erreicht hast eine ›Persönlichkeit‹ zu sein, und übriggeblieben ist, umhüllt von einem durch und durch äußerlichen Sein, ein gespenstiger Nebelfaden der Selbstgewißheit und trüber Selbstliebe. Was ist da nicht in Ordnung? Man hat das Gefühl, irgend etwas wäre noch rückgängig zu machen! Man kann doch nicht behaupten, daß ein Kind ganz anders erlebe als ein Mann! Ich weiß keine entscheidende Antwort darauf, wenn es auch diesen und jenen Gedanken darüber geben mag. Aber seit langem habe ich es in der Weise beantwortet, daß ich die Liebe zu dieser Art Ichsein und dieser Art Welt verloren habe.«
Es war Ulrich angenehm, daß ihm Agathe zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen, denn er erwartete ebensowenig eine Antwort von ihr wie von sich selbst und war überzeugt, daß eine Antwort, wie er sie meine, gegenwärtig niemand geben könne. Trotzdem befürchtete er nicht einen Augenblick, wovon er rede, könnte etwa für sie zu schwierig sein. Er betrachtete es nicht als ein Philosophieren und glaubte nicht einmal einen ungewöhnlichen Gesprächsstoff zu behandeln, so wenig wie sich ein junger Mensch, dem er in dieser Lage glich, durch die Schwierigkeit des Ausdrucks davon abhalten läßt, alles einfach zu finden, wenn er, von einem anderen angeregt, die ewigen Fragen »Wer bist du? So bin ich« mit ihm tauscht. Er entnahm die Sicherheit, daß ihm seine Schwester Wort für Wort zu folgen vermöge, ihrem Dasein und nicht einem Denken. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht, und darin war etwas, das ihn glücklich machte. Dieses Gesicht mit geschlossenen Augen war ganz ohne Rückstoß. Es übte eine grundlose Anziehung auf ihn aus; auch in jener Weise, als zöge es in eine nirgends endende Tiefe. Er fand, in den Anblick dieses Gesichts versinkend, nirgends den Bodenschlamm der aufgelösten Widerstände, an dem sich ein in die Liebe Getauchter abstößt, um wieder empor zur Trockenheit zu kommen. Aber da er es gewohnt war, die Neigung zur Frau als eine gewaltsam umgekehrte Abneigung gegen den Menschen zu erleben, was – wenn er es auch mißbilligte – eine gewisse Sicherheit verbürgt, sich nicht in ihr zu verlieren, erschreckte ihn die reine Geneigtheit, in der er sich neugierig immer tiefer neigte, fast wie eine Gleichgewichtsstörung, so daß er bald diesem Zustand auswich und vor Glück zu einem etwas jungenhaften Scherz seine Zuflucht nahm, um Agathe ins alltägliche Leben zurückzurufen: mit dem vorsichtigsten Griff, dessen er fähig war, versuchte er, ihr die Augen zu öffnen. Agathe schlug sie lachend auf und rief aus: »Dafür, daß ich deine Eigenliebe sein soll, gehst du recht grob mit mir um!«
Diese Antwort war ebenso jungenhaft wie sein Angriff, und ihre Blicke stemmten sich übertrieben gegeneinander wie zwei Knaben, die balgen möchten, aber vor Heiterkeit nicht können. Plötzlich ließ das Agathe jedoch und fragte ernst: »Kennst du den Mythos, den Platon irgendwelchen älteren Vorbildern nacherzählt, daß der ursprüngliche ganze Mensch von den Göttern in zwei Teile geteilt worden sei, in Mann und Weib?« Sie hatte sich auf den Ellbogen aufgerichtet und wurde unerwartet rot, denn sie kam sich nachträglich mit der Frage, ob Ulrich diese wahrscheinlich allgemein bekannte Geschichte kenne, etwas unklug vor. Kurz entschlossen, fügte sie darum hinzu: »Nun stellen die unseligen Hälften allerhand Dummheiten an, um wieder ineinander zu fahren: Das steht in allen Schulbüchern für den höheren Unterricht; leider steht nicht darin, warum es nicht gelingt!«
»Das kann ich dir sagen« fiel Ulrich ein, glücklich zu erkennen, wie genau sie verstanden habe. »Kein Mensch weiß doch, welche von den vielen umherlaufenden Hälften die ihm fehlende ist. Er ergreift eine, die ihm so vorkommt, und macht die vergeblichsten Anstrengungen, mit ihr eins zu werden, bis sich endgültig zeigt, daß es nichts damit ist. Entsteht ein Kind daraus, so glauben beide Hälften durch einige Jugendjahre, sie hätten sich wenigstens im Kind vereint; aber das ist bloß eine dritte Hälfte, die bald das Bestreben merken läßt, sich von den beiden anderen möglichst weit zu entfernen und eine vierte zu suchen. So ›hälftet‹ sich die Menschheit physiologisch weiter, und die wesenhafte Einung steht wie der Mond vor dem Schlafzimmerfenster.«
»Man sollte denken, daß Geschwister doch den halben Weg schon zurückgelegt haben müßten!« warf Agathe mit einer rauh gewordenen Stimme ein. »Zwillinge vielleicht.«
»Sind wir nicht Zwillinge?«
»Sicher!« Ulrich wich plötzlich aus. »Zwillinge sind selten; Zwillinge verschiedenen Geschlechts sind eine ganz große Seltenheit; wenn sie aber noch dazu verschieden alt sind und sich die längste Zeit kaum gekannt haben, so bildet das eine Sehenswürdigkeit, die unser wirklich würdig ist!« erklärte er und strebte in eine seichtere Heiterkeit zurück.
»Wir sind aber als Zwillinge zusammengetroffen!« forderte Agathe unbeeinflußt.
»Weil wir unerwartet ähnlich angezogen waren?«
»Vielleicht. Und überhaupt! Du kannst ja sagen, daß es Zufall gewesen sei; aber was ist Zufall? Ich glaube, gerade er ist Schicksal oder Schickung oder wie du das nennen magst. Ist es dir nie zufällig vorgekommen, daß du gerade als du geboren worden bist? Doppelt so viel ist es, daß wir Geschwister sind!« So führte es Agathe aus, und Ulrich unterwarf sich dieser Weisheit. »Wir erklären uns also als Zwillinge!« stimmte er bei. »Symmetrische Geschöpfe der Naturlaune, werden wir fortab gleich alt, gleich groß, gleichen Haares, in gleich gestreiften Kleidern und mit der gleichen Schleife unter dem Kinn durch die Gasse der Menschen wandeln; ich mache dich aber aufmerksam, daß sie uns halb gerührt und halb spöttisch nachblicken werden, wie es immer geschieht, wenn sie etwas an die Geheimnisse ihres Werdens erinnert.«
»Wir können uns ja auch gerade entgegengesetzt kleiden« entgegnete Agathe belustigt. »Gelb der eine, wenn der andere blau ist, oder rot neben grün, und das Haar können wir violett oder purpurn färben, und ich mache mir einen Buckel und du dir einen Bauch: und trotzdem sind wir Zwillinge!«
Aber der Scherz war ausgeschöpft, der Vorwand verbraucht, sie verstummten eine Weile. »Weißt du,« sagte Ulrich dann plötzlich »daß es eine sehr ernste Angelegenheit ist, von der wir sprechen?!« – Kaum hatte er das gesagt, als seine Schwester wieder den Fächer der Wimpern über die Augen senkte und mit dahinter versteckter Bereitschaft ihn allein sprechen ließ. Vielleicht sah es auch nur so aus, als ob sie die Augen schlösse. Das Zimmer war dunkel, das Licht, das brannte, verdeutlichte weniger, als daß es sich in hellen Flächen über alle Umrisse ergoß. Ulrich hatte gesagt: »So wie an den Mythos vom Menschen, der geteilt worden ist, könnten wir auch an Pygmalion, an den Hermaphroditen oder an Isis und Osiris denken: es bleibt doch immer in verschiedener Weise das gleiche. Dieses Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht ist uralt. Es will die Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen, aber doch ein anderes als wir sein soll, eine Zaubergestalt, die wir sind, die aber doch eben auch eine Zaubergestalt bleibt und vor allem, was wir uns bloß ausdenken, den Atem der Selbständigkeit und Unabhängigkeit voraushat. Unzählige Male ist dieser Traum vom Fluidum der Liebe, das sich, unabhängig von den Beschränkungen der Körperwelt, in zwei gleichverschiedenen Gestalten begegnet, schon in einsamer Alchimie den Retorten der menschlichen Köpfe entstiegen –«
Dann hatte er gestockt; ersichtlich war ihm etwas eingefallen, das ihn störte, und er hatte mit den beinahe unfreundlichen Worten geschlossen: »Selbst unter den alltäglichsten Verhältnissen der Liebe finden sich ja noch Spuren davon: in dem Reiz, der mit jeder Veränderung und Verkleidung verbunden ist, wie in der Bedeutung der Übereinstimmung und Ichwiederholung im anderen. Der kleine Zauber bleibt sich gleich, ob man eine Dame zum erstenmal nackt sieht oder ein nacktes Mädel zum erstenmal im hochgeschlossenen Kleid, und die großen, rücksichtslosen Liebesleidenschaften sind alle damit verbunden, daß sich ein Mensch einbildet, sein geheimstes Ich spähe ihn hinter den Vorhängen fremder Augen an.«
Es klang, als bäte er sie damit, was sie sprächen, nicht zu überschätzen. Agathe aber dachte noch einmal an das blitzhafte Gefühl der Überraschung, das sie empfunden hatte, als sie einander, in ihren Hausanzügen gleichsam verkleidet, zum erstenmal begegnet waren. Und sie erwiderte: »Das gibt es nun also seit tausenden Jahren; ist es denn leichter zu verstehn, wenn man es aus zwei Täuschungen erklärt?!«
Ulrich schwieg.
Und nach einer Weile sagte Agathe erfreut: »Aber im Schlaf ist es trotzdem so! Da sieht man sich doch manchmal auch in etwas anderes verwandelt. Oder begegnet sich als ein Mann. Und dann ist man so gut zu ihm wie nie zu sich selbst. Du wirst wahrscheinlich sagen, daß das sexuelle Träume seien; aber mir kommt eher vor, daß es viel ältere sind.«
»Hast du oft solche Träume?« fragte Ulrich.
»Manchmal; selten.«
»Ich beinahe nie« gestand er. »Es ist ewig lange her, daß ich so geträumt habe.«
»Und doch hast du mir einmal erklärt,« sagte nun Agathe »ich meine recht zu Anfang muß es gewesen sein, noch dort im alten Haus –, daß der Mensch vor Jahrtausenden wirklich andre Erlebnisse gekannt hat!«
»Ach, du meinst das ›gebende‹ und das ›nehmende‹ Sehen?« erwiderte Ulrich und lächelte, obgleich es ja Agathe nicht sah. »Das ›Umfangen werden‹ und ›Umfangen‹ des Geistes? Ja, von dieser geheimnisvollen Doppelgeschlechtlichkeit der Seele hätte ich natürlich auch sprechen müssen! Wovon übrigens nicht?! In allem spukt etwas davon. Selbst in jeder Analogie steckt ja ein Rest des Zaubers, gleich und nicht gleich zu sein. Aber hast du nicht bemerkt: in allen diesen Verhaltensweisen, von denen wir gesprochen haben, im Traum, in Mythos, Gedicht, Kindheit und selbst in der Liebe, ist der größere Anteil des Gefühls doch durch einen Mangel an Verständigkeit erkauft, und das heißt: durch einen Mangel an Wirklichkeit?«
»Du glaubst also nicht wirklich daran?« fragte Agathe.
Darauf antwortete Ulrich nicht. Aber nach einer Weile sagte er: »Wenn man es in die heillose heutige Ausdrucksweise übersetzt, so kann man das, was heute für jeden erschreckend gering ist, die perzentuelle Beteiligung des Menschen an seinen Erlebnissen und Taten nennen. Im Traum scheinen es hundert Prozente zu sein, im Wachen ist es kein halbes! Du hast es ja heute gleich an meiner Wohnung bemerkt; aber meine Beziehungen zu den Menschen, die du kennen lernen wirst, sind keine anderen. Ich habe das einmal – und wahrhaftig, wenn ich nicht irre, muß ich hinzufügen, daß es im Gespräch mit einer Frau geschehen ist, wo es sehr am Platz war – auch die Akustik der Leere genannt. Wenn eine Nadel in einem leer ausgeräumten Zimmer zu Boden fällt, hat der davon entstehende Lärm etwas Unverhältnismäßiges, ja Maßloses; aber ebenso ist es, wenn zwischen den Menschen Leere liegt. Man weiß dann nicht: schreit man, oder ist es totenstill? Denn alles Unrechte und Schiefe gewinnt die Anziehungskraft einer ungeheuren Versuchung, sobald man ihm im letzten nichts entgegensetzen kann. Findest du nicht auch? Aber verzeih,« unterbrach er sich »du wirst müde sein, und ich lasse dich nicht ruhn. Es scheint, ich fürchte, daß dir manches an meiner Umgebung und meinem Umgang mißfallen wird.«
Agathe hatte die Augen geöffnet. Nach der langen Verborgenheit drückte ihr Blick etwas ungemein schwer zu Bestimmendes aus, das Ulrich über seinen ganzen Körper sich mit Teilnahme ausbreiten fühlte. Er erzählte plötzlich wieder weiter: »Als ich jünger war, habe ich versucht, gerade darin eine Stärke zu sehn. Man hat dem Leben nichts entgegenzusetzen? Gut, so flieht das Leben vom Menschen weg in seine Werke! So ungefähr habe ich gedacht. Und es hat ja auch wohl etwas Gewaltiges auf sich mit der Lieblosigkeit und Verantwortungslosigkeit der heutigen Welt. Zumindest liegt darin etwas von einem Flegeljahrhundert, wie es schließlich in den Jahrhunderten ebenso wie in den Jahren des Wachstums vorkommen mag. Und wie jeder junge Mensch habe ich mich anfangs in Arbeit, in Abenteuer und Vergnügen gestürzt; es schien mir gleich zu sein, was man unternehme, sofern es nur mit vollem Einsatz geschehe. Erinnerst du dich, daß wir einmal über die ›Moral der Leistung‹ gesprochen haben? Sie ist das uns eingeborene Bild, nach dem wir uns richten. Aber je älter man wird, desto deutlicher erfährt man, daß dieses scheinbare Übermaß, diese Unabhängigkeit und Beweglichkeit in allem, diese Souveränität der treibenden Teile und der Teilantriebe – sowohl die deiner eigenen gegen dich wie die deine gegen die Welt – kurz, daß alles, was wir als ›Gegenwartsmenschen‹ für eine Kraft und uns auszeichnende Arteigentümlichkeit gehalten haben, im Grunde nichts ist als eine Schwäche des Ganzen gegenüber seinen Teilen. Mit Leidenschaft und Wille ist dagegen nichts auszurichten. Kaum willst du ganz und mitten in etwas sein, siehst du dich schon wieder an den Rand gespült: das ist heute das Erlebnis in allen Erlebnissen!«
Agathe mit den nun offenen Augen wartete darauf, daß sich in seiner Stimme etwas ereignen werde; als es nicht geschah und die Rede ihres Bruders abbrach wie ein Pfad, der von einer Straße abgezweigt ist und nicht mehr zurückkehrt, sagte sie: »Nach deiner Erfahrung kann man also nie wirklich aus Überzeugung handeln und wird es nie können. Ich meine« verbesserte sie sich »mit Überzeugung nicht irgendeine Wissenschaft, auch nicht die moralische Dressur, die man uns beigebracht hat, sondern, daß man sich ganz bei sich sein fühlt und daß man sich auch bei allem andern sein fühlt, daß irgend etwas gesättigt ist, was jetzt leer bleibt, ich meine etwas, wovon man ausgeht und wohin man zurückkehrt. Ach, ich weiß ja selbst nicht, was ich meine,« unterbrach sie sich heftig »ich hatte gehofft, daß du es mir erklären wirst!«
»Da meinst du gerade das, wovon wir gesprochen haben« antwortete Ulrich sanft. »Und du bist auch der einzige Mensch, mit dem ich so darüber sprechen kann. Aber es hätte keinen Zweck, wenn ich nochmals anfinge, um ein paar verlockende Worte mehr hinzuzufügen. Eher muß ich wohl sagen, daß ein ›Mitten-inne-Sein‹, ein Zustand der unzerstörten ›Innigkeit‹ des Lebens – wenn man das Wort nicht sentimental versteht, sondern in der Bedeutung, die wir ihm soeben gegeben haben, – wahrscheinlich mit vernünftigen Sinnen nicht zu fordern ist.« Er hatte sich vorgebeugt, berührte ihren Arm und sah ihr lange in die Augen. »Es ist vielleicht eine Menschenwidrigkeit« sagte er leise. »Wirklich ist nur, daß wir sie schmerzlich entbehren! Denn damit hängt wohl das Verlangen nach Geschwisterlichkeit zusammen, das eine Zutat zur gewöhnlichen Liebe ist, in der imaginären Richtung auf eine Liebe ohne alle Vermengung mit Fremdheit und Nichtliebe.« Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Du weißt doch, wie beliebt alles im Bett ist, was mit Brüderlein und Schwesterlein zusammenhängt: Leute, die ihre wirklichen Geschwister ermorden könnten, albern sich dort als Geschwisterlein an, die unter einer Decke stecken.«
Sein Gesicht zitterte im Halbdunkel in Selbstverspottung. Aber Agathes Glaube hielt sich an dieses Gesicht und nicht an die Verwirrung der Worte. Sie hatte ähnlich zuckende Gesichter gesehn, die im nächsten Augenblick herabstürzten: dieses kam nicht näher; es schien mit einer unendlich großen Geschwindigkeit auf einem unendlich weiten Weg zu sein. Sie antwortete aufs kürzeste: »Geschwister ist eben nicht genug!«
»Wir haben ja auch schon ›Zwillingsgeschwister‹ gesagt« entgegnete Ulrich, der sich nun geräuschlos erhob, weil er zu bemerken glaubte, daß die große Müdigkeit sich am Ende doch ihrer bemächtigt habe.
»Man müßte ein Siamesisches Zwillingspaar sein« sagte Agathe noch.
»Also Siamesische Zwillinge!« wiederholte ihr Bruder. Er war bemüht, ihre Hand aus der seinen zu lösen und sie vorsichtig auf die Decke zu legen, und seine Worte klangen schwerlos: ohne Gewicht und in ihrer Leichtigkeit sich noch ausbreitend, nachdem er schon das Zimmer verlassen hatte.
Agathe lächelte und sank allmählich in eine einsame Traurigkeit, deren Dunkel bald in das des Schlafs überging, ohne daß sie es in ihrer Übernächtigkeit merkte. Ulrich schlich sich aber in sein Arbeitszimmer und lernte dort, ohne daß er arbeiten konnte, zwei Stunden lang, bis auch er müde wurde, den Zustand kennen, von Rücksicht eingeengt zu sein. Er staunte darüber, wieviel er in dieser Zeit gern getan hätte, das Lärm machte und unterdrückt werden mußte. Das war ihm neu. Und beinahe reizte es ihn ein wenig, obwohl er sich mit großer Teilnahme auszumalen suchte, wie es wäre, mit einem andern Menschen wirklich zusammengewachsen zu sein. Er war wenig davon unterrichtet, wie solche zwei Nervensysteme arbeiten, die wie zwei Blätter an einem Stiel sitzen und nicht nur durch ihr Blut, sondern mehr noch durch die Wirkung der völligen Abhängigkeit miteinander verbunden sind. Er nahm an, daß jede Erregung der einen Seele von der andern mitgefühlt werde, während sich der hervorrufende Vorgang an einem Körper vollziehe, der in der Hauptsache nicht der eigene sei. »Eine Umarmung zum Beispiel: du wirst im andern umarmt« dachte er. »Du bist vielleicht nicht einmal einverstanden, aber dein anderes Ich wirft eine übermächtige Welle des Einverständnisses in dich! Was geht dich an, wer deine Schwester küßt? Aber ihre Erregung, die mußt du mit ihr lieben! Oder du bist es, der liebt, und nun mußt du sie irgendwie daran beteiligen, du kannst doch nicht bloß sinnlose physiologische Vorgänge in sie werfen...!?« Ulrich fühlte einen starken Reiz und ein großes Unbehagen von diesen Gedanken; es kam ihm schwer vor, hier die Grenze zwischen neuen Ansichten und Verzerrung der gewöhnlichen richtig zu ziehen.

Das Lob, das ihr von Meingast zuteil wurde, und die neuen Gedanken, die sie von ihm empfing, hatten auf Clarisse tiefen Eindruck gemacht.
Ihre geistige Unruhe und Erregbarkeit, die sie manchmal selbst beunruhigte, hatte nachgelassen, war diesmal aber nicht, wie es andere Male geschehen, von Mißmut, Bedrückung und Aussichtslosigkeit abgelöst worden, sondern von einer außergewöhnlich gespannten Klarheit und durchsichtigen inneren Atmosphäre. Wieder einmal überblickte sie sich selbst und begriff sich kritisch. Ohne zu zweifeln, ja mit einer gewissen Genugtuung nahm sie zu Kenntnis, daß sie nicht besonders klug sei: sie hatte eben zuwenig gelernt. Ulrich dagegen, wenn sie bei solcher vergleichenden Prüfung gerade an ihn dachte, Ulrich war wie ein Eisläufer, der sich auf einer geistigen Spiegelfläche nach Willkür näherte und entfernte. Nie war zu verstehen, woher es kam, wenn er etwas sagte; oder wenn er lachte, wenn er ärgerlich war, wenn seine Augen blitzten, wenn er da war und mit seinen breiten Schultern Walter den Raum im Zimmer wegnahm. Wenn er auch nur neugierig den Kopf umwandte, spannten sich seine Halssehnen wie Taue eines Seglers, der in windheller Fahrt auf und davon zieht. So war immer etwas an ihm, das über das ihr Zugängliche hinausreichte und das Verlangen wachhielt, sich mit dem ganzen Körper auf ihn zu werfen, um es zu fassen. Aber der Wirbel, in dem das manchmal geschah, so daß einmal schon nichts auf der Welt festgestanden war als der Wunsch, von Ulrich ein Kind zu haben, war jetzt weit fortgezogen und hatte nicht einmal jene Bruchstücke zurückgelassen, von denen die Erinnerung nach dem Abflauen von Leidenschaften unverständlich übersät ist. Clarisse wurde höchstens ärgerlich, wenn sie ihres Mißerfolgs in Ulrichs Wohnung gedachte, und soweit dies überhaupt noch geschah, doch war ihr Selbstgefühl heil und frisch bereitet. Diese Wirkung hatten eben die neuen Vorstellungen, mit denen sie von ihrem philosophischen Gast ausgestattet wurde; abgesehen von den unmittelbaren Erregungen, in die sie durch das Wiedersehen mit diesem ins Großartige veränderten Freund versetzt wurde. So vergingen viele Tage in einer mannigfaltigen Spannung, während alle in dem kleinen, jetzt schon in der Frühlingssonne liegenden Haus darauf warteten, ob Ulrich die Erlaubnis bringen werde oder nicht, Moosbrugger an seinem unheimlichen Aufenthaltsort zu besuchen.
Und vornehmlich war es ein Gedanke, der Clarisse in diesem Zusammenhang wichtig vorkam: der Meister hatte die Welt »in einem Maße wahnfrei« genannt, daß sie von nichts mehr wisse, ob sie es lieben oder hassen solle, und Clarisse war seither überzeugt, daß man sich einem Wahn überlassen müsse, wenn man der Gnade teilhaftig geworden sei, ihn zu fühlen. Denn ein Wahn ist eine Gnade. Wer wußte denn damals noch, ob er rechts oder links gehen solle, wenn er aus dem Hause trat, außer er hatte einen Beruf wie Walter, der ihn hinwieder beengte, oder eine Verabredung wie sie mit den Eltern oder Geschwistern, die sie langweilte! Das ist in einem Wahn anders! Da ist das Leben so praktisch eingerichtet wie eine moderne Küche: man sitzt in der Mitte, braucht sich kaum zu rühren und kann von seinem Platz aus alle Einrichtungen in Gang setzen. Für so etwas hatte Clarisse immer Sinn gehabt. Und überdies verstand sie unter Wahn nichts anderes als man Willen nennt, nur besonders gesteigert. Clarisse hatte sich bisher davon eingeschüchtert gefühlt, daß sie sich nur weniges von dem, was in der Welt vorgehe, richtig zu erklären vermöge, aber seit der Wiederbegegnung mit Meingast sah sie sich gerade dadurch begünstigt, nach eigenem Ermessen zu lieben, zu hassen und zu handeln. Denn nach des Meisters Wort tat der Menschheit nichts so not wie Wille, und dieses Gut, heftig wollen zu können, befand sich seit je in ihrem Besitz! Wenn Clarisse das bedachte, wurde ihr kalt vor Glück und heiß vor Verantwortung. Natürlich war Wille dabei nicht etwa das düstere Bemühen, ein Klavierstück zu erlernen oder in einem Streit recht zu behalten, sondern ein mächtiges Gesteuertwerden vom Leben, ein Ergriffensein von sich selbst, ein Dahinschießen im Glück.
Und sie konnte nicht umhin, schließlich etwas davon Walter mitzuteilen. Sie teilte ihm mit, daß ihr Gewissen von Tag zu Tag stärker werde. Doch erwiderte Walter aufgebracht und unerachtet seiner Bewunderung für Meingast, den vermuteten Urheber dieser Tatsache: »Es ist wohl wahrhaftig ein Glück, daß es Ulrich nicht zu gelingen scheint, die Erlaubnis zu besorgen!«
Bloß ein Grimmen lief über Clarissens Lippen, aber es verriet Mitleid mit seiner Ahnungslosigkeit und Widerstand.
»Was willst du denn eigentlich von diesem Verbrecher, der uns alle zusammen nicht das geringste angeht!?« fragte Walter erregt.
»Es wird mir einfallen, wenn ich dort bin« gab Clarisse zur Antwort.
»Ich meine, das müßtest du jetzt schon wissen!« bemerkte Walter männlich.
Seine kleine Frau lächelte, wie sie es immer tat, ehe sie ihn tief verletzte. Dann sagte sie aber bloß: »Ich werde etwas tun.«
»Clarisse!« erwiderte Walter fest »du darfst nichts tun ohne meine Erlaubnis; ich bin rechtlich dein Mann und Vormund!«
Das war ihr ein neuer Ton. Sie wandte sich von ihm ab, tat verwirrt ein paar Schritte.
»Clarisse!« rief ihr Walter nach und erhob sich, ihr zu folgen. »Ich werde etwas gegen den Wahnsinn tun, der hier im Haus kreist!«
Da begriff sie, daß sich die Heilkraft ihres Entschlusses auch schon an Walters zunehmender Kraft fühlen mache. Sie wandte sich auf der Ferse um: »Was wirst du tun?!« fragte sie ihn, und ein Blitz aus dem Spalt ihrer Augen schlug in das feuchte, aufgerissene Braun der seinen.
»Sieh doch,« begütigte er und wich zurück, weil er sich von solcher Genauigkeit der erheischten Antwort überrascht sah »das haben wir ja alle in uns, diese intellektuelle Neigung für das Ungesunde, Schauerliche und Problematische, wir geistigen Menschen; aber –«
»Aber wir lassen die Philister gewähren!« unterbrach ihn Clarisse siegprangend. Nun ging sie ihm nach, ließ ihn nicht aus den Augen. Fühlte, wie ihn ihre Heilkraft umschlang und kräftig zwang. Ihr Herz wurde plötzlich von einer unsäglichen und seltsamen Freude erfüllt.
»Aber wir machen nicht so viel Wesens davon« murmelte Walter seinen Satz verdrossen zu Ende. Hinter sich, am Saum seines Rockes, fühlte er einen Widerstand; hingreifend, erriet er die Kante eines der dünnbeinigen, leichten Tischchen, die es in seiner Wohnung gab und die ihm plötzlich gespenstisch vorkamen: wiche er noch weiter zurück, müßte er den Tisch lächerlicherweise ins Rutschen bringen, begriff er. Also widerstand er dem plötzlich erwachten Wunsch, weit fort von diesem Kampf zu sein, auf einer Wiese von tiefem Grün, unter blühenden Obstbäumen und zwischen Menschen, deren gesunde Fröhlichkeit seine Wunden wusch und reinigte. Es war ein ruhiger, dicker Wunsch, verschönt von Frauen, die seinem Wort lauschten und es mit Bewunderung bedankten. Und in dem Augenblick, wo sich ihm Clarisse näherte, empfand er sie eigentlich als eine wüste traumartige Belästigung. Zu seiner Überraschung sagte Clarisse aber nicht: du bist ein Feigling! Sondern sie sagte: »Walter? Warum sind wir unglücklich?!«
Bei dieser lockenden, hellsichtigen Stimme fühlte er, daß sein Unglück mit Clarisse durch kein Glück mit einer anderen Frau ersetzt werden könnte. »Wir müssen es sein!« erwiderte er in einer ebenbürtigen Aufwallung.
»Nein, wir müßten es nicht sein!« versicherte Clarisse nachgiebig. Sie ließ den Kopf zur Seite hängen und suchte nach etwas, das ihn überzeugen sollte. Im Grunde durfte es nicht einmal einen Unterschied ausmachen, was es sei: sie standen vor einander wie ein Tag ohne Abend, der das Feuer von Stunde zu Stunde weitergibt, ohne daß es weniger wird. »Du wirst mir zugeben,« begann sie schließlich in einem ebenso schüchternen wie eigensinnigen Tonfall »daß die wirklich großen Verbrechen nicht dadurch entstehn, daß man sie tut, sondern daraus, daß man sie gewähren läßt!«
Nun wußte Walter freilich, was kommen sollte, und es bedeutete eine heftige Enttäuschung. »O Gott!« rief er ungeduldig aus. »Ich weiß doch auch, daß durch Gleichgültigkeit und durch die Leichtigkeit, mit der man sich heute ein gutes Gewissen beschaffen kann, weit mehr Menschenleben zugrunde gerichtet werden als durch den bösen Willen einzelner! Und es ist bewundernswert, daß du jetzt sagen wirst, jeder muß darum sein Gewissen schärfen und muß jeden Schritt aufs genaueste prüfen, ehe er ihn tut.«
Clarisse unterbrach ihn, indem sie den Mund öffnete, aber sie überlegte es sich anders und gab keine Antwort.
»Auch ich denke ja an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, die unter Menschen zugelassen werden, oder an die Einstürze von Bergwerken, deren Verwaltungsräte an den Sicherheitseinrichtungen gespart haben« fuhr Walter kleinlaut fort »und habe dir ja alles schon zugegeben.«
»Aber zwei Liebende dürfen dann einander auch nicht lieben, solange ihr Zustand nicht ›reines Glück‹ ist« sagte Clarisse. »Und die Welt wird sich nicht eher bessern, als es solche Liebende gibt!«
Walter schlug die Hände zusammen. »Begreifst du nicht, wie lebensungerecht solche großen, blendenden, ungemischten Forderungen sind!« rief er aus. »So verhält es sich doch auch mit diesem Moosbrugger, der von Zeit zu Zeit in deinem Kopf wie auf einer Drehscheibe auftaucht! Eigentlich hast du ja recht, wenn du behauptest, daß man nicht ruhen darf, solange solche unglücklichen Menschentiere einfach getötet werden, weil die Gesellschaft nichts mit ihnen anzufangen weiß; aber sozusagen noch eigentlicher hat natürlich das gesunde gewöhnliche Gewissen recht, wenn es sich einfach weigert, auf solche überfeinerte Zweifel einzugehn. Es gibt eben gewisse letzte Kennmale des gesunden Denkens, die man nicht beweisen kann, sondern im Blut haben muß!«
Clarisse erwiderte: »Nach deinem Blut ist natürlich Eigentlich immer Eigentlich nicht!«
Walter schüttelte beleidigt den Kopf und zeigte ihr, daß er darauf nicht antworten werde. Er war es schon müde, immer den Warner davor zu spielen, daß einseitige Gedankenkost verderblich sei, und vielleicht machte es ihn auf die Dauer sogar selbst unsicher.
Aber Clarisse las durch eine nervöse Feinfühligkeit, die ihn immer wieder in Erstaunen setzte, seine Gedanken, und indem sie ihren Kopf aufrichtete, übersprang sie alle Zwischenstufen und landete bei ihm auf dem Höhepunkt mit der dringlich leise vorgebrachten Frage: »Kannst du dir Jesus als Bergwerksdirektor vorstellen?« Ihr Gesicht verriet, daß sie unter Jesus eigentlich ihn meine, in einer jener Übertreibungen, worin sich die Liebe nicht vom Irrsinn unterscheidet. Er wehrte es mit einer ebenso entrüsteten wie verzagten Bewegung der Hand ab. »Nicht so direkt, Clarisse!« beschwor er sie. »Man darf nicht so direkt sprechen!«
»Doch!« versetzte Clarisse. »Gerade direkt muß man sein! Wenn wir nicht die Kraft haben, ihn zu retten, werden wir auch nicht die Kraft haben, uns zu retten!«
»Und was ist schließlich dabei, wenn er verreckt!« rief Walter heftig aus. Er glaubte im Genuß dieser rohen Antwort den befreienden Geschmack des Lebens selbst auf der Zunge zu fühlen, der herrlich gemischt war mit dem Geschmack des Todes und des verstrickten Zugrundegehns, den Clarisse andeutend heraufbeschwor.
Clarisse sah ihn wartend an. Aber Walter schien an seinem Ausbruch genug zu haben oder verstummte aus Unentschlossenheit. Und wie einer, der also gezwungen ist, den unwiderstehlichen letzten Trumpf auszuspielen, sagte sie: »Mir ist ein Zeichen gesandt worden!«
»Das bildest du dir doch nur ein!« schrie Walter zur Zimmerdecke empor, die den Himmel vertrat; aber Clarisse verließ mit ihren letzten schwerlosen Worten das Beisammensein und wollte ihn nichts mehr sagen lassen.
Dagegen sah er sie ein wenig später eifrig mit Meingast sprechen. Das Gefühl, sie würden beobachtet, das diesen belästigte, weil er selbst nicht so weit sah, beruhte auf Richtigkeit. Tatsächlich beteiligte sich Walter nicht an der eifrigen Gartenarbeit seines inzwischen zu Besuch gekommenen Schwagers Siegmund, der mit aufgeschlagenen Ärmeln in einer Erdfurche kniete und irgend etwas tat, wovon Walter behauptet hatte, daß man es im Garten zur Frühjahrszeit tun müsse, wenn man Mensch sein wolle und nicht bloß ein flaches Lesezeichen in den Bänden der Fachliteratur.
Sondern Walter blickte verstohlen zu dem Paar hinüber, das sich in der anderen Ecke des offen daliegenden Nutzgartens befand.
Er glaubte nicht, daß in der von ihm beobachteten Gartenecke etwas Unerlaubtes vor sich gehe. Trotzdem fühlte er eine unnatürliche Kälte in den Händen, die der Frühlingsluft ausgesetzt waren, und in den Beinen, die nasse Flecken davon hatten, daß er zeitweilig niederkniete, um Siegmund anzuweisen. Er sprach hochfahrend mit ihm, wie es schwache und gedemütigte Menschen tun, wenn sie an jemand ihre Laune auslassen dürfen. Er wußte, daß Siegmund, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, ihn zu verehren, nicht so leicht davon abzubringen wäre. Trotzdem war es geradezu eine Nach-Sonnenuntergang-Einsamkeit und Grabeskälte, die er zu fühlen glaubte, während er beobachtete, daß Clarisse niemals zu ihm herübersehe, sondern mit dauernden Zeichen der Teilnahme Meingast anblicke. Und überdies war er auch noch stolz darauf. Seit sich Meingast in seinem Hause befand, war er ebenso stolz auf die Abgründe, die darin aufsprangen, wie vorsorglich bemüht, sie zu verstopfen. Aus der Höhe des Stehenden hatte er zu dem auf den Knien liegenden Siegmund nun die Worte gelangen lassen: »Das empfinden und kennen wir natürlich alle, eine gewisse Neigung für das Problematische und Ungesunde!« Er war kein Duckmäuser. Er hatte sich in der kurzen Zeit, seit ihn Clarisse auf Grund dieses Satzes einen Philister genannt hatte, das Wort von der »kleinen Ehrlosigkeit des Lebens« zurechtgemacht. »Eine kleine Ehrlosigkeit ist gut wie süß oder sauer,« belehrte er jetzt seinen Schwager »aber wir sind verpflichtet, sie solange in uns zu verarbeiten, bis sie dem gesunden Leben zur Ehre gereicht! Und ich verstehe unter einer solchen kleinen Ehrlosigkeit« fuhr er fort »ebensowohl das sehnsüchtige Paktieren mit dem Tod, das uns ergreift, wenn wir die Tristanmusik hören, wie die heimliche Anziehung, die den meisten Sexualverbrechen zu eigen ist, obwohl wir ihr nicht nachgeben! Denn ich nenne ehrlos und menschlich-widersacherisch, siehst du, ebensowohl das Elementare des Lebens, wenn es in Not und Krankheit über uns Herr wird, wie das übertrieben Geistige und Gewissenhafte, das dem Leben Gewalt antun möchte. Alles, was die Grenzen überschreiten möchte, die uns gezogen sind, ist ehrlos! Mystik ist ebenso ehrlos wie die Einbildung, daß man die Natur auf eine mathematische Formel bringen könne! Und die Absicht, Moosbrugger aufzusuchen, ist ebenso ehrlos wie –« Hier unterbrach sich Walter einen Augenblick, um den Nagel auf den Kopf zu treffen, und schloß mit den Worten: »wenn du am Krankenbett Gott anrufen wolltest!«
Gewiß war damit nun etwas gesagt und sogar überraschend die berufsmäßige und unwillkürliche Humanität des Arztes dafür angerufen worden, daß Clarissens Vorhaben und seine überspannten Begründungen die Grenzen des Erlaubten überschritten. Aber im Verhältnis zu Siegmund war Walter ein Genie, und das hatte sich darin geäußert, daß Walter von seinem gesunden Denken zu solchen Gedankenbekenntnissen geführt worden war, während sich die noch gesündere Gesundheit seines Schwagers darin ausdrückte, daß er zu dieser fragwürdigen Stoffwelt entschlossen schwieg. Siegmund häufelte die Erde mit seinen Fingern und neigte dabei, ohne die Lippen zu öffnen, manchmal den Kopf von der einen auf die andere Seite, so als ob er ein Probierglas umschütten wollte, oder auch nur so, als ob er dann in dem einen Ohr genug hätte. Und nachdem sich Walter ausgesprochen hatte, trat eine furchtbar tiefe Stille ein, und in dieser hörte nun Walter einen Satz, den ihm wohl auch Clarisse einmal zugerufen haben mußte; denn er hörte zwar nicht in halluzinatorischer Lebendigkeit, aber doch gleichsam in der Stille ausgespart die Worte: »Nietzsche und Christus sind an ihrer Halbheit zugrunde gegangen!« Und auf eine nicht ganz geheuerliche, an den »Bergwerksdirektor« erinnernde Weise schmeichelte ihm das. So war es eine eigentümliche Lage, wie er, die Gesundheit selbst, hier im kühlen Garten stand zwischen einem Mann, auf den er hochmütig hinabblickte, und zwei unnatürlich Erhitzten, zu deren stummen Gebärdenspiel er überlegen und dennoch sehnsüchtig hinübersah. Denn Clarisse war nun einmal die kleine Ehrlosigkeit, die seine Gesundheit brauchte, um nicht zu verflauen, und eine heimliche Stimme sagte ihm, daß Meingast soeben im Begriff sei, die zulässige Kleinheit dieser Ehrlosigkeit maßlos zu vergrößern. Er bewunderte ihn mit der Empfindung, die ein unberühmter Verwandter für einen berühmten hat, und es erregte mehr seinen Neid als seine Eifersucht, also ein Gefühl, das noch heftiger als diese nach innen schlug, Clarisse mit ihm verschwörerisch wispern zu sehn; aber doch erhob es ihn auch irgendwie, er wollte, im Bewußtsein seiner eigenen Würde, nicht böse werden, er verbot sich, hinüber zu gehn und die beiden zu stören, er fühlte sich angesichts ihrer Erhitzung als den Überlegenen, und aus alledem entstand, er wußte selbst nicht wie, ein zwittrig unklarer, abseits aller Logik geborener Gedanke: daß die beiden dort drüben in einer ungehemmten und zu mißbilligenden Weise Gott anriefen.
Das war, wenn man einen solchen wunderlich gemischten Zustand schon ein Denken nennen muß, doch ein solches, das sich in keiner Weise aussprechen läßt, weil die Chemie seines Dunkels durch den lichten Einfluß der Sprache augenblicklich verdorben wird. Walter verband auch, wie er vor Siegmund gezeigt hatte, durchaus keinen Glauben mit dem Wort Gott, und nachdem es ihm eingefallen war, entstand eine scheue Leere rings darum: so kam es, daß nach langem Schweigen das erste, was Walter wieder zu seinem Schwager sagte, sehr weit davon entfernt war. »Du bist ein Esel,« warf er ihm vor »wenn du dich nicht befugt glaubst, ihr von diesem Besuch ganz energisch abzuraten; wozu bist du denn Arzt?!«
Siegmund nahm auch das ganz und gar nicht übel. »Das mußt du schon allein mit ihr ausmachen« gab er, ruhig aufblickend, zur Antwort und wandte sich wieder seiner Beschäftigung zu.
Walter seufzte. »Clarisse ist natürlich ein ungewöhnlicher Mensch!« begann er abermals. »Ich kann sie sehr gut verstehn. Ich gebe sogar zu, daß sie mit der Strenge ihrer Auffassung nicht unrecht hat. Denk bloß an die Armut, den Hunger, die Verkommenheit jeder Art, wovon die Welt voll ist, an die Einstürze von Bergwerken zum Beispiel, deren Verwaltungsräte an den Stützbauten gespart haben –!«
Siegmund ließ kein Zeichen davon, daß er daran denke, erkennen.
»Nun, sie tut es!« fuhr Walter mit Strenge fort. »Und ich finde das wunderschön von ihr. Wir andern beschaffen uns viel zu leicht ein gutes Gewissen. Und sie ist besser als wir, wenn sie verlangt, daß wir alle uns ändern und uns ein tätigeres Gewissen, gleichsam eines ohne Ende, ein unendliches, aneignen sollen. Aber was ich dich frage, ist: muß das denn nicht zu moralischem Skrupelwahn führen, wenn es nicht überhaupt schon etwas Ähnliches ist? Das mußt du doch entscheiden können?!«
Siegmund setzte sich bei dieser dringenden Aufforderung auf ein Bein und blickte seinen Schwager prüfend an. »Verrückt!« erklärte er. »Aber man kann nicht sagen im medizinischen Sinn.«
»Und was sagst du dazu,« fragte Walter weiter, ohne seiner Überlegenheit zu gedenken »daß sie behauptet, ihr würden Zeichen geschickt?«
»Sie sagt, daß ihr Zeichen geschickt werden?« fragte Siegmund bedenklich.
»Ja doch! Dieser verrückte Mörder zum Beispiel! Und neulich jenes verrückte Schwein unter unseren Fenstern!«
»Ein Schwein?«
»Nein, eine Art Exhibitionist.«
»So?« sagte Siegmund und überlegte es. »Dir werden auch Zeichen geschickt, wenn du etwas zum Malen findest. Sie drückt sich bloß aufgeregter aus als du« entschied er schließlich.
»Und daß sie behauptet, sie müsse die Sünden dieser Menschen, und auch meine und deine und ich weiß nicht wessen Sünden noch, auf sich nehmen?!« rief Walter dringend.
Siegmund war aufgestanden und stäubte die Erde von seinen Händen. »Sie fühlt sich von Sünden bedrückt?« fragte er überflüssigerweise noch einmal und stimmte höflich zu, als freute er sich , seinem Schwager endlich beipflichten zu können: »Das ist ein Symptom!«
»Das ist ein Symptom?« fragte Walter zerknirscht.
»Sündenwahn ist ein Symptom« bestätigte Siegmund mit der Unparteilichkeit des Fachmanns.
»Es ist aber so« fügte Walter hinzu und legte gegen das Urteil, das er selbst heraufbeschworen hatte, augenblicklich Berufung ein: »Du mußt dich doch zuerst selbst fragen: gibt es Sünde? Natürlich gibt es Sünde. Aber dann gibt es auch einen Sündenwahn, der kein Wahn ist. Das verstehst du vielleicht nicht, denn es ist ja überempirisch! Es ist die gekränkte Verantwortung des Menschen für ein höheres Leben!«
»Aber sie behauptet doch, es würden ihr Zeichen geschickt!« wandte nun der beharrliche Siegmund ein.
»Aber mir werden doch auch Zeichen geschickt, sagst du!« rief Walter heftig aus. »Und ich sage dir, ich möchte manchmal mein Schicksal auf den Knien bitten, daß es mich zufrieden lassen möge: aber jedesmal schickt es wieder, und die großartigsten Zeichen schickt es durch Clarisse!« Dann fuhr er ruhiger fort: »Sie behauptet zum Beispiel jetzt, dieser Moosbrugger bedeute sie und mich in unserer ›Sündengestalt‹ und sei uns als Mahnung geschickt worden; aber das läßt sich so verstehn: es ist ein Symbol dafür, daß wir die höheren Möglichkeiten unseres Lebens, sozusagen seine Lichtgestalt, vernachlässigen. Vor vielen Jahren, als sich Meingast von uns trennte –«
»Aber Sündenwahn ist ein Symptom für gewisse Störungen!« erinnerte ihn Siegmund mit dem verzweifelten Gleichmut des Fachmanns.
»Du kennst natürlich nur Symptome!« verteidigte Walter lebhaft seine Clarisse. »Denn das andere ginge über deine Erfahrung hinaus. Aber vielleicht ist gerade dieser Aberglaube, der alles, was nicht zur gemeinsten Erfahrung stimmt, als eine Störung behandelt, die Sünde und Sündengestalt unseres Lebens! Und Clarisse verlangt eine innere Aktion dagegen. Schon vor vielen Jahren, damals, als sich Meingast von uns trennte, haben wir –« Er dachte an die Geschichte, wie Clarisse und er Meingasts »Sünden auf sich nahmen«, aber es war aussichtslos, Siegmund den Vorgang einer geistigen Erweckung zu erklären, und so schloß er unbestimmt mit den Worten: »Und schließlich, daß es immer Menschen gegeben hat, die die Sünden aller gleichsam auf sich lenkten oder auch in sich verdichteten, wirst du vielleicht selbst nicht leugnen?!«
Sein Schwager sah ihn zufrieden an. »Nun also!« gab er freundlich zur Antwort »Da beweist du jetzt selbst, was ich schon zu Anfang behauptet habe. Daß sie sich von Sünden bedrückt glaubt, ist ein typisches Verhalten bei gewissen Störungen. Aber es gibt im Leben auch untypische Verhaltensweisen: Mehr habe ich nicht behauptet.«
»Und diese übertriebene Strenge, mit der sie alles durchführt?« fragte Walter nach einer Weile seufzend. »Ein solcher Rigorismus ist doch kaum noch normal zu nennen?«
Indessen hatte Clarisse eine wichtige Unterredung mit Meingast. »Du hast gesagt,« erinnerte sie ihn »daß die Menschen, die sich darauf etwas zugute tun, daß sie die Welt erklären und verstehen, niemals etwas an ihr ändern werden?«
»Ja« erwiderte der Meister. »›Wahr‹ und ›Falsch‹, das sind die Ausreden derer, die nie zu einer Entscheidung kommen wollen. Denn die Wahrheit ist ein Ding ohne Ende.«
»Darum hast du gesagt, daß man den Mut haben muß, sich zwischen ›Wert‹ und ›Unwert‹ zu entscheiden?!« forschte Clarisse. »Ja« sagte der Meister etwas gelangweilt.
»Wunderbar verächtlich ist auch die von dir geprägte Formel,« rief Clarisse aus »daß im heutigen Leben die Menschen bloß das tun, was geschieht!«
Meingast blieb stehn und blickte zu Boden; man hätte ebensogut meinen können, daß er sein Ohr neige wie daß er ein Steinchen betrachte, das rechts vor ihm am Weg liege. Aber Clarisse fuhr nicht fort, ihm den Honig des Lobs darzureichen; auch sie hatte jetzt den Kopf gebeugt, so daß ihr Kinn beinahe in der Halsgrube ruhte, und ihr Blick bohrte sich zwischen Meingasts Stiefelspitzen in die Erde; eine leichte Röte zog in ihrem fahlen Antlitz auf, als sie, vorsichtig die Stimme dämpfend, mit den Worten fortfuhr: »Du hast gesagt, alle Sexualität ist nur ein Bocksprung!«
»Ja, das habe ich bei einer bestimmten Gelegenheit gesagt. Was unserer Zeit an Willen abgeht, verausgabt sie, abgesehen von ihrer sogenannten wissenschaftlichen Tätigkeit, in Sexualität!«
Clarisse zögerte eine Weile, dann sagte sie: »Ich selbst habe viel Willen, aber Walter macht Bocksprünge!«
»Was ist eigentlich zwischen euch los?« fragte der Meister, neugierig geworden, fügte aber sogleich beinahe angewidert hinzu: »Ich kann es mir natürlich denken.«
Sie befanden sich in einer Ecke des baumlosen Gartens, der in der vollen Frühlingssonne lag, und ungefähr in der schräg gegenüberliegenden Ecke kauerte Siegmund am Boden, während Walter, neben ihm stehend, lebhaft auf ihn einsprach. Der Garten hatte die Form eines an die Längsmauer des Hauses gelehnten Rechtecks, um dessen Gemüse- und Blumenbeete ein Kiesweg lief, während zwei Mittelwege mit ihrem Kies auf der noch unbewachsenen Erde ein helles Kreuz bildeten. Clarisse erwiderte, vorsichtig zu den beiden anderen Männern hinüberspähend: »Er kann vielleicht nicht dafür: du mußt wissen, daß ich Walter in einer Weise anziehe, die nicht recht ist.«
»Ich kann es mir vorstellen« erwiderte diesmal der Meister mit einem teilnehmenden Blick. »Du hast etwas Knabenhaftes.«
Clarisse fühlte bei diesem Lob ein Glück durch ihre Adern springen wie Hagelkörner. »Hast du ›damals‹ gesehn, daß ich mich rascher anzuziehen vermag als ein Mann?!« fragte sie ihn geschwind.
In das wohlwollend gefaltete Gesicht des Philosophen geriet Verständnislosigkeit. Clarisse kicherte. »Das ist so ein Doppelwort« erklärte sie. »Es gibt auch andere: Lustmord zum Beispiel.«
Nun fand es der Meister wohl gut, sich von nichts überrascht zu zeigen. »Doch, doch,« erwiderte er »ich weiß. Du hast ja einmal behauptet, daß es Lustmord sei, wenn man die Liebe in der üblichen Umarmung löscht.« Aber was sie mit dem Anziehen meine, wollte er wissen.
»Gewährenlassen ist Mord« erklärte Clarisse mit der Schnelligkeit eines, der auf glattem Boden seine Kunststücke zeigt und vor Behendigkeit ausrutscht.
»Weißt du,« gestand Meingast »jetzt kenne ich mich wahrhaftig nicht mehr aus. Nun sprichst du doch wieder von dem Kerl, dem Zimmermann. Was willst du von ihm?«
Clarisse scharrte nachdenklich mit der Fußspitze im Kies. »Das ist alles das gleiche« antwortete sie. Und plötzlich sah sie zum Meister auf. »Ich glaube, Walter sollte mich verleugnen lernen« sagte sie in einem kurz abgeschnittenen Satz.
»Ich kann das nicht beurteilen« meinte Meingast, nachdem er vergeblich eine Fortsetzung erwartet hatte. »Aber sicher sind die radikalen Lösungen immer die besseren.«
Er hatte das bloß für alle Fälle gesagt. Aber Clarisse senkte nun wieder den Kopf, so daß sich ihr Blick irgendwo in Meingasts Anzug vergrub, und nach einer Weile näherte sie ihre Hand langsam seinem Unterarm. Sie hatte plötzlich unbändig Lust, diesen harten, mageren Arm unter dem weiten Ärmel anzufassen und den Meister zu berühren, der sich verstellte, als wüßte er nichts von den erleuchtenden Worten, die er über den Zimmermann gesagt hatte. Es waltete, während es geschah, in ihr die Empfindung, daß sie einen Teil von sich zu ihm hinüberschiebe, und in der Langsamkeit, mit der ihre Hand in seinem Ärmel verschwand, in dieser flutenden Langsamkeit, kreisten Trümmer einer unbegreiflichen Wollust, die von der Wahrnehmung herrührten, daß der Meister stillhalte und sich von ihr berühren lasse.
Meingast aber sah aus irgendeinem Grund entgeistert auf die Hand, die seinen Arm in der Art umklammerte und an ihm hinanstieg, wie sich ein vielbeiniges Tier auf sein Weibchen schiebt; er sah unter den gesenkten Augenlidern der kleinen Frau etwas zucken, das ungewöhnlich war: er begriff einen zweifelhaften Vorgang, der durch die Öffentlichkeit, in der er sich abspielte, ihn rührte. »Komm!« schlug er vor, freundlich ihre Hand entfernend: »Wenn wir hier stehen bleiben, sind wir allen zu sichtbar; wir wollen wieder auf und ab gehen!«
Während sie nun auf und ab wandelten, erzählte Clarisse: »Ich ziehe mich rasch an; rascher als ein Mann, wenn es sein muß. Die Kleider fliegen mir auf den Leib, wenn ich so – wie soll ich das nennen? – wenn ich eben so bin! Das ist vielleicht eine Art Elektrizität; was zu mir gehört, ziehe ich an. Aber es ist gewöhnlich eine unheilvolle Anziehung.«
Meingast lächelte zu diesen Wortspielen, die er noch immer nicht verstand, und suchte aufs Geratewohl nach einer eindrucksvollen Erwiderung. »Du ziehst also deine Kleider sozusagen an wie ein Held das Schicksal?« gab er zur Antwort.
Zu seiner Überraschung blieb Clarisse stehen und rief aus: »Ja, gerade das ist es! Wer so lebt, fühlt das auch mit Kleid, Schuh, Messer und Gabel!«
»Es ist etwas Wahres daran« bestätigte der Meister diese dunkel überzeugende Behauptung. Dann fragte er geradeswegs: »Wie machst du es eigentlich mit Walter?«
Clarisse verstand nicht. Sie sah ihn an und gewahrte in seinem Auge plötzlich gelbe Wolken, die in einem wüsten Wind zu treiben schienen. »Du hast gesagt,« fuhr Meingast zögernd fort »daß du ihn in einer Weise anziehst, die ›nicht recht‹ ist. Die also wahrscheinlich nicht die rechte einer Frau ist? Wie ist das? Bist du überhaupt gegen Männer frigid?«
Clarisse kannte das Wort nicht.
»Frigid ist,« erklärte der Meister »wenn eine Frau an der Umarmung der Männer kein Gefallen findet.«
»Aber ich kenne doch nur Walter« wandte Clarisse eingeschüchtert ein.
»Nun ja, aber nach allem, was du gesagt hast, müßte man es doch annehmen?«
Clarisse war verblüfft. Sie mußte nachdenken. Sie wußte es nicht. »Ich? Ich darf doch nicht; ich muß es ja gerade hindern!« sagte sie. »Ich darf es nicht gelten lassen!«
»Was du sagst!« Jetzt lachte der Meister unanständig. »Du mußt verhindern, daß du etwas empfindest? Oder daß Walter auf seine Kosten kommt?«
Clarisse wurde rot. Aber damit wurde ihr auch klarer, was sie zu sagen habe. »Wenn man nachgibt, ertrinkt alles in Geschlechtslust« erwiderte sie ernst. »Ich erlaube der Lust der Männer nicht, sich von ihnen zu trennen und meine Lust zu werden. Darum ziehe ich sie schon an, seit ich ein kleines Mädchen war. Es ist etwas mit der Lust der Männer nicht in Ordnung.«
Aus verschiedenen Gründen zog es nun Meingast vor, darauf nicht einzugehen. »Kannst du dich denn so beherrschen?« fragte er.
»Ja, das ist verschieden« gab Clarisse aufrichtig zu. »Aber ich habe dir ja gesagt: ich wäre ein Lustmörder, wenn ich ihn gewähren ließe!« Eifriger werdend, fuhr sie fort: »Meine Freundinnen sprechen davon, daß man in den Armen eines Mannes ›vergeht‹. Ich kenne das nicht. Ich bin noch nie in den Armen eines Mannes vergangen. Aber ich kenne das Vergehen außerhalb der Umarmung. Du kennst es sicher auch; denn du hast doch gesagt, daß die Welt viel zu wahnfrei sei –!« Meingast wehrte mit einer Gebärde ab, als hätte sie ihn nicht recht verstanden. Aber nun war es ihr schon allzu klar: »Wenn du zum Beispiel sagst, daß man sich gegen das Minderwertige zugunsten des Höherwertigen entscheiden muß,« rief sie aus »so heißt das doch: es gibt ein Leben in einer Wollust, die ungeheuer und ohne Grenzen ist! Das ist nicht die des Geschlechts, es ist die Wollust des Genies! Und an der übt Walter Verrat, wenn ich ihn nicht hindere!«
Meingast schüttelte den Kopf. Verneinung war in ihm bei dieser veränderten und leidenschaftlichen Wiedergabe seiner Worte, es war eine aufgescheuchte, beinahe ängstliche Verneinung; und von allem, was sie enthielt, erwiderte er das Zufälligste: »Es ist doch fraglich, ob er anders überhaupt könnte!«
Clarisse blieb stehn, als hätte sie Blitzwurzeln in den Boden geschlagen. »Er muß!« rief sie aus. »Gerade du hast uns doch gelehrt, daß man muß!«
»Das ist richtig« gab der Meister zögernd zu und mahnte durch sein Beispiel vergeblich ans Weitergehn. »Aber was willst du eigentlich?«
»Siehst du, ich habe noch nichts gewollt, ehe du gekommen bist« sagte Clarisse leise. »Aber es ist doch so entsetzlich, dieses Leben, das aus dem Ozean der Lebenslüste nur das bißchen Geschlechtslust holt! Und jetzt will ich etwas.«
»Danach frage ich dich doch« half Meingast nach.
»Man muß zu einem Zweck auf der Welt sein. Man muß zu etwas ›gut‹ sein. Sonst bleibt alles schrecklich verworren« gab Clarisse zur Antwort.
»Hängt es mit Moosbrugger zusammen, was du willst?« forschte Meingast.
»Das kann man nicht erklären. Man muß sehen, was daraus wird!« entgegnete Clarisse. Dann fügte sie nachdenklich hinzu: »Ich werde ihn entführen, ich werde einen Skandal heraufbeschwören!« Ihr Ausdruck veränderte sich dabei zum Geheimnisvollen. »Ich habe dich beobachtet« sagte sie plötzlich. »Es kommen und gehn bei dir geheimnisvolle Leute! Du lädst sie ein, wenn du glaubst, daß wir außer Haus sind. Es sind Knaben und junge Männer! Du sagst nicht, was sie wollen!« Meingast starrte sie fassungslos an. »Du bereitest etwas vor,« fuhr Clarisse fort »du setzt es in Gang! Aber ich –« stieß sie flüsternd hervor »ich bin auch so stark, daß ich mit mehreren gleichzeitig Freundschaft halten kann! Ich habe den Charakter und die Pflichten eines Mannes erworben! Ich habe im Umgang mit Walter männliche Empfindungen erlernt!...« Wieder griff ihre Hand nach Meingasts Arm. Man merkte ihr an, daß sie nichts davon wisse. Die Finger kamen in der Haltung von Krallen aus dem Ärmel hervor. »Ich bin ein Doppelwesen,« wisperte sie »das mußt du wissen! Aber es ist nicht leicht. Du hast recht, daß man dabei die Gewalt nicht scheuen darf!«
Meingast sah sie noch immer verlegen an. Er kannte sie nicht in diesen Zuständen. Der Zusammenhang, den ihre Worte hatten, blieb ihm unverständlich. Für Clarisse war in diesem Augenblick nichts einfacher als der Begriff des Doppelwesens, aber Meingast fragte sich, ob sie etwas von seinem geheimen Umgang erraten habe und darauf anspiele. Es gab noch nicht viel zu erraten; er hatte erst vor kurzem begonnen, in Einklang mit seiner Männer-Philosophie einen Wandel in seinen Empfindungen wahrzunehmen und junge Männer an sich zu ziehn, die etwas mehr bedeuteten als Schüler. Aber vielleicht hatte er deshalb seinen Aufenthalt gewechselt und war hierher gekommen, wo er sich vor Beobachtung sicher fühlte; er hatte noch nie an eine solche Möglichkeit gedacht, und diese kleine, unheimlich gewordene Person zeigte sich anscheinend imstande vorauszuahnen, was sich mit ihm zutrug. Ihr Arm kam auf irgendeine Weise immer länger aus dem Ärmel des Kleids hervor, ohne daß sich die Entfernung zwischen den beiden Körpern, die er verband, geändert hätte, und dieser nackte, magere Unterarm zusammen mit der daran sitzenden Hand, die Meingast berührte, hatte im Augenblick eine so ungewöhnliche Gestalt, daß in der Phantasie des Mannes alles durcheinandergeriet, was vordem noch Grenzen gehabt hatte.
Aber Clarisse brachte nun nicht mehr hervor, was sie soeben noch hatte sagen wollen, obwohl es in ihr klar zutage lag. Die Doppelworte waren Zeichen dafür, verstreut in der Sprache wie Äste, die man knickt, oder Blätter, die man auf den Boden streut, um einen heimlichen Weg finden zu lassen. Es wiesen »Lustmord« und »Anziehen«, so wies aber auch »schnell«, und viele, vielleicht sogar alle anderen Worte wiesen auf zwei Bedeutungen, von denen die eine geheim und persönlich war. Eine doppelte Sprache bedeutet aber ein doppeltes Leben. Die gewöhnliche ist offenbar das der Sünde, die geheime das der Lichtgestalt. So war zum Beispiel »schnell« in seiner Sündengestalt die gewöhnliche aufreibende, alltägliche Eile, in der Lustgestalt schnellte davon aber alles und federte in lustvollen Sprüngen. Dann kann man aber für Lustgestalt auch Kraftgestalt oder Unschuldsgestalt sagen und anderseits die Sündengestalt mit allen Namen nennen, die etwas von Niedergedrücktheit, Flauheit und der Unentschiedenheit des gemeinen Lebens haben. Das waren merkwürdige Beziehungen zwischen den Dingen und dem Ich, so daß etwas, das man tat, seine Wirkung hatte, wo man sie nie vermutet hätte; und je weniger sich Clarisse darüber aussprechen konnte, desto lebhafter entfalteten sich innen die Worte und gingen rascher, als sie einzusammeln waren. Aber eine Überzeugung besaß sie nun schon geraume Zeit: die Pflicht, das Vorrecht, die Aufgabe dessen, was man Gewissen, Wahn, Wille nennt, ist es, die starke Gestalt, die Lichtgestalt zu finden. Es ist die, wo nichts zufällig ist, worin kein Raum ist zu schwanken, wo Glück und Zwang zusammenfallen. Andere Leute haben das »wesentlich leben« genannt, sprachen vom »intelligiblen Charakter«, bezeichneten den Instinkt als die Unschuld und den Intellekt als die Sünde: Clarisse konnte so nicht denken, aber sie hatte die Entdeckung gemacht, man könne ein Geschehen in Gang bringen, und manchmal bänden sich dann von selbst Teile der Lichtgestalt daran und wären auf diese Weise eingekörpert. Aus Gründen, die in erster Linie mit Walters empfindungsreichem Nichtstun zusammenhingen, weiter aber aus heldenhafter Ehrsucht, der immer die Mittel gefehlt hatten, war sie bis zu dem Gedanken geführt worden, jeder Mensch könne sich durch etwas, das er gewalttätig unternehme, ein Denkmal voransetzen und werde dann von diesem nachgezogen. Darum war ihr auch ganz unklar, was sie mit Moosbrugger vorhatte, und sie konnte Meingast nichts auf seine Frage antworten.
Sie wollte es überdies nicht. Walter hatte ihr zwar verboten zu sagen, daß sich der Meister wieder verwandle, aber ohne Zweifel ging dessen Geist zur heimlichen Vorbereitung einer Tat über, von der sie nichts wußte und die so herrlich sein konnte, wie es sein Geist war. Er mußte sie also verstehn, wenn er sich auch verstellte. Je weniger sie sagte, desto mehr zeigte sie ihm ihr Wissen. Sie durfte ihn auch anfassen, und er konnte es ihr nicht verwehren. Er anerkannte damit ihr Vorhaben, und sie drang in das seine ein und hatte teil daran. Auch das war irgendeine Art von Doppelwesen, und ein so starkes, daß es ihr gar nicht mehr klar wurde. Durch ihren Arm floß alles, was sie an Kraft hatte und in seinen Maßen gar nicht kannte, in einem schier unerschöpflichen Strom zu dem geheimnisvollen Freund hinüber und hinterließ sie in einer Ohnmacht und Ausgehöhltheit des Marks, die jede Empfindung der Liebe übertraf. Sie konnte nichts tun, als lächelnd ihre Hand anzuschaun, oder abwechselnd ihm ins Gesicht zu blicken. Und auch Meingast tat nichts anderes, als daß er abwechselnd sie und ihre Hand anblickte.
Und plötzlich geschah dabei etwas, das Clarisse zuerst ganz unvorbereitet traf, dann aber in einen Taumel mänadischen Entzückens versetzte: Meingast hatte in seinem Gesicht ein überlegenes Lächeln festzuhalten versucht, das ihn davor schützen sollte, ihr seine Unsicherheit zu verraten; diese wuchs aber von Minute zu Minute und entstand immer von neuem aus etwas scheinbar Unbegreiflichem. Denn es gibt vor jeder unter Zweifeln verantworteten Tat eine Zeitspanne der Schwäche, die den Augenblicken der Reue nach der Tat entspricht, wenngleich sie im natürlichen Verlauf des Geschehens kaum in Erscheinung tritt. Die Überzeugungen und heftigen Einbildungen, von denen die fertige Handlung geschützt und gutgeheißen wird, haben da noch nicht ihre volle Ausbildung erreicht und schwanken in der zusammenströmenden Leidenschaft ähnlich unsicher und unfest, wie sie vielleicht später in der rückströmenden Leidenschaft der Reue zittern oder zusammenbrechen werden. In diesem Zustand seiner Absichten war Meingast überrascht worden. Es war ihm doppelt peinlich, aus Gründen der Vergangenheit und auch des Ansehens, das er jetzt bei Walter und Clarisse genoß, und jede heftige Erregung ändert noch dazu das Bild der Wirklichkeit in ihrem Sinn, so daß sie daraus neue Steigerung in sich aufnehmen kann: Die Unheimlichkeit, in der sich Meingast befand, machte ihm Clarisse unheimlich, die Furcht gab ihr etwas Furchtbares, und die Versuche, sich nüchtern auf die Wahrheit zu besinnen, vermehrten bloß durch ihre Ohnmacht die Bestürzung. So kam es, daß das Lächeln, statt überlegene Ruhe vorzutäuschen, in seinem Gesicht von einem Augenblick zum andern etwas Steiferes annahm, ja etwas steif Schwebendes und schließlich sogar steif wie auf Stelzen davon zu schweben schien. In diesem Augenblick benahm sich der Meister nicht anders, als es ein großer Hund tut, der ein ungewöhnlich kleines Tier vor sich hat, das er sich nicht anzufallen traut, wie eine Raupe, Kröte oder Schlange: er richtete sich immer höher auf seinen langen Beinen auf, verzog die Lippen und den Rücken und sah sich plötzlich durch die Ströme des Unbehagens von dem Ort fortgezogen, wo sie ihre Quelle hatten, ohne daß er imstande gewesen wäre, seine Flucht durch ein Wort oder eine Gebärde zu verschleiern.
Clarisse ließ ihn nicht los; bei den ersten, zögernden Schritten mochte das noch einem arglosen Eifer gleichen, aber später zerrte er sie mit sich und fand kaum die nötigsten Worte, ihr zu erklären, daß er auf sein Zimmer eilen und arbeiten wolle. Es gelang ihm erst im Hausflur, sich ganz von ihr zu befrein, und bis dorthin wurde er nur von seinem Fluchtwillen bewegt, ohne auf Clarissens Worte zu achten und erstickt durch die Vorsicht, die er gleichzeitig anwenden mußte, um Walter und Siegmund nicht aufzufallen. Wirklich hatte Walter diesen Vorgang in seinem allgemeinen Aufbau erraten können. Er gewahrte, daß Clarisse etwas mit Leidenschaft von Meingast fordere, was dieser verweigerte, und eine doppelschraubige Eifersucht bohrte sich in seine Brust. Denn obwohl er aufs schmerzlichste unter der Annahme litt, daß Clarisse ihre Gunst dem Freunde anbiete, war er fast noch heftiger beleidigt, als er sie verschmäht zu sehen glaubte. Führte man das zu Ende, so wollte er Meingast zwingen, daß er Clarisse zu sich nehme, und wäre dann von dem Schwung der gleichen inneren Bewegung in Verzweiflung gestürzt worden. Er war wehmütig und heldisch erregt. Er ertrug es nicht, während Clarisse auf der Schneide ihres Schicksals stand, von Siegmund gefragt zu werden, ob man die Stecklinge in lockeren Boden setzen oder die Erde rings um sie festklopfen müsse. Er mußte etwas sagen und fühlte sich in dem Zustand eines Klaviers in der Hundertstelsekunde zwischen dem Augenblick, wo der zehnfingerige Schwung eines ungeheuren Anschlags hineinfährt, und dem Aufheulen. Er hatte Licht in der Kehle. Worte, die alles ganz anders darstellen mußten als üblich. Aber unerwarteterweise war das einzige, was er hervorbrachte, etwas völlig davon Verschiedenes: »Ich werde es nicht dulden!« wiederholte er, mehr in den Garten hinaus als zu Siegmund. Nun zeigte sich aber, daß dieser, scheinbar bloß mit Stecklingen und dem Häufeln von Erde beschäftigt, doch auch die Vorgänge beobachtet und sich sogar darüber Gedanken gemacht hatte. Denn Siegmund stand auf, klopfte sich die Knie sauber und gab seinem Schwager einen Rat. »Wenn du glaubst, daß sie zu weit geht, müßtest du sie eben auf andere Ideen bringen« sagte er in einer Art, als verstünde es sich von selbst, daß er die ganze Zeit über mit ärztlicher Gewissenhaftigkeit erwogen habe, was ihm von Walter anvertraut worden sei.
»Wie soll ich das denn machen?!« fragte Walter verdutzt.
»Wie es ein Mann eben tut« sagte Siegmund. »Der Weiber Weh und Ach ist immer von dem gleichen Punkt aus zu kurieren, oder wie es schon heißt!« Er ließ sich sehr viel von Walter gefallen, und das Leben ist voll solcher Beziehungen, wo einer den andern duckt und verdrängt, der sich nicht dagegen auflehnt. Genau genommen und nach Siegmunds eigener Überzeugung: gerade das gesunde Leben ist so. Denn die Welt wäre wahrscheinlich schon zur Zeit der Völkerwanderung zugrunde gegangen, wenn sich jeder bis auf den letzten Blutstropfen gewehrt hätte. Statt dessen haben sich aber immer die Schwächeren nachgiebig verzogen und haben andere Nachbarn gesucht, die von ihnen verdrängt werden konnten; und nach diesem Muster vollziehen sich die menschlichen Beziehungen in ihrer Mehrheit noch bis heute, und alles wird dabei mit der Zeit von selbst gut. Siegmund war in seinem Familienkreis, wo Walter als ein Genie galt, stets ein wenig als Dummkopf behandelt worden, hatte das auch anerkannt und wäre noch heute in jedem Fall der Nachgiebige und Huldigende gewesen, wo der Familienrang auf dem Spiel stand. Denn seit Jahren war diese alte Eingliederung im Verhältnis zu den neu entstandenen Lebensbeziehungen unwichtig geworden und wurde gerade deshalb so gelassen, wie es das Herkommen war. Siegmund hatte nicht nur eine recht gute Praxis als Arzt – und der Arzt herrscht, anders als der Beamte, nicht durch fremde Macht, sondern durch sein persönliches Können, er kommt zu Menschen, die von ihm Hilfe erwarten und sie fügsam entgegennehmen! – sondern besaß auch eine vermögende Frau, die ihm in kurzer Zeit sich und drei Kinder geschenkt hatte und von ihm, wenn auch nicht oft, so doch regelmäßig wenn es ihm paßte, mit anderen Frauen betrogen wurde. Darum war er durchaus in der Lage, wenn er wollte, Walter einen selbstgewissen und verläßlichen Rat zu geben.
In diesem Augenblick kam Clarisse aus dem Haus ins Freie zurück. Sie erinnerte sich nicht mehr, was während des Hinstürmens gesprochen worden war. Wohl wußte sie, daß der Meister vor ihr die Flucht ergriffen hatte; aber diese Erinnerung hatte die Einzelheiten verloren, hatte sich geschlossen und zusammengefaltet. Es war etwas geschehn!: Mit dieser einzigen Vorstellung in ihrem Gedächtnis, fühlte sich Clarisse wie ein Mensch, der aus einem Gewitter kommt und noch am ganzen Leib von sinnlicher Kraft geladen ist. Vor sich, wenige Meter vom Fuß der kleinen Steintreppe entfernt, auf die sie hinaustrat, sah sie eine tiefschwarze Amsel mit einem feuerfarbenen Schnabel sitzen, die einen dicken Wurm verspeiste. Es war eine ungeheure Energie in dem Tier oder in den beiden gegensätzlichen Farben. Man hätte nicht sagen können, daß Clarisse dabei etwas dachte; vielmehr antwortete etwas hinter ihr von allen Seiten. Die schwarze Amsel war eine Sündengestalt im Augenblick der Gewaltanwendung. Der Wurm die Sündengestalt eines Schmetterlings. Die beiden Tiere waren ihr vom Schicksal auf den Weg geschickt, als Zeichen, daß sie handeln müsse. Man sah, wie die Amsel die Sünden des Wurms in sich aufnahm durch ihren brennend-orangeroten Schnabel. War sie nicht das »schwarze Genie«? So wie die Taube der »weiße Geist« ist? Bildeten die Zeichen keine Kette? Der Exhibitionist mit dem Zimmermann, mit der Flucht des Meisters...? Nicht einer dieser Einfälle war in solcher entwickelten Form in ihr, sie saßen unsichtbar in den Wänden des Hauses, angerufen, doch ihre Antwort noch bei sich behaltend; aber was Clarisse wirklich fühlte, als sie auf die Treppe hinaustrat und den Vogel sah, der den Wurm fraß, war eine unaussprechliche Übereinstimmung des inneren Geschehens mit dem äußeren.
Sie übertrug sich in einer merkwürdigen Art auf Walter. Der Eindruck, den er empfing, entsprach sofort dem, was er »Gott anrufen« genannt hatte; er kam diesmal ohne alle Unsicherheit darauf. Er konnte nicht ausnehmen, was in Clarisse vor sich gehe, dazu war die Entfernung zu groß; aber etwas Nicht-Zufälliges gewahrte er an ihrer Haltung, wie sie vor der Welt dastand, in die die kleine Treppe hinabführte wie eine Badetreppe ins Wasser. Es war etwas Gehobenes. Es war nicht die Haltung des gewöhnlichen Lebens. Und er begriff plötzlich: Dieses gleiche Nichtzufälligsein meint Clarisse, wenn sie sagt: »Dieser Mann ist nicht zufällig unter meinem Fenster!« Er selbst fühlte, seine Frau anblickend, wie der Druck fremd dahinströmender Kräfte in die Erscheinungen eintrat und sie füllte. In der Tatsache, daß er da und Clarisse dort stand, schräg vor ihm, der sein Auge unwillkürlich nach der Längsachse des Gartens richtete und es drehen mußte, um Clarisse scharf zu sehn: schon in diesem schlichten Verhältnis überwog plötzlich der stumme Nachdruck des Lebens die natürliche Zufälligkeit. Aus der Fülle der sich vor dem Auge drängenden Bilder tauchte etwas Geometrisch-Linienhaftes und Ungewöhnliches empor. So konnte es zugehen, wenn Clarisse in fast stofflosen Übereinstimmungen, wie dem Umstand, daß ein Mann unter ihrem Fenster stünde und ein anderer Zimmermann wäre, einen Sinn fand; die Geschehnisse hatten dann wohl eine Art sich aneinander zu lagern, die anders war als die gewöhnliche, gehörten einem fremden Ganzen an, das andere Seiten an ihnen hervorkehrte, und weil es diese aus ihren unaufdringlichen Verstecken hervorholte, Clarisse zu der Behauptung ermächtigte, sie selbst sei es, die das Geschehen anziehe: Es war schwer, das nüchtern auszudrücken, aber schließlich fiel Walter auf, daß es doch gerade etwas ihm Wohlbekannten aufs nächste verwandt wäre, nämlich dem, was geschehe, wenn man ein Bild male. Auch ein Bild schließt auf eine nicht bekannte Weise jede Farbe und Linie aus, die nicht mit seiner Grundform, seinem Stil, seiner Palette übereinstimmt, und zieht anderseits das aus der Hand, was es braucht, kraft genialer Gesetze, die anders als die gewöhnlichen der Natur sind. In diesem Augenblick war nichts mehr von jenem runden Wohlgefühl der Gesundheit an ihm, das die Auswüchse des Lebens auf das mustert, was sich brauchen ließe, wie er es noch vor kurzem gepriesen hatte; eher das Leid eines Knaben, der sich zu einem Spiel nicht hintraut.
Aber Siegmund war nicht der Mann, wenn er einmal etwas aufgegriffen hatte, es rasch aus der Hand zu legen. »Clarisse ist übernervös« stellte er fest. »Sie hat immer mit dem Kopf durch die Wand wollen, und in irgend etwas steckt ihr Kopf jetzt fest. Du mußt ordentlich anpacken, auch wenn sie sich wehrt!«
»Ihr Ärzte versteht von seelischen Vorgängen nicht das geringste!« rief Walter aus. Er suchte nach einem zweiten Angriffspunkt und fand ihn. »Du sprichst von ›Zeichen‹« fuhr er fort, wobei sich über seine Gereiztheit die Freude lagerte, daß er von Clarisse sprechen konnte »und prüfst besorgt, wann Zeichen eine Störung sind und wann nicht; aber ich sage dir: der wirkliche Zustand des Menschen ist der, wo alles Zeichen ist! Einfach alles! Du kannst vielleicht der Wahrheit ins Auge schaun, aber nie wird dir die Wahrheit ins Auge schaun; dieses göttlich unsichere Gefühl wirst du nie kennen lernen!«
»Ihr seid ja beide verrückt!« bemerkte Siegmund trocken.
»Ja, natürlich sind wir es!« rief Walter aus. »Du bist als Mensch doch unschöpferisch: du hast nie erfahren, was ›sich ausdrücken‹ bedeutet, daß es für den Künstler überhaupt erst ›verstehen‹ bedeutet! Der Ausdruck, den wir den Dingen geben, entwickelt erst den Sinn, sie richtig aufzunehmen. Ich verstehe erst, was ich oder ein anderer will, indem ich es ausführe! Das ist unsere lebendige Erfahrung, zum Unterschied von deiner toten! Du wirst natürlich sagen, das sei paradox, eine Verwechslung von Ursache und Wirkung, du, mit deiner medizinischen Kausalität!«
Aber Siegmund sagte nicht das, sondern wiederholte bloß unbeirrt: »Es ist sicher zu ihrem eigenen Vorteil, wenn du dir nicht zuviel von ihr gefallen läßt. Nervöse Menschen bedürfen einer gewissen Strenge.«
»Und wenn ich am offenen Fenster Klavier spiele« fragte Walter, die Warnung seines Schwagers scheinbar überhörend: »was tue ich? Menschen gehen vorbei, vielleicht sind Mädchen darunter, wer will, bleibt stehn, ich spiele für junge Liebespaare und einsame Alte. Es sind Kluge und Dumme. Ich gebe ihnen ja auch nicht Vernunft. Was ich spiele, ist nicht Vernunft. Ich teile mich ihnen mit. Ich sitze unsichtbar in meinem Zimmer und gebe ihnen Zeichen: ein paar Töne, und es ist ihr Leben, und es ist mein Leben. Du könntest wirklich sagen, daß auch das verrückt ist!...« Plötzlich verstummte er. Das Gefühl: »Ach, ich wüßte euch allen wohl etwas zu sagen!«, dieses Grund-Ehrgeiz-Gefühl des sich zur Mitteilung gedrängt fühlenden Erdenbürgers mittleren Schaffensvermögens, klappte zusammen. Jedesmal, wenn Walter in der weichen Leere hinter seinem geöffneten Fenster saß und mit dem hohen Bewußtsein des Künstlers, der tausende Unbekannte beglückt, seine Musik in die Luft hinausließ, war dieses Gefühl wie ein aufgespannter Schirm, und jedesmal war es wie ein schlottrig-eingezogener, sobald er zu spielen aufhörte. Dann war alle Leichtigkeit weg, alles Geschehene war so gut wie nicht geschehen, und er konnte nur noch in der Art sprechen, daß die Kunst den Zusammenhang mit dem Volk verloren habe und alles schlecht sei. Er erinnerte sich daran und wurde mutlos. Er wehrte sich dagegen. Und Clarisse hatte gesagt: Man muß die Musik »bis zu Ende« spielen. Clarisse hatte gesagt: Man versteht etwas nur so lange, als man es selbst mitmacht! Clarisse hatte aber auch gesagt: Darum müssen wir selbst ins Irrenhaus! Der »innere Schirm« Walters flatterte halbeingezogen in unregelmäßigen Sturmstößen.
Siegmund sagte: »Nervöse Menschen brauchen eine gewisse Führung, es ist zu ihrem eigenen Vorteil. Du hast selbst gesagt, daß du das nicht mehr dulden willst. Ich kann dir als Arzt und Mann auch nur das gleiche raten: zeig ihr, daß du ein Mann bist; ich weiß, daß sie sich dagegen wehrt, aber es wird ihr schon gefallen!« Siegmund wiederholte wie eine zuverlässige Maschine unermüdlich das, was nun einmal sein »Ergebnis« geworden war.
Walter, in einem »Sturmstoß«, antwortete: »Diese medizinische Überschätzung des geordneten Geschlechtslebens ist überhaupt von gestern! Wenn ich Musik mache, male oder denke, wirke ich auf Nahe und Ferne, ohne den einen zu nehmen, was ich den anderen gebe. Im Gegenteil! Laß dir nur gesagt sein, daß die private Lebensauffassung heute wahrscheinlich nirgends mehr eine Berechtigung hat! Auch in der Ehe nicht!«
Aber der dichtere Druck war auf Seiten Siegmunds, und Walter segelte vor dem Wind zu Clarisse hinüber, die er während dieses Gesprächs nicht aus den Augen gelassen hatte. Es war ihm unangenehm, daß man von ihm sagen könnte, er sei kein Mann; er kehrte dieser Behauptung den Rücken, indem er sich von ihr zu Clarisse hintreiben ließ. Und auf halbem Wege fühlte er zwischen den sich ängstlich entblößenden Zähnen, daß er mit der Frage beginnen müsse: »Was soll es heißen, daß du von Zeichen redest!?«
Aber Clarisse sah ihn kommen. Sie sah ihn schon auf seinem Platz schwanken, als er noch stand. Dann wurden seine Füße aus der Erde gezogen und trugen ihn her. Clarisse machte das mit einer wilden Lust mit. Die Amsel flog erschreckt auf und nahm hastig ihren Wurm mit. Die Bahn war nun ganz frei für die Anziehung. Aber plötzlich überlegte es sich Clarisse anders und wich einer Begegnung diesmal aus, indem sie langsam längs der Hauswand das Freie suchte, ohne sich von Walter abzuwenden, aber schneller, als der Zögernde aus dem Bereich der Fernwirkung in den von Rede und Gegenrede gelangte.

Seit sich Agathe mit ihm vereinigt hatte, stellten die Beziehungen, die Ulrich mit dem großen Bekanntenkreis des Hauses Tuzzi verbanden, zeitraubende gesellschaftliche Aufgaben, denn die lebhaftere Wintergeselligkeit war trotz der vorgerückten Jahreszeit noch nicht zu Ende und die Teilnahme, die man Ulrich nach dem Tod seines Vaters erwiesen hatte, forderte als Gegengabe, daß er Agathe nicht verberge, wenn sie auch beide durch ihre Trauerpflicht davon enthoben waren, an großen Festlichkeiten teilzunehmen. Diese Trauerpflicht würde sogar, wenn Ulrich den Vorteil, den sie ihm darbot, in vollem Umfang ausgenützt hätte, dazu hingereicht haben, jeden geselligen Verkehr auf längere Zeit zu meiden und so aus einem Kreis von Personen auszuscheiden, in den er nur durch einen wunderlichen Zustand geraten war. Allein, seit ihm Agathe ihr Leben anvertraut hatte, handelte Ulrich im Gegensatz zu seinem Gefühl und überantwortete einem Teil von sich, den er in der herkömmlichen Vorstellung »Pflichten eines älteren Bruders« einquartiert hatte, viele Entscheidungen, zu denen er sich in ganzer Person unbestimmt verhielt, wenn er sie nicht gar mißbilligte. Zu diesen Pflichten eines älteren Bruders gehörte vornehmlich der Vorsatz, daß Agathes Flucht aus dem Haus ihres Mannes nicht anders enden solle als im Haus eines besseren Mannes. »Du wirst,« pflegte er zu antworten, sobald sie darauf zu sprechen kamen, daß ihr gemeinsames Leben gewisse Vorkehrungen verlange »wenn es so weiter geht, bald einige Heirats- oder zumindest Liebesanträge bekommen«; und entwarf Agathe Pläne, die über einige Wochen hinausreichten, so erwiderte er: »Bis dahin wird ja doch alles anders sein.« Es würde sie noch mehr verletzt haben, hätte sie nicht den Zwiespalt in ihrem Bruder bemerkt, was sie vorderhand auch davon abhielt, heftigen Widerstand zu leisten, wenn er es für vorteilhaft fand, den geselligen Kreis, den sie durchstreiften, aufs weiteste auszudehnen. Auf diese Weise kam es, daß sich die Geschwister seit Agathes Ankunft weit mehr ins Treiben der Gesellschaft mischten, als es Ulrich für sich allein getan hätte.
Dieses gemeinsame Auftreten, nachdem man durch lange Zeit bloß ihn allein gekannt und von ihm nie ein Wort über seine Schwester vernommen hatte, erregte kein geringes Aufsehn. Eines Tags war General Stumm von Bordwehr mit seiner Ordonnanz, seiner Aktentasche und seinem Laib Brot wieder bei Ulrich erschienen und hatte mißtrauisch witternd die Luft geprüft. In der Luft hing ein unbeschreiblicher Geruch. Dann entdeckte von Stumm einen Damenstrumpf, der an einer Stuhllehne hing, und sagte mißbilligend: »Natürlich, die jungen Herrn!« »Meine Schwester« erklärte Ulrich. »Aber geh! Du hast doch gar keine Schwester!« berichtigte ihn der General »Da plagen uns die hochwichtigsten Sorgen, und du versteckst dich mit einem Mäderl!« Im gleichen Augenblick betrat Agathe das Zimmer, und er verlor die Fassung. Er sah die Verwandtschaft und fühlte an der Arglosigkeit des Auftritts, daß Ulrich die Wahrheit gesprochen habe, ohne doch von dem Gedanken abgeraten zu sein, daß er eine Freundin Ulrichs vor sich habe, die diesem nun freilich unverständlich und irreführend ähnlich sah. »Ich weiß nicht, wie mir in dem Moment geschehen ist, Gnädigste,« erzählte er es später Diotima »aber mir hätte nicht anders zumut sein können, wenn er selbst plötzlich wieder als Fähnrich vor mir gestanden wäre!« Denn Stumm fühlte, da ihm Agathe überaus gefiel, bei ihrem Anblick jenen Stupor, den er als das Anzeichen tiefer Ergriffenheit verstehen gelernt hatte. Seine zarte Leibesfülle und empfindsame Natur neigten zu fluchtartigem Rückzug aus so kniffligen Umständen, und Ulrich erfuhr, trotz aller Bemühungen, ihn zum Bleiben zu veranlassen, nicht mehr viel von den wichtigen Sorgen, die den gebildeten General zu ihm geführt hatten.
»Nein!« tadelte sich dieser. »Nichts ist dermaßen wichtig, daß man deswegen so stören dürfte wie ich!«
»Aber du hast uns doch nicht gestört!« versicherte Ulrich lächelnd. »Was solltest du denn stören!?«
»Nein, natürlich nicht!« versicherte nun Stumm, erst recht verwirrt. »Natürlich, in gewissem Sinn nicht. Aber trotzdem! Schau, ich komm lieber ein anderes Mal wieder!«
»So sag doch wenigstens, warum du da bist, ehe du wieder wegläufst!« forderte Ulrich.
»Aber nichts! Gar nichts! Eine Kleinigkeit!« warf Stumm in seinem Verlangen hin, Fersengeld zu geben. »Ich glaube, das ›Große Ereignis‹ beginnt jetzt!«
»Ein Pferd! Ein Pferd! Zu Schiff nach Frankreich!« rief Ulrich in heiterer Erregung durcheinander aus.
Agathe sah ihn verwundert an. »Ich bitte um Verzeihung,« wandte sich der General an sie »Gnädige werden ja gar nicht wissen, um was es sich handelt.«
»Die Parallelaktion hat eine krönende Idee gefunden!« ergänzte Ulrich.
»Nein,« schränkte es der General ein »das habe ich nicht gesagt. Ich habe nur sagen wollen: Das von allen erwartete Ereignis beginnt jetzt zu entstehn!«
»Ach so!« sagte Ulrich. »Das tut es doch schon seit Beginn.«
»Nein« versicherte der General ernst. »Nicht bloß so. Es liegt jetzt derzeit ein ganz entschiedenes Man-weiß-nicht-was in der Luft. Nächstens findet bei deiner Kusine eine ausschlaggebende Zusammenkunft statt. Frau Drangsal –«
»Wer ist das?« unterbrach ihn Ulrich bei diesem neuen Namen.
»Du hast dich eben so zurückgezogen!« warf ihm der General bedauernd vor und wandte sich an Agathe, um das augenblicklich wieder gut zu machen. »Frau Drangsal ist die Dame, die den Dichter Feuermaul protegiert. Den kennst du auch nicht?« fragte er, indem er seinen runden Körper wieder zurück drehte, als aus der Richtung Ulrichs keinerlei Bestätigung kam.
»Doch. Der Lyriker.«
»Halt so Verse« meinte der General, mißtrauisch dem ihm ungewohnten Wort ausweichend. »Sogar gute. Und allerhand Theaterstücke.«
»Das weiß ich nicht. Ich hab auch meine Aufzeichnungen nicht bei mir. Aber er ist der, der sagt: der Mensch ist gut. Und mit einem Wort, Frau Professor Drangsal protegiert halt die These, daß der Mensch gut ist, und man sagt, das sei eine europäische These, und Feuermaul soll eine große Zukunft haben. Sie aber hat einen Mann gehabt, der als Arzt in der ganzen Welt bekannt war, und wahrscheinlich möchte sie aus dem Feuermaul auch einen berühmten Mann machen: Jedenfalls besteht die Gefahr, daß deine Kusine die Führung verliert und der Salon der Frau Drangsal sie übernimmt, wo ohnehin alle berühmten Leute auch verkehren.«
Der General trocknete sich den Schweiß von der Stirn; Ulrich fand die Aussicht aber gar nicht schlimm.
»Na, weißt du!« tadelte Stumm. »Du verehrst doch auch deine Kusine, wie kannst du so sprechen! Finden Gnädige nicht auch, daß das von ihm hervorragend treulos und undankbar gegen eine begeisternde Frau gehandelt ist?!« wandte er sein Wort an Agathe.
»Ich kenne meine Kusine gar nicht« gestand sie ihm ein.
»Oh!« sagte Stumm, und mit Worten, in denen sich ritterliche Absicht mit unbeabsichtigter Unritterlichkeit zu einem dunklen Zugeständnis an Agathe mischten, fügte er hinzu: »Sie hat freilich in der letzten Zeit etwas nachgelassen!«
Weder Ulrich noch sie antwortete etwas darauf, und der General hatte das Gefühl, daß er seine Worte erklären müsse. »Und du weißt ja auch warum!« sagte er beziehungsvoll zu Ulrich. Er mißbilligte die Beschäftigung mit der Sexualwissenschaft, durch die Diotimas Geist von der Parallelaktion abgezogen wurde, und machte sich Sorgen, weil sich das Verhältnis zu Arnheim nicht besserte; aber er wußte nicht, wieweit er sich getrauen dürfe, vor Agathe von solchen Angelegenheiten zu sprechen, und deren Miene war zuletzt immer kühler geworden. Ulrich dagegen erwiderte ruhig: »Du kommst wohl mit deiner Ölgeschichte nicht vorwärts, wenn unsere Diotima nicht mehr ihren alten Einfluß auf Arnheim hat?«
Stumm machte eine kläglich beschwörende Gebärde, als müßte er Ulrich an einem Witz hindern, der vor einer Dame unpassend sei, sah ihm aber zugleich mit warnender Schärfe ins Auge. Er fand auch die Kraft, seinen unbehilflichen Leib mit jugendlicher Schnelle zu erheben, und zog den Waffenrock glatt. Soviel war ihm von seinem ursprünglichen Mißtrauen gegen Agathes Herkunft noch verblieben, daß er nicht die Geheimnisse des Kriegsministeriums vor ihr preisgeben wollte. Erst im Vorzimmer, wohin ihn Ulrich geleitete, klammerte er sich an dessen Arm fest, flüsterte lächelnd aus heiserem Hals: »Um Gotteswillen, red doch nicht offenen Landesverrat!« und schärfte ihm ein, daß vor einem Dritten, und wenn das selbst die eigene Schwester wäre, kein Wort über die Ölfelder verlauten dürfe. »Schon gut« versicherte Ulrich. »Aber es ist ja meine Zwillingsschwester.« »Auch vor einer Zwillingsschwester nicht!« beteuerte der General, dem schon die Schwester so unglaubwürdig vorgekommen war, daß ihn die Zwillingsschwester nicht mehr aus dem Konzept brachte: »Versprich es mir!« »Es nützt nichts,« steigerte sich Ulrich »wenn du mir dieses Versprechen abnimmst, wir sind ja Siamesische Zwillinge; verstehst du?« Nun begriff Stumm allerdings, daß ihn Ulrich in seiner Art, die nie zu einem einfachen Ja zu bringen war, zum besten habe. »Du hast manchmal schon bessere Scherze gemacht, als einer so entzückenden Frau, und wenn es zehnmal deine Schwester ist, eine solche Unappetitlichkeit anzudichten, wie daß sie mit dir verwachsen sein soll!« verwies er es ihm. Aber weil seine mißtrauische Erregung gegen die Zurückgezogenheit, in der er Ulrich vorgefunden hatte, neu berührt worden war, schloß er doch noch einige Fragen daran, die dessen Treiben prüfen sollten: War der neue Sekretär schon bei dir? Bist du bei Diotima gewesen? Hast du dein Versprechen erfüllt, zum Leinsdorf zu gehn? Weißt du jetzt, was zwischen deiner Kusine und Arnheim los ist? Da er von alldem natürlich unterrichtet war, überwachte der rundliche Zweifler damit Ulrichs Wahrheitsliebe, und das Ergebnis befriedigte ihn. »Also dann tu mir nur den Gefallen und komm zu der Schicksalssitzung nicht zu spät« bat er ihn, während er, noch etwas atemlos von der bezwungenen Durchfahrt durch die Ärmel, den Mantel zuknöpfte. »Ich werde dich vorher noch einmal anrufen und dann mit meinem Wagen abholen, das wird das beste sein!«
»Wann soll denn diese Langweile stattfinden?« fragte Ulrich nicht gerade bereitwillig.
»Na, ich denke, so in vierzehn Tagen« meinte der General. »Wir wollen ja die andere Partei zu Diotima bringen, aber der Arnheim soll dabei sein, und der ist noch verreist.« Er klopfte mit einem Finger auf das goldene aus der Manteltasche hängende Portepee. »Ohne den freut es ›uns‹ nicht: das kannst du ja verstehn. Aber ich sag dir,« seufzte er »ich wünsche mir trotzdem nichts, als daß unsere geistige Führung bei deiner Kusine bleiben soll; es wäre mir gräßlich, wenn ich mich in ganz neue Verhältnisse einleben müßte!«
Diesem Besuch schrieb es sich also zu, daß Ulrich mit seiner Schwester in die gesellschaftlichen Beziehungen zurückkehrte, die er allein verlassen hatte, und er hätte seinen Verkehr auch dann wieder aufnehmen müssen, wenn er es gar nicht gewollt hätte, denn er konnte sich nicht einen Tag länger mit Agathe verbergen und voraussetzen, daß von Stumm eine so zum Erzählen anregende Entdeckung für sich behalten werde. Als die »Siamesen« bei Diotima Besuch machten, zeigte sie sich schon von solcher ungewöhnlichen und zweifelhaften Namensgebung unterrichtet, wenn auch noch nicht entzückt. Denn die Göttliche, berühmt wegen der hochgeachteten und merkwürdigen Personen, die man allezeit bei ihr antraf, hatte das unangekündigte Auftreten Agathes anfangs sehr übel genommen, weil eine Verwandte, die nicht gefiele, ihrer eigenen Stellung viel gefährlicher werden konnte als ein Vetter, und sie wußte von dieser neuen Kusine genau so wenig, wie sie früher von Ulrich gewußt hatte, was der Allwissenden schon an und für sich ein Ärgernis bereitete, als sie es dem General einbekennen mußte. Sie hatte darum für Agathe die Bezeichnung »die verwaiste Schwester« bestimmt, teils zur Begütigung ihrer selbst, teils zum vorbeugenden Gebrauch in weiteren Kreisen, und etwa in diesem Sinn empfing sie auch die Geschwister. Sie wurde angenehm von dem gesellschaftlich vollendeten Eindruck überrascht, den Agathe zu erzeugen vermochte, und diese – eingedenk ihrer guten Erziehung in einem frommen Internat und geleitet von ihrer spöttisch staunenden Bereitschaft, das Leben hinzunehmen, deretwegen sie sich vor Ulrich anklagte – traf es von diesem Augenblick an fast ohne Willen, sich die huldvolle Neigung der gewaltigen jungen Frau zu sichern, deren ins Große wirkender Ehrgeiz ihr völlig unverständlich und gleichgültig war. Sie bestaunte Diotima mit der gleichen Arglosigkeit, wie sie eine riesige Elektrizitätsanlage bestaunt hätte, in deren unverständliches Geschäft, Licht zu verbreiten, man sich nicht einmengt. Und nachdem Diotima erst einmal gewonnen war, zumal aber da sie bald beobachten konnte, daß Agathe allgemein gefalle, ließ sie sich deren gesellschaftlichen Erfolg weiter angelegen sein und gestaltete ihn auch zu ihrer eigenen Ehre immer größer. Die »verwaiste Schwester« erregte ein teilnehmendes Aufsehen, das bei den näher Bekannten als ehrliches Erstaunen darüber begann, daß man nie etwas von ihr gehört hatte, und sich mit der zunehmenden Weite des Personenkreises in jenes unbestimmte Wohlgefallen am Überraschenden und Neuen umwandelte, das Fürsten- und Zeitungshäuser verbindet.
Da nun geschah es auch, daß Diotima, welche die schöngeistige Fähigkeit besaß, unter mehreren Möglichkeiten triebhaft jene schlechteste zu wählen, die öffentlichen Erfolg verbürgt, den Griff tat, durch den Ulrich und Agathe dauernd ihren Platz im Gedächtnis der vornehmen Gesellschaft erhielten, indem ihre Beschützerin plötzlich es selbst entzückend fand, sogleich aber auch als entzückend weitererzählte, was sie anfangs gehört hatte, daß sich nämlich ihr Vetter und ihre Kusine, die unter romantischen Umständen nach fast lebenslanger Trennung wieder vereint worden seien, fortab die Siamesischen Zwillinge nennten, obwohl sie doch nach dem blinden Willen des Schicksals bisher fast das Gegenteil davon gewesen wären. Warum das zuerst Diotima und alsdann auch allen anderen so gut gefiel und wie es den Entschluß der Geschwister, zusammen zu leben, ebensowohl ungewöhnlich wie verständlich erscheinen ließ, wäre schwer zu sagen: das war eben Diotimas Führerbegabung; denn jedenfalls geschah beides und bewies, daß sie trotz aller Manöver der Konkurrenz immer noch ihre sanfte Macht ausübte. Arnheim, als er bei seiner nächsten Wiederkunft davon erfuhr, hielt einen ausführlichen Vortrag in gewähltem Kreise, der in Ehrfurcht vor den adelig-volkstümlichen Kräften ausklang. Auf irgendeinem Weg kam sogar das Gerücht auf, daß Agathe, die sich zu ihrem Bruder geflüchtet habe, mit einem berühmten ausländischen Gelehrten in unglücklicher Ehe gelebt hätte; und da man damals in den tonangebenden Kreisen nach Grundbesitzerweise der Scheidung nicht günstig gesinnt war und mit dem Ehebruch auskam, erschien Agathes Entschluß manchen älteren Personen geradezu in jenem aus Willenskraft und Erbaulichkeit gemischten Doppelschein des höheren Lebens, den Graf Leinsdorf, der den Geschwistern besonders wohlwollte, einmal mit den Worten analysierte: »Da werden am Theater immer so grauslige Leidenschaften gespielt; aber an so etwas sollte sich das Burgtheater lieber ein Beispiel nehmen!«
Diotima, in deren Gegenwart das geschah, erwiderte: »Manche Leute sagen, einer Mode folgend, der Mensch sei gut; aber wenn man, so wie ich jetzt durch meine Studien, die Irrungen und Wirrungen des Geschlechtslebens kennengelernt hat, weiß man, wie selten solche Beispiele sind!« Wollte sie das von Sr. Erlaucht gespendete Lob einschränken oder unterstreichen? Sie hatte Ulrich noch nicht verziehen, was sie, seit er ihr nichts von der bevorstehenden Ankunft seiner Schwester verraten hatte, seinen Mangel an Vertrauen nannte; aber sie war stolz auf den Erfolg, an dem sie teilnahm, und das mischte sich in ihrer Antwort.

Agathe nutzte die Vorteile, die sich ihr in der Gesellschaft darboten, mit natürlichem Geschick aus, und ihre sichere Haltung in einem höchst anmaßenden Kreis gefiel ihrem Bruder. Die Jahre, wo sie die Gattin eines Mittelschullehrers in der Provinz gewesen war, schienen von ihr abgefallen zu sein und hatten keine Spur hinterlassen. Das Ergebnis faßte Ulrich aber vorderhand achselzuckend in die Worte zusammen: »Dem hohen Adel gefällt es, daß man uns die zusammengewachsenen Zwillinge nennt: er hat immer mehr Interesse für Menagerien gehabt als beispielsweise für Kunst.«
In stillschweigendem Übereinkommen behandelten sie alles, was geschah, bloß als ein Zwischenspiel. Es wäre notwendig gewesen, im Zustand des Haushalts vieles zu ändern oder neu einzurichten, worüber sie sich gleich am ersten Tage klar gewesen waren; aber sie taten es nicht, denn sie scheuten die Wiederholung einer Aussprache, deren Grenzen nicht abzusehen waren. Ulrich, der sein Schlafzimmer Agathe abgetreten hatte, hatte sich im Schrankzimmer eingerichtet, durch das Bad von seiner Schwester getrennt, und den größten Teil seiner Schränke hatte er noch nachträglich abgetreten. Sich deshalb bemitleiden zu lassen, lehnte er mit dem Hinweis auf den Rost des heiligen Laurentius ab; aber Agathe kam gar nicht ernsthaft auf den Einfall, daß sie das Junggesellenleben ihres Bruders gestört haben könnte, weil er ihr versicherte, daß er sehr glücklich sei, und weil sie sich von den Graden des Glücks, in denen er sich davor befunden haben konnte, nur eine sehr ungewisse Vorstellung machte. Ihr gefiel jetzt dieses Haus mit seiner unbürgerlichen Art der Bewohnung, mit seinem nutzlosen Aufwand an Schmuck- und Nebenräumen um die wenigen brauchbaren und nun überfüllten Zimmer; es hatte etwas von der umständlichen Höflichkeit vergangener Zeit, die wehrlos gegen die genußvoll flegelhaft mit ihr umspringende gegenwärtige ist, aber manchmal war der stumme Einspruch der schönen Räume gegen die eingebrochene Unordnung auch traurig, wie es gerissene und verwirrte Saiten über einem schwungvoll geschnitzten Schallkörper sind. Agathe sah dann, daß ihr Bruder dieses von der Straße abgeschiedene Haus gar nicht ohne Teilnahme und Verständnis gewählt habe, obwohl er das glauben machen wolle, und aus den alten Wandungen kam eine Sprache der Leidenschaft, die weder ganz stumm, noch ganz hörbar war. Aber weder sie noch Ulrich bekannte sich zu etwas anderem als dem Vergnügen am Ungeordneten. Sie lebten unbequem, ließen seit Agathes Einbruch das Essen aus dem Hotel holen und gewannen allem eine etwas übermäßige Heiterkeit ab, wie sie sich bei einem Picknick einstellt, wenn man auf grüner Erde schlechter ißt, als man es bei Tisch nötig hätte.
Auch an der rechten Bedienung fehlte es unter diesen Umständen. Dem wohlerfahrenen Diener, den Ulrich, als er das Haus bezog, nur für kurze Dauer aufgenommen hatte, – denn das war ein alter Mann, der sich schon zur Ruhe setzen wollte und nur irgendetwas abwartete, das noch geregelt werden mußte – durfte nicht zuviel zugemutet werden, und Ulrich nahm ihn so wenig wie möglich in Anspruch; eine Kammerzofe aber mußte er selbst abgeben, denn der Raum, worin ein ordentliches Mädchen untergebracht werden konnte, befand sich noch ebenso bloß im Zustand des Vorhabens wie alles übrige, und einige Versuche, darüber hinwegzukommen, hatten zu keinen guten Erfahrungen geführt. Ulrich machte also große Fortschritte als Knappe bei der Zurüstung seiner Ritterin für ihre gesellschaftlichen Eroberungen. Noch dazu war Agathe inzwischen darangegangen, ihre Ausstattung zu ergänzen, und ihre Einkäufe füllten das Haus. Wie dieses gebaut und nirgends für eine Dame eingerichtet war, so hatte sie die Gewohnheit angenommen, es in seiner Gänze als Ankleideraum zu benutzen, wodurch Ulrich, ob er wollte oder nicht, an den Neuerwerbungen teilnahm. Die Türen zwischen den Zimmern standen offen, seine Turngeräte dienten als Ständer und Galgen, von seinem Schreibtisch wurde er zur Entscheidung geholt wie Cincinnatus vom Pfluge. Diese Durchkreuzung seines in abwartender Weise immer noch vorhandenen Arbeitswillens duldete er nicht bloß in der Voraussetzung, daß sie vorüberginge, sondern sie bereitete ihm auch ein Vergnügen, das ihm neu war wie eine Verjüngung. Die scheinbar beschäftigungslose Lebendigkeit seiner Schwester prasselte in seiner Einsamkeit wie ein Feuerchen im kalt gewesenen Ofen. Helle Wellen anmutiger Heiterkeit, dunkle Wellen menschlichen Vertrauens füllten die Räume aus, in denen er lebte, und nahmen ihnen die Natur eines Raums, worin er sich bisher nur nach seiner Willkür bewegt hatte. Vor allem verblüffte ihn aber an dieser Unerschöpflichkeit einer Gegenwart die Besonderheit, daß die nicht zusammenzuzählenden Nichtigkeiten, aus denen sie bestand, in ihrer Summe eine Unsumme ergaben, die von ganz anderer Art war: die Ungeduld, seine Zeit zu verlieren, diese nie zu stillende Empfindung, die sein Leben lang nicht von ihm gewichen war, was immer er auch von Dingen ergriffen hatte, die für groß und wichtig gelten, war zu seinem Erstaunen völlig verschwunden, und er liebte zum erstenmal sein alltägliches Leben ganz ohne Gedanken.
Ja, er hielt sogar übertrieben gefällig den Atem an, wenn Agathe mit dem Ernst, den Frauen dafür aufbringen, das anmutige Tausenderlei, das sie einkaufte, seiner Bewunderung darbot. Er tat, als zwänge ihn die merkwürdige Drolligkeit, daß die Natur der Frau bei gleicher Einsicht empfindlicher als die des Mannes ist und gerade darum dem Einfall zugänglicher, sich in einer brutalen Weise zu schmücken, die von planvoller Menschlichkeit noch weiter abweicht als die seine, unwiderstehlich zur Teilnahme. Und vielleicht war es auch wirklich so. Denn die vielen, kleinen, zärtlich lächerlichen Einfälle, mit denen er es zu tun bekam: sich mit Glasperlen zu zieren, mit gebrannten Haaren, mit den dummen Linienführungen von Spitzen und Stickereien, mit Lockfarben von geradezu ruchloser Entschlossenheit, – diese den Schießbudensternen verwandten Schönheiten, die von jeder klugen Frau durchschaut werden, ohne dadurch im mindesten an Anziehung auf sie zu verlieren, begannen ihn mit den Fäden ihres leuchtenden Irrsinns zu umstricken. Alles, und sei es das Närrische und Geschmacklose, entfaltet ja, wenn man sich ernst mit ihm abgibt und auf gleichen Fuß stellt, seine eigenäugige Wohlordnung, den berauschenden Duft seiner Eigenliebe, den in ihm wohnenden Willen, zu spielen und zu gefallen. So widerfuhr es Ulrich bei den Hantierungen, die sich an die Ausstattung seiner Schwester knüpften. Er trug hin und her, bewunderte, begutachtete und wurde um Rat gefragt, er half beim Anproben. Er stand mit Agathe vor dem Spiegel. Gegenwärtig, wo die Erscheinung der Frau an die eines gut abgesengten Huhns erinnert, das nicht viel Umstände bereitet, fällt es schwer, sich ihre frühere Erscheinung in allem Reiz des lange hinausgeschobenen Appetits vorzustellen, der inzwischen der Lächerlichkeit verfallen ist: der lange Rock, vom Schneider scheinbar an den Boden festgenäht und doch durch ein Wunder wandelnd, schloß zuerst geheime leichte Röcke ein, die bunte Blütenblätter aus Seide waren, deren leise schwankende Bewegung dann plötzlich in weiße, noch weichere Gewebe überging und in ihrem zarten Schaum erst den Körper berührte; und wenn diese Kleidung den Wellen darin glich, daß sie etwas ziehend Verlockendes und etwas den Blick Abweisendes vereinte, war sie auch ein kunstvolles System von Zwischenhalten und -befestigungen rings um geschickt verteidigte Wunderdinge und bei aller ihrer Unnatur ein klug verhangenes Liebestheater, dessen atemraubende Finsternis bloß von dem matten Licht der Phantasie erhellt wurde. Diesen Inbegriff der Vorbereitungen sah Ulrich nun täglich abgebaut, auseinandergenommen und gleichsam an der Innenseite. Und wenn die Geheimnisse einer Frau auch längst keine mehr für ihn waren, ja gerade weil er sie Zeit seines Lebens bloß durcheilt hatte wie Vorräume oder Vorgärten, machten sie sich jetzt ganz anders gelten, wo es keinen Durchlaß und kein Ziel gab. Die Spannung, die in allen diesen Dingen lag, schlug zurück. Ulrich hätte schwer zu sagen vermocht, welche Veränderungen sie anrichtete. Er hielt sich mit Recht für einen männlich empfindenden Mann, und es erschien ihm begreiflich, daß es einen solchen locken kann, einmal das so oft Begehrte auch von der anderen Seite zu sehn, aber manchmal wurde das beinahe unheimlich, und er lehnte sich lachend dagegen auf.
»Als ob über Nacht die Mauern eines Mädchenpensionats um mich in die Höhe gewachsen wären und mich durch und durch einschlössen!« wandte er ein.
»Ist das schrecklich?« fragte Agathe.
»Ich weiß nicht« gab Ulrich zur Antwort.
Dann nannte er sie eine fleischfressende Pflanze und sich ein armes Kerbtier, das in ihren leuchtenden Kelch hineingekrochen sei. »Du hast ihn um mich geschlossen,« sagte er »und nun sitze ich inmitten von Farben, Duft und Glanz und warte, wider meine Natur schon ein Stück von dir geworden, auf die Männchen, die wir anlocken werden!«
Und es erging ihm wirklich verwunderlich, wenn er Zeuge des Eindrucks wurde, den seine Schwester auf Männer machte, er, dessen Sorge doch gerade darin bestand, sie »an den Mann zu bringen«. Er war nicht eifersüchtig – in welcher Eigenschaft hätte er es auch sein sollen?! – er stellte sein Wohlbefinden hinter das ihre zurück und wünschte ihr, daß sich bald ein würdiger Mann fände, sie aus dem Übergangszustand zu erlösen, in den sie durch die Trennung von Hagauer geraten war: und trotzdem, wenn er sie im Mittelpunkt einer Gruppe von Männern sah, die sich um sie bemühten, oder wenn ihr auf der Straße ein Mann, angezogen von ihrer Schönheit und unbekümmert um den Begleiter, ins Gesicht sah, so wußte er nicht, wie ihm war. Auch da wurde ihm, da ihm der einfache Ausweg der männlichen Eifersucht verboten war, oft zumute, als schlösse sich eine Welt um ihn, die er noch nie betreten habe. Er kannte aus Erfahrung die Kapriolen des Mannes so genau wie die vorsichtigere Liebestechnik der Frau, und wenn er Agathe dem ausgesetzt und das ausüben sah, so litt er; er glaubte den Bewerbungen von Pferden oder Mäusen beizuwohnen, das Schnauben und Zuwiehern, das Mundspitzen und -breitziehen, worin sich fremde Menschen einander selbstgefällig und gefällig darstellen, widerte ihn, der es ohne Mitgefühl betrachtete, wie eine schwere, aus dem Leibesinneren emporstreichende Betäubung an. Und setzte er sich trotzdem mit seiner Schwester in eins, wie es einem tiefen Bedürfnis seines Gefühls entsprach, so fehlte wieder manchmal nicht viel dazu, daß er nachträglich, verwirrt von solcher Duldung, die Scham erlebt hätte, die ein recht beschaffener Mann empfindet, wenn sich ihm unter Vorwänden einer genähert hat, der es nicht ist. Als er das Agathe verriet, lachte sie. »Es gibt ja auch einige Frauen in unserem Kreis, die sich um dich sehr bemühn« war ihre Antwort.
Was ging da vor sich?
Ulrich sagte: »Im Grunde ist es ein Protest gegen die Welt!«
Und es sagte Ulrich: »Du kennst Walter: wir mögen uns längst nicht mehr; aber wenn ich mich auch über ihn ärgere und ebenfalls weiß, daß ich ihn reize, fühle ich doch oft, wenn ich ihn nur sehe, ein liebes Gefühl, als stimmte ich mit ihm so gut überein, wie ich eben nicht übereinstimme. Sieh doch, man versteht im Leben so viel, ohne damit einverstanden zu sein; und mit jemand von vornherein einverstanden zu sein, ehe man ihn erst versteht, ist darum eine so märchenhaft schöne Sinnlosigkeit, wie wenn Wasser im Frühling von allen Seiten zu Tal rinnt!«
Und er fühlte: »Jetzt ist es so!« Und er dachte: »Sobald es mir gelingt, gegen Agathe gar keine Selbst- und Ichsucht mehr zu haben und kein einziges häßlich-gleichgültiges Gefühl, dann zieht sie die Eigenschaften aus mir hinaus wie der Magnetberg die Schiffsnägel! Ich werde moralisch in einen Uratomzustand aufgelöst, wo ich weder ich, noch sie bin! Vielleicht ist so die Seligkeit?!«
Aber er sagte bloß: »Es macht soviel Spaß, dir zuzuschaun!«
Agathe wurde dunkelrot und sagte: »Warum macht es ›Spaß‹?«
»Ach, ich weiß nicht. Du schämst dich manchmal vor mir« meinte Ulrich. »Aber dann denkst du dir, daß ich ja doch ›nur dein Bruder‹ bin. Und ein ander Mal schämst du dich gerade nicht, wenn ich dich unter Umständen erwische, die für einen fremden Herrn sehr anziehend wären, aber plötzlich fällt dir doch ein, daß es nichts für meine Augen ist, die ich nun sofort abwenden soll...«
»Und warum macht das Spaß?« fragte Agathe.
»Vielleicht bereitet es Glück, einem andern mit den Augen zu folgen, ohne zu wissen warum« sagte Ulrich. »Es erinnert an die Liebe des Kindes zu seinen Dingen; ohne die geistige Ohnmacht des Kindes...«
»Vielleicht macht es dir nur Spaß,« gab Agathe zur Antwort »Bruder und Schwester zu spielen, weil du vom Mann und Frau Spielen übergenug hast?!«
»Auch« sagte Ulrich und sah ihr zu. »Die Liebe ist ursprünglich ein einfacher Annäherungstrieb und Greifinstinkt. Man hat sie in die zwei Pole Herr und Dame zerlegt, mit irrsinnigen Spannungen, Hemmungen, Zuckungen und Ausartungen, die dazwischen entstanden sind. Wir haben von dieser aufgeschwollenen Ideologie heute genug, die fast schon so lächerlich ist wie eine Gastrosophie. Ich bin überzeugt, die meisten würden es gern sehn, wenn diese Verbindung eines Hautreizes mit dem gesamten Menschentum wieder rückgängig gemacht werden könnte, Agathe! Und bald oder später kommt ein Zeitalter schlichter sexueller Kameradschaft herauf, wo Knabe und Mädchen einträchtig-verständnislos vor einem alten Haufen zerbrochener Triebfedern stehen werden, die früher Mann und Frau gebildet haben!«
»Wenn ich dir nun aber sagen wollte, daß Hagauer und ich Pioniere dieses Zeitalters gewesen sind, würdest du es mir wieder verübeln!« entgegnete Agathe mit einem Lächeln, so herb wie guter ungezuckerter Wein.
»Ich verüble nichts mehr« sagte Ulrich. Er lächelte. »Ein Krieger aus dem Harnisch geschnallt! Zum erstenmal seit undenklicher Zeit fühlt er die Luft der Natur statt gehämmerten Eisens auf der Haut und sieht seinen Leib so müd und zart werden, daß ihn die Vögel davontragen könnten!« beteuerte er.
Und so lächelnd, einfach vergessend, damit aufzuhören, betrachtete er seine Schwester, wie sie auf der Kante eines Tisches saß und das in einen schwarzen Seidenstrumpf gekleidete Bein pendeln ließ; sie hatte außer dem Hemd nichts an als ein kurzes Höschen: es waren das aber gleichsam von ihrer Bestimmung losgelöste und bildhaft-einzeln gewordene Eindrücke. »Sie ist mein Freund und stellt mir entzückend eine Frau vor« dachte Ulrich. »Welche realistische Verwicklung, daß sie wirklich eine ist!«
Und Agathe fragte: »Gibt es wirklich keine Liebe?«
»Doch!« sagte Ulrich. »Aber sie ist ein Ausnahmefall. Man muß das trennen: Da ist erstens ein körperliches Erlebnis, das zur Klasse der Hautreize gehört; das läßt sich auch ohne moralisches Zubehör, ja ohne Gefühl, als reine Annehmlichkeit wachrufen. Dann sind, zweitens, gewöhnlich Gemütsbewegungen vorhanden, die sich allerdings mit dem körperlichen Erlebnis heftig verbinden, aber doch nur so, daß sie mit geringen Abweichungen bei allen Menschen die gleichen sind; diese Hauptaugenblicke der Liebe möchte ich in ihrer zwangläufigen Gleichheit immer noch eher zum Körperlich-Mechanischen als zur Seele rechnen. Endlich ist aber da auch das eigentlich seelische Erlebnis des Liebens: bloß hat es mit den beiden anderen Teilen gar nicht notwendig zu tun. Man kann Gott lieben, man kann die Welt lieben; ja vielleicht kann man überhaupt nur Gott oder die Welt lieben. Jedenfalls ist es nicht nötig, daß man einen Menschen liebt. Tut man es aber, reißt das Körperliche die ganze Welt an sich, so daß sie sich gleichsam umstülpt –« Ulrich unterbrach sich.
Agathe war dunkelrot geworden.
Wenn Ulrich seine Worte mit der Absicht so geregelt und gesetzt hätte, die mit ihnen unvermeidlich verbundenen Vorstellungen des Liebesvorgangs scheinheilig Agathe zu Ohr zu bringen, er würde seinen Willen verwirklicht haben.
Er suchte nach einem Streichholz, nur damit die unbeabsichtigt entstandene Beziehung durch irgendeine Störung wieder unterbrochen werde. »Jedenfalls« sagte er »ist Liebe, wenn das Liebe ist, ein Ausnahmefall, und kann nicht das Muster für das alltägliche Geschehen abgeben.«
Agathe hatte nach den Enden der Tischdecke gegriffen und sie um ihre Beine geschlagen. »Würden fremde Leute, die uns sähen und hörten, nicht von einem widernatürlichen Empfinden reden?« fragte sie plötzlich.
»Unsinn!« behauptete Ulrich. »Was jeder von uns empfindet, ist die schattenhafte Verdopplung seiner selbst in der entgegengesetzten Natur. Ich bin Mann, du bist Frau; man sagt, daß der Mensch zu jeder Eigenschaft auch die schattenhaft angelegte oder unterdrückte Gegeneigenschaft in sich trägt: jedenfalls besitzt er die Sehnsucht nach ihr, wenn er nicht heillos mit sich selbst zufrieden ist. Dann ist also mein ans Licht gekommener Gegenmensch in dich geschlüpft, und der deine in mich, und sie fühlen sich großartig in den vertauschten Körpern, einfach weil sie vor ihrer früheren Umgebung und dem Ausblick aus ihr hinaus nicht allzuviel Achtung haben!«
Agathe dachte: »Von allem hat er schon einmal mehr gesagt; warum schwächt er ab?«
Was Ulrich sprach, paßte wohl zu dem Leben, das sie wie zwei Kameraden führten, die sich zuweilen, wenn ihnen gerade die Gesellschaft anderer Zeit läßt, darüber wundern, daß sie ein Mann und eine Frau, zugleich aber Zwillinge sind. Besteht ein solches Einverständnis zwischen zwei Menschen, so gewinnen ihre getrennten Beziehungen zur Welt den Reiz des unsichtbaren Eins im andern Verstecktseins, des Kleider- und Körperwechsels und des heiteren, hinter zweierlei Masken der äußeren Erscheinung versteckten Betrugs der Zweieinigen an denen, die ihn nicht ahnen. Aber diese spielerische und allzu betonte Fröhlichkeit – wie Kinder manchmal Lärm machen, statt Lärm zu sein! – paßte nicht zu dem Ernst, dessen aus großer Höhe fallender Schatten zuweilen unbeabsichtigt das Herz der Geschwister schweigen machte. So geschah es einmal des Abends, als sie sich vor dem Zubettgehen durch Zufall nochmals sprachen und Ulrich seine Schwester im langen Schlafhemd antraf, daß er einen Scherz machen wollte und zu ihr sagte: »Vor hundert Jahren möchte ich jetzt ausgerufen haben: Mein Engel! Schade, daß dieses Wort abgekommen ist!« Da verstummte er und dachte betroffen: »Ist es nicht das einzige Wort, das ich für sie gebrauchen sollte?! Nicht Freundin, nicht Frau! Auch: Du Himmlische! hat man gesagt. Wahrscheinlich wäre es etwas lächerlich-schwungvoll, aber doch besser, als daß man überhaupt nicht den Mut hat, sich zu glauben!«
Und Agathe dachte: »Ein Mann im Schlafanzug sieht nicht wie ein Engel aus!« Aber er sah wild und breitschultrig aus, und sie schämte sich plötzlich für den Wunsch, daß dieses von Haaren umhangene mächtige Gesicht ihre Augen verfinstern möge. Sie war in einer körperlich-unschuldigen Weise sinnlich erregt geworden; ihr Blut ging in heftigen Wellen durch den Leib und breitete sich, alle Kraft dem Inneren nehmend, in die Haut aus. Da sie nicht ein so fanatischer Mensch war wie ihr Bruder, fühlte sie, was sie fühlte. Wenn sie zärtlich war, war sie zärtlich; nicht gedankenhell oder moralisch erleuchtet, obwohl sie es an ihm ebenso liebte wie scheute.
Und immer wieder, Tag für Tag, faßte Ulrich alles in den Gedanken zusammen: Im Grunde ist es ein Protest gegen das Leben! Sie gingen Arm in Arm durch die Stadt. In der Größe zu einander passend, im Alter zu einander passend, in der Gesinnung zu einander passend. Sie konnten, Seite an Seite dahinschreitend, nicht viel voneinander sehn. Große, einander angenehme Gestalten, gingen sie nur aus Freude auf die Straße und fühlten bei jedem Schritt den Hauch ihrer Berührung inmitten des sie umgebenden Fremden. Wir gehören zusammen! Diese Empfindung, die nichts weniger als ungewöhnlich ist, machte sie glücklich, und halb in ihr, halb gegen sie, sagte Ulrich: »Es ist komisch, daß wir so zufrieden damit sind, Bruder und Schwester zu sein. Für alle Welt ist das eine Allerweltsbeziehung, und wir legen etwas Besonderes hinein!?«
Vielleicht hatte er sie damit gekränkt. Er fügte hinzu: »Ich habe es mir aber immer gewünscht. Als ich ein Knabe war, habe ich mir vorgenommen, nur eine Frau zu heiraten, die ich schon als kleines Mädchen an Kindesstatt annehmen und aufziehen werde. Ich glaube allerdings, viele Männer haben solche Einfälle, sie sind geradezu banal. Aber ich habe mich einmal als Erwachsener richtig in ein solches Kind verliebt, wenn auch nur für zwei oder drei Stunden!« Und er fuhr fort, es ihr zu erzählen: »Es ist auf der Straßenbahn geschehen. Da stieg ein junges Mädchen zu mir ein, vielleicht zwölf Jahre alt, in Begleitung ihres sehr jungen Vaters oder älteren Bruders. Wie sie eintritt, sich setzt, dem Schaffner nachlässig das Geld für beide reicht, ist sie ganz Dame; aber ohne jede Spur von kindlicher Geschraubtheit. In der gleichen Art sprach sie auch mit ihrem Begleiter oder hörte ihm schweigend zu. Sie war wunderschön; braun, volle Lippen, starke Augenbrauen, eine etwas aufgebogene Nase: vielleicht eine dunkelhaarige Polin oder eine Südslawin. Ich glaube, sie trug auch ein Kleid, das an irgendein nationales Kostüm erinnerte, aber mit langer Jacke, enger Mitte, kleinem Schnurbesatz und Krausen an Hals und Händen in seiner Art ebenso vollendet war wie die ganze kleine Person. Vielleicht war sie Albanerin? Ich saß zu weit, um hören zu können, wie sie sprach. Mir fiel auf, daß die Züge ihres ernsten Gesichts ihren Jahren voraus waren und völlig erwachsen wirkten; trotzdem bildeten sie nicht das Antlitz einer zwergkleinen Frau, sondern ohne alle Frage das eines Kindes. Anderseits war dieses Kindergesicht durchaus nicht die unreife Vorstufe eines Erwachsenen. Es scheint, daß manchmal das Frauengesicht mit zwölf Jahren fertig ist, auch seelisch wie von großen Meisterstrichen im ersten Entwurf geformt, so daß alles, was die Ausführung später hineinbringt, die ursprüngliche Größe nur verdirbt. Man kann sich leidenschaftlich in eine solche Erscheinung verlieben, tödlich, und eigentlich ohne Begehren. Ich weiß, daß ich mich scheu nach den anderen Leuten umgesehen habe, denn es war mir, als wiche alle Ordnung von mir zurück. Ich bin hinter der Kleinen dann ausgestiegen, verlor sie aber im Gedränge der Straße« schloß er seine kleine Erzählung.
Nachdem sie noch eine Weile damit gewartet hatte, fragte Agathe lächelnd: »Und wie stimmt das dazu, daß die Zeit der Liebe vorbei ist und nur noch Sexualität und Kameradschaft bleiben?«
»Gar nicht stimmt es dazu!« rief Ulrich lachend aus.
Seine Schwester überlegte und bemerkte auffallend herb, – es wirkte wie eine absichtliche Wiederholung seiner eigenen am Abend ihres Wiedersehens gebrauchten Worte: »Alle Männer wollen Brüderlein und Schwesterlein spielen. Es muß wirklich etwas Dummes bedeuten. Brüderlein und Schwesterlein sagen Vater und Mutter zueinander, wenn sie einen kleinen Schwips haben.«
Ulrich stutzte. Agathe hatte nicht nur recht, sondern begabte Frauen sind auch unerbittliche Beobachter der Männer, die sie lieben; sie haben bloß keine Theorien und machen darum von ihren Entdeckungen keinen Gebrauch, außer wenn sie gereizt werden. Er fühlte sich etwas beleidigt. »Man hat das natürlich schon psychologisch erklärt« sagte er zögernd. »Nichts liegt auch näher, als daß wir zwei psychologisch verdächtig sind. Inzestuöse Neigung, ebenso früh in der Kindheit nachweisbar wie unsoziale Anlage und Proteststellung zum Leben. Vielleicht sogar nicht genügend gefestigte Eingeschlechtlichkeit, obwohl ich –«
»Ich auch nicht!« warf Agathe ein und lachte nun wieder, wenn auch eigentlich nicht mit Willen. »Ich mag Frauen gar nicht!«
»Ist auch alles gleich« meinte Ulrich. »Allenfalls seelisches Eingeweide. Da kannst du auch noch sagen, daß es ein Sultansbedürfnis gibt, ganz allein anzubeten und angebetet zu werden unter Ausschluß der übrigen Welt; im alten Orient hat es den Harem hervorgebracht, und heute hat man dafür die Familie, die Liebe und den Hund. Und ich kann sagen, daß die Sucht, einen Menschen so allein zu besitzen, daß ein anderer gar nicht herankann, ein Zeichen der persönlichen Einsamkeit in der menschlichen Gemeinschaft ist, das selbst Sozialisten selten verleugnen. Wenn du es so ansehen willst, sind wir nichts als eine bürgerliche Ausschreitung. Sieh, wie herrlich! –« unterbrach er sich und zog sie am Arm.
Sie standen am Rand eines kleinen Marktes zwischen alten Häusern. Rings um das klassizistische Standbild irgendeines Geistesgroßen lag das buntfarbige Gemüse, waren die großen sackleinenen Schirme der Marktstände aufgespannt, kollerte Obst, wurden Körbe geschleift und Hunde von den ausgelegten Herrlichkeiten verscheucht, sah man die roten Gesichter derber Menschen. Die Luft polterte und gellte von arbeitsam erregten Stimmen und roch nach Sonne, die auf irdisches Allerlei scheint. »Muß man die Welt nicht lieben, wenn man sie bloß sieht und riecht?!« fragte Ulrich begeistert. »Und wir können sie nicht lieben, weil wir mit dem, was in ihren Köpfen vorgeht, nicht einverstanden sind –« setzte er hinzu.
Das war nun nicht gerade eine Abtrennung nach Agathes Geschmack, und sie antwortete nicht. Aber sie drückte sich an den Arm ihres Bruders, und beide verstanden es so, als legte sie ihm sanft die Hand auf den Mund.
Ulrich sagte lachend: »Ich mag mich ja auch selbst nicht! Das ist die Folge, wenn man an den Menschen immer etwas auszusetzen hat. Aber auch ich muß doch etwas lieben können, und da ist eine Siamesische Schwester, die nicht ich noch sie ist, und geradesogut ich wie sie ist, offenbar der einzige Schnittpunkt von allem!«
Er war wieder fröhlich. Und gewöhnlich riß seine Laune auch Agathe mit sich. Aber so wie in der ersten Nacht ihres Wiedersehns oder früher sprachen sie niemals mehr. Das war verschwunden wie Wolkenburgen: wenn sie statt über dem einsamen Land über den lebenerfüllten Straßen einer Stadt stehen, glaubt man nicht recht an sie. Die Ursache war vielleicht nur darin zu suchen, daß Ulrich nicht wußte, welchen Grad von Festigkeit er den Erlebnissen zuschreiben dürfe, die ihn bewegten; aber Agathe glaubte oft, er sähe nur noch eine phantastische Ausschreitung in ihnen. Und sie konnte ihm nicht beweisen, daß es anders sei: sie sprach ja immer weniger als er, sie traf das nicht und traute sich das nicht zu. Sie fühlte bloß, daß er der Entscheidung ausweiche und es nicht dürfte. So verbargen sie sich eigentlich beide in ihrem spaßhaften Glück ohne Tiefe und Schwere, und Agathe wurde davon von Tag zu Tag trauriger, obwohl sie ebensooft lachte wie ihr Bruder.

Das änderte sich aber durch Agathens dabei so wenig berücksichtigten Gatten.
An einem Morgen, der diese Tage der Freude beendete, erhielt sie einen schweren Brief in Kanzleiformat, der mit einer großen, runden, gelben Oblate geschlossen war, die in weißen Buchstaben den Aufdruck Kaiserlich-königliches Rudolfsgymnasium in... trug. Aus dem Nichts erstanden augenblicklich, noch während sie das Schreiben uneröffnet in der Hand hielt, Häuser, zweistöckig, wieder: mit dem stummen Spiegeln wohlgepflegter Fenster; mit weißen Thermometern außen an den braunen Rahmen, einem in jedem Stockwerk, damit man das Wetter erkenne; mit griechischen Giebeln und barocken Muscheln über den Fenstern, aus den Mauern tretenden Köpfen und ebensolchen mythologischen Schildwachen, die aussehen, als wären sie in der Kunsttischlerei erzeugt und als Steine angestrichen. Braun und naß liefen die Straßen durch die Stadt, so wie sie als Landstraßen hereingelaufen kamen, mit ausgefahrenen Radspuren, und die Geschäfte standen mit ihren ganz neuen Auslagen zu beiden Seiten und sahen trotzdem wie Damen vor dreißig Jahren aus, die ihre langen Röcke gehoben haben und sich nicht entschließen können, vom Gehsteig in den Dreck der Straße zu treten: Provinz in Agathes Kopf! Spuk in Agathes Kopf! Unverständliches Nicht-ganz-Verschwundensein, obwohl sie sich für immer davon gelöst zu haben glaubte! Noch unverständlicheres: Je damit verbunden gewesen zu sein?! Sie sah den Weg von ihrer Haustür längs der Wand bekannter Häuser bis zur Schule führen, den ihr Gatte Hagauer viermal des Tags zurücklegte und den sie anfangs auch oft gegangen war, Hagauer aus seinem Heim in die Arbeit begleitend, in der Zeit, wo sie sich sorgfältig keinen Tropfen des bitteren Heiltranks entgehen ließ. »Ob Hagauer jetzt wohl zu Mittag ins Hotel speisen geht?« fragte sie sich. »Ob jetzt er die Blätter vom Kalender reißt, die sonst ich alle Morgen abgenommen habe?« Alles das hatte mit einemmal wieder etwas so unsinnig Übergegenwärtiges angenommen, als ob es nie sterben könnte, und sie sah mit stillem Grauen das wohlbekannte Gefühl der Einschüchterung in sich erwachen, das aus Gleichgültigkeit bestand, aus verlorenem Mut, aus Sättigung am Häßlichen und einem Zustand der eigenen unsicheren Hauchartigkeit. Mit einer Art Begierde öffnete sie das dicke Schreiben, das ihr Gatte an sie gerichtet hatte.
Als Professor Hagauer vom Begräbnis seines Schwiegervaters und einem kurzen Besuch der Kapitale wieder an seine Heim- und Arbeitsstätte zurückgekehrt war, hatte ihn seine Umgebung genau so aufgenommen wie allemal nach seinen kurzen Reisen; mit dem angenehmen Bewußtsein, eine Angelegenheit ordentlich erledigt zu haben und nun die Reiseschuhe mit den Hausschuhen zu vertauschen, in denen es sich doppelt so gut arbeitet, wandte er sich ihr zu. Er begab sich in seine Schule; er wurde vom Hauswart ehrerbietig begrüßt; er fühlte sich willkommen geheißen, wenn er den Lehrern begegnete, die ihm untergeben waren; in der Schulleitung erwarteten ihn die Akten und Angelegenheiten, die niemand während seiner Abwesenheit zu erledigen gewagt hatte; wenn er durch die Gänge eilte, begleitete ihn das Gefühl, daß sein Schritt das Haus beflügele: Gottlieb Hagauer war eine Persönlichkeit und wußte es; Ermutigung und Frohsinn strahlten von seiner Stirn durch das ihm unterstehende Erziehungsgebäude, und wenn er außerhalb der Schule nach Befinden und Aufenthalt seiner Frau Gemahlin befragt wurde, antwortete er mit der Seelenruhe eines Mannes, der sich ehrenvoll verheiratet weiß. Es ist bekannt, daß ein männliches Wesen, solange es noch zeugungsfähig ist, kurze Pausen der Ehe ähnlich empfindet, wie wenn ein leichtes Joch von ihm abgenommen würde, auch wenn es gar keine bösen Ausführungen damit verbindet und nach Ablauf der Erholung erfrischt sein Glück wieder auf sich nimmt. Dergestalt nahm auch Hagauer Agathens Abwesenheit anfangs arglos hin und bemerkte zunächst gar nicht, wie lange seine Frau ausblieb.
Wirklich lenkte erst jener Wandkalender seine Aufmerksamkeit darauf, der sich in Agathes Gedächtnis mit seinem Tag für Tag abgerissenen Blatt als fürchterliches Sinnbild des Lebens widerspiegelte; er hing im Speisezimmer als ein nicht an die Wand gehörender Fleck, – haftengeblieben als Neujahrsgeschenk eines Papierwarengeschäfts, seit ihn Hagauer aus der Schule nach Hause gebracht hatte, und wegen seiner Trostlosigkeit von Agathe nicht nur geduldet, sondern sogar betreut. Es wäre nun ganz in der Art Hagauers gewesen, wenn er nach der Abreise seiner Frau das Abreißen der Blätter von diesem Kalender selbst übernommen hätte, denn es widersprach seinen Gewohnheiten, diesen Teil der Wand gleichsam verwildern zu lassen. Aber anderseits war er ein Mann, der jederzeit wußte, auf welchem Wochen- und Monatsgrad er sich im Meere der Unendlichkeit befand, ferner besaß er ohnehin einen Kalender in seiner Schulkanzlei, und endlich hatte er, gerade als er trotzdem die Hand heben wollte, um die Zeitmessung in seinem Heim zu ordnen, ein sonderbares, lächelndes Innehalten gespürt, eine jener Regungen, in denen sich, wie sich später auch herausstellen sollte, das Schicksal ankündigt, die er aber zunächst nur für eine zarte, ritterliche Empfindung hielt, die ihn erstaunte und von sich befriedigte: er beschloß, das Blatt mit dem Tag, an dem Agathe das Haus verlassen hatte, im Sinne einer Ehrung und Erinnerung nicht zu berühren vor ihrer Rückkehr.
So wurde der Wandkalender mit der Zeit zu einer eiternden Wunde, die Hagauer bei jedem Blick daran erinnerte, wie lange seine Frau schon die Heimat meide. Sparsam in Gefühl und Haushaltung, schrieb er ihr Postkarten, in denen er Agathe von sich Nachricht gab und sie, allmählich dringender werdend, nach ihrer Rückkunft befragte. Er empfing keine Antwort darauf. Er strahlte nun bald nicht mehr, wenn ihn Bekannte bedauernd fragten, ob seine Gattin noch lange in Erfüllung trauriger Pflichten ausbleiben werde, aber er hatte zu seinem Glück immer viel zu tun, da ihm jeder Tag außer seinen Schulverpflichtungen und den Aufgaben der Vereine, denen er angehörte, auch noch durch die Post eine Fülle von Einladungen, Anfragen, Zustimmungskundgebungen, Angriffen, Korrekturen, Zeitschriften und wichtigen Büchern brachte: Hagauers menschliche Person lebte zwar in der Provinz, als ein Teil der unschönen Eindrücke, die sie auf einen fremden Durchreisenden zu machen imstande war, aber sein Geist war in Europa zu Hause, und das verhinderte durch lange Zeit, daß er Agathes Ausbleiben in seiner ganzen Bedeutung begriff. Da fand sich jedoch eines Tags in der Post ein Brief Ulrichs, der ihm trocken mitteilte, was mitzuteilen war, daß Agathe nicht mehr beabsichtige, zu ihm zurückzukehren, und ihn ersuche, in eine Scheidung zu willigen. Dieses Schreiben war trotz seiner höflichen Form so rücksichtslos und kurz abgefaßt, daß Hagauer empört feststellte, Ulrich kümmere sich um seine, des Empfängers, Gefühle dabei gerade so viel, als wolle er ein Ungeziefer von einem Blatt entfernen. Seine erste Bewegung innerer Abwehr war: Nicht ernstnehmen, eine Laune! Die Nachricht lag wie ein äffender Spuk in der taghellen Fülle unaufschieblicher Arbeiten und ehrenvoll zuströmender Anerkennungen. Erst abends, als Hagauer seine leere Wohnung wiedersah, setzte er sich an den Schreibtisch und teilte nun Ulrich in würdiger Kürze mit, daß es am besten sei, seine Mitteilung als ungeschehen zu betrachten. Aber von Ulrich traf bald darauf ein neuer Brief ein, worin er diese Auffassung ablehnte, Agathens Begehren, ohne daß sie davon wußte, wiederholte, und bloß in etwas höflicherer Ausführlichkeit Hagauer aufforderte, die nötigen Rechtsschritte in jeder ihm möglichen Weise zu erleichtern, wie es sich für einen Mann von seiner moralischen Höhe gehöre und auch aus dem Grunde wünschenswert sei, daß die üblen Begleitumstände einer öffentlichen Auseinandersetzung vermieden würden. Da erfaßte Hagauer den Ernst der Lage und ließ sich drei Tage Zeit, um eine Antwort zu finden, an der nachträglich nichts auszusetzen, noch zu bedauern sein sollte.
Er litt zwei von diesen drei Tagen an einem Gefühl, das so war, als hätte ihn jemand vor das Herz gestoßen. »Ein böser Traum!« sagte er sich mehrmals empfindsam, und wenn er sich nicht sehr zusammennahm, vergaß er, an die Wirklichkeit der Aufforderung zu glauben. Eine tiefe Unbequemlichkeit wirkte während dieser Tage in seiner Brust ganz ähnlich wie gekränkte Liebe, und zu ihr kam noch eine unbestimmbare Eifersucht, die sich wohl nicht gegen einen Liebhaber richtete, den er als Ursache von Agathens Verhalten vermutete, doch gegen ein ungreifbares Etwas, hinter das er sich zurückgesetzt fühlte. Es war das eine Art Beschämung, ähnlich der eines sehr ordentlichen Mannes, wenn er etwas zerschlagen oder vergessen hat: etwas, das im Kopf seit undenklichen Zeiten seinen festen Platz besaß, den man nicht mehr bemerkt, von dem aber vieles abhängt, war mit einemmal entzwei. Bleich und verstört, in wirklicher Qual, die nicht deshalb unterschätzt werden darf, weil ihr die Schönheit fehlte, ging Hagauer umher und wich den Menschen aus, zurückschaudernd vor den Erklärungen, die zu geben, und den Beschämungen, die zu ertragen wären. Erst am dritten Tag kam in seinen Zustand endlich Festigkeit: Hagauer besaß ebenso eine große natürliche Abneigung gegen Ulrich, wie dieser sie gegen ihn besaß, und obwohl sich das noch nie recht gezeigt hatte, tat es das jetzt plötzlich, indem er ahnungsvoll seinem Schwager alle Schuld an Agathens Verhalten beimaß, der offenbar von ihrem zigeunerhaft unruhigen Bruder der Kopf ganz verdreht worden sein mußte; er setzte sich an den Schreibtisch und verlangte in wenigen Worten die augenblickliche Rückkehr seiner Frau, ehern erklärend, daß er alles Weitere als ihr Gatte nur mit ihr selbst erörtern werde.
Von Ulrich kam eine Ablehnung, die ebenso kurz und ehern war.
Da entschied sich Hagauer, auf Agathe selbst einzuwirken; er fertigte Abschriften seines Briefwechsels mit Ulrich an, fügte ein langes, wohlüberlegtes Schreiben bei, und alles zusammen war es, was Agathe vor sich sah, als sie den großen, mit der Amtsoblate gesiegelten Umschlag öffnete.
Hagauer selbst war zumute gewesen, als könne das alles gar nicht sein, was sich da ereignen wolle. Von seinen dienstlichen Obliegenheiten zurückgekehrt, war er in der »verödeten Wohnung« am Abend vor einem Bogen Briefpapier gesessen wie seinerzeit Ulrich vor einem anderen und hatte nicht gewußt, wie beginnen. Aber in Hagauers Leben hatte schon wiederholt das bestens bekannte »Verfahren der Knöpfe« Erfolg gehabt, und er benutzte es auch diesmal. Es besteht darin, daß man auf seine Gedanken methodisch einwirkt, und zwar auch vor erregenden Aufgaben, ähnlich wie ein Mensch an seinen Kleidern Knöpfe annähen läßt, weil er nur Zeitverluste zu beklagen hätte, wenn er vermeinte, jene ohne diese rascher vom Leib zu bringen. Der englische Schriftsteller Surway zum Beispiel, dessen Arbeit darüber Hagauer heranholte, weil es ihm auch im Kummer wichtig blieb, sie mit seiner eigenen Anschauung zu vergleichen, unterscheidet fünf solcher Knöpfe im Vorgang des erfolgreichen Denkens: a) Beobachtungen an einem Ereignis, die eine Schwierigkeit in seiner Deutung unmittelbar empfinden lassen; b) die nähere Umgrenzung und Feststellung dieser Schwierigkeiten; c) die Vermutung einer möglichen Lösung; d) die vernunftgemäße Entwicklung der Folgen dieser Vermutung; e) weitere Beobachtung für ihre Annahme oder Ablehnung und damit Erfolg des Denkens. Hagauer hatte ein ähnliches Verfahren bereits mit Vorteil auf ein so weltmännisches Geschäft wie das Lawn-Tennis angewendet, als er es im Klub der Staatsbeamten erlernte, wodurch dieses Spiel einen beachtsamen geistigen Reiz für ihn gewann, in reinen Gefühlsangelegenheiten hatte er aber noch nie davon Gebrauch gemacht; denn sein alltägliches seelisches Erleben bestand zum größten Teil aus fachlichen Beziehungen und bei persönlicheren Vorkommnissen aus jenem »rechten Gefühl«, das eine Mischung aller in der weißen Rasse im gegebenen Fall möglichen und im Umlauf befindlichen Gefühle darstellt, mit einem gewissen Aufschlag an den lokal-, berufs- oder standesmäßig nächstliegenden. Die Knöpfe ließen sich darum auf das ungewöhnliche Begehren seiner Gattin, sich von ihm zu scheiden, nicht ohne Mangel an Übung anwenden, und gar das »rechte Gefühl« zeigt bei Schwierigkeiten, die einem persönlich nahgehn, die Eigenschaft, daß es sich leicht spaltet: Es sagte Hagauer einerseits, daß ein zeitgemäßer Mensch wie er durch vieles verpflichtet werde, dem Verlangen nach Auflösung eines Vertrauensverhältnisses keine Schwierigkeiten entgegenzusetzen; aber andrerseits, wenn man nicht will, sagt es eben auch vieles, was von solcher Verpflichtung freispricht, denn die heutzutage eingerissene Leichtfertigkeit in solchen Dingen ist keineswegs gutzuheißen. In einem solchen Fall, das war Hagauer bekannt, muß sich ein moderner Mensch »entspannen«, das heißt seine Aufmerksamkeit zerstreun, eine gelockerte Körperhaltung annehmen und auf das horchen, was dabei aus der größten Tiefe seines Inneren vernehmlich wird. Vorsichtig hielt er seine Überlegungen an, starrte auf den verwaisten Wandkalender und lauschte in sich hinein; nach einer Weile antwortete ihm denn auch eine Stimme, die von innen aus einer unter dem bewußten Denken liegenden Tiefe kam, genau das, was er sich schon gedacht hatte: die Stimme sagte, daß er sich ein derart unbegründetes Ansinnen wie das Agathes schließlich denn doch nicht bieten zu lassen brauche!
Damit war aber Professor Hagauers Geist auch schon unversehens vor Knopf a) bis e) Surways oder einer äquivalenten Knopfreihe niedergesetzt worden und empfand frisch belebt die Schwierigkeiten in der Deutung des von ihm zu beobachtenden Ereignisses. »Bin ich, Gottlieb Hagauer,« fragte sich Hagauer »etwa an diesem peinlichen Vorfall schuld?« Er prüfte sich und fand keinen einzigen Einwand gegen sein eigenes Verhalten. »Ist ein anderer Mann, den sie liebt, die Ursache?« fuhr er in den Vermutungen einer möglichen Lösung fort. Es bereitete ihm aber Schwierigkeit, das anzunehmen, denn, wenn er sich zu objektiver Überlegung zwang, war nicht recht einzusehen, was ein anderer Mann Agathe Besseres bieten sollte als er. Immerhin, diese Frage konnte so leicht von persönlicher Eitelkeit getrübt werden wie keine andere, er behandelte sie darum auf das genaueste; dabei eröffneten sich ihm Ausblicke, an die er noch nie gedacht hatte, und plötzlich fühlte sich Hagauer nach Punkt c), confer Surway, auf die Spur einer möglichen Lösung gebracht, die über d) und e) weiterführte: Zum erstenmal seit seiner Heirat fiel ihm eine Gruppe von Erscheinungen auf, die seines Wissens nur von Frauen berichtet werden, in denen die Liebe zum anderen Geschlecht ganz und gar keine tiefe oder leidenschaftliche ist. Es war ihm schmerzlich, daß er in seiner Erinnerung keinen einzigen Beweis jener voll geöffneten und traumverlorenen Hingabe fand, die er vorher, in seiner Junggesellenzeit, an weiblichen Personen kennengelernt hatte, deren sinnliche Lebensführung außer Zweifel stand, aber es bot ihm den Vorteil, daß er nun mit voller wissenschaftlicher Ruhe die Zerstörung seines ehelichen Glücks durch einen Dritten ausschloß. Agathes Verhalten setzte sich dadurch von selbst auf eine rein persönliche Auflehnung gegen dieses Glück herab, und zumal da sie ohne das geringste vorandeutende Anzeichen abgereist war, und binnen so kurzer Zeit, wie sonach übrigblieb, unmöglich eine begründete Sinnesänderung vorsichgegangen sein konnte, kam Hagauer zu der Überzeugung, die ihn nun nicht mehr verließ, daß Agathes unbegreifliches Benehmen nur als eine jener sich allmählich ansammelnden Versuchungen zur Lebensverneinung erklärt werden könne, von deren Vorkommen man bei Naturen hört, die nicht wissen, was sie wollen.
War Agathe aber wirklich eine solche Natur? Es blieb noch zu prüfen, und Hagauer kraute nachdenklich mit dem Federstiel seinen Bart. Sie machte wohl gewöhnlich den Eindruck eines »verträglichen Kameraden«, wie er das nannte, legte jedoch selbst angesichts der Fragen, die ihn am lebhaftesten beschäftigten, eine große Teilnahmlosigkeit an den Tag, um nicht sagen zu müssen Trägheit! Es war eigentlich etwas an ihr, das nicht zu ihm und nicht zu anderen Menschen und ihren Interessen stimmte; es widerstritt auch nicht; sie lachte ja mit oder wurde ernst, wo es sich gehörte, aber sie hatte, wenn er es recht überlegte, in all den Jahren immer einen etwas zerstreuten Eindruck gemacht. Sie schien dem, was man ihr mitteilte oder auseinandersetzte, Gehör zu schenken und es doch niemals zu glauben. Sie kam ihm, betrachtete man das genau, geradezu ungesund gleichgültig vor. Manchmal empfing man den Eindruck von ihr, daß sie ihre Umgebung überhaupt nicht auffasse...: Und plötzlich hatte seine Feder, ehe er es selbst wußte, begonnen in charaktervollen Bewegungen über das Papier zu eilen. »Du glaubst, wunder was es sei,« so schrieb er »wenn du dich für zu gut hältst, das Leben zu lieben, das ich dir zu bieten in der Lage bin und das, bei aller Bescheidenheit, ein reines und volles Leben ist: du hast es gleichsam immer mit der Feuerzange angefaßt, wie mich jetzt dünken will. Du hast dich dem Reichtum des Menschlichen und Sittlichen verweigert, den auch ein bescheidenes Leben zu bieten vermag, und selbst wenn ich annehmen müßte, daß du dich dazu durch irgend etwas berechtigt gefühlt haben könntest, hättest du den sittlichen Änderungswillen vermissen lassen und statt dessen lieber eine künstliche und phantastische Lösung gewählt!«
Er überlegte es noch einmal. Er musterte die Schüler, die durch seine Erzieherhände gegangen waren, um einen Fall zu finden, der ihm Aufschluß geben könnte; aber noch ehe er damit recht begonnen hatte, fiel ihm von selbst das fehlende Stück der Überlegung ein, das er bisher mit einem undeutlichen Unbehagen vermißt hatte. Agathe war in diesem Augenblick kein völlig persönlicher Fall mehr für ihn, zu dem es keinen allgemeinen Zugang gab; denn wenn er bedachte, wieviel sie aufzugeben bereit sei, ohne von einer besonderen Leidenschaft verblendet zu werden, so wurde er zu seiner Freude unausweichlich auf die grundlegende, der modernen Pädagogik bekannte Annahme geführt, daß es ihr an der Fähigkeit übersubjektiver Überlegung und an sicherem geistigen Kontakt mit der Umwelt fehle! Rasch schrieb er: »Wahrscheinlich bist du dir auch bei dem, was du jetzt unternehmen willst, durchaus nicht deutlich bewußt, was es sei; aber ich warne dich, ehe du einen bleibenden Entschluß fassest! Du bist vielleicht das strikteste Gegenteil einer ins Leben gerichteten und seiner kundigen Menschenart, wie ich sie selbst darstelle, aber gerade darum solltest du dich nicht leichtfertig der Stütze entäußern, die ich dir biete!« – Eigentlich wollte Hagauer ja etwas anderes schreiben. Denn die Intelligenz eines Menschen ist kein abgeschlossenes und beziehungsloses Vermögen, ihre Mängel ziehen sittliche Mängel nach sich, spricht man doch von moralischem Blödsinn, ebenso wie sittliche Mängel, was allerdings seltener beachtet wird, imstande sind, die Verstandeskräfte in der ihnen beliebenden Richtung abzulenken oder zu blenden! Hagauer sah also einen geschlossenen Typus vor seinem geistigen Auge, den er im Anschluß an schon bestehende Bestimmungen am ehesten geneigt war als eine »im ganzen ausreichend intelligente Sonderart des moralischen Blödseins zu bezeichnen, das sich dann bloß in bestimmten Ausfallserscheinungen ausdrückt«. Er brachte es nur nicht über sich, diesen aufschlußreichen Ausdruck zu verwenden, teils weil er es vermeiden wollte, seine entflohene Gattin noch mehr zu reizen, teils weil ein Laie solche Bezeichnungen gewöhnlich mißversteht, wenn sie auf ihn angewendet werden. Sachlich blieb aber daran festzuhalten, daß die beanstandeten Erscheinungen insgesamt in die große Gattung des Nicht-Vollsinnigen gehörten, und schließlich fiel Hagauer aus diesem Gegensatz zwischen Gewissen und Ritterlichkeit ein Ausweg ein, da sich die an seiner Frau zu beachtenden Ausfallserscheinungen in Anlehnung an eine weit verbreitete weibliche Minderleistung ja auch als sozialer Schwachsinn bezeichnen ließen! In dieser Auffassung beendete er seinen Brief in bewegten Worten. Mit dem prophetischen Ingrimm des verschmähten Liebhabers und Pädagogen schilderte er Agathe die asoziale, des Gemeinschaftsinns entbehrende und gefährdete Anlage ihrer Natur als eine »Minusvariante«, die nie und nirgends den Problemen des Lebens tatkräftig und neuschaffend entgegentrete, wie es »heutige Zeit« von »ihren Menschen« verlange, sondern »durch eine Glasscheibe von der Wirklichkeit getrennt« in gewählter Selbstvereinsamung verharre, dauernd am Rande der pathologischen Gefahr. »Wenn dir etwas an mir mißfiele, hättest du ihm entgegenwirken müssen« schrieb er; »aber die Wahrheit ist, daß dein Gemüt den Energien der Gegenwart nicht gewachsen ist und ihren Forderungen ausweicht! Ich habe dich nun vor deinem Charakter gewarnt« schloß er »und wiederhole, daß du eine verläßliche Stütze dringender benötigst als andere Menschen. In deinem eigenen Interesse fordere ich dich auf, unverzüglich zurückzukehren, und erkläre, daß es mir die Verantwortung, die ich als dein Gatte trage, verbietet, deinem Wunsche nachzugeben.«
Diesen Brief las Hagauer, ehe er ihn unterschrieb, noch einmal durch, fand ihn in der Erfassung des fraglichen Typus sehr unvollständig, aber änderte nichts mehr daran, außer daß er am Ende – die ungewohnte, stolz bewältigte Anstrengung, über seine Frau nachzudenken, als kräftige Ausatmung durch den Schnurrbart blasend und erwägend, wieviel eigentlich auch zu der Frage »Neue Zeit« noch gesagt werden müßte – eine ritterliche Wendung vom kostbaren Vermächtnis des verehrten verstorbenen Vaters einfügte, dort, wo das Wort Verantwortung stand.
Als Agathe das alles gelesen hatte, geschah das Wunderliche, daß der Inhalt dieser Ausführungen nicht ohne Eindruck auf sie blieb. Langsam ließ sie das Schreiben, nachdem sie es im Stehen, ohne daß sie sich die Zeit nahm sich zu setzen, noch einmal Wort für Wort durchgesehen hatte, sinken und reichte es Ulrich, der mit Verwunderung die Erregung seiner Schwester beobachtet hatte.