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2.

Es war Agathe, die diese Antwort gab. Die unheimlich schöne Ursachelosigkeit der Liebe und der leichte Rausch der Ungerechtigkeit stiegen aus vergangenen L eiden ieb schaften auf und versöhnten sie sogar mit dem Mangel an Würde und Ernst, dessen sie sich wegen ihres Spiels mit Professor Lindner zuweilen anklagte und immer schämte, wenn sie wieder in Ulrichs Nähe war. Ulrich aber hatte das Gespräch herbeigeführt, und während es dauerte, Lust darauf bekommen, sie nach ihren Lebenserinnerungen etwas auszuholen; denn sie urteilte ähnlich über diese Köstlichkeiten wie er von den seinen.

Nun sah sie ihn lachend an. „Hast du niemals einen Menschen über alles geliebt und dich deswegen verachtet?"

"Ich darf es verneinen; aber ich will es auch nicht empört von mir weisen" meinte Ulrich. „Es hätte geschehen sein können"

"Hast du nie einen Menschen trotz der unheimlichen Überzeugung geliebt , " fuhr Agathe angeregt fort, „daß dieser Mensch, mag er einen Bart oder einen Busen haben, und den man genau zu kennen meint, und schätzt, und der unaufhörlich von sich und dir redet, eigentlich nur zu Besuch bei der Liebe ist? Man könnte seine Gesinnung und seine Verdienste fortlassen, man könnte sein Schicksal ändern, man könnte ihn mit einem andern Bart und anderen Beinen ausstatten: man könnte beinahe ihn selber weglassen, und liebte ihn dennoch! - Das heißt, insoweit man ihn eben überhaupt liebt!" fügte sie abschweifend hinzu.

Ihre Stimme hatte einen tiefen Klang, mit einer unruhigen Helligkeit in ihrer Tiefe wie von einem Feuer. Nun setzte sie sich schuldbewußt nieder, weil sie in ungewolltem Eifer von ihrem Stuhl aufgesprungen war.

Auch Ulrich fühlte sich etwas schuldbewußt wegen dieses Gesprächs und lächelte. Denn e E r hatte mit keinem Wort etwa die Absicht gehabt, von der Liebe als einem der zeitgemäßen zwiespältigen Gefühle zu sprechen; die man nach neuestem Geschmack „ambivalent" nennt, was ungefähr besagt, daß die Seele, wie es unter Gaunern geschieht, immer mit dem linken Aug zwinkert, wenn sie mit der rechten Hand schwört. Es war nicht die Seelenkunde, die er suchte; hingegen hatte er sagen wollen, Sondern er hatte sich bloß daran ergötzt, daß es der Liebe, um zu entstehen und zu dauern, auf nichts wesentlich ankomme , . obwohl sie manchmal eines der heftigsten und bestimmtesten Gefühle sei. M Das heißt, m an liebt jemand trotz allem und ebenso gut wegen nichts; und das heißt, daß entweder das Ganze eine Einbildung ist oder diese Einbildung ein Ganzes, wie die Welt eines ist, in der kein Sperling vom Dach fällt, ohne daß es der Allfühlende inne gewahr wird.