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( 48 . .. Nächsten ..) 3.

Alltäglichkeit entspricht. Auf diese Weise geschah es, daß die Unterhaltung eines Tags eine Richtung einschlug, die bezeichnend für ihr Verhalten zueinander und zu ihrer Umwelt war, wenngleich sie noch keineswegs über das ihnen bekannte hinausführen mochte. Ulrich fragte: „Was bedeutet eigentlich der Auftrag: `Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!’?"

Agathe sah ihn von der Seite an.

"Offenbar: Liebe auch den Fernsten und Allerunnächsten!" fuhr Ulrich fort. „Aber was will es heißen, wie sich selbst? Wie liebt man sich denn selbst? In meinem Fall wäre die Antwort: Gar nicht! In den meisten anderen: Mehr als alles! Blind! Ohne zu fragen und zuchtlos!"

"Du bist zu kriegerisch; wer es gegen sich selbst ist, ist es auch gegen andere!" antwortete Agathe kopfschüttelnd. „Und wenn du dir selbst nicht genug bist, wie sollte gar ich es dir sein?" Sie sagte das in einem Ton, der zwischen dem heiter ertragenen Schmerzes und höflich gewendeten Gespräches lag. Aber Ulrich überhörte es, verblieb beim Allgemeinen und sah steif ins Weite. Er fuhr fort: „Vielleicht sagte ich besser: Gewöhnlich liebt sich jeder am meisten und kennt sich am wenigsten! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, hätte dann den Inhalt: Liebe ihn, ohne ihn zu kennen und unter allen Umständen. Und seltsam genug, wenn der Scherz erlaubt ist, fände sich auch in der Nächstenliebe wie in jeder anderen das Erbübel, vom Baume der Erkenntnis zu essen!"

Agathe blickte langsam auf. „Es hat mir gefallen, daß du einmal von mir gesagt hast, ich sei deine Liebe zu dir selbst, die du verloren und wiedergefunden hast. Aber nun sagst du, daß du dich nicht liebst, und mich, nach strenger Logik und Beispiel, nur deshalb, weil du mich nicht kennst! Beleidigt es mich nicht gar, daß ich deine Selbstliebe bin?" Der Schmerz der Stimme hatte nun vollends der Heiterkeit Platz gemacht.

Auch Ulrich scherzte. Er hatte gut fragen, ob es denn besser wäre, daß er sie liebe, obwohl er sie kenne. Denn auch das gehört zu r der Bestimmung der Nächstenliebe. Es beschreibt die Verlegenheit, in die sie die meisten Menschen versetzt. Sie lieben einander, mögen sich aber nicht. „Sie mißfallen sich gegenseitig oder wissen, daß sie es nach längerer Bekanntschaft tun werden; und geben sich einen viel zu großen Gegenschwung!" behauptete er.

Die Munterkeit dieses Wortwechsels war erkünstelt. Trotzdem diente auch er der Aufgabe, die Grenzen eines Gedankens, und eines Gefühls auszukundschaften, dessen Verkündigung - mochte seither auch was immer geschehen oder unterblieben sein - schon damals begonnen hatte, als Ulrich am Bett seiner von Reise und Ankunft ermüdeten Schwester zum erstenmal