MoE 3 | Zweites Buch | Dritter Teil | Kapitel 1-9

Als Ulrich gegen Abend des gleichen Tags in ...* ankam und aus dem Bahnhof trat, lag ein breiter, seichter Platz vor ihm, der an beiden Enden in Straßen auslief und eine beinahe schmerzliche Wirkung auf sein Gedächtnis ausübte, wie es einer Landschaft eigentümlich ist, die man schon oft gesehen und wieder vergessen hat.
»Ich versichere Ihnen, die Einkommen sind um zwanzig Prozent geringer geworden und das Leben um zwanzig Prozent teurer: das macht vierzig Prozent!« »Und ich versichere Ihnen, ein Sechstagerennen ist ein völkerverbindendes Ereignis!«: Diese Stimmen kamen dabei aus seinem Ohr; Kupeestimmen. Dann hörte er ganz deutlich sagen: »Trotzdem geht mir die Oper über alles!« »Das ist wohl ein Sport von Ihnen?« »Nein, eine Leidenschaft.« – Er bog den Kopf, als müßte er Wasser aus seinem Ohr schütteln: Der Zug war voll gewesen und die Reise lang; Tropfen allgemeinen Gesprächs, die während der Fahrt in ihn eingedrungen waren, quollen zurück. Ulrich hatte mitten in der Fröhlichkeit und Hast der Ankunft, die das Tor des Bahnhofs wie die Mündung eines Rohrs in die Ruhe des Platzes ausfließen ließ, gewartet, bis sie nur noch tropfenweise rann; nun stand er im Saugraum der Stille, die auf den Lärm folgt. Und zugleich mit der Unruhe seines Gehörs, die dadurch hervorgerufen wurde, fiel ihm eine ungewohnte Ruhe vor den Augen auf. Alles Sichtbare war darin stärker als sonst, und wenn er über den Platz blickte, so standen auf der anderen Seite ganz gewöhnliche Fensterkreuze so schwarz im Abendlicht auf bleichem Glasglanz, als wären sie die Kreuze von Golgatha. Auch was sich bewegte, löste sich vom Ruhenden der Straße in einer Weise los, wie es in sehr großen Städten nicht vorkommt. Treibendes wie Stehendes hatte hier offenbar Raum, seine Wichtigkeit zu weiten. Mit einiger Neugierde des Wiedersehens fand er das heraus und betrachtete die große Provinzstadt, in der er kleine, aber wenig angenehme Teile seines Lebens zugebracht hatte. In ihrem Wesen lag, wie er sehr wohl wußte, etwas Heimatlos-Koloniales: Ein ältester Kern deutschen Bürgertums, der vor Jahrhunderten auf slawische Erde geraten war, war da verwittert, so daß außer einigen Kirchen und Familiennamen kaum noch etwas an ihn erinnerte, und auch vom alten Sitz der Landstände, den diese Stadt später abgegeben hatte, war außer einem erhalten gebliebenen schönen Palast wenig mehr zu sehen; aber über diese Vergangenheit hatte sich in der Zeit der absoluten Verwaltung das große Aufgebot einer kaiserlichen Statthalterei gelagert mit seinen Zentralämtern der Provinz, mit den Haupt- und Hochschulen, den Kasernen, Gerichten, Gefängnissen, dem Bischofssitz, der Redoute, dem Theater, allen Menschen, die dazugehörten, und den Kaufleuten und Handwerkern, die sie nach sich zogen, so daß sich schließlich auch noch eine Industrie zugewanderter Unternehmer anschloß, deren Fabriken Haus an Haus die Vorstädte füllten und das Schicksal dieses Stücks Erde in den letzten Menschenaltern stärker beeinflußt hatten als alles andere. Diese Stadt hatte eine Geschichte, und sie hatte auch ein Gesicht, aber darin paßten die Augen nicht zum Mund oder das Kinn nicht zu den Haaren, und über allem lagen die Spuren eines stark bewegten Lebens, das innerlich leer ist. Es mochte sein, daß dies unter besonderen persönlichen Umständen große Ungewöhnlichkeiten begünstigte.
Um es mit einem Wort zu sagen, das ebensowenig einwandfrei ist: Ulrich fühlte etwas »seelisch Stoffloses«, darin man sich so verlor, daß es die Neigung zu zügellosen Einbildungen erweckte. Er trug das sonderbare Telegramm seines Vaters in der Tasche und kannte es auswendig: »Setze dich von meinem erfolgten Ableben in Kenntnis« hatte der alte Herr ihm mitteilen lassen – oder sollte man sagen mitgeteilt? – und darin drückte sich das schon aus, denn darunter stand die Unterschrift »dein Vater«. Se. Exzellenz, der Wirkliche Geheime Rat, scherzte nie in ernsten Augenblicken: der verschrobene Aufbau der Nachricht war darum auch verteufelt logisch, denn er war es selbst, der seinen Sohn benachrichtigte, wenn er in Erwartung seines Endes den Wortlaut niederschrieb oder jemand in die Feder sagte und die Geltung der so entstehenden Urkunde für den Augenblick nach seinem letzten Atemzug bestimmte; ja man konnte den Tatbestand vielleicht gar nicht richtiger ausdrücken, und doch flatterte von diesem Vorgang, worin die Gegenwart eine Zukunft zu beherrschen versuchte, die sie nicht mehr zu erleben vermochte, ein unheimlicher Leichenhauch zornig verwesten Willens zurück!
Bei diesem Verhalten, das ihn durch irgendeinen Zusammenhang auch an den geradezu sorgfältig unausgewogenen Geschmack kleiner Städte erinnerte, dachte Ulrich nicht ohne Besorgnis an seine in der Provinz verheiratete Schwester, der er nun wohl in wenigen Minuten begegnen sollte. Er hatte schon während der Reise an sie gedacht, denn er wußte nicht viel von ihr. Von Zeit zu Zeit waren mit den Briefen seines Vaters ordnungsgemäße Familiennachrichten zu ihm gelangt, etwa: »Deine Schwester Agathe hat geheiratet«, woran sich ergänzende Angaben schlossen, da Ulrich damals nicht hatte nach Hause kommen können. Und wohl ein Jahr später hatte er schon die Todesanzeige des jungen Gatten erhalten; und drei Jahre darauf war es, wenn er nicht irrte, gewesen, daß die Mitteilung: »deine Schwester Agathe hat sich zu meiner Befriedigung entschlossen, wieder zu heiraten« eintraf. Bei dieser zweiten Hochzeit vor fünf Jahren war er dann dabei gewesen und hatte seine Schwester durch einige Tage gesehn; aber er erinnerte sich nur, daß diese Tage wie ein Riesenrad aus lauter Weißzeug waren, das sich unablässig drehte. Und an den Gatten erinnerte er sich, der ihm mißfiel. Agathe mußte damals zweiundzwanzig Jahre alt gewesen sein, er selbst siebenundzwanzig, denn er hatte gerade das Doktorat erworben; also war seine Schwester jetzt siebenundzwanzig, und er hatte sie seit jener Zeit weder wiedergesehn, noch einen Brief mit ihr gewechselt. Er erinnerte sich bloß, daß der Vater später öfters geschrieben hatte: »In der Ehe deiner Schwester scheint, Gott sei es geklagt, nicht alles so zu sein, wie es könnte, obschon ihr Gatte ein vortrefflicher Mann ist.« Auch hieß es: »Ich habe mich sehr über die jüngsten Erfolge des Mannes deiner Schwester Agathe gefreut.« So ähnlich hatte es jedenfalls in den Briefen gestanden, denen er bedauerlicherweise niemals seine Aufmerksamkeit geschenkt hatte; aber einmal, das erinnerte Ulrich nun doch ganz genau, war mit einer tadelnden Bemerkung über die Kinderlosigkeit seiner Schwester die Hoffnung verbunden gewesen, daß sie sich trotzdem in ihrer Ehe wohlfühle, wenn auch ihr Charakter ihr niemals erlauben werde, das zuzugeben. – »Wie mag sie jetzt aussehn?« dachte er. Es hatte zu den Eigentümlichkeiten des alten Herrn gehört, der sie so sorgenvoll voneinander benachrichtigte, daß er die beiden in zartem Alter, gleich nach dem Tod ihrer Mutter, aus dem Haus tat; sie waren in getrennten Instituten erzogen worden, und Ulrich, der nicht guttat, hatte oft nicht auf Urlaub kommen dürfen, so daß er seine Schwester eigentlich schon seit ihrer Kindheit, wo sie sich allerdings sehr geliebt hatten, nicht mehr recht wiedergesehen hatte, ein einziges längeres Beisammensein ausgenommen, als Agathe eine Zehnjährige war.
Es erschien Ulrich natürlich, daß sie unter diesen Umständen auch keine Briefe wechselten. Was hätten sie einander wohl schreiben sollen?! Als Agathe das erstemal heiratete, war er, wie er sich jetzt erinnerte, Leutnant und lag mit einem Duellschuß im Spital: Gott, welcher Esel er war! Im Grunde genommen, wie viel verschiedene Esel sogar! Denn er kam darauf, daß die Leutnantserinnerung mit dem Schuß gar nicht daher gehöre: er war vielmehr beinahe schon Ingenieur gewesen und hatte »Wichtiges« zu tun, was ihn vom Familienfest fernhielt! Und von seiner Schwester hieß es später, daß sie ihren ersten Mann sehr geliebt habe: er erinnerte sich nicht mehr, durch wen er das erfuhr, aber was heißt schließlich »sie hatte sehr geliebt«?! Das sagt man so. Sie hatte wieder geheiratet, und den zweiten Mann mochte Ulrich nicht ausstehen: dies war das einzig Sichere! Nicht nur nach dem persönlichen Eindruck mochte er ihn nicht, sondern auch nach einigen Büchern von ihm, die er gelesen hatte, und es konnte schon sein, daß er seither seine Schwester nicht ganz unabsichtlich aus dem Gedächtnis verloren hatte. Gut gehandelt war das nicht; aber er mußte sich gestehn, daß er sich sogar in dem letzten Jahr, wo er an so vieles gedacht hatte, kein einziges Mal an sie erinnert hatte, und noch bei der Todesnachricht nicht. Aber am Bahnhof hatte er den Alten, der ihn abholte, gefragt, ob sein Schwager schon da sei, und als er erfuhr, daß Professor Hagauer erst zum Begräbnis erwartet werde, erfreute er sich daran, und obwohl bis zum Begräbnis höchstens zwei oder drei Tage fehlen konnten, kam ihm diese Zeit wie eine Klausur von unbegrenzter Dauer vor, die er jetzt neben seiner Schwester verbringen werde, als wären sie die vertrautesten Leute auf der Welt. Es würde vergeblich gewesen sein, wenn er sich gefragt hätte, wie das zusammenhänge; wahrscheinlich war der Gedanke »unbekannte Schwester« eine jener geräumigen Abstraktionen, in denen viele Gefühle Platz finden, die nirgends recht zu Hause sind.
Und während er von solchen Fragen beschäftigt wurde, war Ulrich langsam in die fremd vertraute Stadt hineingegangen, die sich vor ihm auftat. Er ließ einen Wagen mit seinem Gepäck, unter das er im letzten Augenblick vor der Abreise noch ziemlich viel Bücher getan hatte, und mit dem alten Diener folgen, der, schon zu seinen Kindheitserinnerungen gehörend, ihn abgeholt hatte und das Hausmeister- mit dem Hausmeier- und dem Universitätsdieneramt in einer Art vereinte, über deren innere Grenzen mit den Jahren Ungenauigkeit gekommen war. Wahrscheinlich war es dieser bescheiden-verschlossene Mann, dem Ulrichs Vater die Todesdepesche in die Feder gesagt hatte, und Ulrichs Füße gingen verwundert angenehm den Weg, der sie nach Hause führte, während seine Sinne jetzt wach und neugierig die frischen Eindrücke aufnahmen, mit denen jede wachsende Stadt überrascht, wenn man sie lange nicht gesehen hat. An einer bestimmten Stelle, deren sie sich früher entsannen als er, bogen Ulrichs Füße mit ihm vom Hauptweg ab, und er fand sich dann nach kurzer Zeit in einer schmalen, nur von zwei Gartenmauern gebildeten Gasse. Schräg stand dem Kommenden das knapp zweistöckige Haus mit dem höheren Mittelbau gegenüber, den alten Pferdestall zur Seite, und, noch immer an die Mauer des Gartens gedrückt, stand das kleine Häuschen, wo der Diener mit seiner Frau wohnte; es sah aus, als hätte sie trotz alles Vertrauens der ganz Alte möglichst weit von sich fortgeschoben und sie doch mit seinen Mauern umspannt. Ulrich war in Gedanken an den verschlossenen Garteneingang gelangt und hatte den großen Klopfring, der dort statt einer Glocke an der niederen, altersgeschwärzten Tür hing, aufschlagen lassen, ehe sein Begleiter gelaufen kam und den Irrtum berichtigte. Sie mußten um die Mauer zum Vordereingang zurück, wo der Wagen hielt, und erst da, in dem Augenblick, wo er die ungeöffnete Fläche des Hauses vor sich sah, fiel es Ulrich auf, daß ihn seine Schwester nicht vom Bahnhof abgeholt hatte. Der Diener meldete ihm, daß die gnädige Frau Migräne gehabt und sich nach Tisch zurückgezogen hätte, mit dem Auftrag, sie zu wecken, wenn der Herr Doktor käme. Ob seine Schwester öfters Migräne habe, fuhr Ulrich fort zu fragen und bereute sogleich diese Ungeschicklichkeit, die seine Fremdheit vor dem alten Vertrauten des väterlichen Hauses bloßstellte und an Familienbeziehungen rührte, über die man besser schwieg. »Die gnädige junge Frau hat Auftrag gegeben, in einer halben Stunde den Tee zu servieren« erwiderte wohlerzogen der Alte mit einem höflich blinden Dienergesicht, das in behutsamer Weise die Versicherung abgab, er verstünde nichts, was über seine Pflicht hinausgehe.
Unwillkürlich blickte Ulrich zu den Fenstern hinauf, in der Vermutung, es könnte Agathe dahinter stehn und sein Kommen mustern. Ob sie wohl angenehm sei, fragte er sich und stellte unbehaglich fest, daß der Aufenthalt recht mißlich sein werde, wenn sie ihm nicht gefalle. Daß sie weder zur Bahn, noch ans Haustor kam, erschien ihm allerdings als ein vertrauenerweckender Zug, und es zeigte sich darin eine gewisse Verwandtschaft des Empfindens, denn genau genommen wäre es ebenso unbegründet gewesen, ihm entgegenzueilen, wie wenn er selbst, kaum angekommen, an die Bahre seines Vaters hätte stürzen wollen. Er ließ sagen, daß er in einer halben Stunde bereit sein werde, und brachte sich ein wenig in Ordnung. Das Zimmer, worin er untergekommen war, lag im mansardenartigen zweiten Stockwerk des Mittelbaus und war sein Kinderzimmer gewesen, jetzt wunderlich ergänzt um einige offenbar nur zusammengeraffte Einrichtungsstücke, die zur Bequemlichkeit von Erwachsenen gehören. »Wahrscheinlich läßt es sich nicht anders ordnen, solange der Tote im Haus ist« dachte Ulrich und richtete sich auf den Trümmern seiner Kindheit nicht ohne Schwierigkeit ein, doch auch mit ein wenig angenehmen Gefühls, das wie Nebel aus diesem Boden aufstieg. Er wollte die Kleidung wechseln, und dabei kam ihm der Einfall, einen pyjamaartigen Hausanzug anzulegen, der ihm beim Auspacken in die Hände fiel. »Sie hätte mich doch wenigstens in der Wohnung gleich begrüßen sollen!« dachte er, und es lag ein wenig Zurechtweisung in der unbekümmerten Wahl dieses
Kleidungsstücks,
obwohl das Gefühl, seine Schwester werde schon irgendeinen Grund für ihr Verhalten haben, der ihm gefallen könne, auch erhalten blieb und dem Umkleiden etwas von der Höflichkeit verlieh, die in dem zwanglosen Ausdruck des Vertrauens liegt.
Es war ein großer, weichwolliger Pyjama, den er anzog, beinahe eine Art Pierrotkleid, schwarz-grau gewürfelt und an den Händen und Füßen ebenso gebunden wie in der Mitte; er liebte ihn wegen seiner Bequemlichkeit, die er nach der durchwachten Nacht und der langen Reise angenehm fühlte, während er die Treppe hinabstieg. Aber als er das Zimmer betrat, wo ihn seine Schwester erwartete, wunderte er sich sehr über seinen Aufzug, denn er fand sich durch geheime Anordnung des Zufalls einem großen, blonden, in zarte graue und rostbraune Streifen und Würfel gehüllten Pierrot gegenüber, der auf den ersten Blick ganz ähnlich aussah wie er selbst.
»Ich habe nicht gewußt, daß wir Zwillinge sind!« sagte Agathe, und ihr Gesicht leuchtete erheitert auf.

Sie hatten Sie hatten sich nicht zum Willkommen geküßt, sondern standen bloß freundlich voreinander, wechselten dann die Stellung, und Ulrich konnte seine Schwester betrachten. Sie paßten in der Größe zusammen. Agathes Haar war heller als seines, aber von der gleichen duftigen Trockenheit der Haut, die er als das einzige an seinem eigenen Körper liebte. Ihre Brust ging nicht in Brüsten verloren, sondern war schlank und kräftig, und die Glieder seiner Schwester schienen die lang-schmale Spindelform zu haben, die natürliche Leistungsfähigkeit mit Schönheit vereint.
»Ich hoffe, deine Migräne ist vorüber, man merkt nichts mehr von ihr« sagte Ulrich.
»Ich hatte gar nicht Migräne, ich habe dir das nur der Einfachheit halber sagen lassen,« erklärte sie »weil ich dir doch durch den Diener nicht gut eine verwickeltere Mitteilung zukommen lassen konnte: ich war einfach faul. Ich habe geschlafen. Ich habe mir hier angewöhnt, in jeder freien Minute zu schlafen. Ich bin überhaupt faul; ich glaube aus Verzweiflung. Und als ich die Nachricht empfing, daß du
kämst, sagte ich mir: Hoffentlich werde ich jetzt zum letzten Mal schläfrig sein, und da gab ich mich einer Art Genesungsschlaf hin: Für den Gebrauch des Dieners habe ich alles das nach sorgfältiger Überlegung Migräne genannt.«
»Du treibst gar keinen Sport?« fragte Ulrich.
»Ein wenig Tennis. Aber ich verabscheue Sport.«
Er betrachtete, während sie sprach, noch einmal ihr Gesicht. Es kam ihm nicht sehr ähnlich dem seinen vor; aber vielleicht irrte er, es mochte ihm ähnlich sein wie ein Pastell einem Holzschnitt, so daß man über der Verschiedenheit des Materials das Übereinstimmende der Linien- und Flächenführung übersah. Dieses Gesicht beunruhigte ihn durch irgend etwas. Nach einer Weile kam er darauf, daß er einfach nicht erkennen konnte, was es ausdrücke. Es fehlte darin das, was die gewöhnlichen Schlüsse auf die Person erlaubt. Es war ein inhaltsvolles Gesicht, aber nirgends war darin etwas unterstrichen und in der geläufigen Weise zu Charakterzügen zusammengefaßt.
»Wie kommt es, daß du dich auch so angezogen hast?« fragte Ulrich.
»Ich habe es mir nicht klar gemacht« erwiderte Agathe. »Ich dachte, daß es nett sei.«
»Es ist sehr nett!« meinte Ulrich lachend. »Aber geradezu ein Taschenspielerstück des Zufalls! Und Vaters Tod hat auch dich, wie ich sehe, nicht sehr erschüttert?«
Agathe hob langsam ihren Körper auf die Fußspitzen und ließ ihn ebenso wieder sinken.
»Ist dein Mann auch schon hier?« fragte ihr Bruder, um etwas zu sagen.
»Professor Hagauer kommt erst zum Begräbnis.« – Sie schien sich der Gelegenheit zu erfreuen, den Namen so förmlich aussprechen und von sich wegstellen zu können wie etwas Fremdes.
Ulrich wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. »Ja, das habe ich gehört« sagte er.
Sie sahen einander wieder an, und dann gingen sie, wie es die sittliche Gewohnheit nahelegt, in das kleine Zimmer, wo sich der Tote befand.
Den ganzen Tag schon war dieses Zimmer künstlich verfinstert gewesen; es war satt von Schwarz. Blumen und brennende Kerzen leuchteten und rochen darin. Die zwei Pierrots standen hochaufgerichtet vor dem Toten und schienen ihm zuzusehn.
»Ich werde nicht mehr zu Hagauer zurückkehren!« sagte Agathe, damit es gesagt sei. Man konnte fast auf den Gedanken kommen, daß es auch der Tote hören solle.
Der lag auf seinem Sockel, wie er es angeordnet hatte: im Frack, das Bahrtuch bis zur halben Höhe der Brust, darüber das steife Hemd hervorkam, die Hände gefaltet ohne Kruzifix, die Orden angelegt. Kleine harte Augenbögen, eingefallene Wangen und Lippen. In die schauerliche, augenlose Totenhaut eingenäht, die noch ein Teil des Wesens ist und schon fremd; der Reisesack des Lebens. Ulrich fühlte sich unwillkürlich an der Wurzel des Daseins erschüttert, wo kein Gefühl und kein Gedanke ist; aber nirgends sonst. Wenn er es hätte aussprechen müssen, hätte er nur zu sagen vermocht, daß ein lästiges Verhältnis ohne Liebe geendet habe. So, wie eine schlechte Ehe die Menschen schlecht macht, die sich nicht von ihr befreien können, tut es jedes für die Ewigkeit berechnete, schwer aufliegende Band, wenn das Zeitliche unter ihm wegschrumpft.
»Ich hätte es gerne gehabt, daß du schon früher kämst,« berichtete Agathe weiter »aber Papa hat es nicht erlaubt. Er ordnete alles, was seinen Tod anging, selbst. Ich glaube, es wäre ihm peinlich gewesen, unter deinen Augen zu sterben. Ich lebe schon zwei Wochen hier; es war entsetzlich.«
»Hat er wenigstens dich geliebt?« fragte Ulrich.
»Er hat alles, was er geordnet wissen wollte, seinem alten Diener aufgetragen, und von da an machte er den Eindruck eines Menschen, der nichts zu tun hat und sich bestimmungslos fühlt. Aber ungefähr alle Viertelstunden hat er den Kopf gehoben und nachgesehn, ob ich im Zimmer sei. Das war in den ersten Tagen. In den folgenden sind halbe Stunden und später ganze daraus geworden, und während des schrecklichen letzten Tags ist es überhaupt nur noch zwei- oder dreimal geschehn. Und in allen Tagen hat er kein Wort zu mir gesprochen, außer wenn ich ihn etwas fragte.«
Ulrich dachte, während sie das erzählte: »Sie ist eigentlich hart. Sie konnte schon als Kind in einer stillen Weise ungemein eigensinnig sein. Trotzdem sieht sie nachgiebig aus?« Und plötzlich erinnerte er sich an eine Lawine. Er hatte einmal in einem Wald, der von einer Lawine zerrissen wurde, beinahe das Leben verloren. Sie bestand aus einer weichen Wolke von Schneestaub, die, von einer unaufhaltsamen Gewalt erfaßt, hart wie ein stürzender Berg wurde.
»Hast du die Depesche an mich aufgegeben?« fragte er.
»Natürlich der alte Franz! Das war alles schon geordnet. Er hat sich auch nicht von mir pflegen lassen. Er hat mich bestimmt nie geliebt, und ich weiß nicht, warum er mich herkommen ließ. Ich habe mich schlecht gefühlt und auf meinem Zimmer eingesperrt, sooft ich konnte. Und in einer solchen Stunde ist er gestorben.«
»Wahrscheinlich hat er dir damit beweisen wollen, daß du einen Fehler begangen hast. Komm!« sagte Ulrich bitter und zog sie hinaus. »Aber vielleicht hat er wollen, daß du ihm die Stirn streichelst? Oder neben seinem Lager niederkniest? Wenn schon aus keinem anderen Grund, als weil er immer gelesen hatte, daß es sich beim letzten Abschied von einem Vater so gehört. Und hat es nicht über die Lippen gebracht, dich darum zu bitten?!«
»Vielleicht« sagte Agathe.
Sie waren noch einmal stehen geblieben und sahen ihn an.
»Eigentlich ist alles das entsetzlich!« sagte Agathe.
»Ja« meinte Ulrich. »Und man weiß so wenig davon.«
Als sie den Raum verließen, blieb Agathe noch einmal stehn und sprach Ulrich an: »Ich überfalle dich mit etwas, woran dir natürlich nichts gelegen sein kann: aber ich habe mir gerade während Vaters Krankheit vorgenommen, daß ich unter keinen Umständen zu meinem Mann zurückkehre!«
Ihren Bruder machte ihre Hartnäckigkeit unwillkürlich lächeln, denn Agathe hatte eine senkrechte Falte zwischen den Augen und sprach heftig; sie schien zu fürchten, daß er sich nicht auf ihre Seite stellen werde, und erinnerte an eine Katze, die große Angst hat und darum tapfer zum Angriff übergeht.
»Ist er einverstanden?« fragte Ulrich.
»Er weiß noch von nichts« sagte Agathe. »Aber er wird nicht einverstanden sein!«
Der Bruder sah seine Schwester fragend an. Aber sie schüttelte heftig den Kopf. »O nein, was du denkst, ist es nicht: Niemand dritter ist im Spiel!« erwiderte sie.
Damit war dieses Gespräch vorläufig zu Ende. Agathe entschuldigte sich dafür, daß sie auf Ulrichs Hunger und Müdigkeit nicht mehr Rücksicht genommen habe, führte ihn in ein Zimmer, wo der Tee angerichtet war, und da etwas fehlte, ging sie selbst nach dem Rechten zu sehn. Dieses Alleinsein benutzte Ulrich, sich ihren Gatten zu vergegenwärtigen, so gut er es vermochte, um sie besser zu verstehn. Der war ein mittelgroßer Mann mit eingezogenem Kreuz, rund in derb geschneiderten Hosen steckenden Beinen, etwas wulstigen Lippen unter einem borstigen Schnurrbart und einer Liebhaberei für großgemusterte Krawatten, die wohl anzeigen sollte, daß er kein gewöhnlicher, sondern ein zukunftswilliger Schulmeister sei. Ulrich fühlte wieder sein altes Mißtrauen gegen Agathes Wahl erwachen, aber daß dieser Mann geheime Laster verbergen sollte, war ganz auszuschließen, wenn man sich an das offene Leuchten erinnerte, das von Stirn und Augen Gottlieb Hagauers glänzte. »Das ist doch einfach der aufgeklärte tüchtige Mensch, der Brave, der die Menschheit auf seinem Felde fördert, ohne sich in Dinge zu mischen, die ihm ferne liegen« stellte Ulrich fest, wobei er sich auch an die Schriften Hagauers wieder erinnerte, und versank in nicht ganz angenehme Gedanken.
Man kann solche Menschen schon ursprünglich in ihrer Schülerzeit kennzeichnen. Sie lernen weniger – wie man es, die Folge mit der Ursache verwechselnd, benennt – gewissenhaft als ordentlich und praktisch. Sie legen sich jede Aufgabe vorerst zurecht, wie man sich abends die Kleidung des nächsten Tags bis auf die Knöpfe zurechtlegen muß, wenn man morgens rasch und ohne Fehlgriff fertig werden will; es gibt keinen Gedankengang, den sie nicht mittels fünf bis zehn solcher vorbereiteten Knöpfe fest in ihr Verständnis heften könnten, und man muß einräumen, daß dieses sich danach sehen lassen kann und der Untersuchung standhält. Sie werden dadurch Vorzugsschüler, ohne ihren Kameraden moralisch unangenehm zu sein, und Menschen, die wie Ulrich von ihrem Wesen bald zu einem leichten Übermaß, bald zu einem ebenso geringfügigen Untermaß verleitet werden, bleiben auf eine Weise, die so leise schleicht wie das Schicksal, hinter ihnen zurück, auch wenn sie viel begabter sind. Er bemerkte, daß er vor dieser Vorzugsart Menschen eigentlich eine geheime Scheu habe, denn ihre gedankliche Genauigkeit ließ seine eigene Schwärmerei für Genauigkeit ein wenig windig erscheinen. »Sie haben nicht die Spur von Seele« dachte er »und sind gutmütige Menschen; nach dem sechzehnten Jahr, wenn sich die jungen Leute für geistige Fragen erhitzen, bleiben sie scheinbar hinter den andern ein wenig zurück und haben nicht recht die Fähigkeit, neue Gedanken und Gefühle zu verstehn, aber sie arbeiten auch da mit ihren zehn Knöpfen, und es kommt der Tag, wo sie sich darüber ausweisen können, daß sie immer alles verstanden haben, ›freilich ohne alle unhaltbaren Extreme‹, und schließlich sind sie es noch, die den neuen Ideen Eingang ins Leben verschaffen, wenn diese für andere längst verklungene Jugend geworden sind oder einsame Übertreibung!« So konnte sich Ulrich, als seine Schwester wieder eintrat, zwar noch immer nicht vorstellen, was ihr eigentlich begegnet sein mochte, aber er fühlte, daß ein Kampf gegen ihren Mann, und sei es selbst ein ungerechter, etwas wäre, das eine ganz nichtswürdige Neigung besäße, ihm Vergnügen zu bereiten.
Agathe schien es für aussichtslos zu halten, ihren Entschluß vernünftig zu erklären. Ihre Ehe befand sich, was man von einem Charakter wie Hagauer auch nicht anders erwarten durfte, in vollkommenster äußerer Ordnung. Kein Streit, kaum Meinungsverschiedenheiten; schon deshalb nicht, weil Agathe, wie sie erzählte, ihre eigene Meinung in keiner Frage ihm anvertraute. Natürlich keine Exzesse, nicht Trunk, noch Spiel. Nicht einmal Junggesellengewohnheiten. Gerechte Verteilung der Einkommen. Geordnete Wirtschaft. Ruhiger Ablauf von geselligem Beisammensein zu vielen und ungeselligem zu zweit. »Wenn du ihn also einfach grundlos verläßt,« sagte Ulrich »wird die Ehe auf dein Verschulden geschieden werden; vorausgesetzt, daß er klagt.«
»Er soll klagen!« verlangte Agathe.
»Vielleicht wäre es gut, ihm einen kleinen Vermögensvorteil einzuräumen, wenn er in eine einvernehmliche Lösung willigt?«
»Ich habe nur das mit mir genommen,« erwiderte sie »was man für eine dreiwöchige Reise braucht, und außerdem ein paar kindische Dinge und Erinnerungen aus der Zeit vor Hagauer. Alles andere soll er zurückbehalten, ich mag es nicht. Aber er soll nicht den kleinsten Vorteil in Zukunft von mir haben!«
Diese Sätze rief sie wieder überraschend heftig aus. Man konnte es vielleicht so verstehn,
daß Agathe sich dafür rächen wolle, diesem Mann in früherer Zeit zuviel Vorteile eingeräumt zu haben. Ulrichs Kampflust, sein Sportsinn, seine Erfindungsgabe im Überwinden von Schwierigkeiten wurden nun geweckt, obgleich er das ungern sah; denn es war wie die Wirkung eines Erregungsmittels, das die äußeren Affekte in Bewegung bringt, während die inneren doch noch ganz unberührt blieben. Er lenkte das Gespräch ab und suchte zögernd einen Überblick. »Ich habe einiges von ihm gelesen und gehört« sagte er; »soviel ich weiß, gilt er im Gebiet des Unterrichts und der Erziehung sogar als ein kommender Mann!«
»Ja, das tut er« erwiderte Agathe.
»Soweit ich seine Schriften kenne, ist er nicht nur ein in allen Sätteln gerechter Schulmeister, sondern ist auch frühzeitig für eine Reform unserer höheren Lehranstalten eingetreten. Ich erinnere mich, einmal ein Buch von ihm gelesen zu haben, worin einerseits von dem unersetzlichen Wert des historisch-humanistischen Unterrichts für die sittliche Bildung die Rede war und ebenso andererseits von dem unersetzlichen Wert naturwissenschaftlich-mathematischen Unterrichts für die geistige Bildung und drittens von dem unersetzlichen Wert, den das geballte Lebensgefühl des Sports und der militärischen Erziehung für die Bildung zur Tat hat. Stimmt das?«
»Das wird wohl stimmen« meinte Agathe; »aber hast du beobachtet, wie er zitiert?«
»Wie er zitiert? Warte: mir ist dunkel, daß mir wirklich etwas aufgefallen ist. Er zitiert sehr viel. Er zitiert die alten Meister. Er – natürlich zitiert er auch die Gegenwärtigen, und jetzt weiß ich es: er zitiert in einer für einen Schulmeister geradezu revolutionären Weise nicht nur die Schulgrößen, sondern auch die Flugzeugerbauer, Politiker und Künstler des Tags... Aber das ist schließlich doch nur das, was ich schon vorhin gesagt habe...?« endete er mit dem kleinlauten Abschlußgefühl, womit eine Erinnerung, die ihr Geleise verfehlt hat, auf den Prellbock auffährt.
»Er zitiert so,« ergänzte Agathe »daß er beispielsweise in der Musik bedenkenlos bis zu Richard Strauß oder in der Malerei bis zu Picasso gehen wird; niemals aber wird er, und sei es auch nur als das Beispiel von etwas Falschem, einen Namen nennen, der sich nicht schon ein gewisses Hausrecht in den Zeitungen zumindest dadurch erworben hat, daß sie sich tadelnd mit ihm beschäftigen!«
So war es. Das hatte Ulrich in seiner Erinnerung gesucht. Er blickte auf. Agathens Antwort erfreute ihn durch den Geschmack und die Beobachtung, die sich in ihr aussprachen. »So ist er mit der Zeit ein Führer geworden, indem er als einer der ersten hinter ihr drein ging« ergänzte er lachend. »Alle, die noch später kommen, sehen ihn schon vor sich! Aber liebst du denn unsere Ersten?«
»Ich weiß nicht. Jedenfalls zitiere ich nicht.«
»Immerhin, laß uns bescheiden sein« meinte Ulrich. »Der Name deines Gatten bedeutet ein Programm, das heute schon vielen als das Höchste gilt. Sein Wirken stellt einen soliden kleinen Fortschritt dar. Sein äußerer Aufstieg kann nicht mehr lange säumen. Aus ihm wird über kurz oder lang mindestens ein Universitätsprofessor werden, obgleich er sich mit seinem Brotberuf als Mittelschullehrer geschleppt hat; und ich, siehst du, der ich gar nichts anderes zu tun hatte, als was auf meinem geraden Weg lag, bin heute so weit, daß es wahrscheinlich nicht einmal zur Dozentur bei mir kommt: Das ist schon etwas!«
Agathe war enttäuscht, und wahrscheinlich war das die Ursache davon, daß ihr Gesicht den porzellanenen und nichtssagenden Ausdruck einer Dame annahm, während sie liebenswürdig erwiderte: »Ich weiß nicht, vielleicht hast du auf Hagauer Rücksichten zu nehmen?«
»Wann soll er eintreffen?« fragte Ulrich.
»Erst zum Begräbnis; mehr Zeit nimmt er sich nicht. Aber keinesfalls soll er hier im Haus wohnen, das gestatte ich nicht!«
»Wie du willst!« entschied sich Ulrich unerwartet. »Ich werde ihn abholen und vor einem Hotel absetzen. Und dort werde ich ihm also, wenn du es wünschest, sagen: ›Das Zimmer für Sie ist hier gesattelt!‹«
Agathe war überrascht und plötzlich begeistert. »Das wird ihn furchtbar ärgern, weil es Geld kostet, und er erwartet sicher, bei uns wohnen zu können!« Ihr Gesicht hatte sich augenblicklich geändert und etwas kindlich Wildes zurückgewonnen wie bei einem Bubenstück.
»Wie ist denn alles geregelt?« fragte ihr Bruder. »Gehört dieses Haus dir, mir oder uns beiden? Ist ein Testament da?«
»Papa hat mir ein großes Paket übergeben lassen, worin alles stehen soll, was wir wissen müssen.« – Sie gingen in das Arbeitszimmer, das zur anderen Seite des Toten lag.
Sie glitten wieder durch Kerzenglanz, Blumenduft, durch den Kreis dieser zwei Augen, die nichts mehr sahen. In dem flackernden Halbdunkel war Agathe für eine Sekunde nur ein schimmernder Nebel von Gold, Grau und Rosa. Das Testament fand sich vor, aber sie kehrten mit den Papieren zu ihrem Teetisch zurück, wo sie das Schriftenpaket dann zu öffnen vergaßen.
Denn als sie sich niederließen, teilte Agathe ihrem Bruder mit, daß sie so gut wie getrennt von ihrem Mann lebe, wenn auch unter dem gleichen Dach; sie sagte nicht, wie lange es schon so sei.
Es machte zunächst einen schlechten Eindruck auf Ulrich. Wenn verheiratete Frauen glauben, daß ein Mann ihr Geliebter werden könnte, pflegen viele von ihnen ihm dieses Märchen anzuvertraun; und obgleich seine Schwester ihre Mitteilung verlegen, ja eigentlich verstockt vorgebracht hatte, mit einem ungeschickten Entschluß, irgend einen Anstoß zu geben, was man deutlich hindurchfühlte, verdroß es ihn, daß ihr nichts Besseres ihm aufzubinden eingefallen sei, und er hielt es für eine Übertreibung. »Ich habe überhaupt nie begriffen, wie du mit einem solchen Mann hast leben können!« entgegnete er offen.
Agathe meinte, daß der Vater es gewollt habe; und was sie dagegen hätte tun sollen, fragte sie.
»Aber du warst doch damals schon Witwe und keine unmündige Jungfrau!«
»Gerade darum. Ich war zu Papa zurückgekehrt; allgemein sagte man damals, ich sei noch zu jung, um schon allein zu leben, denn wenn ich auch Witwe war, so war ich doch erst neunzehn Jahre alt; und dann habe ich es eben hier nicht ausgehalten.«
»Aber warum hast du dir nicht einen anderen Mann gesucht? Oder studiert, und auf diese Weise ein selbständiges Leben begonnen?« fragte Ulrich rücksichtslos.
Agathe schüttelte bloß den Kopf. Erst nach einer kleinen Pause antwortete sie: »Ich habe dir schon gesagt, daß ich faul bin.«
Ulrich fühlte, daß es keine Antwort war. »Du hast also einen besonderen Grund gehabt, Hagauer zu heiraten!?«
»Ja.«
»Du hast einen anderen geliebt, den du nicht bekommen konntest?«
Agathe zögerte. »Ich habe meinen verstorbenen Mann geliebt.«
Ulrich bedauerte, daß er das Wort Liebe so gewöhnlich gebraucht hatte, als hielte er die Wichtigkeit der gesellschaftlichen Einrichtung, die es bezeichnet, für unverbrüchlich. »Wenn man Trost spenden will, schöpft man doch sofort eine Bettelsuppe!« dachte er. Trotzdem fühlte er sich versucht, in der gleichen Weise weiterzureden. »Und dann hast du bemerkt, was dir widerfahren ist, und hast Hagauer Schwierigkeiten bereitet« meinte er.
»Ja« bestätigte Agathe. »Aber nicht gleich; – erst spät« fügte sie hinzu. »Sehr spät sogar.«
Hier gerieten sie ein klein wenig in Streit.
Es war zu sehen, daß diese Geständnisse Agathe Überwindung kosteten, obgleich sie sie aus freien Stücken darbrachte und offenbar, wie es ihrem Alter entsprach, in der Gestaltung des Geschlechtslebens einen wichtigen Gesprächsstoff für jedermann sah. Sie schien es gleich beim ersten Mal auf Verständnis oder Unverständnis ankommen lassen zu wollen, suchte Vertrauen und war nicht ohne Freimut und Leidenschaft entschlossen, sich den Bruder zu erobern. Aber Ulrich, noch immer moralisch in Geberlaune, vermochte nicht, ihr sofort entgegenzukommen. Er war trotz der Kraft seiner Seele keineswegs immer frei von den Vorurteilen, die sein Geist verwarf, da er zu oft sein Leben hatte gehen lassen, wie es wollte, und seinen Geist anders. Und weil er seinen Einfluß auf Frauen zu oft mit der Lust eines Jägers am Fangen und Beobachten ausgenutzt und mißbraucht hatte, war ihm fast immer auch das dazugehörende Bild begegnet, worin die Frau das Wild ist, das unter dem Liebesspeer des Mannes zusammenbricht, und es saß ihm die Wollust der Demütigung im Gedächtnis, der sich die liebende Frau unterwirft, während der Mann von einer ähnlichen Hingabe weit entfernt ist. Diese männliche Machtvorstellung von der weiblichen Schwäche ist heute noch recht gewöhnlich, obwohl mit den einander folgenden Wellen der Jugend daneben neuere Auffassungen entstanden sind, und die Natürlichkeit, mit der Agathe ihre Abhängigkeit von Hagauer behandelte, verletzte ihren Bruder. Es kam Ulrich vor, seine Schwester habe eine Schmach erlitten, ohne sich ihrer recht bewußt zu sein, als sie sich unter den Einfluß eines Mannes begab, der ihm mißfiel, und durch Jahre darunter verharrte. Er sprach es nicht aus, aber Agathe mußte wohl etwas Ähnliches in seinem Gesicht gelesen haben, denn sie sagte plötzlich: »Ich konnte ihm doch nicht gleich davonlaufen, wenn ich ihn schon geheiratet hatte; das wäre überspannt gewesen!«
Ulrich – immer der Ulrich im Zustand des älteren Bruders und spendend-erzieherischer Begriffsverarmung – wurde heftig hochgerissen und rief aus: »Wäre es wirklich überspannt, Abscheu zu erleiden und daraus sofort alle Folgerungen zu ziehen?!« Er suchte es zu mildern, indem er hinterdrein lächelte und seine Schwester so freundlich wie möglich ansah.
Auch Agathe sah ihn an; ihr Gesicht war ganz geöffnet von dieser Anstrengung, mit der sie in seinen Zügen forschte. »Ein gesunder Mensch ist Peinlichkeiten gegenüber doch nicht so empfindlich?!« wiederholte sie. »Was liegt schließlich daran!«
Das hatte zur Folge, daß sich Ulrich zusammennahm und seine Gedanken nicht länger einem Teil-Ich überlassen wollte. Er war jetzt wieder der Mann des funktionalen Verstehens. »Du hast recht,« sagte er »was liegt schließlich an den Vorgängen als solchen! Es kommt auf das System von Vorstellungen an, durch das man sie betrachtet, und auf das persönliche System, in das sie eingefügt sind.«
»Wie sagst du das?« fragte Agathe mißtrauisch.
Ulrich entschuldigte sich für seine abstrakte Ausdrucksweise, aber während er nach einem leicht eingänglichen Vergleich suchte, kehrte seine brüderliche Eifersucht wieder und beeinflußte seine Wahl: »Nehmen wir an, daß eine Frau, die uns nicht gleichgültig ist, vergewaltigt worden sei« erklärte er. »Nach einem heroischen Vorstellungssystem müßten wir dann Rache oder Selbstmord erwarten; nach einem zynisch-empirischen, daß sie es abschüttle wie eine Henne; und was sich heute wirklich vollzöge, wäre wohl ein Gemisch aus beidem: diese innere Unwissenheit ist aber häßlicher als alles.«
Aber Agathe war auch mit dieser Fragestellung nicht einverstanden. »Kommt es dir denn so schrecklich vor?« fragte sie einfach.
»Ich weiß nicht. Es schien mir, daß es demütigend sei, mit einem Menschen zu leben, den man nicht liebt. Aber jetzt – wie du willst!«
»Ist es schlimmer als wenn eine Frau, die sich eher als drei Monate nach ihrer Scheidung wieder verheiraten will, im Auftrag des Staats vom Amtsarzt an der Gebärmutter untersucht wird, aus Gründen des Erbrechts, ob sie schwanger sei? Daß es das gibt, habe ich gelesen!« Agathes Stirn schien sich im Zorn der Verteidigung zu runden und hatte wieder die kleine lotrechte Falte zwischen den Augenbrauen. »Und darüber kommt jede hinweg, wenn es sein muß!« sagte sie verächtlich.
»Ich widerspreche dir nicht« entgegnete Ulrich; »alle Geschehnisse gehen, wenn sie einmal wirklich da sind, vorbei wie Regen und Sonnenschein. Wahrscheinlich bist du viel vernünftiger als ich, wenn du das natürlich ansiehst; aber die Natur des Mannes ist nicht natürlich, sondern naturändernd und darum manchmal überspannt.« Sein Lächeln bat um Freundschaft, und sein Auge sah, wie jung ihr Gesicht war. Wenn es sich erregte, bekam es fast keine Falten, sondern wurde von dem, was dahinter vorging, zu noch größerer Glätte gespannt, wie ein Handschuh, in dem sich die Faust ballt.
»Ich habe nie so allgemein darüber nachgedacht« erwiderte sie jetzt. »Aber nachdem ich dich gehört habe, kommt wieder mir vor, daß ich schrecklich im Unrecht gelebt habe!«
»Alles rührt nur davon her,« beglich ihr Bruder scherzend dieses gegenseitige Schuldbekenntnis »daß du mir schon so viel freiwillig gesagt hast, und doch nicht das Entscheidende. Wie soll ich das Richtige treffen, wenn du mir nichts von dem Mann anvertraust, wegen dessen du Hagauer endlich doch verläßt!«
Agathe sah ihn wie ein Kind an oder wie ein Student, der von seinem Erzieher gekränkt wird: »Muß es denn ein Mann sein?! Kann es nicht von selbst kommen? Habe ich etwas schlecht gemacht, weil ich ohne Liebhaber durchgegangen bin? Ich würde dich vielleicht anlügen, wenn ich behaupten wollte, daß ich nie einen gehabt habe; so lächerlich will ich auch nicht sein: aber ich habe keinen und würde es dir verübeln, wenn du glaubtest, daß ich durchaus einen brauche, um von Hagauer zu gehn!«
Ihrem Bruder blieb nichts übrig, als ihr zu versichern, daß leidenschaftliche Frauen ihren Männern auch ohne Liebhaber durchgehn und daß seiner Meinung nach das sogar das Würdigere sei. – Der Tee, zu dem sie sich getroffen hatten, war in ein unregelmäßiges und vorzeitiges Abendbrot übergegangen, weil Ulrich übermüdet war und darum gebeten hatte, denn er wollte früh zu Bett gehn, um sich für den nächsten Tag auszuschlafen, der allerhand geschäftliche Unruhe versprach. Nun rauchten sie ihre Zigaretten, ehe sie sich trennten, und er kannte sich in seiner Schwester nicht aus. Sie hatte weder etwas Emanzipiertes, noch etwas Bohemehaftes an sich, obgleich sie da in weiten Hosen saß, in denen sie den unbekannten Bruder empfangen hatte. Eher etwas Hermaphroditisches, so kam ihm jetzt vor; das leichte männliche Kleid ließ in der Bewegung des Gesprächs mit der Halbdurchsichtigkeit eines Wasserspiegels die zärtliche Formung ahnen, die sich darunter befand, und zu den frei-unabhängigen Beinen trug sie das schöne Haar frauenhaft aufgesteckt. Das Zentrum dieses zwiespältigen Eindrucks bildete aber noch immer das Gesicht, das den Reiz der Frau in hohem Maße besaß, doch mit irgendeinem Abstrich und Vorbehalt, dessen Wesen er nicht herausbekommen konnte.
Und daß er so wenig von ihr wußte und so vertraut mit ihr saß, und doch auch ganz anders als mit einer Frau, für die er ein Mann wäre, das war etwas sehr Angenehmes, in der Müdigkeit, der er nun nachzugeben begann.
»Eine große Veränderung seit gestern!« dachte er.
Er war dankbar dafür und bemühte sich, Agathe zum Abschied etwas herzlich Brüderliches zu sagen, aber da ihm das etwas Ungewohntes war, fiel ihm nichts ein. So nahm er sie bloß in den Arm und küßte sie.

Am nächsten Morgen fuhr Ulrich früh und so glatt aus dem Schlaf, wie ein Fisch aus dem Wasser schnellt; es war eine Folge der traumlos und restlos ausgeschlafenen Müdigkeit des vergangenen Tags. Er suchte sich ein Frühstück zu verschaffen und ging dazu durch das Haus. Die Trauer darin war noch nicht recht in Betrieb, und bloß ein Duft von Trauer hing in allen Räumen: es erinnerte ihn an ein Geschäft, das seine Läden in der Morgenfrühe geöffnet hat, während die Straße noch menschenleer ist. Dann holte er seine wissenschaftliche Arbeit aus dem Koffer und begab sich mit ihr in das Arbeitszimmer seines Vaters. Es sah, als er mitten darin saß und ein Feuer im Ofen brannte, menschlicher aus als am Abend vorher: obgleich ein pedantischer, Einerseits und Anderseits auswägender Geist es ausgebaut hatte bis zu den symmetrisch einander gegenüberstehenden Gipsbüsten auf der Höhe der Büchergestelle, gaben die vielen liegengebliebenen, kleinen, persönlichen Dinge – Bleistifte, Augenglas, Thermometer, ein aufgeschlagenes Buch, Federbüchschen und dergleichen mehr – dem Raum doch die rührende Leere eines eben erst verlassenen Lebensgehäuses. Ulrich saß mitten darin, zwar in der Nähe des Fensters, aber am Schreibtisch, der den Orgelpunkt dieses Raumes bildete, und empfand eine eigentümliche Willensmüdigkeit. An den Wänden hingen Bildnisse seiner Voreltern, und ein Teil der Möbel stammte noch aus ihrer Zeit; der hier gewohnt hatte, hatte aus den Schalen ihres Lebens das Ei des seinen geformt: nun war er tot, und sein Hausrat stand noch so scharf da, als wäre er aus dem Raum herausgefeilt worden, aber schon war die Ordnung bereit abzubröckeln, sich dem Nachfolger zu fügen, und man fühlte, wie die größere Lebensdauer der Dinge kaum sichtbar hinter ihrer starren Trauermiene neu zu quellen begann.
In dieser Stimmung schlug Ulrich seine Arbeit auf, die er vor Wochen und Monaten unterbrochen hatte, und sein Blick fiel gleich zu Beginn auf die Stelle mit den physikalischen Gleichungen des Wassers, über die er nicht hinausgekommen war. Er erinnerte sich dunkel, daß er an Clarisse gedacht hatte, als er aus den drei Hauptzuständen des Wassers ein Beispiel gemacht hatte, um an ihm eine neue mathematische Möglichkeit zu zeigen; und Clarisse hatte ihn dann davon abgelenkt. Doch gibt es ein Erinnern, das nicht das Wort, sondern die Luft, worin es gesprochen worden, zurückruft, und so dachte Ulrich auf einmal: »Kohlenstoff...« und bekam gleichsam aus dem Nichts heraus den Eindruck, es würde ihn weiterbringen, wenn er augenblicklich bloß wüßte, in wieviel Zuständen Kohlenstoff vorkomme; aber es fiel ihm nicht ein, und er dachte statt dessen: »Der Mensch kommt in zweien vor. Als Mann und als Frau.« Das dachte er eine ganze Weile, scheinbar reglos vor Staunen, als ob es Wunder was für eine Entdeckung bedeutete, daß der Mensch in zwei verschiedenen Dauerzuständen lebe. Nur verbarg sich unter diesem Stillstand seines Denkens eine andere Erscheinung. Denn man kann hart sein, selbstsüchtig, bestrebt, gleichsam hinaus geprägt, und kann sich plötzlich als der gleiche Ulrich Soundso auch umgekehrt fühlen, eingesenkt, als ein selbstlos glückliches Wesen in einem unbeschreiblich empfindlichen und irgendwie auch selbstlosen Zustand aller umgebenden Dinge. Und er fragte sich: »wie lange ist es her, seit ich das zuletzt empfunden habe?« Zu seiner Überraschung waren es kaum mehr als vierundzwanzig Stunden. Die Stille, die Ulrich umgab, war erfrischend, und der Zustand, an den er sich erinnert sah, kam ihm nicht so ungewöhnlich vor wie sonst. »Wir alle sind ja Organismen,« dachte er beschwichtigt »die sich in einer unfreundlichen Welt mit aller Kraft und Begierde gegeneinander durchsetzen müssen. Aber mit seinen Feinden und Opfern zusammen ist jeder doch auch Teilchen und Kind dieser Welt; ist vielleicht gar nicht so losgelöst von ihnen und selbständig, wie er sich das einbildet.« Und das vorausgesetzt, schien es ihm durchaus nicht unverständlich zu sein, daß zuweilen eine Ahnung von Einheit und Liebe aus der Welt aufsteigt, fast eine Gewißheit, es lasse die handgreifliche Notdurft des Lebens unter gewöhnlichen Umständen von dem ganzen Zusammenhang der Wesen nur die eine Hälfte erkennen. Das hatte nichts an sich, was einen mathematisch-naturwissenschaftlich und exakt fühlenden Menschen zu verletzen brauchte: Ulrich sah sich dadurch sogar an die Arbeit eines Psychologen erinnert, mit dem ihn persönliche Beziehungen verbanden: sie handelte davon, daß es zwei große, einander entgegengesetzte Vorstellungsgruppen gebe, von denen sich die eine auf dem Umfangenwerden vom Inhalt der Erlebnisse, die andere auf dem Umfangen aufbaue, und legte die Überzeugung nahe, daß sich ein solches »In etwas Darinsein« und »Etwas von außen Ansehn«, ein »Konkav-« und »Konvexempfinden«, ein »Raumhaft-« wie ein »Gegenständlichsein«, eine »Einsicht« und eine »Anschauung« noch in so vielen anderen Erlebnisgegensätzen und ihren Sprachbildern wiederhole, daß man eine uralte Doppelform des menschlichen Erlebens dahinter vermuten dürfe. Es war keine von den strengen sachlichen Untersuchungen, sondern eine von den phantasiehaft etwas vorausschweifenden, die einem Anstoß ihr Entstehen verdanken, der außerhalb der täglichen wissenschaftlichen Tätigkeit liegt, aber sie war in den Grundlagen fest und in den Schlüssen von großer Wahrscheinlichkeit, die sich auf eine hinter Urnebeln verborgene Einheit des Empfindens zu bewegten, aus deren mannigfach vertauschten Trümmern, wie nun Ulrich annahm, schließlich das heutige Verhalten entstanden sein konnte, das sich undeutlich um den Gegensatz einer männlichen und weiblichen Erlebensweise ordnet und von alten Träumen geheimnisvoll beschattet wird.
Hier suchte er sich – wörtlich so, wie man beim Abstieg über eine gefährliche Kletterstelle Seil und Mauerhaken gebraucht – zu sichern und begann eine weitere Überlegung:
»Die ältesten, für uns fast schon unverständlich dunklen Überlieferungen der Philosophie sprechen oft von einem männlichen und einem weiblichen ›Prinzip‹!« dachte er.
»Die Göttinnen, die es in den Urreligionen neben den Göttern gab, sind unserem Empfinden in Wahrheit nicht mehr erreichbar« dachte er. »Für uns wäre das Verhältnis zu diesen übermenschenstarken Weibern Masochismus!«
»Aber die Natur« dachte er »gibt dem Mann Saugwarzen und der Frau ein männliches Geschlechtsrudiment, ohne daß daraus zu schließen wäre, unsere Vorfahren seien Hermaphroditen gewesen. Auch seelisch werden sie also keine Zwitter gewesen sein. Und dann muß die doppelte Möglichkeit des gebenden und des nehmenden Sehens einmal von außen empfangen worden sein, als ein Doppelgesicht der Natur, und irgendwie ist alles das viel älter als der Unterschied der Geschlechter, die sich daraus später ihre seelische Kleidung ergänzt haben ...«
So dachte er, aber in der Folge geschah es, daß er sich an eine Einzelheit aus seiner Kindheit erinnerte, und er wurde durch sie abgelenkt, weil es ihm, was lange nicht vorgefallen war, Vergnügen bereitete sich zu erinnern. Es muß vorausgeschickt werden, daß sein Vater früher geritten war und auch Reitpferde besessen hatte, wovon der leere Stall an der Gartenmauer, den Ulrich bei seiner Ankunft zuerst gesehen hatte, heute noch Zeugnis ablegte. Wahrscheinlich war das die einzige adelige Neigung, die sich sein Vater in Bewunderung seiner feudalen Freunde selbst angemaßt hatte, aber Ulrich war damals ein kleiner Knabe gewesen, und das gleichsam Unendliche, jedenfalls Unausmeßbare, das ein hoher, muskulöser Pferdeleib für ein bewunderndes Kind besitzt, stellte sich nun in der Empfindung wieder her wie ein märchenhaft-schauriges Gebirge, von der Haarheide überzogen, durch die das Zucken der Haut wie die Wellen eines Windes lief. Es war das, wie er bemerkte, eine jener Erinnerungen, deren Glanz von der Ohnmacht des Kindes kommt, sich seine Wünsche zu erfüllen; aber das sagt wenig, vergleicht man es mit der Größe dieses Glanzes, die geradezu überirdisch war, oder mit dem nicht weniger wunderbaren Glanz, den der kleine Ulrich ein wenig später mit den Fingerspitzen berührte, als er den ersten suchte. Denn zu jener Zeit waren in der Stadt die Ankündigungen eines Zirkus angeschlagen gewesen, worauf nicht nur Pferde, sondern auch Löwen, Tiger ebenso wie große, prächtige, in Freundschaft mit ihnen lebende Hunde vorkamen, und schon lange hatte er diese Anschläge angestarrt, als es ihm gelang, sich eines dieser bunten Papiere zu verschaffen und die Tiere auszuschneiden, denen er nun mit kleinen Holzständern Steife und Halt gab. Was sich sodann begab, läßt sich aber nur mit einem Trinken vergleichen, das den Durst nicht zu Ende löscht, auch wenn man es noch so lange fortsetzt; denn es hatte weder einen Halt, noch ergab es in wochenlanger Ausbreitung einen Fortschritt, und war ein dauerndes Hinübergezogenwerden in diese bewunderten Geschöpfe, die zu besitzen er mit dem unsäglichen Glück des einsamen Kindes jetzt ebenso stark vermeinte, wenn er sie ansah, wie er fühlte, daß daran etwas Letztes fehle, das durch nichts zu erfüllen war, wovon dann gerade das Verlangen das maßlos durch den Körper Strahlende erhielt. Mit dieser sonderbar grenzenlosen Erinnerung stieg aber nun in ganz natürlicher Weise auch ein anderes, wieder nur um wenig späteres, Erlebnis jener jungen Zeit aus der Vergessenheit auf und nahm trotz seiner kindlichen Hinfälligkeit von dem großen, mit offenen Augen träumenden Körper Besitz: Es war das des kleinen Mädchens, das nur zwei Eigenschaften hatte: die, ihm gehören zu müssen, und die der Kämpfe, die er deshalb mit anderen Buben bestand. Und von diesen beiden waren nur die Kämpfe wirklich, denn das kleine Mädchen gab es nicht. Sonderbare Zeit, wo er wie ein fahrender Ritter unbekannten Gegnern, und am liebsten, wenn sie größer waren als er und ihm in einer einsamen und eines Geheimnisses fähigen Straße begegneten, an die Brust sprang und mit dem Überraschten rang! Er hatte nicht wenig Prügel dafür erhalten und manchmal auch große Siege erfochten, aber wie immer es ausging, fühlte er sich um die Befriedigung betrogen. Und auf den naheliegenden Gedanken, daß die kleinen Mädchen, die er wirklich kannte, die gleichen Geschöpfe seien wie jenes, für das er stritt, ging sein Gefühl einfach nicht ein, denn er wurde wie alle Knaben seines Alters nur blöde und starr in weiblicher Gesellschaft; bis eines Tags davon allerdings eine Ausnahme geschah. Und nun erinnerte sich Ulrich so deutlich, als stünde das Bild im Kreis eines Fernrohrs, das durch die Jahre schaute, an einen Abend, wo Agathe für ein Kinderfest angekleidet wurde. Sie trug ein samtenes Kleid, und ihre Haare flossen wie Wellen von hellem Samt darüber, so daß er sich plötzlich bei ihrem Anblick, obgleich er selbst in einem erschrecklichen Ritterkostüm steckte, ganz in der gleichen unsagbaren Weise wie nach den Tieren auf den Ankündigungen des Zirkus danach sehnte, ein Mädchen zu sein. Er wußte damals noch so wenig von Mann und Frau, daß er das nicht für ganz unmöglich ansah, und doch schon so viel, daß er nicht, wie es Kinder sonst tun, gleich in einen Versuch ausbrach, die Erfüllung seines Wunsches zu erzwingen, sondern daß beides zusammen, wenn er heute einen Ausdruck dafür suchte, etwa dem Zustand entsprach, er taste im Dunkeln nach einer Tür, stoße auf einen blutwarmen oder warmsüßen Widerstand und presse sich immer wieder an ihn, der seinem Verlangen hindurchzudringen zärtlich entgegenkommt, ohne ihm Platz zu machen. Vielleicht glich es auch einer harmlosen Art vampyrischer Leidenschaft, die das ersehnte Wesen in sich einsog, doch wollte dieser kleine Mann jene kleine Frau nicht an sich ziehen, sondern sich ganz an ihre Stelle, und das geschah mit jener blendenden Zärtlichkeit, die nur den Früherlebnissen des Geschlechts zu eigen ist.
Ulrich stand auf und reckte die Arme, erstaunt über seine Träumerei. Keine zehn Schritte von ihm entfernt, lag hinter der Wand der Leichnam seines Vaters, und er bemerkte jetzt erst, daß es rings um sie beide schon geraume Zeit wie aus der Erde herauf von Menschen wimmelte, die sich in dem ausgestorben-weiterlebenden Haus zu schaffen machten. Alte Weiber legten Teppiche und zündeten neue Kerzen an, auf den Treppen wurde gehämmert, Blumen wurden heraufgebracht, Böden gewachst, und nun machte sich diese Betriebsamkeit wohl auch an ihn selbst heran, denn es wurden ihm Leute gemeldet, die so früh auf den Beinen waren, weil sie etwas haben oder wissen wollten, und von Stund an riß ihre Kette nicht mehr ab. Die Universität schickte um eine Auskunft wegen des Begräbnisses, ein Trödler kam und fragte schüchtern nach Kleidern, im Auftrag einer deutschen Firma meldete sich unter vielen Entschuldigungen ein städtischer Antiquar, um ein Preisangebot für ein seltenes juridisches Werk zu stellen, das sich vermutlich in der Bibliothek des Verstorbenen befinden werde, ein Kaplan begehrte Ulrich im Auftrag des Pfarramts zu sprechen, weil irgendeine Unklarheit bestand, ein Herr von der Lebensversicherung kam mit einer langen Auseinandersetzung, jemand suchte billig ein Klavier, ein Immobilienagent gab seine Karte für den Fall ab, daß man das Haus zu verkaufen wünsche, ein ausgedienter Beamter bot sich zum Schreiben von Briefumschlägen an, und so kam, ging, fragte und wollte es in diesen günstigen Frühstunden unaufhörlich, knüpfte sachlich an den Todesfall an und forderte sein Daseinsrecht schriftlich und mündlich; am Haustor, wo der alte Diener die Leute nach Kräften abschüttelte, und oben, wo Ulrich trotzdem alles empfangen mußte, was durchschlüpfte. Er hatte sich nie eine Vorstellung davon gemacht, wie viele Menschen höflich auf den Tod anderer warten und wie viele Herzen man in dem Augenblick in Bewegung setzt, wo das eigene stillsteht; er war einigermaßen erstaunt und sah: ein toter Käfer liegt im Wald, und andere Käfer, Ameisen, Vögel und wippende Schmetterlinge kommen zu ihm heran.
Denn der Emsigkeit dieses Nutzengetriebes war allerwegen auch ein Flackern und Flattern des waldtief Dunklen zugesetzt. Der Eigennutz blickte durch die Scheiben gerührter Augen wie eine Laterne, die man am hellen Tag brennen läßt, als ein Herr mit schwarzem Flor auf der schwarzen Kleidung eintrat, die ein Mittelding zwischen Bedauern und Büroanzug war, an der Tür stehen blieb und zu erwarten schien, daß entweder er oder Ulrich in Schluchzen ausbrechen müsse. Nachdem aber keins von beidem geschah, schien es ihm nach einigen Sekunden auch zu genügen, denn er trat nun vollends ins Zimmer ein, und genau so, wie es jeder gewöhnliche Geschäftsmann auch getan hätte, stellte er sich als der Leiter der Leichenbestattungsanstalt heraus, der sich zu erkundigen kam, ob Ulrich mit der Ausführung bisher zufrieden gewesen sei. Er versicherte, daß auch alles Weitere in einer Weise ausgeführt werden solle, mit der selbst der selige Herr Papa unbedingt hätte einverstanden sein müssen, der, wie man wisse, nicht leicht zufriedenzustellen gewesen sei. Er nötigte Ulrich ein Stück Papier in die Hand, das mit vielen Vordrucken und Rechtecken ausgestattet war, und zwang ihn, in dem für allerhand Grade der Bestellung abgefaßten Vertragsentwurf einzelne Worte zu lesen wie: ... achtspännig und zweispännig ... Kranzwagen ... Zahl ... Bespannung à la ... mit Vorreiter, silberplattiert ... Begleitung à la ... Fackeln nach Marienburger Weise ... nach Admonter Weise ... Zahl der Begleiter ... Art der Beleuchtung ... Brenndauer ... Sargholz ... Pflanzenschmuck ... Name, Geburt, Geschlecht, Beruf ... Ablehnung jeder unvorhergesehenen Haftung. Ulrich hatte keine Ahnung, woher die teilweis altertümelnden Bezeichnungen kamen; er fragte, der Geschäftsführer blickte ihn erstaunt an, und auch er hatte keine Ahnung. Er stand vor Ulrich wie ein Reflexbogen des Menschheitsgehirns, durch den Reiz und Handlung verbunden waren, ohne daß ein Bewußtsein entstand. Jahrhundertealte Geschichte war diesem Trauergeschäftsmann anvertraut, er durfte mit ihr als Warenbezeichnung schalten, hatte das Gefühl, daß Ulrich eine falsche Schraube gelüftet habe, und bemühte sich, sie rasch mit einer Bemerkung zu schließen, die zur Effektuierung der Lieferung zurückführen sollte. Er erklärte, alle diese Unterscheidungen seien leider im Einheitsvertrag des Reichsvereins der Leichenbestattungsunternehmer vorgeschrieben, aber es hätte weiter auch keine Bedeutung, wenn man sich nicht an sie halte, und das täte ohnehin niemand, und wenn Ulrich unterschriebe – die gnädige Frau Schwester habe das gestern ohne den Herrn Bruder nicht tun wollen –, so solle das einfach bedeuten, daß der Herr mit dem von seinem Vater gegebenen Auftrag einverstanden sei, und er werde an der erstklassigen Durchführung schon nichts auszusetzen finden.
Während Ulrich unterschrieb, fragte er den Mann, ob er hier in der Stadt schon eine der elektrisch betriebenen Wurstmaschinen gesehen habe, die auf dem Gehäuse den heiligen Lukas als Patron der Fleischhauerinnung zeigten; er selbst habe sie einmal in Brüssel gesehn – aber er kam nicht mehr dazu, die Antwort abzuwarten, denn schon stand an der Stelle dieses Manns ein anderer da, der von ihm etwas wünschte, und war ein Journalist, der für das Provinzhauptblatt Auskünfte zum Nekrolog wollte. Ulrich gab sie und verabschiedete den Bestatter, aber sowie er auf die Frage nach dem Wichtigsten in seines Vaters Leben zu antworten begann, wußte er schon nicht, was wichtig sei und was nicht, und sein Besucher mußte ihm zu Hilfe kommen. Erst da ging es, angefaßt mit den Fragezangen einer beruflich auf das Wissenswerte geschulten Neugier, vorwärts, und Ulrich bekam ein Gefühl, als wohne er der Erschaffung der Welt bei. Der Journalist, ein junger Mann, fragte, ob der Tod des alten Herrn nach langem Leiden oder unerwartet gekommen sei, und als Ulrich zur Antwort gab, daß sein Vater bis zur letzten Woche seine Vorlesungen abgehalten habe, formte er daraus: in voller Arbeitsrüstigkeit und Frische. Dann flogen von dem Leben des alten Herrn die Späne davon bis auf ein paar Rippen und Knoten: Geboren in Protiwin im Jahre 1844, die und die Schulen besucht, ernannt zum ..., ernannt am ...; mit fünf Ernennungen und Auszeichnungen war das Wesentliche fast schon erschöpft. Eine Heirat dazwischen. Ein paar Bücher. Einmal beinahe Justizminister geworden; es scheiterte am Widerspruch von irgendeiner Seite. Der Journalist schrieb, Ulrich begutachtete es, es stimmte. Der Journalist war zufrieden, er hatte die nötige Zeilenzahl. Ulrich staunte über das kleine Häufchen Asche, das von einem Leben übrigbleibt. Der Journalist hatte für alle Auskünfte, die er empfing, sechs- und achtspännige Formeln bereit gehabt: großer Gelehrter, geöffneter Weltsinn, vorsichtig-schöpferischer Politiker, universale Begabung und so weiter; es mußte schon geraume Zeit niemand gestorben sein, die Worte waren lange nicht benutzt und hungrig nach Anwendung gewesen. Ulrich überlegte; er hätte gerne über seinen Vater noch etwas Gutes gesagt, aber das Sichere hatte der Chronist, der jetzt sein Schreibzeug einpackte, schon erfragt, und der Rest war, als ob man den Inhalt eines Glases Wasser ohne das Glas in die Hand nehmen wollte.
Das Kommen und Gehn hatte inzwischen nachgelassen, denn von Agathe waren am vergangenen Tag alle Leute an ihren Bruder gewiesen worden und dieser Überschuß war nun vorbeigeströmt, und Ulrich blieb allein zurück, als sich der Reporter empfahl. Er war durch irgendetwas in eine erbitterte Stimmung geraten. Hatte sein Vater nicht recht gehabt, daß er die Säcke des Wissens schleppte und den Körnerhaufen des Wissens ein wenig umgrub und darüber hinaus sich einfach jenem Leben unterwarf, von dem er glaubte, daß es das mächtige sei!? Er dachte an seine Arbeit, die unberührt im Schreibtisch lag. Wahrscheinlich würde man von ihm nicht einmal sagen können wie von seinem Vater, daß er ein Umschaufler gewesen sei! Ulrich trat in das kleine Zimmer, worin der Tote aufgebahrt lag. Diese starre, geradwandige Zelle inmitten der unruhigen Betriebsamkeit, die ihr entsprang, war phantastisch unheimlich; steif wie ein Holzstückchen schwamm der Tote zwischen den Fluten der Geschäftigkeit, aber für Augenblicke konnte sich das Bild verkehren, dann erschien das Lebendige starr, und er schien in einer unheimlich ruhigen Bewegung zu gleiten. »Was kümmern den Reisenden« sagte er dann »die Städte, die an den Anlegestellen zurückbleiben: ich habe hier gewohnt und mich betragen, wie man es verlangte, aber nun fahre ich wieder!« ... Die Unsicherheit des Menschen, der zwischen den anderen etwas anderes will als sie, drückte Ulrichs Herz: er sah seinem Vater ins Gesicht. Vielleicht war alles, was er für seine persönliche Besonderheit hielt, nichts als ein von diesem Gesicht abhängiger Widerspruch, irgendwann kindisch erworben? Er suchte nach einem Spiegel, aber es war keiner da, und nichts als dieses blinde Gesicht warf Licht zurück. Er forschte darin nach Ähnlichkeiten. Vielleicht waren sie da. Vielleicht war alles darin, die Rasse, die Gebundenheit, das Nichtpersönliche, der Strom des Erbgangs, in dem man nur eine Kräuselung ist, die Einschränkung, Entmutigung, das ewige Wiederholen und im Kreis Gehen des Geistes, das er im tiefsten Lebenswillen haßte!
Von dieser Entmutigung plötzlich angewandelt, überlegte er, ob er nicht seine Koffer packen und schon vor dem Begräbnis abreisen solle. Wenn er wirklich noch etwas im Leben bestellen könnte, was hatte er dann noch hier zu tun!
Als er aber durch die Türe trat, stieß er im Nebenzimmer mit seiner Schwester zusammen, die ihn zu suchen kam.

Zum erstenmal sah sie Ulrich als Frau gekleidet und hatte nach dem gestrigen Eindruck geradezu den, daß sie verkleidet sei. Durch die offene Tür fiel künstliches Licht in das zittrige Grau des frühen Vormittags, und die schwarze Erscheinung mit dem blonden Haar schien in einer Grotte aus Luft zu stehn, durch die strahlender Glanz floß. Agathes Haar lag enger am Kopf und ihr Gesicht wirkte dadurch weiblicher als am Tag zuvor, die zarte, frauenhafte Brust bettete sich in das Schwarz der strengen Kleidung mit jenem vollkommensten Gleichgewicht zwischen Nachgiebigkeit und Widerstand, das der federleichten Härte einer Perle eigen ist, und vor die schlanken, hohen, den seinen ähnlichen Beine, die er gestern gesehen hatte, hatten sich Röcke gesenkt. Und weil die Erscheinung ihm heute im Ganzen unähnlicher war, bemerkte er die Ähnlichkeit des Gesichts. Es war ihm zumute, er wäre es selbst, der da zur Tür eingetreten sei und auf ihn zuschreite: nur schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum erstenmal erfaßte ihn da der Gedanke, daß seine Schwester eine traumhafte Wiederholung und Veränderung seiner selbst sei; aber da dieser Eindruck nur einen Augenblick dauerte, vergaß er ihn wieder. Agathe war gekommen, um ihren Bruder schleunig an Pflichten zu erinnern, die sie selbst beinahe verschlafen hätte: sie hielt das Testament in Händen und machte ihn auf Bestimmungen aufmerksam, deren Zeit drängte. Vor allen war darunter eine etwas krause Verfügung über die Orden des alten Herrn zu berücksichtigen, von der auch der Diener Franz wußte, und Agathe hatte diese Stelle im Letzten Willen eifrig, wenn auch etwas pietätlos rot angestrichen. Der Tote wollte mit ihnen begraben sein, von denen er nicht wenig besaß, aber da er nicht aus Eitelkeit mit ihnen begraben werden wollte, war dem eine lange und tiefsinnige Begründung beigegeben, von der seine Tochter nur den Anfang gelesen hatte, ihrem Bruder es überlassend, ihr den Rest zu erklären.
»Wie soll ich es dir erklären?!« sagte Ulrich, nachdem er sich unterrichtet hatte. »Papa möchte mit den Orden begraben werden, weil er die individualistische Staatstheorie für falsch hält! Er empfiehlt uns die universalistische. Der Mensch empfange erst aus der schöpferischen Gemeinschaft des Staats einen überpersönlichen Zweck, seine Güte und Gerechtigkeit; allein sei er nichts, und darum bedeute der Monarch ein geistiges Symbol: und kurz und gut, der Mensch muß sich bei seinem Tod sozusagen in seine Orden einwickeln, wie man einen gestorbenen Seemann in die Flagge gewickelt ins Meer versenkt!«
»Aber ich habe doch gelesen, daß die Orden zurückgegeben werden müssen?« fragte Agathe.
»Die Orden müssen von den Erben der kaiserlichen Kabinettskanzlei zurückgestellt werden. Darum hat sich Papa Duplikate angeschafft. Aber die beim Juwelier gekauften scheinen ihm wohl doch nicht die rechten Orden zu sein, und er will, daß wir den Umtausch auf seiner Brust erst vollziehen, wenn der Sarg geschlossen wird: das ist die Schwierigkeit! Wer weiß, vielleicht ist das ein stummer Protest gegen die Vorschrift, den er nicht anders aussprechen wollte.«
»Aber bis dahin werden hundert Leute hier sein, und wir werden es vergessen!« befürchtete Agathe.
»Wir können es ebensogut gleich tun!«
»Wir haben jetzt keine Zeit; du mußt das Nächste lesen, was er über Professor Schwung schreibt: Professor Schwung kann jeden Augenblick kommen, ich habe ihn schon gestern den ganzen Tag erwartet!«
»Also tun wir es, nachdem Schwung da war.«
»Es ist so unangenehm,« wandte Agathe ein »ihm nicht seinen Wunsch zu erfüllen.«
»Er weiß es ja nicht mehr.«
Sie sah ihn zweifelnd an. »Bist du dessen sicher?«
»Oh?« rief Ulrich lachend aus »du hältst es vielleicht nicht für sicher?!« »Ich bin in nichts sicher« antwortete Agathe.
»Und wenn es nicht sicher wäre: er war ja doch nie mit uns zufrieden!«
»Das ist richtig« meinte Agathe. »Wir wollen es also später tun. Aber sag mir jetzt eines« fügte sie hinzu: »Kümmerst du dich nie um das, was man von dir verlangt?«
Ulrich zögerte. »Sie läßt in einem guten Geschäft arbeiten« dachte er. »Ich hätte mir keine unnützen Sorgen zu machen brauchen, daß sie kleinstädtisch sein könnte!« Aber weil mit diesen Worten irgendwie der ganze gestrige Abend verbunden war, wünschte er eine Antwort zu geben, die wohl bestehen bleiben und ihr dienen sollte; wußte aber nicht, wie es anzufangen sei, damit sie ihn keinesfalls falsch verstehe, und sagte schließlich unerwünscht jugendlich: »Nicht nur der Vater ist tot, auch die Zeremonien, die ihn umgeben, sind ja tot. Sein Testament ist tot. Die Leute, die hier erscheinen, sind tot. Ich will damit nichts Böses sagen; weiß Gott, wie dankbar man vielleicht den Wesen sein muß, die zur Festigkeit der Erde beitragen: aber all das gehört zum Kalk des Lebens, nicht zum Meer!« Er gewahrte einen unschlüssigen Blick seiner Schwester und wurde inne, wie unverständlich er daherrede. »Die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen« ergänzte er lachend.
Er legte ihr etwas gönnerhaft oder übermütig die Arme auf die Schultern; rein aus Verlegenheit. Aber Agathe trat ernst zurück und ging nicht darauf ein. »Hast du das erfunden?« fragte sie.
»Nein, ein Mann, den ich liebe, hat das gesagt.«
Sie hatte etwas von dem Unmut eines Kindes, das sich mit Nachdenken plagen muß, als sie Ulrichs Antworten in den Satz zusammenfaßte: »Du würdest also einen, der aus Gewohnheit ehrlich ist, kaum gut nennen? Aber einen Dieb, der zum erstenmal stiehlt, während ihm fast das Herz aus der Brust springt, nennst du gut?!«
Ulrich staunte über diese etwas sonderbaren Worte und wurde dadurch ernster. »Ich weiß es wirklich nicht« sagte er kurz. »Ich selbst mache mir unter Umständen allerdings nicht viel daraus, ob etwas für recht oder unrecht gilt, aber ich kann dir keine Regel angeben, nach der man sich dabei zu richten vermöchte.«
Agathe löste den suchenden Blick langsam von ihm los und nahm das Testament wieder auf: »Wir müssen weiterlesen, hier ist noch etwas angestrichen!« ermahnte sie sich selbst.
Der alte Herr hatte, ehe er sich endgültig zu Bett legte, eine Reihe von Briefen verfaßt und gab in seinem Vermächtnis Aufklärungen zu ihrem Verständnis und über ihre Absendung. Was davon besonders angestrichen war, bezog sich auf Professor Schwung, und Professor Schwung war jener alte Kollege, der das letzte Lebensjahr des Vaters der beiden Geschwister durch den Kampf um den Paragraphen der verminderten Zurechnungsfähigkeit gallig verbittert hatte, nachdem sie ein Lebensalter lang Freunde gewesen waren. Ulrich erkannte sofort die wohlbekannten langen Auseinandersetzungen über Vorstellung und Wille, Schärfe des Rechts und Unbestimmtheit der Natur, von denen ihm sein Vater vor dem Abscheiden noch einmal eine zusammenfassende Darstellung gab, und nichts schien diesen in seinen letzten Tagen so sehr beschäftigt zu haben wie die Denunziation der Sozialen Schule, der er sich angeschlossen hatte, als Ausfluß preußischen Geistes. Er hatte soeben eine Broschüre auszuarbeiten begonnen, die den Titel führen sollte: »Staat und Recht oder Konsequenz und Denunziation«, als er sich schwach werden fühlte und erbittert das Schlachtfeld im Alleinbesitz seines Gegners sah. In feierlichen Worten, wie sie nur die Nähe des Todes und der Kampf um das heilige Gut der Reputation eingeben, verpflichtete er seine Kinder, sein Werk nicht verfallen zu lassen, und namentlich seinen Sohn, die Beziehungen zu maßgebenden Kreisen, die er dank der nimmermüden Ermahnungen seines Vaters gewonnen habe, zu nutzen, um die Hoffnungen des Professors Schwung auf Verwirklichung seiner Bestrebungen gründlich zunichte zu machen.
Wenn man solches geschrieben hat, so schließt es nicht aus, daß man nach getanem oder vielmehr vorgesehenem Werk das Bedürfnis fühlt, einem gewesenen Freund seine von niederer Eitelkeit eingegebenen Irrtümer zu vergeben. Sobald man sehr leidet und schon bei lebendigem Leib das sachte Ausdennähtengehn der irdischen Hülle empfindet, ist man geneigt, zu verzeihn und um Verzeihung zu bitten; wenn es einem wieder besser geht, so nimmt man es aber zurück, denn der gesunde Körper hat von Natur etwas Unversöhnliches: beides mußte offenbar der alte Herr in den Wechselfällen des Befindens vor dem Tode kennen gelernt haben, und eines hatte ihm so berechtigt erscheinen müssen wie das andere. Ein solcher Zustand ist aber für einen angesehenen Juristen unerträglich, und so hatte er mit geschulter Logik ein Mittel erfunden, seinen Willen so zu hinterlassen, daß er ohne nachträgliche Gegeneinflüsterungen des Gemüts als letzter Wille ungemindert zur Geltung kommen könne: er schrieb einen Verzeihungsbrief und unterschrieb ihn nicht, noch versah er ihn mit einem Datum, sondern trug Ulrich auf, das Datum seiner Todesstunde einzusetzen und die Unterschrift gemeinsam mit der Schwester als Willenszeugen zu setzen, wie es bei einem mündlichen Vermächtnis geschehen kann, das zu unterschreiben der Sterbende nicht die Kraft hat. Er war eigentlich, ohne es wahrhaben zu wollen, ein stiller Kauz, dieser kleine Alte, der sich den Rangordnungen des Daseins unterworfen hatte und sie als ihr eifriger Diener verteidigte, aber in sich allerhand Auflehnungen barg, für die er auf dem von ihm gewählten Lebenswege keinen Ausdruck finden konnte. Ulrich mußte an die Todesanzeige denken, die er empfangen hatte und die wahrscheinlich in der gleichen Verfassung angeordnet worden war, ja beinahe sah er eine Verwandtschaft mit sich selbst darin, diesmal aber nicht zornmütig, sondern mitleidig, wenigstens in dem Sinn, daß er angesichts dieses Ausdruckshungers den Haß auf den Sohn verstand, der sich das Leben durch ungebührliche Freiheiten erleichtert hatte. Denn so erscheinen die Lebenslösungen der Söhne immer den Vätern, und Ulrich wandelte ein Gefühl der Pietät an, indem er an das Ungelöste dachte, das in ihm selbst stak. Aber er fand nicht mehr die Zeit, dem eine gerechte und auch für Agathe verständliche Form zu geben, und hatte eben erst damit begonnen, als die Dämmerung des Raums mit großem Schwung einen Menschen ins Zimmer trug. Dieser schritt, von seiner eigenen Bewegung hereingeschleudert, bis in den Kerzenglanz und hob dort mit einer weiten Bewegung die Hand vor die Augen, einen Schritt von dem Katafalk entfernt, ehe der überrannte väterliche Diener mit der Anmeldung nachhasten konnte. »Verehrter Freund!« rief der Besucher mit getragener Stimme aus, und der kleine Alte lag mit zusammengekniffenen Kiefern vor seinem Feinde Schwung.
»Junge Freunde: die Majestät des Sternenhimmels über uns, die Majestät des Sittengesetzes in uns!« fuhr dieser fort und blickte umflorten Auges auf den Fakultätsgenossen. »In dieser kaltgewordenen Brust hat die Majestät des Sittengesetzes gelebt!« Dann erst wendete er seinen Körper um und schüttelte den Geschwistern die Hände.
Aber Ulrich benutzte diese erste Gelegenheit, um sich seines Auftrags zu entledigen. »Herr Hofrat und mein Vater sind leider in der letzten Zeit Gegner gewesen?« fühlte er vor.
Es machte den Eindruck, daß sich der Weißbart erst besinnen müsse, ehe er verstehe. »Meinungsverschiedenheiten und nicht der Rede wert!« erwiderte er großmütig, den Toten innig betrachtend. Als aber Ulrich höflich beharrte und durchblicken ließ, daß es sich um einen Letzten Willen handle, wurde die Lage in dem Zimmer plötzlich gespannt wie in einer Spelunke, wenn das ganze Lokal weiß: jetzt hat einer unter dem Tisch das Messer gezogen, und im nächsten Augenblick wird es losgehn. Der Alte hatte es also richtig verstanden, seinem Kollegen Schwung noch im Abscheiden eine Unannehmlichkeit zu bereiten! Eine solche alte Feindschaft war natürlich längst kein Gefühl mehr, sondern eine Denkgewohnheit; wenn nicht irgend etwas die Affekte der Feindseligkeit gerade neu aufreizte, so waren sie gar nicht mehr da, und es hatte sich der gesammelte Inhalt zahlloser vergangener unliebsamer Vorgänge in die Form eines geringschätzigen Urteils über einander geballt, das so unabhängig vom Kommen und Gehen der Gefühle war wie eine vorurteilslose Wahrheit. Professor Schwung empfand das genau ebenso, wie es sein jetzt toter Angreifer empfunden hatte; es erschien ihm vollkommen kindisch und überflüssig zu verzeihen, denn die eine nachgiebige Regung vor dem Ende, noch dazu bloß ein Gefühl und kein wissenschaftlicher Widerruf, hatte natürlich gar keine Beweiskraft gegenüber den Erfahrungen eines jahrelangen Streites und sollte, wie Schwung es ansah, ganz schamlos bloß dazu dienen, ihn bei der Ausnutzung des Sieges ins Unrecht zu setzen. Ganz etwas anderes war es natürlich, daß Professor Schwung das Bedürfnis hatte, von seinem toten Freund Abschied zu nehmen. Mein Gott, man kannte sich schon, seit man Dozent und noch unverheiratet war! Erinnerst du dich, wie wir im Burggarten der Abendsonne zutranken und über Hegel disputierten? Wieviel Sonnen mögen seither untergegangen sein, aber ich erinnere mich besonders an diese! Und erinnerst du dich an unseren ersten wissenschaftlichen Streit, der uns beinahe schon damals zu Feinden gemacht hätte? Wie schön war das! Nun bist du tot, und ich stehe zu meiner Freude noch, wenn auch an deiner Bahre! Von solcher Art sind, wie man weiß, die Gefühle bejahrter Leute beim Absterben gleichaltriger. Es bricht, wenn man in die Eisjahre kommt, die Poesie durch. Viele Menschen, die seit ihrem siebzehnten Jahr kein Gedicht mehr gemacht haben, verfassen plötzlich eines im siebenundsiebzigsten Jahr, wenn sie ihr Testament schreiben. Wie beim Jüngsten Gericht die Toten einzeln aufgerufen werden – obschon sie am Grund der Zeit samt ihren Jahrhunderten ruhen wie die Ladung in untergegangenen Schiffen! – werden im Testament die Dinge mit Namen aufgerufen und erhalten ihre im Gebrauch verlorengegangene Persönlichkeit wieder zurück. »Der Buchara-Teppich mit dem Loch von einer Zigarre, der in meinem Arbeitszimmer liegt« heißt es in solchen letzten Manuskripten, oder »der Regenschirm mit dem Nashorngriff, den ich im Mai 1887 bei Sonnenschein & Winter erworben habe«; sogar die Aktienpakete werden einzeln bei ihren Nummern angesprochen und genannt.´
Und es ist nicht Zufall, daß zugleich mit diesem letzten Aufleuchten jedes einzelnen Gegenstands auch das Verlangen erwacht, eine Moral, eine Mahnung, einen Segen, ein
Gesetz daran zu knüpfen, die dieses ungeahnt Viele, rings um den Untergang noch einmal Auftauchende mit einer kräftigen Formel besprechen sollen. Zugleich mit der Poesie der Testamentszeit erwacht darum auch die Philosophie, und es ist begreiflichermaßen meistens eine alte und verstaubte Philosophie, die man wieder hervorholt, nachdem man sie vor fünfzig Jahren vergessen hat. Ulrich verstand auf einmal, daß keiner von diesen beiden Alten hatte nachgeben können. »Möge das Leben machen, was es will, wenn nur die Grundsätze unangefochten bleiben!« ist ein sehr vernünftiges Bedürfnis, wenn man weiß, daß man in wenigen Monaten oder Jahren von seinen Grundsätzen überlebt werden wird. Und es war deutlich zu sehen, wie in dem alten Hofrat die beiden Antriebe noch immer miteinander kämpften: sein Romantizismus, seine Jugend, seine Poesie forderten eine große, schöne Gebärde und ein edles Wort; seine Philosophie dagegen verlangte, daß er die Unberührbarkeit des Gesetzes der Vernunft durch jähe Gefühlseinfälle und vorübergehende Gemütsschwächen zum Ausdruck bringe, wie ihm solche sein toter Feind als Falle gelegt hatte. Schon seit zwei Tagen hatte sich Schwung vorgestellt: der ist nun tot, und der Schwungischen Auffassung der verminderten Zurechnungsfähigkeit steht kein Hindernis mehr im Wege; also war sein Gefühl in breiten Wogen zu dem alten Freund geströmt, und wie einen sorgsam ausgearbeiteten Mobilmachungsplan, der bloß noch des Signals zur Durchführung bedarf, hatte er sich die Abschiedsszene ausgedacht. Aber in diese war Essig gefallen und wirkte klärend. Schwung hatte mit mächtiger Bewegung begonnen, aber nun geschah ihm, wie wenn einer mitten in einem Gedicht vernünftig wird und die letzten Zeilen fallen ihm nicht mehr ein. So befanden sie sich voreinander, ein weißer Stoppelbart und weiße Bartstoppeln, beide die Kiefer unerbittlich festgeklemmt.
»Was wird er also tun?« fragte sich Ulrich, der gespannt den Auftritt beobachtete. Schließlich setzte sich in Hofrat Schwung die frohe Gewißheit, daß nun der § 318 des Strafgesetzbuches nach seinen Vorschlägen zur Annahme kommen werde, gegen den Ärger durch, und da er von den bösen Gedanken befreit war, hätte er am liebsten zu singen begonnen: »Ich hatt’ einen Kameraden...«, um seinem nunmehr guten und einzigen Gefühl Ausdruck zu geben. Und da er das nicht konnte, wandte er sich an Ulrich und sagte: »Glauben Sie mir, junger Sohn meines Freundes, es ist die sittliche Krisis, welche führt; der soziale Verfall folgt nach!« Dann wandte er sich an Agathe und fuhr fort: »Es war das Große an Ihrem Herrn Vater, daß er jederzeit bereit war, einer idealistischen Auffassung in den Grundlagen des Rechts zum Durchbruch zu verhelfen.« Dann ergriff er eine Hand Agathes und eine Hand Ulrichs, schüttelte sie und rief aus: »Ihr Vater hat kleinen Meinungsverschiedenheiten, wie sie bei langem Zusammenwirken manchmal unvermeidlich sind, viel zu großes Gewicht beigelegt. Ich war immer überzeugt, daß er das tun mußte, um sich in seinem empfindlichen Rechtssinn keinem Vorwurf auszusetzen. Es werden morgen viele Professoren von ihm Abschied nehmen, aber es wird keiner darunter sein wie er!«
So endete dieser Auftritt versöhnlich, und Schwung hatte noch im Abgehn Ulrich bekräftigt, er möge auf die Freunde seines Vaters rechnen, falls er sich noch zur akademischen Laufbahn entschließen sollte.
Agathe hatte mit weiten Augen zugehört und die unheimliche Endform betrachtet, die das Leben dem Menschen gibt. »Wie ein Wald von Gipsbäumen ist das gewesen!« sagte sie nachträglich zu ihrem Bruder.
Ulrich lächelte und erwiderte: »Ich fühle mich so sentimental wie ein Hund bei Mondschein!«

»Erinnerst du dich fragte ihn Agathe nach einer Weile »wie du einmal, als ich noch recht klein war, beim Spiel mit anderen Buben bis an die Hüften ins Wasser gefallen warst, und es hast verbergen wollen, und bist bei Tisch gesessen mit deiner trockenen Oberhälfte, aber am Klappern der Zähne ist die untere Hälfte entdeckt worden?«
Wenn Ulrich als Knabe aus dem Institut auf Ferien nach Hause gekommen – was für längere Zeit eigentlich nur jenes eine Mal geschehen war –, und als der kleine eingeschrumpfte Leichnam für die beiden noch ein fast allmächtiger Mann war, hatte es sich nicht selten ereignet, daß Ulrich eine Verfehlung nicht einbekennen wollte und sich sträubte sie zu bereun, obgleich er sie nicht zu leugnen vermochte. Auf diese Weise hatte er sich auch damals ein tüchtiges Fieber geholt und mußte schleunig zu Bett gebracht werden: »Und hast nur Suppe zu essen bekommen!« sagte nun Agathe.
»Richtig!« bestätigte ihr Bruder lächelnd. Die Erinnerung daran, daß er gestraft worden sei, etwas, das ihn gar nichts mehr anging, kam ihm in diesem Augenblick nicht anders vor, als sähe er seine kleinen Kinderschuhe am Boden stehn, die ihn auch nichts mehr angingen.
»Du hättest schon wegen deines Fiebers nichts als Suppe essen dürfen,« wiederholte Agathe »und trotzdem ist es dir auch noch strafweise verordnet worden!«
»Richtig!« bestätigte Ulrich noch einmal. »Aber das ist natürlich nicht aus Gehässigkeit geschehen, sondern in Erfüllung einer sogenannten Pflicht.« Er wußte nicht, wohinaus seine Schwester wollte. Er selbst sah noch die Kinderschuhe. Sah sie nicht; sah sie bloß, als würde er sie sehn. Fühlte ebenso die Beleidigungen, denen er entwachsen war. Dachte: »In diesem ›Nichtmehrangehn‹ drückt es sich irgendwie aus, daß man in keiner Zeit des Lebens ganz in sich selbst darin ist!«
»Aber du hättest ja ohnehin nichts als Suppe essen dürfen!!« wiederholte Agathe noch einmal und fügte hinzu: »Ich glaube, daß ich mein ganzes Leben lang Angst davor gehabt habe, daß ich vielleicht der einzige Mensch sei, der das nicht zu verstehen vermag!«
Können die Erinnerungen zweier Menschen, die von einer ihnen beiden bekannten Vergangenheit reden, nicht nur einander ergänzen, sondern auch, ehe sie noch ausgesprochen sind, schon verschmelzen? In diesem Augenblick geschah etwas Ähnliches! Ein gemeinsamer Zustand überraschte, ja verwirrte die Geschwister wie Hände, die unter Mänteln an Stellen hervorkommen, wo man sie nie erwartete, und einander unvermutet anfassen. Jeder wußte plötzlich von der Vergangenheit mehr, als er zu wissen vermeint hatte, und Ulrich fühlte wieder das Fieberlicht, das einstmals vom Boden die Wände hinangekrochen war, ähnlich wie es in diesem Zimmer, wo sie jetzt standen, das Gleißen der Kerzen tat; dann war der Vater gekommen, hatte den Lichtkegel der Tischlampe durchwatet und sich an sein Bett gesetzt. »War dein Bewußtsein von der Tragweite der Tat wesentlich beeinträchtigt, so dürfte sie wohl in milderem Lichte erscheinen, aber dann hast du dir das vorher einzugestehen!« Vielleicht waren das Worte aus dem Testament oder den Briefen über den § 318, die sich seinem Gedächtnis unterschoben. Er besaß sonst weder Gedächtnis für Einzelheiten, noch für Wortlaut; es hatte darum etwas ganz Ungewöhnliches an sich, daß plötzlich ganze Satzgruppen in seiner Erinnerung vor ihm standen, und es verband sich mit seiner Schwester, die vor ihm stand, als sei es ihre Nähe, die diese Veränderung in ihm hervorrufe. »Hast du die Kraft besessen, unabhängig von jeder dich zwingenden Notwendigkeit dich aus dir selbst für eine Schlechtigkeit zu bestimmen, so mußt du auch einsehen, daß du schuldhaft gehandelt hast!« fuhr er fort und behauptete: »Er muß auch zu dir so gesprochen haben!«
»Vielleicht nicht ganz so« änderte es Agathe ab. »Mir hat er gewöhnlich ›in meiner inneren Anlage bedingte Entschuldigungen‹ zugebilligt. Er hat mir immer vorgehalten, daß ein Wollen ein mit dem Denken verknüpftes, kein instinktmäßiges Handeln sei.«
»Es ist der Wille,« zitierte Ulrich »der sich bei fortschreitender Verstandes- und Vernunftentwicklung das Begehren, beziehungsweise den Trieb, in Gestalt der Überlegung und des darauf folgenden Entschlusses unterwerfen muß!«
»Ist das wahr?« fragte seine Schwester.
»Warum fragst du?«
»Wahrscheinlich weil ich dumm bin.«
»Du bist nicht dumm!«
»Ich habe immer schwer gelernt und nie recht verstanden.«
»Das beweist wenig.«
»Dann bin ich eben wahrscheinlich schlecht, weil ich das, was ich verstehe, nicht in mich aufnehme.«
Sie standen an die Pfosten der Türe gelehnt, die ins Nebenzimmer führte und bei Professor Schwungs Abgang offen geblieben war, einander nahe gegenüber; Tages- und Kerzenlicht spielte auf ihren Gesichtern, und ihre Stimmen verschränkten sich in einander wie bei einem Responsorium. Ulrich betete weiter seine Sätze vor, und Agathes Lippen folgten gelassen. Die alte Qual der Ermahnungen, die darin bestand, daß in das zarte, verständnislose Gehirn der Kindheit eine harte und ihm fremde Ordnung gepreßt wurde, bereitete ihnen Vergnügen, und sie spielten damit.
Und mit einemmal rief, ohne durch das Vorangegangene unmittelbar dazu aufgefordert zu sein, Agathe aus: »Denk dir das nun einfach auf alles ausgedehnt, so ist es Gottlieb Hagauer!« Und sie begann ihren Mann wie ein Schulkind nachzuäffen: »Weißt du wirklich nicht, daß das Lamium album die weiße Taubnessel ist?« »Und wie sollten wir anders vorwärts kommen, wenn nicht den gleichen mühevollen Gang der Induktion, der das Menschengeschlecht in vieltausendjähriger, mühevoller Arbeit, voll von Irrtümern, schrittweise zum heutigen Stande der Erkenntnis gebracht hat, an der Hand eines treuen Führers zurücklegend?!« »Kannst du denn nicht einsehen, liebe Agathe, daß das Denken auch eine moralische Aufgabe ist? Sich konzentrieren bedeutet eine stete Überwindung der eigenen Bequemlichkeit.« »Und geistige Zucht bedeutet jene Disziplinierung des Geistes, vermöge welcher der Mensch immer mehr in den Stand gesetzt wird, längere Gedankenreihen unter beständigem Zweifel gegen die eigenen Einfälle vernunftgemäß, das heißt durch einwandfreie Syllogismen, durch Schlußketten und Kettenschlüsse, durch Induktionen oder Schlüsse aus dem Zeichen, durchzuarbeiten und das schließlich gewonnene Urteil so lange der Verifikation zu unterziehn, bis alle Gedanken aneinander angepaßt sind!« – Ulrich staunte über diese Gedächtnisleistung seiner Schwester. Es schien Agathe unbändiges Vergnügen zu bereiten, diese Schulmeistersätze, die sie sich, Gott weiß wo, vielleicht aus einem Buch, angeeignet haben mochte, von sich zu geben und tadellos aufzusagen. Sie behauptete, so spräche Hagauer.
Ulrich glaubte es nicht. »Wie könntest du dir solche langen, verwickelten Sätze denn bloß aus Gesprächen gemerkt haben!?«
»Sie haben sich mir eingeprägt« erwiderte Agathe. »Ich bin so.«
»Weißt du denn überhaupt,« fragte Ulrich erstaunt »was ein Schluß aus dem Zeichen oder eine Verifikation ist?«
»Keine Ahnung!« räumte Agathe lachend ein. »Vielleicht hat er es auch bloß irgendwo gelesen. Aber er spricht so. Und ich habe es nach seinem Mund auswendig gelernt wie eine Reihe sinnloser Worte. Ich glaube, aus Zorn, eben weil er so redet. Du bist anders als ich: in mir bleiben die Dinge liegen, weil ich nichts mit ihnen anzufangen weiß, – das ist mein gutes Gedächtnis. Ich habe, weil ich dumm bin, ein schrecklich gutes Gedächtnis!« Sie tat, als läge darin eine traurige Wahrheit, die sie abschütteln müsse, um in ihrem Übermut fortzufahren: »Das geht bei Hagauer ja selbst beim Tennis so vor sich: ›Wenn ich beim Erlernen des Tennisspiels zum erstenmal meinem Schläger absichtlich eine bestimmte Stellung gebe, um dem Ball, von dessen Flug ich bis dahin befriedigt war, nunmehr eine bestimmte Richtung zu verleihen, greife ich in den Verlauf der Erscheinung ein: ich experimentiere!‹«
»Spielt er gut Tennis?«
»Ich schlage ihn sechs zu null.«
Sie lachten.
»Weißt du,« sagte Ulrich »daß Hagauer mit alledem, was du ihn sagen läßt, der Sache nach ganz recht hat?! Es ist nur komisch.«
»Das kann schon sein, daß er recht hat,« erwiderte Agathe »ich verstehe es ja nicht. Aber einmal, weißt du, hat ein Bub aus seiner Schule eine Stelle aus Shakespeare wörtlich so übersetzt:
›Feige sterben oftmal vor ihrem Tod;
Die Tapfern kosten niemals vom Tode außer einmal.
Von all den Wundern, die ich noch habe gehört,
Es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten,
Sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende,
Wird kommen, wann er will kommen.‹
Und er verbesserte das, ich habe das Heft selbst gesehn:
›Der Feige stirbt schon vielmal, eh’ er stirbt!
Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.
Von allen Wundern, die ich je gehört,
Scheint mir das größte...‹ Und so weiter nach der Ratsche der Schlegel-Übersetzung!
Und noch so eine Stelle weiß ich! Im Pindar, glaube ich, heißt es: ›Das Gesetz der Natur, der König aller Sterblichen und Unsterblichen, herrscht, das Gewaltsamste billigend, mit allmächtiger Hand!‹ Und er gab dem die ›letzte Feile‹: ›Das Gesetz der Natur, das über alle Sterblichen und Unsterblichen herrscht, waltet mit allmächtiger Hand, auch das Gewaltsame billigend.‹«
»Und es war doch schön,« – fragte sie – »daß der Kleine in seiner Schule, mit dem er nicht zufrieden war, die Worte so wörtlich und schaurig übersetzt hat, wie er sie da liegen fand wie einen Haufen auseinandergefallener Steine?« Und sie wiederholte: »Feige sterben oftmal vor ihrem Tod – Die Tapfern niemals kosten vom Tode außer einmal – Von all den Wundern, die ich noch habe gehört – es scheint für mich sehr seltsam, daß Menschen sollten fürchten – sehend, daß Tod, ein notwendiges Ende – wird kommen, wann er will kommen ...!!!«
Sie hatte die Hand um den Türpfosten geschlungen wie um den Stamm eines Baums und rief diese rohbehauenen Verse so wild und schön heraus, wie sie waren, ohne sich davon stören zu lassen, daß ein eingeschrumpfter Unglücklicher unter dem Blick ihrer, den Stolz der Jugend wiederspiegelnden Augen lag.
Ulrich starrte mit gerunzelter Stirn seine Schwester an. »Ein Mensch, der ein altes Gedicht nicht glättet, sondern in seiner Verwitterung halb zerstörten Sinnes beläßt, ist der gleiche wie jener, der einer alten Statue, der die Nase fehlt, niemals eine aus neuem Marmor aufsetzen wird« dachte er. »Das könnte man Stilgefühl nennen, aber das ist es nicht. Und auch der Mensch ist es nicht, dessen Einbildung so lebhaft ist, daß ihn das Fehlende nicht stört. Sondern es ist eher der Mensch, der auf Vollständigkeit überhaupt keinen Wert legt und darum auch von seinen Empfindungen nicht verlangen wird, daß sie ›ganz‹ seien. Sie wird geküßt haben,« schloß er daraus mit einer plötzlichen Wendung »ohne gleich am ganzen Leib einzustürzen!« Es schien ihm in diesem Augenblick, daß er von seiner Schwester nichts zu kennen brauchte als diese leidenschaftlichen Verse, um zu wissen, daß sie nie »ganz in etwas darin«, daß auch sie ein Mensch des »leidenschaftlichen Stückwerks« sei so wie er. Er vergaß darüber sogar die andere, nach Maß und Beherrschung verlangende Hälfte seines Wesens. Er hätte seiner Schwester jetzt mit Sicherheit sagen können, daß keine ihrer Handlungen zu ihrer nächsten Umgebung passe, sondern alle von einer höchst fragwürdigen weitesten Umgebung abhängig seien, ja geradezu von einer, die nirgends anfängt und nirgends begrenzt ist, und die widerspruchsvollen Eindrücke des ersten Abends würden damit eine günstige Erklärung gefunden haben. Aber die Zurückhaltung, an die er sich gewöhnt hatte, war doch noch stärker, und er wartete neugierig, ja sogar nicht ohne Zweifel ab, wie Agathe von dem hohen Ast herunterkommen werde, auf den sie sich begeben hatte. Noch stand sie ja, den Arm am Türpfosten hochgehoben, da, und ein kleiner Augenblick zuviel mochte schon den ganzen Vorgang verderben. Er verabscheute die Frauen, die sich so betragen, als ob sie von einem Maler oder Regisseur in die Welt gesetzt worden wären, oder die nach einer Erregung wie der Agathes in ein kunstvolles Piano ausklingen. »Vielleicht könnte sie sich« überlegte er »von ihrem Gipfel der Begeisterung plötzlich mit dem etwas blöden, nachtwandlerischen Ausdruck herabgleiten lassen, wie ihn ein aufgewachtes Medium hat; es wird ihr wohl nichts anderes übrig bleiben, und auch das wird etwas peinlich sein!« Aber Agathe schien das selbst zu wissen oder hatte in dem Blick ihres Bruders die auf sie lauernde Gefahr erraten: sie sprang lustig aus ihrer Höhe hinab auf beide Füße und streckte Ulrich die Zunge heraus!
Dann aber wurde sie ernst und schweigsam, sagte kein Wort mehr und ging die Orden holen. So machten sich die Geschwister also daran, dem letzten Willen ihres Vaters entgegen zu handeln.
Agathe führte es aus. An Ulrich zeigte sich eine Scheu, den hilflos daliegenden Alten zu berühren, aber Agathe hatte eine Art, Unrecht zu tun, die den Gedanken an Unrecht nicht aufkommen ließ. Die Bewegungen ihres Blicks und ihrer Hände ähnelten dabei denen einer Frau, die einen Kranken versorgt, und zuweilen hatten sie auch das urwüchsig Rührende junger Tiere, die in ihrem Spiel einhalten, um sich zu vergewissern, ob ihnen der Herr zusehe. Dieser nahm die abgelösten Orden in Empfang und reichte die Ersatzstücke. Er fühlte sich an den Dieb erinnert, dem das Herz aus der Brust springt. Und wenn er dabei den Eindruck hatte, daß die Sterne und Kreuze in der Hand seiner Schwester lebhafter leuchteten als in der seinen, ja geradeswegs zu Zauberdingen würden, so konnte das in dem schwarzgrünen, von vielen Reflexen großer Blattpflanzen erfüllten Zimmer wirklich so sein, es mochte aber auch davon herrühren, daß er den zögernd führenden Willen seiner Schwester spürte, der den seinen jugendlich ergriff; und da keine Absicht darin zu erkennen war, entstand in diesen Augenblicken einer mit nichts vermischten Berührung wieder ein beinahe ausdehnungsloses und darum ganz unbeschaffen starkes Gefühl von ihrer beider Dasein.
Da unterbrach sich Agathe und war fertig. Nur irgend etwas war noch nicht geschehen, und nach einer kleinen Weile des Nachdenkens sagte sie lächelnd: »Wollen wir nicht jeder etwas Schönes auf einen Zettel schreiben und ihm das in die Tasche stecken?« Diesmal wußte Ulrich gleich, was sie meinte, denn solcher gemeinsamen Erinnerungen gab es nicht viele, und es fiel ihm ein, wie sie in einem bestimmten Alter eine große Vorliebe für traurige Verse und Geschichten besessen hatten, in denen jemand starb und von allen vergessen wurde. Es war vielleicht die Verlassenheit ihrer Kindheit, die das bewirkte, und oft dachten sie sich auch gemeinsam eine Geschichte aus; Agathe aber neigte schon damals dazu, solche Geschichten auch auszuführen, während Ulrich bloß in den männlicheren Unternehmungen führte, die verwegen und herzlos waren. Darum ging der Beschluß, den sie einmal faßten, daß sich jeder einen Fingernagel abschneiden solle, um ihn im Garten zu begraben, von Agathe aus, und sie tat auch noch von ihrem blonden Haar ein kleines Bündel zu den Nägeln. Ulrich erklärte stolz, daß in hundert Jahren vielleicht jemand darauf stoßen und sich verwundert fragen werde, wer das wohl gewesen sein möge, und er war dabei von der Absicht beeinflußt, auf die Nachwelt zu kommen; der kleinen Agathe dagegen kam es mehr auf das Vergraben als solches an, sie hatte das Gefühl, einen Teil von sich zu verstecken und dauernd der Aufsicht einer Welt zu entziehen, von deren pädagogischen Forderungen sie sich eingeschüchtert fühlte, ohne viel von ihnen zu halten. Und weil damals gerade das kleine Wohnhaus für die Dienstleute am Rand des Gartens erbaut wurde, verabredeten sie, etwas Ungewöhnliches zu tun. Sie wollten wundervolle Verse auf zwei Zettel schreiben und hinzusetzen, wer sie seien, und das sollte in das Haus eingemauert werden: aber als sie diese Verse zu schreiben begannen, die so besonders schön sein sollten, fielen ihnen keine ein, einen Tag um den andern, und die Mauern wuchsen schon aus der Baugrube hinaus. Da schrieb Agathe schließlich, als die Stunde drängte, einen Satz aus dem Rechenbuch hin, und Ulrich schrieb: »Ich bin –«, und dann folgte sein Name. Trotzdem bekamen sie furchtbares Herzklopfen, als sie sich im Garten an die zwei Maurer heranschlichen, die dort bauten, und Agathe warf einfach ihren Zettel in die Grube, worin sie standen, und lief davon. Aber Ulrich, der sich als der Größere und als Mann natürlich noch mehr davor fürchtete, daß ihn die Maurer anhalten und erstaunt fragen könnten, was er wolle, vermochte vor Erregung überhaupt weder Arm noch Bein zu rühren, so daß Agathe, mutiger geworden, weil ihr nichts geschehen war, schließlich zurückkehrte und auch seinen Zettel an sich nahm. Sie ging jetzt als arglose Spaziergängerin damit vor, besichtigte am äußersten Ende einer soeben gelegten Reihe einen Ziegel, lüpfte ihn und hatte Ulrichs Namen schon in die Mauer geschoben, ehe sie einer wegweisen konnte, während ihr Ulrich selbst zögernd folgte und im Augenblick der Tat fühlte, wie sich die Beklemmung, die ihn schrecklich einzwängte, in ein Rad mit scharfen Messern verwandelte, die sich so rasch in seiner Brust drehten, daß im nächsten Augenblick eine spritzende Sonne daraus wurde, wie man sie beim Feuerwerk abbrennt. – Daran hatte Agathe also angeknüpft, und Ulrich gab die längste Weile keine Antwort und lächelte nur abwehrend, denn ein solches Spiel mit dem Toten zu wiederholen, kam ihm doch unerlaubt vor.
Da hatte sich Agathe aber schon gebückt und ein seidenes, breites Strumpfband, das sie zur Entlastung des Gürtels trug, vom Bein gestreift, hob die Prunkdecke und schob es dem Vater in die Tasche.
Ulrich? Er traute zuerst seinen Augen nicht bei dieser wieder ins Leben zurückgekehrten Erinnerung. Dann wäre er beinahe hinzugesprungen und hätte es verhindert; einfach weil es so ganz gegen alle Ordnung war. Dann aber fing er in den Augen seiner Schwester einen Blitz von reiner Taufrische des frühen Morgens auf, in die noch keine Trübe des Tagwerks gefallen ist, und das hielt ihn zurück. »Was treibst du da?!« sagte er, leise abmahnend. Er wußte nicht, ob sie den Toten versöhnen wolle, weil ihm Unrecht geschehen sei, oder ob sie ihm etwas Gutes mitgeben wolle, weil er selbst soviel Unrecht getan habe: er hätte fragen können, aber die barbarische Vorstellung, dem frostigen Toten ein Strumpfband mitzugeben, das von dem Bein seiner Tochter warm war, schloß ihm von innen die Kehle und richtete in seinem Gehirn allerhand Unordnung an.

Die kurze Zeit, die noch bis zum Begräbnis zur Verfügung stand, war von unzähligen ungewohnten kleinen Aufgaben ausgefüllt worden und hatte sich rasch entwickelt, und schließlich war aus den Besuchern, deren Kommen wie ein schwarzer Faden durch alle Stunden lief, in der letzten halben Stunde vor der Abfahrt des Toten ein schwarzes Fest geworden. Die Begräbnisgeschäftsleute hatten noch mehr als vorher gehämmert und gescharrt – mit dem gleichen Ernst wie ein Chirurg, dem man sein Leben anvertraut hat und fortab nichts mehr dreinreden darf – und hatten durch die unberührte Alltäglichkeit der übrigen Hausteile einen Steg der feierlichen Gefühle gelegt, der vom Tor über die Treppe in das Aufbahrungszimmer führte. Die Blumen und Blattpflanzen, schwarzen Tuch- und Kreppbehänge, silbernen Leuchter und zitternden kleinen Goldzungen der Flammen, welche die Besucher empfingen, kannten ihre Aufgabe besser als Ulrich und Agathe, die im Namen des Hauses jeden begrüßen mußten, der dem Toten die letzte Ehre zu erweisen kam, und die von den wenigsten wußten, wer sie seien, wenn sie nicht der alte Diener ihres Vaters in unauffälliger Weise auf besonders hochstehende Gäste aufmerksam machte. Und alle, die erschienen, glitten an sie heran, glitten ab und warfen irgendwo im Raum einzeln oder in kleinen Gruppen Anker, regungslos die Geschwister beobachtend. Steif wuchs diesen die Miene ernsten Ansichhaltens über das Gesicht, bis endlich der Schirrmeister oder Inhaber der Leichenbeförderungsunternehmung – jener Mann, der Ulrich mit seinen Vordrucken aufgewartet hatte und in dieser letzten halben Stunde wenigstens zwanzigmal die Treppe hinab- und hinangelaufen war – seitlich an Ulrich heransprengte und ihm mit behutsam zur Schau getragener Wichtigkeit wie ein Adjutant bei der Parade seinem General die Meldung überbrachte, daß alles bereit sei.
Weil der Zug feierlich durch die Stadt geführt werden sollte, wurden erst später die Wagen bestiegen, und Ulrich mußte als Erster den übrigen voranschreiten, zur Seite des kaiserlich und königlichen Statthalters, der zu Ehren des letzten Schlafes eines Herrenhausmitgliedes persönlich erschienen war, und auf der anderen Seite Ulrichs ging ein ebenso hoher Herr, Ältester einer dreigliedrigen Abordnung des Herrenhauses; dahinter kamen die zwei anderen Standesherrn, dann Rektor und Senat der Universität, und erst hinter diesen, aber vor dem unabsehbaren Strom der Zylinder mannigfaltiger, an Würde langsam von vorn nach hinten verlierender öffentlicher Personen, schritt Agathe, von schwarzen Frauen eingesäumt und den Punkt bezeichnend, wo zwischen den Spitzen der Behörden das zugemessene private Leid seinen Platz hatte; denn die regellose Teilnahme der »nichts als mit-Fühlenden« begann erst hinter den in amtlicher Eigenschaft Erschienenen, und es war sogar möglich, daß sie aus nichts als dem alten Dienerehepaar bestand, das einsam hinter dem Zuge dahinschritt. So war dieser vornehmlich ein Zug von Männern, und zu seiten Agathens schritt nicht Ulrich, sondern ihr Ehemann Professor Hagauer, dessen rotapfeliges Gesicht mit der borstigen Raupe über dem Mund ihr inzwischen fremd geworden war und vor dem dichten, schwarzen Schleier, der ihr gestattete, ihn verborgen zu beobachten, dunkelblau aussah. Ulrich selbst, der in den vielen vorangegangenen Stunden immer mit seiner Schwester beisammen gewesen war, hatte mit einemmal das Gefühl, daß die uralte Begräbnisordnung, die noch aus der Gründungszeit der Universität stammte, sie ihm entrissen habe, und entbehrte sie, ohne daß er sich auch nur nach ihr umwenden durfte; er dachte sich einen Scherz aus, mit dem er sie begrüßen werde, wenn sie sich wiedersähen, aber seine Gedanken wurden durch den Statthalter ihrer Freiheit beraubt, der schweigend und herrscherhaft an seiner Seite schritt, aber doch zeitweilig ein leises Wort an ihn richtete, das er auffangen mußte, wie ihm denn überhaupt von allen diesen Exzellenzen bis zu den Magnifizenzen und Spektabilitäten Aufmerksamkeit erwiesen worden war, denn er galt als der Schatten des Grafen Leinsdorf und das Mißtrauen, das man dessen vaterländischer Aktion allmählich überall entgegenbrachte, verlieh ihm Ansehen.
An den Straßenrändern und hinter den Fenstern hatten sich überdies Neugierige gestaut, und obgleich er wußte, daß in einer Stunde, einfach wie bei einer Theateraufführung, alles vorbei sein werde, fühlte er doch an diesem Tag die Vorgänge besonders lebhaft mit, und die allgemeine Teilnahme an seinem Schicksal lag ihm wie ein schwer verbrämter Mantel auf den Schultern. Zum erstenmal empfand er die gerade Haltung der Überlieferung. Die dem Zug wie eine Welle voranlaufende Ergriffenheit der Menschenmasse an den Rändern, welche plauderte, verstummte und wieder aufatmete, der Zauber der Geistlichkeit, das dumpfe aufs Holz Poltern der Erdschollen, dessen Nahen man ahnte, das gestaute Schweigen des Zugs, das griff an die Wirbel des Leibs wie in ein urhaftes Musikinstrument, und Ulrich empfand mit Staunen ein unbeschreibliches Wiedertönen in sich, in dessen Schwingung sich sein Körper aufrichtete, als würde er von der Getragenheit, die ihn umgab, ganz wirklich getragen. Und wie er nun einmal an diesem Tag den anderen näher war, stellte er sich gleich dazu vor, wie anders das noch wäre, wenn er in diesem Augenblick, dem ursprünglichen Sinn des halbvergessen von der Gegenwart übernommenen Gepränges gemäß, wirklich als der Erbe einer großen Macht einherschritte. Das Traurige verschwand bei diesem Gedanken, und der Tod wurde aus einer schrecklichen Privatangelegenheit zu einem Übergang, der sich in öffentlicher Feier vollzog; nicht mehr klaffte jenes grauenvoll angestarrte Loch, das jeder Mensch, an dessen Dasein man gewöhnt ist, in den ersten Tagen nach seinem Verschwinden hinterläßt, sondern schon schritt der Nachfolger an Stelle des Verstorbenen, die Menge atmete ihm zu, das Totenfest war zugleich eine Mannbarkeitsfeier für den, der nun das Schwert übernahm und zum erstenmal ohne Vordermann und allein seinem eigenen Ende zuschritt. »Ich hätte« dachte Ulrich unwillkürlich »meinem Vater die Augen schließen müssen! Nicht seinet- oder meinetwegen, sondern –« er wußte diesen Gedanken nicht zu Ende zu führen; aber daß weder er seinen Vater gemocht hatte, noch dieser ihn, kam ihm angesichts dieser Ordnung als eine kleinliche Überschätzung der persönlichen Wichtigkeit vor, und überhaupt schmeckte vor dem Tode das persönliche Denken schal nach Nichtssagendheit, während alles, was an dem Augenblick bedeutend war, von dem Riesenleib auszugehen schien, den der langsam durch die Menschengasse dahinwandernde Zug bildete, mochte er auch von Müßiggang, Neugierde und gedankenlosem Mittun durchsetzt sein.
Jedoch, die Musik spielte weiter, es war ein leichter, klarer, herrlicher Tag, und Ulrichs Gefühle schwankten hin und her wie der Himmel, der in einer Prozession über dem Allerheiligsten getragen wird. Zuweilen sah Ulrich in die Spiegelscheiben des vor ihm fahrenden Leichenwagens und sah seinen Kopf mit Hut und Schultern darin, und von Zeit zu Zeit bemerkte er am Boden des Gefährts neben dem wappengeschmückten Sarg wieder die kleinen alten Wachsschuppen von früheren Begräbnissen, die man nicht ordentlich weggeputzt hatte, und sein Vater tat ihm dann einfach und ohne alle Gedanken leid wie ein Hund, der auf der Straße überfahren worden ist. Sein Blick wurde dann feucht, und wenn er über das viele Schwarz hinweg zu den Zuschauern an den Straßenrändern kam, sahen sie aus wie benetzte bunte Blumen, und die Vorstellung, daß er, Ulrich, alles das jetzt sehe und nicht der, der alle Tage hier gelebt hatte und noch dazu das Feierliche viel mehr liebte als er, war so sonderbar, daß es ihm schier unmöglich vorkam, daß sein Vater nicht dabei sein durfte, wie er aus einer Welt schied, die er im allgemeinen gut befunden hatte. Es rührte innig, aber es entging Ulrich darüber nicht, daß der Agent oder Unternehmer der Leichenbestattung, der den katholischen Zug zum Friedhof führte und in Ordnung hielt, ein großer, kräftiger Jude von einigen dreißig Jahren war: er wurde von einem langen blonden Schnurrbart geziert, trug Papiere in der Tasche wie ein Reisebegleiter, eilte vor und zurück und fingerte da am Riemenwerk eines Pferdes etwas zurecht oder flüsterte dort den Musikanten etwas zu. Das erinnerte Ulrich des weiteren daran, daß der Leichnam seines Vaters am letzten Tag nicht im Haus gewesen und erst kurz vor dem Begräbnis dahin zurückgebracht worden war, gemäß einer vom freien Geist der Forschung eingegebenen letztwilligen Bestimmung, die ihn der Wissenschaft zur Verfügung gestellt hatte, und es war zweifellos anzunehmen, daß man den alten Herrn nach diesem anatomischen Eingriff nur flüchtig wieder zusammengenäht haben werde; da rollte also hinter den Glasscheiben, die Ulrichs Bild zurückwarfen, ein unordentlich vernähtes Ding als Mittelpunkt der großen, schönen, feierlichen Einbildung mit. »Ohne oder mit seinen Orden?!« fragte sich Ulrich betreten; er hatte nicht mehr daran gedacht und wußte nicht, ob man seinen Vater in der Anatomie wieder angezogen habe, ehe der geschlossene Sarg ins Haus zurückkam. Auch über das Schicksal von Agathes Strumpfband bestand Unsicherheit; man konnte es gefunden haben, und er vermochte sich die Witze der Studenten auszumalen. Alles das war überaus peinlich, und so lösten die Einwände der Gegenwart sein Empfinden wieder in viele Einzelheiten auf, nachdem es sich einen Augenblick lang fast zu der glatten Schale eines lebenden Traums gerundet hatte. Er fühlte nur noch das Absurde, wirr sich Wiegende der menschlichen Ordnung und seiner selbst. »Ich bin nun ganz allein in der Welt –« dachte er »ein Ankertau ist zerrissen – ich steige auf!« In dieser Erinnerung an den Eindruck, den er als ersten bei der Botschaft vom Tode seines Vaters empfangen hatte, kleidete sich jetzt wieder sein Gefühl, indes er zwischen den Menschenmauern weiterschritt.

Ulrich hatte keinem seiner Bekannten seine Adresse hinterlassen, aber Clarisse wußte sie von Walter, dem sie so vertraut war wie seine eigene Kinderzeit.
Sie schrieb:
»Mein Liebling – mein Feigling – mein Ling!
Weißt du, was ein Ling ist? Ich kann es nicht herausbekommen. Walter ist vielleicht ein Schwächling. (Die Silbe »ling« war überall dick unterstrichen.)
Glaubst du, daß ich betrunken zu dir gekommen bin?! Ich kann mich nicht betrinken! (Männer betrinken sich eher als ich. Eine Merkwürdigkeit.)
Aber ich weiß nicht, was ich zu dir gesprochen habe; ich kann mich nicht erinnern. Ich fürchte, daß du dir einbildest, ich habe Dinge gesagt, die ich nicht gesagt habe. Ich habe sie nicht gesagt.
Aber das soll ein Brief werden – gleich! Vorher: du kennst, wie sich die Träume öffnen. Du weißt, wenn du träumst, manchmal: da warst du schon, mit dem Menschen hast du schon einmal gesprochen oder – – Es ist, als ob du dein Gedächtnis wiederfändest.
Ich habe im Wachen, daß ich gewacht habe!
(Ich habe Schlaffreunde.)
Weißt du überhaupt noch, wer Moosbrugger ist? Ich muß dir etwas erzählen:
Auf einmal war sein Name wieder da.
Die drei musikalischen Silben.
Aber Musik ist Schwindel. Ich meine, wenn sie allein ist. Musik allein ist Ästhetentum oder so etwas; Lebensschwäche. Wenn sich Musik aber mit dem Gesicht verbindet, dann schwanken die Mauern, und aus dem Grab der Gegenwart steht das Leben der Kommenden auf. Ich habe die drei musikalischen Silben nicht bloß gehört, ich habe sie auch gesehen. Sie sind in der Erinnerung aufgetaucht. Auf einmal weißt du: da, wo sie auftauchen, ist noch etwas anderes! Ich habe ja einmal deinem Grafen einen Brief über Moosbrugger geschrieben: wie man so etwas vergessen kann! Ich hör-sehe nun eine Welt, in der die Dinge stehen und die Menschen gehen, so wie du sie immer kennst, aber tönend-sichtbar. Das kann ich nicht deutlich beschreiben, denn es sind davon erst drei Silben aufgetaucht. Verstehst du das? Es ist vielleicht noch zu früh, davon zu reden.
Ich habe zu Walter gesagt: ›Ich will Moosbrugger kennenlernen!‹
Walter hat gefragt: ›Wer ist denn Moosbrugger?‹
Ich habe geantwortet: ›Ulos Freund, der Mörder.‹
Wir haben Zeitung gelesen; es war morgens, und Walter sollte schon ins Büro gehn. Erinnerst du dich, daß wir einmal alle drei Zeitung gelesen haben? (Du hast ein schwaches Gedächtnis, du wirst dich nicht erinnern!) Ich hatte also den Teil der Zeitung, den mir Walter gegeben hatte, auseinandergefaltet – ein Arm links, ein Arm rechts: plötzlich fühle ich hartes Holz, bin ans Kreuz genagelt. Ich frage Walter: ›Ist nicht erst gestern etwas von einem Eisenbahnunglück bei Budweis in der Zeitung gestanden?‹
›Ja‹ antwortet er. ›Warum fragst du? Ein kleines Unglück, ein Toter oder zwei.‹
Nach einer Weile sagte ich: ›Weil in Amerika auch ein Unglück geschehen ist. Wo liegt Pennsylvanien?‹
Er weiß es nicht. ›In Amerika‹ sagt er.
Ich sage: ›Nie lassen die Führer ihre Lokomotiven mit Absicht zusammenstoßen!‹
Er sieht mich an. Es war zu erkennen, daß er mich nicht versteht. ›Natürlich nicht‹ meint er.
Ich frage, wann Siegmund zu uns kommt. Er weiß es nicht sicher.
Und nun siehst du: Natürlich lassen die Maschinenführer nicht ihre Züge aus böser Absicht zusammenstoßen; aber warum tun sie es sonst? Ich werde es dir sagen: In dem ungeheuren Netz von Schienen, Weichen und Signalen, das sich um den ganzen Erdball zieht, verlieren wir alle die Kraft des Gewissens. Denn wenn wir die Stärke hätten, uns noch einmal zu prüfen und noch einmal unsere Aufgabe zu beachten, so würden wir immer das Nötige tun und das Unglück vermeiden. Das Unglück ist unser Stehenbleiben beim vorletzten Schritt!
Natürlich darf man nicht erwarten, daß das Walter gleich klar werde. Ich glaube, daß ich diese ungeheure Kraft des Gewissens erreichen kann, und ich habe die Augen schließen müssen, damit Walter nicht den Blitz darin bemerkt.
Aus allen diesen Gründen halte ich es für meine Pflicht, Moosbrugger kennen zu lernen.
Du weißt, mein Bruder Siegmund ist Arzt. Er wird mir helfen.
Ich habe auf ihn gewartet.
Am Sonntag ist er zu uns gekommen.
Wenn er jemand vorgestellt wird, sagt er: ›Aber ich bin weder –, noch musikalisch.‹ So ist sein Witz. Denn weil er Siegmund heißt, will er weder für einen Juden noch für musikalisch gehalten werden. Er ist im Wagner-Rausch gezeugt worden. Es ist unmöglich, ihn zu einer vernünftigen Antwort zu bewegen. Solange ich auf ihn einredete, hat er nur Unsinn gebrummt. Er hat mit einem Stein nach einem Vogel geworfen und mit dem Stock durch den Schnee gestochert. Auch wollte er einen Weg ausschaufeln; er kommt oft zu uns arbeiten, wie er sagt, weil er nicht gerne zu Hause ist bei seiner Frau und den Kindern. Es ist zu verwundern, daß du ihn nie getroffen hast. ›Ihr habt die Fleurs du mal und einen Gemüsegarten!‹ sagt er. Ich habe ihn an den Ohren gezogen und in die Rippen gepufft, ohne daß es geholfen hat.
Dann sind wir ins Haus zu Walter, der natürlich am Klavier gesessen ist, und Siegmund hat den Rock unter den Arm geklemmt und die Hände hoch hinauf voll Schmutz gehabt.
›Siegmund,‹ habe ich zu ihm vor Walter gesagt ›wann verstehst du ein Musikstück?!‹
Er hat gegrinst und zur Antwort gegeben: ›Gar niemals.‹
,Wenn du es selbst innerlich machst‹ habe ich gesagt. ›Wann verstehst du einen Menschen? Du mußt ihn mitmachen.‹ Mit-machen! Das ist ein großes Geheimnis, Ulrich! Du mußt sein wie er: aber nicht du in ihn hinein, sondern er in dich hinaus! Wir erlösen hinaus: Das ist die starke Form! Wir lassen uns auf die Handlungen der Menschen ein, aber wir füllen sie aus und steigen darüber hinaus.
Entschuldige, daß ich so viel davon schreibe. Aber die Züge stoßen zusammen, weil das Gewissen nicht den letzten Schritt tut. Die Welten tauchen nicht auf, wenn man sie nicht zieht. Ein andermal mehr davon. Der geniale Mensch hat die Pflicht anzugreifen! Er hat die unheimliche Kraft dazu! Aber Siegmund, der Feigling, hat nach der Uhr gesehn und ans Abendbrot erinnert, weil er nach Hause müsse. Weißt du, Siegmund hält sich immer in der Mitte zwischen der Blasiertheit eines erfahrenen Arztes, der nicht sehr günstig von dem Können seines Berufs denkt, und der Blasiertheit des zeitgemäßen Menschen, der jenseits der geistigen Überlieferung bereits wieder zur Hygiene der Einfachheit und der Gartenarbeit gekommen ist. Aber Walter hat ausgerufen: ›Um Gotteswillen nur, warum redet ihr solche Sachen?! Was wollt ihr denn eigentlich von diesem Moosbrugger!‹ Und das hat geholfen.
Denn nun sagte Siegmund: ›Entweder ist er geisteskrank oder ein Verbrecher, das ist ja richtig. Aber wenn sich Clarisse nun einmal einbildet, daß sie ihn bessern kann? Ich bin Arzt und muß dem Spitalsgeistlichen auch erlauben, daß er sich das einbildet! Erlösen sagt sie? Nun, warum soll sie ihn dann nicht wenigstens sehn?!‹
Er hat sich die Hosen abgebürstet, Ruhe posiert und die Hände gewaschen; beim Abendbrot haben wir dann alles verabredet.
Wir sind auch schon bei Dr. Friedenthal gewesen; das ist der Assistent, den er kennt. Siegmund hat gerade heraus gesagt, daß er die Verantwortung übernehme, mich unter irgendeinem falschen Titel einzuführen, ich sei Schriftstellerin und möchte den Mann sehen.
Aber das war ein Fehler, denn so offen gefragt, konnte der andere nur nein sagen. ›Wenn Sie die Selma Lagerlöf wären, ich würde entzückt von Ihrem Besuch sein, was ich natürlich auch so bin, aber hier werden leider nur wissenschaftliche Interessen anerkannt!‹ Es war ganz hübsch, für eine Schriftstellerin zu gelten. Ich habe ihn fest angeschaut und gesagt: ›Ich bin in diesem Fall mehr als die Lagerlöf, weil ich es nicht zu Studienzwecken will!‹
Er hat mich angesehn und dann gesagt: ›Das einzige wäre, wenn Sie mit einer Empfehlung Ihrer Gesandtschaft an den Chef der Klinik herkämen.‹ – Er hat mich für eine ausländische Schriftstellerin gehalten und nicht verstanden, daß ich Siegmunds Schwester bin.
Wir haben uns schließlich so geeinigt, daß ich nicht den kranken, sondern den gefangenen Moosbrugger sehen werde. Siegmund beschafft mir die Empfehlung eines Wohlfahrtvereins und eine Erlaubnis des Landesgerichts. Nachher hat Siegmund mir erzählt, daß Dr. Friedenthal Psychiatrie für eine halb künstlerische Wissenschaft hält, und hat ihn einen Dämonenzirkus-Direktor genannt. Aber mir würde das gefallen.
Das Schönste war, daß die Klinik in einem alten Kloster untergebracht ist. Wir haben am Gang warten müssen, und der Hörsaal ist in einer Kapelle. Er hat große Kirchenfenster, und ich habe über den Hof hineinsehen können. Die Kranken haben weiße Kleider an und sitzen beim Professor am Katheder. Und der Professor neigt sich ganz freundschaftlich über ihren Sessel. Ich habe mir gedacht: jetzt wird man vielleicht Moosbrugger bringen. Ich hatte das Gefühl, daß ich dann durch das hohe Glasfenster in den Saal fliegen will. Du wirst sagen, ich kann nicht fliegen: also durch das Fenster gesprungen? Aber gesprungen wäre ich ganz gewiß nicht, denn das fühlte ich nicht.
Ich hoffe, du kommst bald zurück. Nie kann man die Dinge ausdrücken. Am allerwenigsten brieflich.«
Darunter stand mächtig unterstrichen: »Clarisse«.

Ulrich sagt: »Wenn zwei Männer oder Frauen miteinander durch längere Zeit einen Raum teilen müssen – auf der Reise, im Schlafwagen oder überfüllten Gasthof –, so freunden sie sich nicht selten wunderlich an. Jeder hat eine andere Art, sich den Mund auszuspülen oder sich beim Abziehn der Schuhe zu bücken oder das Bein zu krümmen, wenn er sich ins Bett legt. Die Wäsche und Kleidung, im ganzen gleich, zeigt im einzelnen unzählige kleine Verschiedenheiten, die sich vor dem Auge auftun. Es ist – wahrscheinlich durch den übermäßig gespannten Individualismus der heutigen Lebensart – anfangs ein Widerstand da, der einem leichten Abscheu gleicht und ein Zunahekommen, eine Verletzung der eigenen Persönlichkeit abwehrt, so lange, bis er überwunden ist, und dann bildet sich eine Gemeinschaft heraus, die einen ungewöhnlichen Ursprung zeigt wie eine Narbe. Viele Menschen geben sich nach dieser Wandlung fröhlicher, als sie sonst sind; die meisten harmloser; viele gesprächiger; fast alle freundlicher. Die Persönlichkeit ist verändert, man kann fast sagen, unter der Haut gegen eine weniger eigentümliche umgetauscht: an die Stelle des Ich ist der erste, deutlich als unbehaglich und eine Verminderung empfundene, aber doch unwiderstehliche Ansatz eines Wir getreten.«
Agathe antwortet: »Diese Abneigung bei nahem Beisammensein gibt es besonders zwischen Frauen. Ich habe mich nie an Frauen gewöhnen können.«
»Es gibt sie auch zwischen Mann und Frau« meint Ulrich. »Sie wird dort bloß von den Verpflichtungen des Liebeshandels überdeckt, die sofort die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Aber gar nicht selten wachen die Verflochtenen aus diesem plötzlich auf und sehen dann – je nach ihrer Art mit Staunen, Ironie oder Fluchtdrang – ein völlig fremdes Wesen sich an ihrer Seite breitmachen; ja manchen Menschen geht es noch nach vielen Jahren so. Dann können sie nicht sagen, was das Natürlichere ist: ihre Verbindung mit anderen oder das verletzte Zurückschnellen ihres Ich aus dieser Verbindung in die Einbildung seiner Einzigkeit, – liegt doch beides in unserer Natur. Und beides verwirrt sich im Begriff der Familie! Das Leben in der Familie ist nicht das volle Leben; junge Menschen fühlen sich beraubt, vermindert, nicht bei sich selbst, wenn sie im Kreis der Familie sind. Sieh dir alte, unverheiratete Töchter an: sie sind von der Familie ausgesogen und ihres Blutes beraubt worden; es sind ganz sonderbare Zwitter zwischen Ich und Wir aus ihnen entstanden.«
Ulrich hat den Brief Clarissens als eine Störung empfunden. Die sprunghaften Ausbrüche darin beunruhigen ihn weit weniger als die ruhige und fast vernünftig aussehende Arbeit, die sie tief im Innern für einen offenbar verrückten Plan leistet. Er hat sich gesagt, daß er nach seiner Rückkehr wohl mit Walter darüber werde sprechen müssen, und seither redet er mit Willen von anderem.
Agathe, ausgestreckt auf dem Diwan, hat ein Knie hochgezogen und geht lebhaft auf ihn ein: »Mit dem, was du sagst, erklärst du doch selbst, warum ich wieder heiraten mußte!« sagt sie.
»Und doch ist auch etwas an dem sogenannten ›heiligen Gefühl der Familie‹ daran, an diesem Aufgehn ineinander, dem einander Dienen, der selbstlosen Bewegung in geschlossenem Kreis« – fährt Ulrich fort, ohne sich darum zu kümmern, und Agathe wundert sich darüber, daß sich seine Worte so oft von ihr wieder entfernen, wenn sie schon ganz nahe gewesen sind. »Gewöhnlich ist dieses kollektive Ich ja nur ein Kollektivegoist, und dann ist starker Familiensinn das Unausstehlichste, was man sich vorzustellen vermag; ich kann mir dieses Unbedingt-für-einander-Einspringen, dieses Gemeinsam-Kämpfen und -Wundentragen aber auch als ein urangenehmes, tief in der Menschenzeit ruhendes, ja schon in der Tierherde ausgeprägtes Gefühl denken« – hört sie ihn sprechen; und sie vermag sich nicht viel dabei zu denken. Sie vermag es auch nicht beim nächsten Satz: »Dieser Zustand entartet eben leicht, wie es alle alten Zustände tun, deren Ursprung sich verloren hat.« Und erst, als er mit den Worten schließt: »Und man muß wahrscheinlich verlangen, daß die Einzelnen schon etwas besonders Ordentliches seien, wenn das Ganze, das sie bilden, nicht ein sinnloses Zerrbild werden soll!« fühlt sie sich wieder gut in seiner Nähe aufgehoben und möchte, während sie ihn ansieht, ihren Augen nicht gestatten, sich zu schließen, damit er nicht inzwischen verschwinde, weil es so wunderlich ist, daß er da sitzt und Dinge spricht, die in der Höhe verlorengehn und mit einem Mal wieder herabfallen wie ein Gummiball, der sich zwischen Ästen verfangen hat.
Die Geschwister hatten sich am Spätnachmittag im Empfangszimmer getroffen, man schrieb schon manchen Tag seit dem Begräbnis.
Dieser Salon von länglicher Form war nicht nur im Geschmack, sondern auch noch mit dem echten Hausrat des bürgerlichen Empire eingerichtet; zwischen den Fenstern hingen die hohen Rechtecke der von glatten Goldrahmen umschlossenen Spiegel, und die maßvoll steifen Stühle standen an die Wände gerückt, so daß der leere Fußboden das Zimmer mit dem gedunkelten Glanz seiner Quadrate überschwemmt zu haben und ein seichtes Becken zu füllen schien, in das man zögernd den Fuß setzte. Am Rande dieser stilvollen Unwirtlichkeit des Salons – denn das Arbeitszimmer, worin er sich am ersten Morgen niedergelassen hatte, war Ulrich überlassen geblieben – ungefähr dort, wo in einer ausgebrochenen Ecknische wie ein strenger Pfeiler der Ofen stand und eine Vase am Haupt trug (und genau in der Mittellinie seiner Vorderseite auf einem in Hüfthöhe rundum laufenden Bord einen einzelnen Leuchter), hatte sich Agathe eine höchstpersönliche Halbinsel geschaffen. Sie hatte eine Ottomane hinstellen lassen und ihr einen Teppich zu Füßen gelegt, dessen altes Rotblau gemeinsam mit dem türkischen Muster der Liegestatt, das sich in sinnloser Unendlichkeit wiederholte, eine üppige Herausforderung des zarten Grau und vernünftig-schwebenden Lineaments darstellte, die in diesem Raum kraft Urväterwillens zu Hause waren. Des weiteren beleidigte sie diesen zuchtvollen und vornehmen Willen durch eine grüne, großblättrige Pflanze von Mannshöhe, die sie von der Trauerausschmückung des Hauses zurückbehalten und samt dem Kübel sich als »Wald« zu Häupten gestellt hatte, – an die andere Seite als die große helle Stehlampe, die es ihr erleichtern sollte, im Liegen zu lesen, und die in der klassizistischen Landschaft des Zimmers wie ein Scheinwerfer oder ein Antennenmast wirkte. Dieser Salon mit seiner in Felder geteilten Decke, den Wandpilastern und Pfeilerschränkchen hatte sich seit hundert Jahren wenig verändert, weil er selten benutzt wurde und niemals recht in das Leben seiner späteren Besitzer einbezogen worden war; vielleicht mochten zur Zeit der Voreltern die Wände noch mit zarten Stoffen bespannt gewesen sein, statt des hellen Anstrichs, den sie jetzt trugen, und die Bezüge der Stühle konnten etwas anders ausgesehen haben, aber so, wie er sich jetzt darbot, kannte Agathe diesen Salon seit ihrer Kindheit und wußte nicht einmal, ob es ihre Urgroßeltern waren, die sich so eingerichtet hätten, oder fremde Leute, denn sie war in diesem Hause aufgewachsen und das einzig Besondre, was sie wußte, bestand in der Erinnerung, daß sie diesen Raum immer mit jener Scheu betreten habe, die man Kindern vor etwas einimpft, das sie leicht zerstören oder beschmutzen könnten. Nun aber hatte sie das letzte Symbol der Vergangenheit, die Trauerkleidung, abgelegt und wieder ihren Pyjama angezogen, lag auf dem rebellisch eingedrungenen Diwan und las schon seit dem frühen Vormittag gute und schlechte Bücher, die sie zusammengerafft hatte, worin sie sich zeitweilig unterbrach, um zu essen oder einzuschlafen; und als der so verbrachte Tag sich neigte, blickte sie durch das dunkelnde Zimmer zu den hellen Vorhängen, die sich, schon ganz in Zwielicht getaucht, wie Segel an den Fenstern bauschten, und fühlte sich dabei, als reise sie in dem harten Strahlenkranz ihrer Lampe durch den steif-zarten Raum und habe soeben angehalten. So war sie von ihrem Bruder gefunden worden, der mit einem Blick ihr beleuchtetes Etablissement erfaßte; denn auch er kannte diesen Salon und wußte ihr sogar zu erzählen, daß der ursprüngliche Besitzer des Hauses ein reicher Kaufmann gewesen sein solle, dem es später nicht wohl ging, wodurch sich ihr Urgroßvater, der kaiserlicher Notar war, bequem in die Lage versetzt gesehen hätte, das hübsche Anwesen zu erwerben. Auch sonst wußte Ulrich allerhand von diesem Salon, den er sich gründlich angesehen hatte, und besonderen Eindruck machte auf seine Schwester die Erklärung, daß man in ihrer Urgroßväterzeit eine solche steife Einrichtung geradezu als besonders natürlich empfunden habe; das fiel ihr nicht leicht zu verstehen, denn ihr kam sie wie die Ausgeburt einer Geometriestunde vor, und es brauchte eine Weile, ehe in ihr die Vorstellungsweise einer Zeit dämmerte, die von den aufdringlichen Formen des Barock so übersättigt war, daß ihr eigenes symmetrisches und etwas steifes Gehaben von der zarten Einbildung verhüllt wurde, im Sinn einer reinen, schnörkelfreien und als vernünftig gedachten Natur zu handeln. Als sie sich aber endlich diesen Wandel der Begriffe mit allen Einzelheiten, die Ulrich dazugab, vergegenwärtigt hatte, kam es ihr hübsch vor, viel zu wissen, was sie bisher, als gesamte Erfahrung ihres Lebens, verachtet hatte; und als ihr Bruder erfahren wollte, was sie lese, warf sie sich schnell mit dem Körper über den Vorrat ihrer Bücher, wenngleich sie kühn behauptete, daß sie schlechte Lesebeschäftigung genau so gern hätte wie gute.
Ulrich hatte vormittags gearbeitet und war dann aus dem Haus gegangen. Seine Hoffnung auf Sammlung hatte sich bis zu diesem Tag nicht erfüllt, und die förderliche Wirkung, die von der Unterbrechung des gewohnten Lebens zu erwarten gewesen wäre, war durch die Ablenkungen aufgewogen worden, welche die neuen Verhältnisse im Gefolge hatten. Erst nach dem Begräbnis trat darin eine Veränderung ein, als die Beziehungen zur Außenwelt, die sich so lebhaft angelassen hatten, wie mit einem Schlag abrissen. Die Geschwister, die ja nur in einer Art Vertretung ihres Vaters durch einige Tage den Mittelpunkt einer allgemeinen Teilnahme gebildet und die mannigfaltigen Verbindungen gefühlt hatten, die sich an ihre Stellung knüpften, kannten in dieser Stadt außer Walters altem Vater keinen, den sie hätten besuchen mögen, und in Berücksichtigung der Trauer wurden sie auch von niemand eingeladen, und bloß Professor Schwung war nicht nur zum Begräbnis, sondern auch noch am nächsten Tag erschienen, um sich zu erkundigen, ob sein toter Freund nicht ein Manuskript über die Frage der verminderten Zurechnungsfähigkeit hinterlassen habe, dessen posthume Veröffentlichung man erwarten dürfe. Dieser unvermittelte Übergang von einer Bewegtheit, die unaufhörlich Blasen geworfen hatte, zu der auf sie folgenden bleiernen Stille übte nun einen geradezu körperlichen Stoß aus. Es kam hinzu, daß sie noch immer in ihren alten Kinderzimmern schliefen, denn Gastzimmer hatte das Gebäude keine, oben in der Mansarde auf Notbetten und umgeben von dem dürftigen Um und An der Kindheit, das etwas von dem Einrichtungsmangel einer Tobsuchtszelle hat und sich mit dem ehrlosen Glanz des Wachstuchs auf den Tischen oder dem Linoleumbelag am Fußboden, in dessen Öde einst der Steinbaukasten die fixen Ideen seiner Architektur spie, bis an die Träume drängt. Diese Erinnerungen, die so sinnlos und unendlich waren wie das Leben, auf das sie hatten vorbereiten sollen, ließen es den Geschwistern angenehm erscheinen, daß sich ihre Schlafräume, nur durch eine Kleider- und Gerümpelkammer getrennt, wenigstens nebeneinander befanden; und weil das Badezimmer ein Stockwerk tiefer lag, waren sie auch nach dem Erwachen aufeinander angewiesen, begegneten einander vom Morgen an in der Leere der Treppen und des Hauses, mußten aufeinander Rücksicht nehmen und hatten gemeinsam alle die Fragen zu beantworten, die das fremde Wirtschaftswesen stellte, das ihnen mit einemmal anvertraut war. Auf diese Weise empfanden sie natürlich auch die Komik, von der dieser so innige wie unvorhergesehene Zusammenschluß nicht frei war: sie glich der abenteuerlichen Komik eines Schiffbruchs, der sie auf die einsame Insel ihrer Kindheit zurückgeworfen hatte, und beides führte dazu, daß sie gleich nach den ersten Tagen, auf deren Verlauf sie keinen Einfluß gehabt hatten, nach Selbständigkeit trachteten, aber jeder von ihnen tat es mehr aus Rücksicht auf den anderen als auf sich selbst.
Darum war Ulrich schon aufgestanden, ehe sich Agathe im Salon ihre Halbinsel baute, und hatte sich leise in das Arbeitszimmer geschlichen, wo er seine unterbrochene mathematische Untersuchung aufnahm, allerdings mehr zum Zeitvertreib als in der Absicht auf Gelingen. Aber zu seiner nicht geringen Überraschung brachte er darauf in den wenigen Stunden eines Vormittags alles, was er monatelang hatte unberührt liegen lassen, bis auf unbedeutende Einzelheiten zu Ende. Es war ihm beim Zustandekommen dieser unerwarteten Lösung einer jener außer der Regel liegenden Gedanken zu Hilfe gekommen, von denen man nicht sowohl sagen könnte, daß sie erst dann entstehen, wenn man sie nicht mehr erwartet, als vielmehr, daß ihr überraschendes Aufleuchten an das der Geliebten erinnert, die längst schon zwischen den anderen Freundinnen da war, ehe der bestürzte Freier zu verstehen aufhört, daß er ihr andere hat gleichstellen können. Es ist an solchen Einfällen nicht nur der Verstand, sondern immer auch irgend eine Bedingung der Leidenschaft beteiligt, und Ulrich war es zu Mute, als hätte er in diesem Augenblick fertig und frei werden müssen, ja er kam sich, weil weder ein Grund noch ein Zweck zu erkennen war, geradezu vor der Zeit fertig geworden vor, und es stieß nun die übrig gebliebene Energie ins Träumerische hinaus. Er erblickte die Möglichkeit, daß man den Gedanken, der seine Aufgabe gelöst hatte, auch auf weitaus größere Fragen anwenden könne, entwarf spielerisch die erste Phantasie einer solchen Systematik und fühlte sich in diesen Augenblicken glücklicher Entspannung sogar von der Einflüsterung Professor Schwungs versucht, doch noch zu seinem Beruf zurückzukehren und den Weg zu suchen, der zu Geltung und Einfluß führt. Als er sich aber nach wenigen Minuten dieses intellektuellen Behagens nüchtern vergegenwärtigt hatte, welche Folgen es haben würde, wenn er seinem Ehrgeiz nachgäbe und jetzt noch als Nachzügler den akademischen Weg einschlüge, begegnete es ihm zum erstenmal, daß er sich für ein Unternehmen zu alt fühlte, und seit seiner Knabenzeit hatte er diesen halb unpersönlichen Begriff der Jahre nicht als etwas empfunden, das einen selbständigen Gehalt habe, und ebensowenig bisher den Gedanken gekannt: du vermagst etwas nicht mehr zu tun!
Als das Ulrich nun nachträglich seiner Schwester am Spätnachmittag erzählte, gebrauchte er von ungefähr das Wort Schicksal, das ihre Anteilnahme erregte. Sie wollte wissen, was »Schicksal« ist.
»Ein Mittelding zwischen ›Meine Zahnschmerzen‹ und ›König Lears Töchter‹!« erwiderte Ulrich. »Ich gehöre nicht zu den Menschen, die mit diesem Wort gern umgehn.«
Aber für junge Menschen gehört es zum Gesang des Lebens; sie möchten ein Schicksal haben und wissen nicht, was es ist.
Ulrich entgegnete ihr: »In späteren, besser unterrichteten Zeiten wird das Wort Schicksal wahrscheinlich einen statistischen Inhalt gewinnen.«
Agathe war siebenundzwanzig. Jung genug, noch einige von den hohlen Empfindungsformen bewahrt zu haben, die man zuerst ausbildet; alt genug, schon den anderen Inhalt zu ahnen, den die Wirklichkeit einfüllt. Sie erwiderte: »Altwerden ist wohl selbst schon ein Schicksal!« und war sehr unzufrieden mit dieser Antwort, in der sich ihre jugendliche Schwermut auf eine Weise ausdrückte, die ihr nichtssagend vorkam.
Aber ihr Bruder achtete nicht darauf und gab ein Beispiel: »Als ich Mathematiker wurde,« erzählte er »wünschte ich mir wissenschaftlichen Erfolg und setzte alle Kraft für ihn ein, wenn ich das auch nur für eine Vorstufe zu etwas anderem ansah. Und meine ersten Arbeiten haben auch wirklich – natürlich unvollkommen, wie es Anfänge immer sind – Gedanken enthalten, die damals neu waren und entweder unbemerkt blieben oder sogar auf Widerstand stießen, obwohl ich mit allem übrigen gut aufgenommen wurde. Nun könnte man es ja vielleicht Schicksal nennen, daß ich bald die Geduld verlor, hinter diesen Keil weiter noch meine volle Kraft zu setzen.«
»Keil?« unterbrach ihn Agathe, als bereite die Aussprache dieses männlich-werktätigen Wortes unbedingt Unannehmlichkeiten. »Warum nennst du es Keil?«
»Weil es nur das war, was ich zuerst machen wollte: ich wollte es wie einen Keil vorantreiben und verlor dann eben die Geduld. Und heute, als ich vielleicht meine letzte Arbeit abschloß, die noch in jene Zeit zurückreicht, ist es mir klar geworden, daß ich mich wahrscheinlich nicht ganz ohne Grund als den Führer einer Bewegung ansehen dürfte, wenn ich damals etwas mehr Glück gehabt oder etwas mehr Beständigkeit bewiesen hätte.«
»Du könntest es ja noch nachholen!« meinte Agathe nun wieder. »Ein Mann wird doch nicht so leicht für etwas zu alt wie eine Frau.«
»Nein,« erwiderte Ulrich »ich will es nicht nachholen! Denn es ist erstaunlich, aber wahr, daß sich damit sachlich – am Gang der Dinge, an der Entwicklung der Wissenschaft selbst – gar nichts geändert hätte. Ich mag meiner Zeit etwa um zehn Jahre vorausgewesen sein; aber etwas langsamer und auf anderen Wegen sind andere Leute auch ohne mich dahin gekommen, wohin ich sie höchstens etwas rascher geführt hätte, während es schon fraglich wäre, ob eine solche Veränderung meines Lebens genügt haben möchte, mich selbst inzwischen mit neuem Vorsprung über das Ziel hinauszureißen. Da hast du also ein Stück von dem, was man persönliches Schicksal nennt, aber es kommt auf etwas auffallend Unpersönliches hinaus.«
»Überhaupt« – fuhr er fort – »widerfährt es mir, je älter ich werde, desto öfter, daß ich etwas gehaßt habe, das später und auf Umwegen trotzdem in der gleichen Richtung wie mein eigener Weg verläuft, so daß ich ihm die Daseinsberechtigung mit einem Mal nicht mehr absprechen kann; oder es geschieht, daß sich die Schäden an Ideen oder Geschehnissen zeigen, für die ich mich ereifert habe. Über größere Strecken scheint es also ganz gleichgültig zu sein, ob man sich erregt und in welchem Sinn man seine Erregung eingesetzt hat. Es kommt alles ans gleiche Ziel, und es dient alles einer Entwicklung, die undurchsichtig und unfehlbar ist.«
»Früher hat man das den unerforschlichen Ratschlüssen Gottes zugeschrieben« antwortete Agathe stirnrunzelnd und hatte den Ton eines, der von Selbsterlebtem spricht, und nicht gerade respektvoll.
Ulrich erinnerte sich, daß sie in einem Kloster erzogen worden war. Sie lag in ihren langen, unten zugebundenen Hosen auf dem Diwan, an dessen Fußende er saß, und die Stehlampe bestrahlte sie gemeinsam, so daß am Fußboden ein großes Blatt aus Licht entstand, auf dem sie sich im Dunkel befanden. »Heute macht das Schicksal eher den Eindruck der übergeordneten Bewegung einer Masse« meinte er; »man steckt darin und wird mitgewälzt.« Er erinnerte sich, schon einmal auf den Gedanken gekommen zu sein, es käme heute jede Wahrheit in ihre Halbheiten geteilt auf die Welt, und trotzdem könnte sich auf diese windige und bewegliche Weise eine größere Gesamtleistung ergeben, als wenn jeder ernst und einsam nach ganzer Pflicht strebe. Er hatte diesen ihm wie ein Haken im Selbstgefühl sitzenden Gedanken, der dennoch nicht ohne die Möglichkeit der Größe war, sogar schon einmal mit dem Schluß vorgetragen, den er nicht ernst meinte, daß man also tun könne, was man wolle! Denn nichts lag ihm so fern wie dieser Schluß, und gerade jetzt, wo ihn sein Schicksal abgesetzt zu haben schien und ihm nichts übrig ließ zu tun, in diesem für seinen Ehrgeiz gefährlichen Augenblick, wo er sonderbar angetrieben auch noch das Letzte abgeschlossen hatte, was ihn mit seinen älteren Zeiten verband, diese nachzüglerische Arbeit, gerade in diesem Augenblick also, wo er persönlich ganz blank war, fühlte er statt eines Ablassens von sich die neue Spannung, die seit seiner Abreise entstanden war. Sie hatte keinen Namen; man mochte einstweilen ebensogut sagen, ein junger, ihm verwandter Mensch suche seinen Rat, wie man auch etwas anderes sagen konnte: Aber er sah erstaunlich scharf die strahlende Matte aus hellem Gold auf dem Schwarzgrün des Zimmers, mit den zarten Würfeln von Agathes Narrenanzug darauf, und sich selbst, und den überdeutlich umsäumten, aus dem Dunkel genommenen Zufall ihres Beisammenseins.
»Wie hast du das gesagt?« fragte Agathe.
»Was man heute noch persönliches Schicksal nennt, wird verdrängt von kollektiven und schließlich statistisch erfaßbaren Vorgängen« wiederholte Ulrich.
Agathe dachte nach, dann mußte sie lachen. »Ich verstehe das } natürlich nicht, aber wäre es denn nicht wunderbar, wenn man von der Statistik aufgelöst würde; die Liebe bringt das ja doch längst nicht mehr zustande!« meinte sie.
Und das verleitete Ulrich, seiner Schwester plötzlich zu erzählen, was ihm nach Beendigung seiner Arbeit widerfahren sei, als er von Hause fort in den Mittelpunkt der Stadt gegangen war, um die ihm übriggebliebene Bestimmungslosigkeit mit etwas auszufüllen. Er hatte nicht davon sprechen wollen, weil es ihm als eine zu persönliche Angelegenheit vorkam. Denn jedesmal, wenn ihn seine Reisen in Städte führten, mit denen er durch keinerlei Geschäft verknüpft war, liebte er sehr das daraus entstehende besondere Gefühl der Einsamkeit, und selten war es so stark gewesen wie dieses Mal. Er hatte die Farben der Straßenbahn, der Wagen, Auslagen, Tore, die Formen der Kirchtürme, Gesichter und Hausfronten gesehn, und ob sie auch die allgemeine europäische Ähnlichkeit zeigten, flog doch der Blick über sie hin wie ein Insekt, das sich über ein Feld mit fremden Lockfarben verirrt hat und sich nicht niederlassen kann, obschon es das tun möchte. Dieses Gehn ohne Ziel und deutliche Bestimmung in einer lebhaft mit sich selbst beschäftigten Stadt, diese gesteigerte Anspannung des Erlebens bei gesteigerter Fremdheit, die noch durch die Überzeugung verstärkt wird, daß es auf einen nicht ankomme, sondern nur auf diese Summen von Gesichtern, diese vom Körper gerissenen, untereinander zu Armeen von Armen, Beinen oder Zähnen zusammengefaßten Bewegungen, denen die Zukunft gehört, vermag das Gefühl zu wecken, daß man sich als noch ganz und geschlossen für sich wandelnder Mensch schon geradezu unsozial und verbrecherisch vorkommt; aber wenn man dem dann noch weiter nachgibt, kann unversehens auch eine so törichte leibliche Annehmlichkeit und Verantwortungslosigkeit daraus entstehn, als gehöre der Körper nicht mehr einer Welt an, wo das sinnliche Ich in kleine Nervenstränge und -gefäße eingeschlossen ist, sondern einer von unwacher Süße durchfluteten. Mit diesen Worten beschrieb Ulrich seiner Schwester, was vielleicht die Folge eines Zustands ohne Ziel und Ehrgeiz war oder die Folge herabgeminderter Persönlichkeitseinbildung, vielleicht aber auch nichts anderes als der »Urmythos der Götter«, jenes »Doppelgesicht der Natur«, jenes »gebende« und »nehmende Sehen«, wohinter er nachgerade drein war wie ein Jäger. Er wartete nun neugierig, ob Agathe ein Zeichen des Einverständnisses geben oder zeigen werde, daß sie auch solche Eindrücke kenne, und als es nicht geschah, erklärte er es noch einmal: »Es ist wie eine leichte Bewußtseinsspaltung. Man fühlt sich umarmt, umschlossen und bis ans Herz von einer willenlos angenehmen Unselbständigkeit durchdrungen; aber anderseits bleibt man wach und der Geschmackskritik fähig und sogar bereit, mit diesen Dingen und Menschen, die voll ungelüfteter Anmaßung sind, Streit anzubinden. Es ist so, als gäbe es zwei verhältnismäßig selbständige Lebensschichten in uns, die sich sonst tief im Gleichgewicht halten. Und da wir doch von Schicksal gesprochen haben, es ist auch so, als hätte man zwei Schicksale: ein regsam-unwichtiges, das sich vollzieht, und ein reglos-wichtiges, das man nie erfährt.«
Da sagte unvermittelt Agathe, die lange Zeit, ohne sich zu rühren, zugehört hatte: »Das ist, wie wenn man Hagauer küßt!«
Sie hatte sich auf den Ellbogen gestützt und lachte; die Beine ruhten noch immer lang ausgestreckt auf ihrem Lager. Und sie fügte hinzu: »Natürlich, so schön, wie du es beschreibst, ist es nicht gewesen!« Und Ulrich lachte mit. Es war nicht recht klar, weshalb sie lachten. Irgendwie war dieses Lachen aus der Luft oder aus dem Haus über beide gekommen oder aus den Spuren des Staunens und Unbehagens, welche die feierlichen, das Jenseits nutzlos berührenden Vorgänge der letzten Tage in ihnen hinterlassen hatten, oder aus dem ungewöhnlichen Gefallen, das sie an ihrem Gespräch fanden; denn jeder aufs äußerste ausgebildete menschliche Brauch trägt den Keim des Wechsels schon in sich, und jede, das Gewöhnliche überschreitende Erregung beschlägt sich bald mit einem Hauch von Trauer, Absurdität und Übersättigung.
Auf solche Art und auf solchem Umweg waren sie dann schließlich und gleichsam zur Erholung in das harmlosere Gespräch über Ich und Wir und Familie und zu der zwischen Spott und Staunen schwankenden Entdeckung gekommen, daß sie beide eine Familie bildeten. Und während Ulrich von dem Verlangen nach Gemeinschaft spricht – nun wieder mit dem Eifer eines Mannes, der sich eine gegen seine Natur gerichtete Pein zufügt; nur weiß er nicht, ob sie sich gegen seine wahre oder seine angenommene Natur richtet –, hört Agathe an, wie seine Worte ihr nahe kommen und sich wieder entfernen, und er bemerkt, daß er lange Zeit in ihrer Erscheinung, die sich doch in dem hellen Licht und ihrer launischen Kleidung sehr schutzlos vor ihm befindet, nach etwas gesucht hat, das ihn abstoßen könnte, wie es leider seine Gewohnheit ist, aber nichts gefunden hat, und er dankt dafür mit einer reinen und einfachen Zuneigung, die er sonst nie empfindet. Und er ist sehr entzückt von der Unterhaltung. Als sie aber geendet hat, fragt Agathe unbefangen: »Und bist du nun eigentlich für das, was du Familie nennst, oder bist du dagegen?«
Ulrich erwidert, daß es darauf gar nicht ankäme, denn er hätte doch eigentlich von einer Unschlüssigkeit der Welt gesprochen, und nicht von der Unentschlossenheit seiner Einzelperson.
Agathe denkt darüber nach.
Schließlich sagt sie aber unvermittelt: »Das kann ich doch nicht beurteilen! Aber ich möchte wohl einmal ganz eins und einverstanden mit mir sein und auch…: nun eben, irgendwie so leben! Möchtest du es denn nicht auch einmal versuchen?«

In dem Augenblick, wo Agathe den Zug bestiegen hatte und die unerwartete Reise zu ihrem Vater antrat, war etwas geschehn, das mit einem überraschenden Zerreißen alle Ähnlichkeit hatte, und die beiden Stücke, in die der Augenblick der Abreise zerbarst, schnellten so weit auseinander, als hätten sie niemals zusammengehört. Ihr Gatte hatte sie zur Bahn gebracht, er hatte den Hut gelüftet und hielt ihn, den steifen, runden, schwarzen, zusehends kleiner werdenden Hut, wie es sich beim Abschied gehört, schräg vor sich in die Luft, während sie davonfuhr, was Agathe vorkam, als rollte die Bahnhofshalle ebenso schnell zurück wie der Zug vorwärts. In diesem Augenblick, obwohl sie soeben noch geglaubt hatte, daß sie nicht länger fortbleiben werde, als es die Umstände unbedingt erforderten, – nahm sie sich vor, nicht mehr zurückzukehren, und ihr Bewußtsein wurde unruhig wie ein Herz, das sich auf einmal einer Gefahr entronnen sieht, von der es nichts gewußt hat.
Wenn sich Agathe das nachträglich überlegte, war sie mitnichten völlig zufrieden damit. Sie mißbilligte an ihrem Verhalten, daß sie durch seine Form an eine wunderliche Krankheit erinnert wurde, der sie als Kind verfallen war, bald nachdem sie angefangen hatte, in die Schule zu gehn. Länger als ein Jahr hatte sie damals an einem nicht unbeträchtlichen Fieber gelitten, das weder stieg, noch wich, und war zu einer Zartheit abgemagert, welche die Besorgnis der Ärzte erregte, die davon keine Ursache finden konnten. Diese Erkrankung war auch später niemals aufgeklärt worden. Nun hatte es wohl Agathe gefallen, wie die großen Ärzte der Universität, die würdevoll und voll Weisheit zum ersten Mal ins Zimmer traten, von Woche zu Woche etwas von ihrer Zuversicht verloren; und obgleich sie folgsam jede Medizin einnahm, die ihr verschrieben wurde, und sogar wirklich gern gesund geworden wäre, weil man es von ihr verlangte, freute sie sich doch darüber, daß die Ärzte es mit ihren Verordnungen nicht zuwege brachten, und fühlte sich in einem überirdischen oder zumindest außergewöhnlichen Zustand, während von ihr immer weniger übrig blieb. Sie war stolz darauf, daß die Ordnung der Großen keine Macht über sie hatte, solange sie krank war, und wußte nicht, wie ihr kleiner Körper das zustande brachte. Aber am Ende genas er freiwillig und auf eine scheinbar ebenso ungewöhnliche Weise.
Sie wußte heute kaum mehr davon, als ihr die Dienstleute später erzählt hatten, die behaupteten, sie sei von einer Bettlerin verhext worden, die oft ins Haus gekommen, aber einmal grob von der Schwelle gewiesen worden wäre; und Agathe hatte niemals herausbekommen, wie viel Wahrheit an dieser Geschichte war, denn die Hausleute ergingen sich zwar gern in Andeutungen, ließen sich aber niemals auf Erklärungen ein und zeigten Furcht vor einem strengen Verbot, das Agathens Vater erlassen haben sollte. Sie selbst bewahrte aus dieser Zeit nur ein einziges, allerdings lebhaftes, Gedächtnisbild, worin sie ihren Vater vor sich sah, wie er in flammendem Zorn auf ein verdächtig aussehendes Weib losschlug und mehrmals mit der flachen Hand dessen Wange rührte; sie hatte den kleinen, sonst qualvoll rechtlichen Verstandesmann nur dieses eine Mal in ihrem Leben derart verändert und von Sinnen wahrgenommen; aber soweit sie sich erinnerte, war das nicht vor, sondern erst während ihrer Krankheit geschehn, denn sie glaubte zu wissen, daß sie dabei im Bett gelegen und dieses Bett sich statt in ihrem Kinderzimmer ein Stockwerk tiefer »bei den Erwachsenen« befunden habe, in einem der Wohnräume, in den das Gesinde die Bettlerin nicht hätte einlassen dürfen, auch wenn sie in den Wirtschafts- und Treppenräumen keine Fremde war. Ja, es kam Agathe vor, daß dieses Ereignis eher in das Ende ihrer Krankheit gefallen sein müsse, und daß sie wenige Tage danach plötzlich gesund geworden und von jener merkwürdigen Ungeduld aus dem Bett gehoben worden sei, mit der diese Erkrankung so unerwartet abschloß, wie sie begonnen hatte.
Freilich wußte sie von allen diesen Erinnerungen nicht, ob sie von der Wirklichkeit herrührten oder eine Erdichtung des Fiebers seien. »Wahrscheinlich wird daran bloß merkwürdig sein,« – dachte sie unmutig – »daß sich diese Bilder in mir so zwischen Wahrheit und Einbildung erhalten konnten, ohne daß ich daran etwas Ungewöhnliches gefunden habe!« – Die Stöße des Taxis, das durch schlecht gepflasterte Gassen fuhr, verhinderten ein Gespräch. Ulrich hatte vorgeschlagen, das trockene Winterwetter zu einem Ausflug zu benutzen, und auch ein Ziel gewußt, das eigentlich keines war, wohl aber ein Vorstoß in halberinnerte Landschaftsbilder hinein. Nun befanden sie sich in einem Wagen, der sie an den Rand der Stadt bringen sollte. – »Gewiß wird nur das daran merkwürdig sein!« wiederholte Agathe bei sich, was sie soeben gedacht hatte. In ähnlicher Art hatte sie ja auch in der Schule gelernt, so daß sie niemals wußte, ob sie dumm oder klug, willig oder unwillig sei: die Antworten, die man von ihr verlangte, prägten sich ihr mit Leichtigkeit ein, ohne daß sich ihr aber der Zweck dieser Lernfragen eröffnet hätte, gegen den sie sich von einer tiefen inneren Gleichgültigkeit geschützt fühlte. Sie war nach ihrer Erkrankung genau so gern wieder in die Schule gegangen wie vorher, und weil einer der Ärzte auf den Rat verfallen war, daß es von Vorteil sein könnte, sie der Einsamkeit des väterlichen Hauses zu entziehn und mit Gleichaltrigen zusammenzubringen, hatte man sie in ein geistliches Institut getan: sie galt auch dort für heiter und lenksam und besuchte später das Gymnasium. Wenn man ihr sagte, etwas sei nötig oder wahr, so richtete sie sich danach und nahm alles, was man von ihr forderte, willig hin, weil es ihr so am mindesten anstrengend vorkam, und es wäre ihr unsinnig erschienen, etwas gegen feste Einrichtungen zu unternehmen, die mit ihr keinen Zusammenhang hatten und offenbar zu einer Welt gehörten, die nach dem Willen von Vätern und Lehrpersonen aufgebaut war. Sie glaubte aber kein Wort von dem, was sie lernte, und weil sie trotz ihres scheinbar willigen Betragens keineswegs eine Musterschülerin war und dort, wo ihre Wünsche ihren Überzeugungen widersprachen, in gelassener Weise das tat, was sie wollte, genoß sie die Achtung ihrer Mitschülerinnen, ja sogar jene bewundernde Neigung, die in der Schule findet, wer es sich bequem zu machen versteht. Es konnte sogar sein, daß sie sich schon ihre seltsame Kinderkrankheit so eingerichtet hatte, denn sie war eigentlich mit dieser einzigen Ausnahme immer gesund und wenig nervös gewesen. »Also einfach ein träger und wertloser Charakter!« stellte sie unsicher fest. Sie erinnerte sich, wieviel lebhafter als sie selbst ihre Freundinnen oft gegen die starre Internatszucht gemeutert und mit welchen Grundsätzen der Empörung sie ihre Vorstöße gegen die Ordnung ausgestattet hatten; soweit sie jedoch in die Lage gekommen war, es zu beobachten, waren gerade jene, die sich gegen Einzelheiten am leidenschaftlichsten aufgelehnt hatten, später mit dem Ganzen des Lebens auf das Beste ausgekommen, und es hatten sich aus diesen Mädchen gut gebettete Frauen entwickelt, die ihre Kinder nicht viel anders erzogen, als es ihnen selbst widerfahren war. Sie war darum trotz ihrer Unzufriedenheit mit sich auch nicht überzeugt, daß es besser sei, ein tätiger und guter Charakter zu sein.
Agathe verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis mißachtete, das sich das Nest vom Mann liefern läßt. Sie erinnerte sich gern an die Zeit, wo sie ihren Busen zum erstenmal das Kleid spannen gefühlt und ihre brennenden Lippen durch die kühlende Luft der Straßen getragen hatte. Aber die entwickelte erotische Geschäftigkeit der Frau, die aus der Verhüllung der Mädchenzeit hervorkommt wie ein rundes Knie aus rosa Tüll, hatte zeit ihres Lebens Verachtung in ihr erregt. Wenn sie sich fragte, wovon sie eigentlich überzeugt wäre, so antwortete ihr ein Gefühl, daß sie ausersehen sei, etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben; schon damals, als sie noch so gut wie nichts von der Welt wußte und das wenige, das man sie gelehrt hatte, nicht glaubte. Und es war ihr immer als eine geheimnisvolle, diesem Eindruck entsprechende Aktivität erschienen, einstweilen, wenn es sein müßte, alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen.
Agathe sah von der Seite Ulrich an, der ernst und steif im Wagen schaukelte; sie entsann sich, wie schwer er am ersten Abend begriffen hatte, daß sie ihrem Gatten nicht schon in der Brautnacht davongelaufen sei, obwohl sie ihn nicht mochte. Sie hatte furchtbare Ehrerbietung vor ihrem großen Bruder empfunden, solange sie auf sein Kommen wartete, aber nun lächelte sie und rief sich heimlich den Eindruck zurück, den ihr die dicken Lippen Hagauers in den ersten Monaten gemacht hatten, wenn sie sich unter den Bartborsten verliebt rundeten: das ganze Gesicht zog sich dann in dickfelligen Falten den Mundwinkeln entgegen, und sie fühlte gleich einer Sättigung: o wie häßlich ist dieser Mensch! Auch seine sanfte Lehrereitelkeit und -güte hatte sie ertragen wie eine bloß körperliche Übelkeit, die mehr außen ist als innen. Sie hatte ihn, nachdem die erste Überraschung vorbei war, hie und da mit anderen betrogen: »Wenn man es so nennen will,« dachte sie »daß einem Geschöpf ohne Erfahrung, dessen Sinne schweigen, die Bemühungen eines Manns, der nicht der eigene ist, im ersten Augenblick wie Donnerschläge vorkommen, die an die Tür prallen!« Denn sie hatte wenig Begabung zur Untreue bewiesen: Liebhaber kamen ihr, sobald sie sie erst kennen gelernt hatte, nicht bezwingender vor als Gatten, und es dünkte sie bald, daß sie ebensogut die Tanzmasken eines Negerstamms ernstnehmen könnte wie die Liebeslarven, die der europäische Mann anlegt. Nicht, daß sie niemals darüber von Sinnen gekommen wäre: aber es ging schon bei den ersten Wiederholungsversuchen verloren! Die ausgeführte Vorstellungswelt und Theatralik der Liebe ließ sie unberauscht. Diese hauptsächlich vom Mann ausgebauten Regievorschriften der Seele, die alle darauf hinauslaufen, daß das harte Leben hie und da eine schwache Stunde haben soll, – mit irgendeiner Unterart des Schwachwerdens: dem Versinken, dem Ersterben, dem Genommenwerden, dem sich Geben, dem Erliegen, dem Verrücktwerden und so weiter – kamen ihr schmierenhaft übertrieben vor, da sie sich in keiner Stunde anders empfand als schwach, in einer von der Stärke der Männer so vortrefflich erbauten Welt.
Die Philosophie, die Agathe auf solche Weise erwarb, war einfach die des weiblichen Menschen, der sich nichts vormachen läßt und unwillkürlich beobachtet, was ihm der männliche Mensch vorzumachen trachtet. Ja, es war überhaupt keine Philosophie, sondern nur eine trotzig verhehlte Enttäuschung; immer noch mit der verhaltenen Bereitschaft zu einer unbekannten Auflösung vermengt, die vielleicht sogar in dem Maße zunahm, als sich die äußere Auflehnung verminderte. Da Agathe belesen war, aber vermöge ihrer Natur nicht geneigt, sich auf Theorien einzulassen, hatte sie oft Gelegenheit, wenn sie ihre eigenen Erlebnisse mit den Idealen der Bücher und des Theaters verglich, sich darüber zu wundern, daß weder ihre Verführer sie gefesselt hatten wie die Falle ein Wild, was dem donjuanischen Selbstbildnis entsprochen hätte, dessen Haltung sich damals ein Mann zu geben pflegte, wenn er gemeinsam mit einer Frau ausrutschte, noch daß sich ihr Zusammenleben mit ihrem Gatten strindbergisch zu einem Kampf der Geschlechter gestaltete, worin die gefangene Frau, wie es die Nebenmode war, ihren herrisch-unbehilflichen Gebieter mit den Mitteln der List und Schwäche zu Tode peinigte. Ihr Verhältnis zu Hagauer war vielmehr, im Gegensatz zu ihren tieferen Gefühlen für ihn, immer ganz gut geblieben. Ulrich hatte am ersten Abend große Worte wie Schreck, Schock und Vergewaltigung dafür gebraucht, die ganz und gar nicht zutrafen. Sie bedauere, dachte Agathe noch bei der Erinnerung daran widerspenstig, nicht als ein Engel aufwarten zu können, es sei vielmehr alles in dieser Ehe sehr natürlich vor sich gegangen. Ihr Vater hatte des Mannes Bewerbung mit vernünftigen Gründen gestützt, sie selbst hatte beschlossen, sich wieder zu verheiraten: gut, man tut es; man muß mit sich geschehen lassen, was dazu gehört; es ist weder besonders schön, noch übermäßig unangenehm! Es tat ihr sogar jetzt noch leid, Hagauer bewußt zu kränken, wo sie das unbedingt tun wollte! Liebe hatte sie sich nicht gewünscht; sie hatte sich gedacht, es werde irgendwie gehn, er war ja ein guter Mensch.
Freilich war er wohl mehr einer jener Menschen, die immer gut handeln; in ihnen selbst ist keine Güte, dachte Agathe. Es scheint, daß die Güte in dem Maß, wie sie zu gutem Willen oder Taten wird, aus dem Menschen verschwindet! Wie hatte Ulrich gesagt? Ein Bach, der Fabriken treibt, verliert sein Gefälle. Auch, auch das hatte er gesagt, aber nicht war es das, was sie suchte. Jetzt hatte sie’s: »Es scheint, daß eigentlich nur Menschen, die nicht viel Gutes tun, imstande sind, sich ihre ganze Güte zu bewahren«! Aber in dem Augenblick, wo sie diesen Satz hatte, einleuchtend so, wie ihn Ulrich gesprochen haben mußte, kam er ihr durchaus unsinnig vor. Man konnte ihn nicht aus dem vergessenen Zusammenhang des Gesprächs allein herausnehmen. Sie versuchte die Worte anders zu stellen und tauschte sie gegen ähnliche um; aber da zeigte sich nun doch, daß der erste Satz der richtige war, denn die anderen waren wie in den Wind gesprochen und es blieb gar nichts von ihnen zurück. Also hatte es Ulrich so gesagt, aber: »Wie kann man Menschen, die sich schlecht betragen, gut nennen?« dachte sie. »Das ist doch wirklich ein Unsinn!« und wußte: während er sie ausgesprochen hatte, war diese Behauptung, ohne daß sie dabei mehr Inhalt gehabt hätte, wunderbar gewesen! Wunderbar war kein Wort dafür: es war ihr beinahe übel vor Glück geworden, als sie diesen Satz hörte! Solche Sätze erklärten ihr ganzes Leben. Dieser Satz zum Beispiel war während ihres letzten großen Gesprächs gefallen, nach dem Begräbnis und als Professor Hagauer schon wieder abgereist war; und plötzlich war ihr bewußt geworden, wie nachlässig sie immer gehandelt habe, und so auch damals, als sie sich einfach gedacht hatte, es werde »schon irgendwie« mit Hagauer gehn, weil er ein »guter Mensch« sei! Solche Bemerkungen machte Ulrich oft, die sie für Augenblicke ganz mit Glück oder Unglück erfüllten, obwohl man sich diese Augenblicke nicht »aufheben« konnte. Wann, fragte sich Agathe, hatte er zum Beispiel gesagt, daß er unter Umständen einen Dieb lieben könnte, einen Menschen, der gewohnheitsmäßig ehrlich sei, aber niemals? Sie konnte sich im Augenblick nicht darauf besinnen, aber das Köstliche war, daß sie sehr bald inne wurde, gar nicht er, sondern sie selbst habe das behauptet. Überhaupt hatte sie sich schon vieles von dem, was er sagte, selbst gedacht; bloß ohne Worte, denn so bestimmte Behauptungen hätte sie, auf sich allein angewiesen, wie sie früher war, niemals aufgestellt! Agathe, die sich zwischen den Sprüngen und Stößen des Wagens, der über holprige Vorstadtstraßen fuhr und die beiden des Sprechens Ohnmächtigen in ein Netz mechanischer Erschütterungen hüllte, bisher sehr wohlgefühlt hatte, hatte auch den Namen ihres Gatten inmitten ihrer Gedanken ohne ein anderes Gefühl gebraucht, und lediglich als eine Zeit- und Inhaltsbestimmung für diese; aber nun fuhr, ohne daß ein besonderer Anlaß dazu vorhanden gewesen wäre, langsam ein unendlicher Schreck durch sie: Hagauer war ja doch leibhaftig bei ihr gewesen! Die gerechte Art, in der sie bisher an ihn gedacht hatte, verschwand, und ihre Kehle zog sich bitter zusammen.
Er war am Morgen des Begräbnisses gekommen, hatte trotz seiner Verspätung liebevoll dringlich noch den Schwiegervater zu sehen gewünscht, war zur Anatomie gegangen, hatte das Schließen des Sargs verzögert, war in einer taktvollen, ehrlichen, knapp bemessenen Weise sehr ergriffen gewesen. Nach dem Begräbnis hatte Agathe Erschöpfung vorgeschützt, und Ulrich hatte mit seinem Schwager außer Haus speisen müssen. Wie er nachher erzählte, hatte ihn Hagauers dauernde Gegenwart so rasend gemacht, wie ein zu enger Halskragen, und er hatte schon deshalb alles getan, um ihn so rasch wie möglich fortzubringen. Hagauer hatte die Absicht gehabt, zu einem Erziehungstag in die Hauptstadt zu reisen, dort noch einen Tag Vorsprachen im Ministerium und Besichtigungen zu widmen, und davor hatte er zwei Tage angesetzt, sie als aufmerksamer Gatte bei seiner Frau zu verbringen und sich um ihr Erbteil zu kümmern; der Verabredung mit seiner Schwester gemäß hatte Ulrich aber eine Geschichte erfunden, die es unmöglich erscheinen ließ, Hagauer im Wohnhaus aufzunehmen, und hatte ihm angekündigt, daß eine Unterkunft im ersten Hotel der Stadt für ihn vorgemerkt sei. Hagauer hatte, wie erwartet, gezögert; das Hotel wäre unbequem, teuer, und anstandshalber von ihm selbst zu bezahlen gewesen; andererseits ließen sich vielleicht auch zwei Tage den Vorsprachen und Besichtigungen in der Hauptstadt widmen, und wenn man in der Nacht reiste, ersparte man eine Nächtigung. Also hatte Hagauer Bedauern heuchelnd zu verstehen gegeben, daß es ihm sehr schwer falle, von Ulrichs Vorsorge Gebrauch zu machen, und schließlich seinen kaum noch abzuändernden Beschluß eröffnet, schon am Abend zu reisen. So waren nur noch die Erbfragen zu ordnen verblieben, und da lächelte nun Agathe wieder, denn auf ihren Wunsch hatte Ulrich ihrem Mann erzählt, daß das Testament erst in einigen Tagen eröffnet werden dürfe. Es sei ja Agathe da, wurde ihm gesagt, um seine Rechte zu wahren, er werde auch eine rechtsförmliche Verständigung erhalten, und was außerdem Möbel, Erinnerungsstücke und dergleichen angehe, erhebe Ulrich als Junggeselle keinerlei Anspruch, den er nicht den Wünschen seiner Schwester unterzuordnen bereit wäre. Schließlich hatte er Hagauer noch gefragt, ob er einverstanden wäre, falls sie das Haus, das doch niemand nütze, verkaufen wollten, unverbindlich natürlich, weil ja noch keiner von ihnen das Testament gesehen habe, und Hagauer hatte erklärt, unverbindlich natürlich, daß er im Augenblick keinen Einwand dagegen wüßte, aber sich für den Fall der wirklichen Ausführung seine Stellungnahme natürlich noch vorbehalten müsse. Das alles hatte Agathe ihrem Bruder vorgeschlagen, und er hatte es nachgesagt, weil er sich nichts dabei dachte und Hagauer loswerden wollte. Plötzlich fühlte sich Agathe aber von neuem elend, denn nachdem sie dies so glücklich geordnet hatten, war doch ihr Gatte in Gesellschaft ihres Bruders noch zu ihr gekommen, um von ihr Abschied zu nehmen. Agathe hatte sich dabei so unfreundlich wie möglich benommen und hatte erklärt, daß es sich durchaus nicht sagen lasse, wann sie zurückkehren werde. Sie hatte, wie sie ihn kannte, sogleich wahrnehmen können, daß er darauf nicht gefaßt gewesen war und es übelnahm, daß er nun mit seinem Beschluß, sogleich weiterzureisen, als der Lieblose dastehe; er ärgerte sich noch nachträglich plötzlich über das Ansinnen, daß er im Gasthof hätte wohnen sollen, und über den kühlen Empfang, den er gefunden hatte, aber da er ein Mann des Planmäßigen war, sagte er nichts, beschloß, seiner Frau erst später alles auszustellen, und küßte sie, nachdem er seinen Hut genommen hatte, vorschriftsmäßig auf die Lippen. Und dieser Kuß, dem Ulrich zugesehen hatte, schien Agathe nun zu vernichten. »Wie hat es geschehen können,« fragte sie sich bestürzt »daß ich so lange an der Seite dieses Mannes ausgeharrt habe? Aber habe ich denn nicht mein ganzes Leben widerstandslos hingenommen?!« Sie warf sich leidenschaftlich vor: »Wenn ich auch nur ein wenig wert wäre, hätte es niemals mit mir so weit kommen können!«
Agathe wandte ihr Gesicht von Ulrich ab, den sie bisher betrachtet hatte, und sah zum Fenster hinaus. Niedere Vorstadthäuser, gefrorene Straße, eingemummte Menschen: es waren die Eindrücke einer häßlichen Öde, die vorüberrollten, und sie hielten ihr die Einöde des Lebens vor, in die sie sich durch ihre Nachlässigkeit geraten fühlte. Sie saß jetzt nicht mehr aufrecht, sondern hatte sich die nach Alter riechenden Polster der Droschke etwas hinabgleiten lassen, um bequemer durch das Fenster sehen zu können, und änderte diese unschöne Haltung nicht mehr, in der sie von den Stößen des Wagens grob am Bauch gepackt und geschüttelt wurde. Dieser Körper verursachte ihr ein unheimliches Gefühl, wie er gleich einem Fetzen gebeutelt wurde, denn er war das einzige, was sie besaß. Manchmal, wenn sie als Pensionsmädchen des Morgens im Halbdunkel erwacht war, hatte sie den Eindruck gehabt, sie treibe in ihrem Körper wie zwischen den Planken eines Kahns der Zukunft entgegen. Jetzt war sie ungefähr doppelt so alt wie damals. Und es war im Wagen ebenso halbdunkel wie damals. Aber sie konnte sich noch immer nicht ihr Leben vorstellen und hatte keinen Begriff, wie es sein müßte. Männer waren eine Ergänzung und Vervollständigung des eigenen Körpers, aber kein seelischer Inhalt; man nahm sie, wie sie einen nahmen. Ihr Körper sagte ihr, daß er schon in wenigen Jahren beginnen werde, seine Schönheit zu verlieren: also die Gefühle zu verlieren, die sich, unmittelbar aus seiner Selbstgewißheit kommend, nur zu einem geringen Teil durch Worte oder Gedanken ausdrücken ließen. Dann wär alles vorbei, ohne daß etwas dagewesen wäre. Es fiel ihr ein, daß Ulrich in ähnlicher Weise von der Nutzlosigkeit seines Sports gesprochen habe, und während sie ihr Gesicht zwang, abgewandt am Fenster zu bleiben, nahm sie sich vor, ihn auszufragen.