MoE 3 | Zweites Buch | Dritter Teil | Kapitel 10-19

Die Geschwister hatten bei den letzten niederen und schon ganz dörflichen Häusern an der Stadtgrenze den Wagen verlassen und wanderten auf einer zerfurchten, breiten, lang ansteigenden Landstraße, deren gefrorene Radspuren unter ihren Füßen zu Staub zerfielen, bergan. Ihr Schuhwerk hatte sich bald mit dem elenden Grau dieses Kutscher- und Bauernparketts bedeckt, das sich von ihrer eleganten städtischen Kleidung widerspruchsvoll abhob, und obwohl es nicht kalt war, blies ihnen von oben ein sehr scharfer Wind entgegen, worin ihre Wangen zu glühen begannen, so daß eine gläserne Sprödigkeit den Mund am Sprechen verhinderte.
Die Erinnerung an Hagauer drängte Agathe, sich ihrem Bruder zu erklären. Sie war überzeugt, daß ihm diese Mißheirat in jeder Weise unverständlich sein müsse, sogar nach den einfachsten gesellschaftlichen Ansprüchen; doch konnte sie sich, obwohl in ihrem Innern die Worte schon bereit waren, nicht entschließen, den Widerstand der Steigung, der Kälte und der gegen ihr Gesicht prallenden Luft zu überwinden. Ulrich schritt vor ihr, in einer breiten Schleifspur, die sie als Pfad benutzten; sie sah seine breiten, schlanken Schultern und zögerte. Sie hatte ihn sich immer hart, unnachgiebig und etwas abenteuerlich vorgestellt, vielleicht nur nach den Tadelworten, die sie von ihrem Vater und gelegentlich auch von Hagauer über ihn hörte, und hatte sich für ihre eigene Nachgiebigkeit im Leben vor diesem der Familie entfremdeten und entsprungenen Bruder geschämt. »Er hat recht gehabt, sich um mich nicht zu kümmern!« dachte sie, und ihre Bestürzung darüber, daß sie so oft in unangemessenen Lagen ausgeharrt habe, wiederholte sich. In Wahrheit war aber die gleiche, stürmische, widerspruchsvolle Leidenschaft in ihr, die sie zwischen den Türpfosten der Todeskammer ihres Vaters jene wilden Verse hatte ausrufen lassen. Sie schob sich an Ulrich heran, geriet dadurch außer Atem, und plötzlich erklangen hervorgestoßene Fragen, wie sie diese zweckdienliche Straße wahrscheinlich noch nie gehört hatte, und der Wind wurde von Worten zerrissen, die in allen Brüdern dieses bäurischen Hügelwinds noch nicht erklungen waren.
»Du erinnerst dich doch –« rief sie aus und nannte einige berühmte Beispiele der Literatur: »Du hast mir nicht gesagt, ob du einen Dieb entschuldigen kannst; aber diese Mörder würdest du doch gut finden?!«
»Natürlich!« schrie Ulrich zurück. »Das heißt – nein, warte doch: vielleicht sind das nur Menschen von guter Anlage, wertvolle Menschen. Das bleibt ihnen auch später als Verbrecher. Aber gut bleiben sie nicht!«
»Aber warum liebst du sie dann noch nach ihrer Untat?! Doch gewiß nicht nur wegen ihrer früheren guten Anlage, sondern deshalb, weil sie dir noch immer gefallen!«
»So ist es ja immer« sagte Ulrich. »Der Mensch gibt der Tat den Charakter, und nicht umgekehrt geschieht es! Wir trennen Gut und Bös, aber in uns wissen wir, daß sie ein Ganzes sind!«
Agathe war noch über das Rot der Kälte errötet, als sich ihr für die Leidenschaft ihrer Fragen, die sich in den Worten zugleich ausdrückte und verbarg, nur eine Anknüpfung an Bücher dargeboten hatte. Der Mißbrauch, der mit »Bildungsfragen« getrieben zu werden pflegt, ist so arg, daß das Gefühl entstehen konnte, sie seien nicht am Platz, wo der Wind bläst und Bäume stehn, als ob menschliche Bildung nicht die Zusammenfassung aller Naturgebilde wäre! Aber sie hatte sich tapfer bekämpft, ihren Arm in den ihres Bruders gelegt und erwiderte nun, nahe bei seinem Ohr, so daß sie nicht mehr schreien mußte, und mit einem eigentümlichen, im Gesicht zitternden Übermut: »Darum wohl vernichten wir die bösen Menschen, setzen ihnen aber doch freundlich eine Henkersmahlzeit vor!«
Ulrich, der ein wenig von der Leidenschaft an seiner Seite ahnte, beugte sich zu seiner Schwester hinab und sagte ihr, immerhin laut genug, ins Ohr: »Das glaubt jeder leicht von sich, daß er nichts Böses tun könne, weil er doch ein guter Mensch sei!«
Über diesen Worten waren sie oben angelangt, wo die Landstraße nicht mehr anstieg, sondern durch die Wellen einer ausgebreiteten, baumlosen Hochfläche schnitt. Der Wind hatte sich plötzlich gelegt, und es war nicht mehr kalt, aber in der angenehmen Stille verstummte das Gespräch wie abgeschnitten und ließ sich nicht mehr fortsetzen.
»Wie bist du bloß mitten im Wind auf Dostojewski und Beyle verfallen?« fragte Ulrich eine Zeit später. »Wenn uns jemand beobachtet hätte: wir müßten ihm wie Narren vorgekommen sein!« Agathe lachte auf. »Er hätte von uns so wenig verstanden wie vom Schreien der Vögel!... Übrigens hast du mir erst unlängst von Moosbrugger erzählt.«
Sie schritten aus.
Nach einer Weile sagte Agathe: »Ich mag ihn aber nicht!«
»Ich habe ihn eben auch schon fast vergessen« antwortete Ulrich.
Nachdem sie eine Weile wieder schweigend gegangen waren, blieb Agathe stehn. »Wie ist das?« fragte sie. »Du hast doch sicher viel Unverantwortliches getan? Ich erinnere mich zum Beispiel, daß du einmal mit einem Schuß im Spital lagst. Du überlegst sicher auch nicht alles und jedes rechtzeitig...?«
»Du stellst aber heute Fragen!« meinte Ulrich. »Was soll ich dir nun wohl darauf antworten?!«
»Bereust du nie, was du tust?« fragte Agathe rasch. »Ich habe den Eindruck, daß du nie etwas bereust. Etwas Ähnliches hast du auch einmal selbst gesagt.«
»Gott im Himmel,« gab nun Ulrich zur Antwort, der wieder ausschritt »in jedem Minus steckt ein Plus. Vielleicht habe ich so etwas gesagt, aber man braucht das doch nicht allzu wörtlich zu nehmen.«
»In allem Minus ein Plus?«
»In allem Schlechten etwas Gutes. Oder wenigstens in vielem Schlechtem. Gewöhnlich steckt in einer menschlichen Minusvariante eine nicht erkannte Plusvariante: das habe ich wahrscheinlich sagen wollen. Und wenn du etwas bereust, so kannst du doch gerade darin die Kraft finden, etwas so Gutes zu tun, wie du es sonst nie zustandebrächtest. Nie ist das, was man tut, entscheidend, sondern immer erst das, was man danach tut!«
»Und wenn du jemand einmal getötet hast, was kannst du danach tun?!«
Ulrich zuckte die Achseln. Er hatte Lust, rein aus Folgerichtigkeit zu antworten: »Ich könnte ja vielleicht dadurch befähigt werden, ein Gedicht zu schreiben, das Tausenden das innere Leben gibt, oder auch eine große Erfindung zu machen!« Aber er hielt an sich. »Nie würde das geschehn!« fiel ihm ein. »Nur ein Geisteskranker könnte es sich einbilden. Oder ein achtzehnjähriger Ästhet. Das sind, weiß Gott, warum, Gedanken, die den Gesetzen der Natur widersprechen. Übrigens –« verbesserte er sich »beim Urmenschen ist es doch so gewesen; er hat getötet, weil das Menschenopfer ein großes religiöses Gedicht war!«
Er sprach nicht das eine und nicht das andere aus, aber Agathe fuhr fort: »Ich mag dir ja dumme Einwände machen, aber ich habe mir, als ich dich zum ersten Mal sagen hörte, es käme nicht auf den Schritt an, den man unternehme, sondern immer erst auf den nächsten, vorgestellt: Wenn dann ein Mensch innerlich fliegen, sozusagen moralisch fliegen und mit großer Geschwindigkeit fortwährend in neue Verbesserungen kommen könnte, dann würde er keine Reue kennen! Ich habe dich ungeheuer beneidet!«
»Das ist sinnlos« entgegnete Ulrich mit Nachdruck. »Ich habe gesagt, es käme nicht auf einen Fehltritt an, sondern auf den nächsten Schritt nach diesem. Aber worauf kommt es nach dem nächsten Schritt an? Doch offenbar auf den dann folgenden? Und nach dem nten auf den n plus ersten Schritt?! Ein solcher Mensch müßte ohne Ende und Entscheidung, ja geradezu ohne Wirklichkeit leben. Und doch ist es so, daß es immer nur auf den nächsten Schritt ankommt. Die Wahrheit ist, daß wir keine Methode besitzen, mit dieser ruhelosen Reihe richtig umzugehn. Meine Liebe,« schloß er unvermittelt »ich bereue manchmal mein ganzes Leben!«
»Gerade das triffst du doch nicht!« meinte seine Schwester.
»Warum denn nicht gar? Warum denn nun das nicht?!«
»Ich« erwiderte Agathe »habe nie etwas getan und darum immer dazu Zeit gehabt, meine wenigen Unternehmungen zu bereun. Ich bin überzeugt, daß du das nicht kennst: einen so unbeleuchteten Zustand! Da kommen die Schatten, und was war, hat Macht über mich. Es ist mit den kleinsten Einzelheiten gegenwärtig, und ich kann nichts vergessen und nichts begreifen. Es ist ein unangenehmer Zustand...«
Sie sagte das ohne Bewegung, sehr bescheiden. Ulrich kannte es wirklich nicht, dieses Zurückströmen des Lebens, da das seine immer auf Ausdehnung eingerichtet gewesen war, und es erinnerte ihn bloß daran, daß seine Schwester sich schon manchmal in auffälliger Weise über sich selbst beklagt hatte. Aber er verabsäumte es, eine Frage zu stellen, denn sie waren mittlerweile auf einen Hügel gelangt, den er sich als das Ziel ihrer Wanderung vorgenommen hatte, und schritten seinem Rand zu. Das war eine mächtige Bodenerhebung, welche die Sage mit einer Schwedenbelagerung im Dreißigjährigen Krieg verknüpfte, weil sie wie eine Schanze aussah, wenn sie auch viel zu groß dafür war, ein grünes Bollwerk der Natur, ohne Busch und Baum, das auf der Seite, die es der Stadt zuwandte, in einer hohen hellen Felswand abbrach. Eine tiefe, leere Hügelwelt umgab diesen Platz; kein Dorf, noch Haus war zu sehen, nur Wolkenschatten und graue Weidewiesen. Ulrich wurde wieder von diesem Ort gepackt, den er aus jugendlicher Erinnerung kannte: Noch immer lag weit vorne in der Tiefe die Stadt, ängstlich um ein paar Kirchen gedrängt, die darin wie Hennen mit ihren Jungen aussahen, so daß man unwillkürlich den Wunsch empfand, mit einem Sprung sie zu erreichen und zwischen sie hineinzusetzen oder sie mit dem Griff einer Riesenhand in die Finger zu bekommen. »Es muß ein herrliches Gefühl in diesen schwedischen Abenteurern gewesen sein, wenn sie nach wochenlangem Traben an einem solchen Ort anlangten und aus dem Sattel zum ersten Mal ihre Beute erblickten!« sagte er, nachdem er seiner Schwester die Bedeutung des Ortes erläutert hatte. »Die Schwere des Lebens – dieser heimlich auf uns lastende Mißmut, daß wir alle sterben müssen, daß alles so kurz ist und wahrscheinlich so vergeblich! – hebt sich eigentlich nur in solchen Augenblicken von uns!«
»In welchen Augenblicken, sagst du?!« fragte Agathe.
Ulrich wußte nicht, was er antworten solle. Er wollte überhaupt nicht antworten. Er erinnerte sich, daß er als junger Mensch jedesmal an dieser Stelle das Bedürfnis empfunden hatte, die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. Schließlich erwiderte er: »In den abenteuerlichen Augenblicken, wo das Geschehen mit uns durchgeht: recht eigentlich also in den sinnlosen!« Er fühlte dabei den Kopf wie eine taube Nuß am Halse, und alte Sprüche darin, wie: »Gevatter Tod« oder »Ich hab mein Sach auf nichts gestellt«; und zugleich das verklungene Fortissimo der Jahre, wo sich die Grenze zwischen Lebenserwartung und Leben noch nicht gehoben hat. Er dachte: »Welche Erlebnisse habe ich seither gehabt, die eindeutig und glücklich gewesen wären? Keine.«
Agathe entgegnete: »Ich habe immer ohne Sinn gehandelt, das macht nur unglücklich.«
Sie war ganz nahe an den Rand vorgegangen; die Worte ihres Bruders drangen taub an ihr Ohr, sie verstand sie nicht und sah eine ernste, kahle Landschaft vor sich, deren Traurigkeit mit ihrer eigenen übereinstimmte. Als sie sich umwandte, sagte sie: »Es ist eine Umgebung, sich zu töten« und lächelte; »die Leere meines Kopfes würde unendlich sanft in die Leere dieses Anblicks aufgelöst werden!« Sie machte einige Schritte zu Ulrich zurück. »Durch mein ganzes Leben« fuhr sie fort »hat man mir vorgeworfen, daß ich keinen Willen habe, nichts liebe, nichts verehre, mit einem Wort, daß ich kein zum Leben entschlossener Mensch sei. Papa hat es mir vorgehalten, Hagauer hat es an mir getadelt: Nun sag mir du, um Gotteswillen, sag mir endlich, in welchen Augenblicken erscheint uns etwas im Leben notwendig?!«
»Wenn man sich im Bett umdreht!« erklärte Ulrich unwirsch.
»Was heißt das?!«
»Verzeih« bat er »das gewöhnliche Beispiel. Aber es ist wirklich so: Man ist unzufrieden mit seiner Lage; man denkt unaufhörlich daran, sie zu ändern, und faßt einen Vorsatz nach dem andern, ohne ihn auszuführen; endlich gibt man es auf: und mit einemmal hat man sich umgedreht! Eigentlich müßte man sagen, man ist umgedreht worden. Nach keinem anderen Muster handelt man sowohl in der Leidenschaft als auch in den lang geplanten Entschlüssen.« Er sah sie nicht an dabei, er antwortete sich selbst. Er fühlte noch immer: »Hier bin ich gestanden und habe etwas gewollt, das niemals befriedigt worden ist.«
Agathe lächelte auch jetzt, aber es zog über ihren Mund wie eine schmerzliche Bewegung. Sie kehrte wieder an ihren Platz zurück und sah stumm in die abenteuerliche Ferne hinaus. Dunkel hob sich ihr Pelzmantel gegen den Himmel ab, und ihre schlanke Gestalt bildete einen eindringlichen Gegensatz zu der breiten Stille der Landschaft und der darüberfliegenden Wolkenschatten. Ulrich hatte bei diesem Anblick ein unbeschreiblich starkes Gefühl des Geschehens. Er schämte sich beinahe, in Gesellschaft einer Frau dazustehn, statt an der Seite eines gesattelten Pferdes. Und obzwar ihm die ruhige Bildwirkung, die in diesem Augenblick von seiner Schwester ausging, als die Ursache deutlich bewußt war, hatte er den Eindruck, es geschehe etwas nicht mit ihm, sondern irgendwo in der Welt und er versäume es. Er nannte sich lächerlich. Und doch war etwas Richtiges an seiner unüberlegt ausgesprochenen Behauptung gewesen, daß er sein Leben bereue. Er sehnte sich manchmal danach, in Geschehnisse verwickelt zu sein wie in einen Ringkampf, und seien es sinnlose oder verbrecherische, nur gültig sollten sie sein. Endgültig, ohne das dauernd Vorläufige, das sie haben, wenn der Mensch seinen Erlebnissen überlegen bleibt. »Also in sich selbst endend-gültige« überlegte Ulrich, der jetzt ernsthaft nach einem Ausdruck suchte, und unversehens schweifte dieser Gedanke nicht mehr zu eingebildeten Geschehnissen, sondern endete bei dem Anblick, den Agathe selbst, und nichts als Spiegel ihrer selbst, in diesen Augenblicken darbot. So standen die Geschwister geraume Zeit von einander getrennt und jeder für sich, und ein mit Widersprüchen ausgefülltes Zaudern gestattete ihnen keine Veränderung. Das Merkwürdigste war aber wohl, daß Ulrich bei dieser Gelegenheit an nichts so wenig dachte wie daran, daß zu dieser Zeit doch schon etwas geschehen war, da er seinem ahnungslosen Schwager in Agathens Auftrag und im Wunsche ihn abzuschütteln, die Lüge aufgebunden hatte, es wäre ein verschlossenes Testament vorhanden, das erst in einigen Tagen geöffnet werden dürfe, und ihm ebenso wider besseres Wissen versichert hatte, Agathe werde seine Ansprüche wahren, was Hagauer später Vorschubleistung nannte.
Irgendwie kamen sie doch von dieser Stelle, wo jeder in sich versunken gewesen war, gemeinsam weiter, ohne daß sie sich ausgesprochen hätten. Der Wind war von neuem aufgefrischt, und weil Agathe Müdigkeit zeigte, schlug Ulrich vor, ein Schäferhaus aufzusuchen, von dessen Nähe er wußte. Es war eine Steinhütte, die sie bald fanden, sie mußten den Kopf neigen, als sie eintraten, und das Weib des Schäfers starrte ihnen in abwehrender Verlegenheit entgegen. In der deutsch-slawischen Mischsprache, die dortzulande verstanden und dunkel von ihm noch erinnert wurde, bat Ulrich um die Erlaubnis, daß sie sich wärmen und im Schutz des Hauses ihren Mundvorrat verzehren dürften, und unterstützte das so freiwillig mit einem Stück Geld, daß die unfreiwillige Wirtin entsetzt darüber zu jammern begann, daß sie in ihrer abstoßenden Armut »so schöne Gäste« nicht besser aufnehmen könne. Sie wischte den fettigen Tisch, der am Fenster der Hütte stand, fachte ein Reisigfeuer im Herd an und stellte Ziegenmilch darüber. Agathe hatte sich aber gleich am Tisch vorbei ans Fenster gezwängt und allen diesen Umständen keine Beachtung geschenkt, so als verstünde es sich von selbst, daß man irgendwo Obdach finde, und sei gleichgültig, wo. Sie sah durch das trübe, kleine Quadrat der vier Scheiben in die Gegend hinaus, die sich landeinwärts hinter der »Schanze« befand und ohne den weiten Auslauf des Blicks, den diese gewährte, eher an die Empfindung eines Schwimmers erinnerte, den grüne Wasserkämme umgeben. Der Tag neigte sich zwar noch nicht dem Ende zu, aber er hatte seine Höhe überschritten und schon an Licht verloren. Agathe fragte plötzlich: »Warum sprichst du nie ernst mit mir?!«
Wie hätte Ulrich richtiger darauf antworten können als durch ein flüchtiges Aufblicken, das Unschuld und Überraschung darstellen sollte?! Er war damit beschäftigt, Schinken, Wurst und Eier auf einem Blatt Papier zwischen sich und seiner Schwester auszubreiten.
Agathe fuhr aber fort: »Wenn man unversehens an deinen Körper stößt, tut man sich weh und erschrickt über den gewaltigen Unterschied. Wenn ich dich aber etwas Entscheidendes fragen will, löst du dich in Luft auf!« Sie rührte den Mundvorrat nicht an, den er ihr hinschob, ja sie hatte sich in ihrer Abneigung, den Tag jetzt mit einem ländlichen Festmahl zu beschließen, so aufgerichtet, daß sie nicht einmal den Tisch berührte. Und nun wiederholte sich etwas, das dem Anstieg auf der Landstraße ähnlich war. Ulrich schob die Becher mit Ziegenmilch zur Seite, die soeben vom Herd auf den Tisch gelangt waren und auf die solchen Genusses unkundigen Nasen einen sehr unangenehmen Geruch eindringen ließen; und der nüchterne leichte Ekel, den er dabei fühlte, wirkte so aufräumend, wie es manchmal eine plötzliche Bitternis tut. »Ich habe immer ernst zu dir gesprochen« entgegnete er. »Wenn es dir nicht gefällt, so kann ich nichts dafür; denn was dir an meinen Antworten nicht gefällt, ist dann die Moral unserer Zeit.« Es wurde ihm in diesem Augenblick klar, daß er seiner Schwester so vollständig, als es nur möglich sei, alles erklären wolle, was sie wissen müsse, um sich selbst, und ein wenig auch ihren Bruder, zu verstehn. Und mit der Entschlossenheit eines Mannes, der jede Unterbrechung für überflüssig erachtet, begann er einen längeren Vortrag:
»Die Moral unserer Zeit ist, was immer sonst geredet werden möge, die der Leistung. Fünf mehr oder weniger betrügerische Konkurse sind gut, wenn auf den fünften eine Zeit des Segens und des Segenspendens folgt. Der Erfolg kann alles vergessen machen. Wenn man bis zu dem Punkt gelangt, wo man Wahlgelder spendet und Bilder kauft, erwirbt man auch die staatliche Nachsicht. Es gibt dabei ungeschriebene Regeln: spendet einer für Kirchenzwecke, Wohltätigkeitswerke und politische Parteien, so braucht es höchstens ein Zehntel von dem zu sein, was er aufwenden müßte, wenn er sich einfallen ließe, seinen guten Willen durch Kunstförderung zu beweisen. Auch gibt es noch Grenzen für den Erfolg: noch kann man nicht auf jedem Weg jedes erreichen; einige Grundsätze der Krone, des Adels und der Gesellschaft haben auf den ›Emporkömmling‹ eine gewisse Bremswirkung. Andererseits bekennt sich aber der Staat für seine überpersönliche Person selbst auf das nackteste zu dem Grundsatz, daß man rauben, morden und betrügen dürfe, so daraus Macht, Zivilisation und Glanz entstehe. Ich behaupte natürlich nicht, daß alles das auch theoretisch anerkannt werde, es ist theoretisch vielmehr ganz unklar. Aber ich habe dir damit die allergewöhnlichsten Tatsachen mitgeteilt. Die moralische Argumentation ist daneben nur ein Mittel zum Zweck mehr, ein Kampfmittel, von dem man ungefähr ebenso Gebrauch macht wie von der Lüge. So sieht die von Männern geschaffene Welt aus, und ich würde eine Frau sein wollen, wenn nicht – die Frauen die Männer liebten!
Als gut gilt heute, was uns die Illusion gibt, daß es uns zu etwas bringen werde: Diese Überzeugung ist aber genau das, was du den fliegenden Menschen ohne Reue genannt hast und ich als ein Problem bezeichnet habe, für dessen Lösung uns die Methode fehlt. Als wissenschaftlich erzogener Mensch habe ich in jeder Lage das Gefühl, daß meine Kenntnisse unfertig und bloß ein Wegweiser sind, und daß ich vielleicht schon morgen eine neue Erfahrung besitzen werde, die mich anders denken läßt als heute; anderseits wird auch ein ganz von seinem Gefühl ergriffener Mensch, ›ein Mensch im Aufstieg‹, wie du ihn dir ausgemalt hast, jede seiner Handlungen als eine Stufe empfinden, über die er zur nächsten emporgehoben wird. Da ist also etwas in unserem Geist und in unserer Seele, eine ›Moral des nächsten Schritts‹, aber ist das bloß die Moral der fünf Konkurse, reicht die Unternehmermoral unserer Zeit so weit ins Innere, oder ist das nur der Schein einer Übereinstimmung, oder ist die Moral der Karrieremacher die vor der Zeit zur Welt gekommene Spottgeburt tieferer Erscheinungen? Ich könnte dir im Augenblick darauf keine Antwort geben!«
Die kleine Atempause, die Ulrich in seinen Erklärungen eintreten ließ, war durchaus nur rednerisch, denn er beabsichtigte, seine Ansichten noch weiter zu entwickeln. Aber Agathe, die bisher in der ihr manchmal eigentümlichen lebendig-leblosen Art zugehört hatte, brachte das Gespräch durch die einfache Bemerkung planwidrig vorwärts, daß ihr diese Antwort gleichgültig wäre, denn sie wolle nur wissen, wie es Ulrich in Person halte, und alles, was man denken könne, aufzufassen, sei sie außerstande. »Wenn du von mir aber in irgend einer Form verlangen solltest, daß ich etwas leiste, so werde ich lieber keinerlei Moral haben« fügte sie hinzu.
»Gott sei Dank!« rief Ulrich aus. »Ich freue mich ja jedesmal, wenn ich deine Jugend, Schönheit und Kraft ansehe, und dann von dir höre, daß du gar keine Energie hast! Unser Zeitalter trieft ohnehin von Tatkraft. Es will nicht mehr Gedanken, sondern nur noch Taten sehn. Diese furchtbare Tatkraft rührt nur davon her, daß man nichts zu tun hat. Innerlich meine ich. Aber schließlich wiederholt jeder Mensch auch äußerlich sein Leben lang bloß ein und dieselbe Tat: er kommt in einen Beruf hinein und darin vorwärts. Ich glaube, hier sind wir wieder bei der Frage, die du mir vorhin unter freiem Himmel gestellt hast. Es ist so einfach, Tatkraft zu haben, und so schwierig, einen Tatsinn zu suchen! Das begreifen heute die wenigsten. Darum sehen die Tatmenschen wie Kegelspieler aus, die mit den Gebärden eines Napoleon imstande sind, neun hölzerne Dinger umzuwerfen. Es würde mich nicht einmal wundern, wenn sie am Ende gewalttätig übereinander herfielen, bloß wegen der ihnen über den Kopf wachsenden Unbegreiflichkeit, daß alle Taten nicht genügen!...« Er hatte lebhaft begonnen, war aber wieder nachdenklich geworden und schwieg sogar eine Weile. Schließlich blickte er bloß lächelnd auf und begnügte sich zu sagen: »Du erklärst, wenn ich von dir eine moralische Anstrengung verlangen sollte, so werdest du mich enttäuschen. Ich erkläre dir, wenn du von mir moralische Ratschläge verlangen solltest, so werde ich dich enttäuschen. Ich meine, wir haben nichts Bestimmtes von einander zu fordern; wir alle zusammen, meine ich: In Wahrheit hätten wir nicht Taten von einander zu fordern, sondern ihre Voraussetzungen erst zu schaffen; so ist mein Gefühl!«
»Wie sollte man das denn tun?!« meinte Agathe. Sie bemerkte wohl, daß Ulrich von der großen allgemeinen Rede, womit er begonnen hatte, abgekommen und in etwas ihn persönlicher Angehendes geraten war, aber für ihren Geschmack war auch dieses zu allgemein. Sie hatte, wie man weiß, ein Vorurteil gegen allgemeine Untersuchungen und hielt jede Anstrengung, die sozusagen über ihre Haut hinausging, ziemlich für aussichtslos; mit Sicherheit tat sie es, insofern sie sich selbst bemühen sollte, aber mit Wahrscheinlichkeit dehnte sie es auch auf die allgemeinen Behauptungen anderer aus. Dennoch verstand sie Ulrich recht gut. Es fiel ihr auf, daß ihr Bruder, während er seinen Kopf gesenkt hielt und leise gegen die Tatkraft sprach, mit der Klinge des Taschenmessers, das er, ohne davon zu wissen, nicht aus den Fingern ließ, Schnitte und Striche in die Tischplatte kerbte, und es waren an seiner Hand alle Sehnen gespannt. Die gedankenlose, aber beinahe leidenschaftliche Bewegung dieser Hand, und daß er von Agathe so aufrichtig gesagt hatte, sie sei jung und schön, das war ein sinnloser Zwiegesang über dem Orchester der anderen Worte, dem sie auch gar keinen Sinn verlieh, außer daß sie hier saß und zusah.
»Was man tun sollte?« erwiderte Ulrich in der gleichen Weise wie bisher. »Ich habe bei unsrer Kusine einmal Graf Leinsdorf den Vorschlag gemacht, daß er ein Weltsekretariat der Genauigkeit und Seele gründen solle, damit auch die Leute, die nicht in die Kirche gehn, wüßten, was sie zu tun haben. Natürlich habe ich das nur zum Spaß gesagt, denn wir haben zwar seit langer Zeit für die Wahrheit die Wissenschaft geschaffen, aber wenn man für das, was übrig bleibt, etwas Ähnliches verlangen wollte, müßte man sich heute beinahe noch einer Torheit schämen. Und doch würde uns alles, was wir zwei bisher gesprochen haben, zu diesem Sekretariat führen!« Er hatte seine Rede aufgegeben und lehnte sich aufgerichtet gegen seine Bank zurück. »Ich löse mich wohl wieder auf, wenn ich hinzufüge: aber wie würde das heute ausfallen!?« fragte er. Da Agathe nicht antwortete, wurde es still. Ulrich sagte nach einer Weile: »Übrigens glaube ich manchmal selbst, daß ich diese Überzeugung nicht aushalten kann! Als ich dich vorhin stehen sah,« fuhr er halblaut fort »dort auf der Schanze, ich weiß nicht warum, hatte ich ein wildes Bedürfnis, plötzlich etwas zu tun. Ich habe ja früher manchmal wirklich etwas Unüberlegtes getan; der Zauber besteht darin: wenn es geschehen war, so war, neben mir, noch etwas da. Manchmal kann ich mir denken, daß ein Mensch sogar durch ein Verbrechen glücklich wird, weil es ihm einen gewissen Ballast gibt, und dadurch vielleicht eine stetigere Fahrt.«
Auch diesmal antwortete seine Schwester nicht gleich. Er betrachtete sie ruhig, vielleicht sogar forschend, aber ohne daß sich das Erlebnis, von dem er sprach, wiederholte, ja eigentlich ohne daß er überhaupt etwas dachte. Nach einer kleinen Weile fragte sie ihn: »Würdest du mir böse sein, wenn ich ein Verbrechen beginge?«
»Was soll ich nun wohl darauf antworten?!« meinte Ulrich, der sich jetzt wieder über sein Messer gebeugt hatte.
»Gibt es keine Entscheidung?«
»Nein, es gibt heute keine wirkliche Entscheidung.«
Danach sagte Agathe: »Ich möchte Hagauer umbringen.«
Ulrich zwang sich nicht aufzublicken. Die Worte waren leicht und leise durch sein Ohr gegangen, aber als sie vorbei waren, ließen sie im Gedächtnis etwas zurück wie eine breite Radspur. Er hatte die Betonung sofort vergessen, er hätte das Gesicht sehen müssen, um zu wissen, wie die Worte zu verstehen seien, aber er wollte dem auch nicht einmal so viel Wichtigkeit beimessen. »Schön,« sagte er »warum solltest du es auch nicht tun! Wen gäbe es heute überhaupt, der so etwas nicht schon gewünscht hätte?! Tu’s doch, wenn du wirklich kannst! Es ist gerade so, als ob du gesagt hättest: ich möchte ihn für seine Fehler lieben!« Nun erst richtete er sich wieder auf und sah seiner Schwester ins Gesicht. Es war verstockt und überraschend aufgeregt. Den Blick auf ihrem Gesicht lassend, erklärte er langsam: »Da, siehst du, stimmt etwas nicht; an dieser Grenze zwischen dem, was in uns vorgeht, und dem, was außen vorgeht, fehlt heute irgendeine Vermittlung, das gestaltet sich nur mit ungeheuren Verlusten ineinander um: Fast könnte man sagen, unsere bösen Wünsche seien die Schattenseite des Lebens, das wir wirklich führen, und das Leben, das wir wirklich führen, sei die Schattenseite unserer guten Wünsche. Stell dir bloß vor, du tätest es wirklich: es wäre gar nicht das, was du gemeint hast, und du würdest zumindest furchtbar enttäuscht sein...«
»Ich könnte vielleicht plötzlich ein anderer Mensch sein: das hast du doch selbst zugegeben!« unterbrach ihn Agathe.
Als Ulrich in diesem Augenblick zur Seite schaute, sah er sich daran erinnert, daß sie nicht allein waren, sondern zwei Menschen ihrem Gespräch zuhorchten. Die alte Häuslerin – sie mochte übrigens kaum mehr als vierzig Jahre zählen und wurde bloß durch ihre Lumpen und die Spuren ihres demütigen Lebens älter gemacht – hatte sich freundlich neben dem Herd niedergelassen, und neben sie hatte sich der Schäfer gesetzt, der während des Gesprächs in seiner Hütte eingekehrt war, ohne daß die so lebhaft mit sich selbst beschäftigten Gäste ihn bemerkt hatten. Diese beiden Alten ließen ihre Hände auf den Knien ruhn und hörten, wie’s schien, geschmeichelt und staunend der Unterhaltung zu, die ihre Hütte erfüllte, sehr befriedigt von einem solchen Gespräch, wenn sie es auch nicht mit einem einzigen Wort verstanden. Sie sahen, daß die Milch nicht getrunken, die Wurst nicht gegessen wurde, es war ein Schauspiel, und wer weiß, ein erhebendes. Sie flüsterten nicht einmal miteinander. Ulrichs Blick tauchte in ihre geöffneten Augen, und aus Verlegenheit lächelte er ihnen zu, was von den beiden nur die Frau erwiderte, während der Mann in ehrerbietigem Anstand ernst verharrte.
»Wir müssen essen!« sagte Ulrich in englischer Sprache zu seiner Schwester. »Man wundert sich über uns!«
Gehorsam rührte sie ein wenig an Brot und Fleisch, und er selbst aß entschlossen und trank sogar ein wenig von der Milch. Dabei sagte Agathe aber laut und unbefangen: »Die Vorstellung, ihm ernsthaft weh zu tun, ist mir unangenehm, wenn ich mich richtig befrage. Ich möchte ihn also vielleicht nicht umbringen. Aber auslöschen möchte ich ihn! In kleine Stücke zerreißen, sie in einem Mörser zerstampfen und den Staub ins Wasser schütten: das möchte ich! Ganz und gar alles Gewesene vernichten!«
»Weißt du, es ist etwas komisch, was wir da reden« bemerkte Ulrich.
Agathe schwieg eine Weile. Dann sagte sie aber: »Du hast mir doch am ersten Tag versprochen, daß du mir gegen Hagauer beistehen wirst!«
»Natürlich werde ich das tun. Aber doch nicht so.«
Wieder schwieg Agathe. Dann sagte sie plötzlich: »Wenn du ein Auto kaufen oder mieten möchtest, könnten wir über Iglau zu mir fahren und auf der weiteren Strecke, ich glaube über Tabor, zurück. Kein Mensch käme auf den Einfall, daß wir nachts dort waren.«
»Und die Hausangestellten? Zum Glück kann ich überhaupt nicht einen Wagen bedienen!« Ulrich lachte, aber dann schüttelte er unwillig den Kopf: »Das sind so Ideen von heute!«
»Ja, das sagst du« meinte Agathe. Sie schob nachdenklich mit dem Fingernagel ein Stück Speck hin und her, und es sah aus, als ob dieser Fingernagel das ganz allein täte, der einen kleinen öligen Fleck davon bekommen hatte. »Aber du sagst doch auch: die Tugenden der Gesellschaft sind Laster für den Heiligen!«
»Nur habe ich nicht gesagt, daß die Laster der Gesellschaft für den Heiligen Tugenden sind!« stellte Ulrich richtig. Er lachte, fing Agathens Hand und putzte sie mit seinem Taschentuch.
»Du nimmst eben immer alles wieder zurück!« schalt Agathe und lächelte unzufrieden, während ihr das Blut ins Gesicht stieg, denn sie suchte ihren Finger zu befreien.
Die beiden Alten am Herd, die noch immer genau so zusahen wie bisher, lächelten jetzt als Echo über das ganze Gesicht.
»Wenn du so mit mir hin und her redest,« stieß Agathe leise hervor »ist mir, als sähe ich mich in den Scherben eines Spiegels: man erblickt sich bei dir nie in ganzer Figur!«
»Nein,« erwiderte Ulrich, der ihre Hand nicht losließ »man erblickt sich heute nicht in ganzer Figur, und man bewegt sich nie in ganzer Figur: das ist es eben!«
Agathe gab nach und ließ plötzlich von ihrem Arm ab. »Ich bin gewiß das Gegenteil von heilig« erklärte sie leise. »Ärger als eine Bezahlte bin ich vielleicht in meiner Gleichgültigkeit gewesen. Ich bin gewiß auch nicht unternehmungssüchtig und werde vielleicht niemand umbringen können. Aber wie du das von dem Heiligen zum erstenmal gesagt hast, es ist schon recht eine Weile her, da habe ich etwas ›in ganzer Figur‹ gesehn...!« Sie senkte den Kopf, um nachzudenken oder sich nicht ins Gesicht schaun zu lassen. »Ich habe einen Heiligen gesehn, der ist vielleicht auf einem Brunnen gestanden. Um die Wahrheit zu sagen, ich habe vielleicht gar nichts gesehn, aber ich habe etwas gefühlt, das man so ausdrücken müßte. Das Wasser ist geflossen, und was der Heilige tat, kam auch über den Rand geflossen, als wäre er ein nach allen Richtungen sacht überströmendes Brunnenbecken. So, denke ich, müßte man sein, dann täte man immer recht, und es wäre doch völlig gleichgültig, was man täte.«
»Agathe sieht sich in heiliger Überfülle und zitternd ob ihrer Sünden in der Welt stehn und bemerkt ungläubig, daß sich ihr die Schlangen und Nashorne, Berge und Schluchten still und noch viel kleiner, als sie es selbst ist, zu Füßen legen. Aber was ist dann mit Hagauer?« neckte Ulrich leise.
»Das ist es eben. Der kann nicht dabei sein. Der muß fort!«
»Ich werde dir auch etwas erzählen« sagte ihr Bruder. »Jedesmal wenn ich an etwas Gemeinsamen, irgendeiner rechten Menschenangelegenheit habe teilnehmen müssen, ist es mir ergangen wie einem Mann, der vor dem letzten Akt aus dem Theater tritt, um einen Augenblick Luft zu schöpfen, die große dunkle Leere mit den vielen Sternen sieht und Hut, Rock, Aufführung zurückläßt, um davonzugehn.«
Agathe sah ihn forschend an. Das paßte als Antwort und paßte nicht. Ulrich sah auch in ihr Gesicht. »Dich plagt auch oft eine Abneigung, zu der es die Neigung noch nicht gibt« sagte er und dachte: »Ist sie mir wirklich ähnlich?« Wieder kam ihm vor: vielleicht so wie ein Pastell einem Holzschnitt. Er hielt sich für den Festeren. Und sie war schöner als er. So angenehm schön. Er griff jetzt vom Finger nach ihrer ganzen Hand; es war eine warme, lange Hand voll Leben, und bisher hatte er sie nur zur Begrüßung in der seinen gehalten. Seine junge Schwester war aufgeregt, und wenn ihr auch nicht gerade Tränen in den Augen standen, so war doch feuchte Luft darin. »In wenigen Tagen wirst du auch von mir fortgehn,« sagte sie »und wie soll ich dann mit allem fertig werden?!«
»Wir können ja zusammenbleiben, du kannst mir nachkommen.«
»Wie stellst du dir das vor?« fragte Agathe und hatte ihre kleine Denkfalte auf der Stirn.
»Nun, noch gar nicht stelle ich es mir vor; es ist mir doch soeben erst eingefallen.« Er stand auf und gab den Schäfersleuten noch ein Stück Geld, »für den zerschnittenen Tisch.« Agathe sah durch eine Wolke die Bauern grinsen, nicken und irgend etwas Freudiges in kurzen, unverständlichen Worten beteuern. Als sie an ihnen vorbeikam, fühlte sie die vier gastfreundlichen Augen nackt und gerührt auf ihrem Gesicht und begriff, daß sie für ein Liebespaar gehalten worden seien, das sich gezankt und wieder versöhnt hatte. »Sie haben uns für ein Liebespaar gehalten!« sagte sie. Übermütig schob sie ihren Arm in den ihres Bruders, und ihre ganze Freude kam zum Ausbruch. »Du solltest mir einen Kuß geben!« verlangte sie und preßte lachend Ulrichs Arm an ihren Körper, als sie auf der Schwelle der Hütte standen und die niedere Tür sich in das Dunkel des Abends öffnete.

Während des Restes von Ulrichs Aufenthalt war von Hagauer wenig mehr die Rede, aber auch auf den Einfall, daß sie ihrem Zusammentreffen Dauer geben und ein gemeinsames Leben aufnehmen wollten, kamen die Geschwister lange nicht zurück. Trotzdem schwelte das Feuer, das in dem ungezügelten Verlangen Agathes, ihren Mann zu beseitigen, als Stichflamme ausgebrochen war, unter der Asche weiter. Es breitete sich in Gesprächen aus, die zu keinem Ende kamen, und doch von neuem aufschlugen; vielleicht sollte man sagen: Agathes Gemüt suchte nach einer anderen Möglichkeit, frei zu brennen.
Gewöhnlich stellte sie im Beginn solcher Gespräche eine bestimmte und persönliche Frage, deren innere Form »darf ich oder darf ich nicht?« war. Die Gesetzlosigkeit ihres Wesens hatte bis dahin die traurige und ermüdete Gestalt der Überzeugung gehabt: »Ich darf alles, aber ich will ohnehin nicht«, und so machten die Fragen seiner jungen Schwester nicht unberechtigterweise zuweilen auf Ulrich einen ähnlichen Eindruck, wie es die Fragen eines Kindes tun, die so warm sind wie die kleinen Hände dieses hilflosen Wesens.
Seine eigenen Antworten hatten eine andere, für ihn aber nicht weniger bezeichnende Art: er gab allemal gern etwas von der Ausbeute seines Lebens und Nachdenkens darauf zum besten, und wie es seiner Gewohnheit entsprach, drückte er sich in einer ebenso offenen wie geistig unternehmenden Art aus. Er kam immer bald auf »die Moral der Geschichte« zu sprechen, von der seine Schwester erzählte, faßte in Formeln zusammen, nahm sich gern selbst zum Vergleich und berichtete auf diese Weise Agathe viel von sich, namentlich aus seinem bewegteren, früheren Leben. Agathe erzählte ihm nichts von sich, aber sie bewunderte an ihm die Fähigkeit, so von seinem Leben sprechen zu können, und daß er alle ihre Anregungen in moralische Betrachtung zog, war ihr gerade recht. Denn Moral ist nichts anderes als eine Ordnung der Seele und der Dinge, beide umfassend, und so ist es nicht sonderbar, daß junge Menschen, deren Lebenswille noch allseitig unabgestumpft ist, viel von ihr reden. Eher war bei einem Mann von Ulrichs Alter und Erfahrung eine Erklärung nötig; denn Männer sprechen von Moral nur beruflich, wenn es zu ihrer Amtssprache gehört, sonst aber ist das Wort bei ihnen schon von den Tätigkeiten des Lebens eingeschluckt worden und kommt nicht mehr frei. Wenn Ulrich von Moral sprach, bedeutete es darum eine tiefe Unordnung, die Agathe gleichgestimmt anzog. Sie schämte sich jetzt ihres etwas einfältigen Bekenntnisses, daß sie »ganz einverstanden mit sich selbst« leben wolle, denn sie hörte ja, welche verwickelten Bedingungen sich davorstellten, und doch wünschte sie ungeduldig, daß ihr Bruder rascher zu einem Ergebnis käme, denn oft schien ihr, daß sich alles, was er sage, gerade dahin bewege, ja sogar jedesmal gegen Ende immer genauer, und erst mit dem letzten Schritt vor der Schwelle haltmache, wo er das Unternehmen jedesmal aufgab.
Der Ort dieser Wendung und dieser letzten Schritte, dessen lähmende Wirkung auch Ulrich nicht entging, läßt sich aber am allgemeinsten dadurch bezeichnen, daß jeder Satz der europäischen Moral auf einen solchen Punkt führt, wo es nicht weitergeht; so daß ein Mensch, der von sich Rechenschaft gibt, zuerst die Gebärden eines Watens im Seichten hat, solange er feste Überzeugungen unter sich fühlt, plötzlich aber die des schrecklichen Ertrinkens, wenn er etwas weiter geht, als versänke der Boden des Lebens vom Seichten unmittelbar in eine ganz unsichere Tiefe. Das drückte sich auch äußerlich an den Geschwistern in einer bestimmten Weise aus: Ulrich konnte ruhig und erklärend über alles sprechen, was er zunächst vorbrachte, solange er mit Verstand daran teilnahm, und einen ähnlichen Eifer fühlte Agathe im Zuhören; aber dann, wenn sie aufhörten und schwiegen, kam eine viel aufgeregtere Spannung in ihre Gesichter. Und so geschah es einmal, daß sie über die Grenze hinausgeführt wurden, an der sie bis dahin unbewußt eingehalten hatten. Ulrich hatte behauptet: »Das einzige gründliche Kennzeichen unserer Moral ist es, daß sich ihre Gebote widersprechen. Der moralischeste von allen Sätzen ist der: die Ausnahme bestätigt die Regel!« Wahrscheinlich hatte ihn dazu bloß die Abneigung gegen ein moralisches Verfahren bewogen, das sich unbeugsam gibt und in der Ausführung jeder Beugung nachgeben muß, wodurch es sich gerade im Gegensatz zu einem genauen Vorgehen befindet, das zuerst auf die Erfahrung achtet und das Gesetz aus ihrer Beobachtung gewinnt. Er kannte natürlich den Unterschied, der zwischen Natur- und Sittengesetzen so gemacht wird, daß man die einen der sittenlosen Natur ablese, die anderen aber der weniger hartnäckigen Menschennatur auferlegen müsse; doch war er der Meinung, daß irgendetwas an dieser Trennung heute nicht mehr stimme, und hatte gerade sagen wollen, daß sich die Moral dabei in einem um hundert Jahre verspäteten Denkzustand befinde, weshalb sie den veränderten Bedürfnissen so schwer anzupassen sei. Ehe er jedoch in seiner Erklärung so weit gekommen war, unterbrach ihn Agathe mit einer Antwort, die sehr einfach erschien, ihn aber im Augenblick verblüffte.
»Ist Gutsein denn nicht gut?« fragte sie ihren Bruder und hatte etwas Ähnliches in den Augen wie damals, als sie mit den Orden etwas tat, das wahrscheinlich nicht nach jedermanns Urteil gut gewesen wäre.
»Du hast recht« erwiderte er belebt. »Man muß wahrhaftig erst einen solchen Satz bilden, wenn man den ursprünglichen Sinn wieder fühlen will! Aber Kinder lieben das Gutsein noch wie Leckerei –«
»Übrigens auch das Bösesein« ergänzte Agathe.
»Aber gehört Gutsein zu den Leidenschaften Erwachsener?« fragte Ulrich. »Es gehört zu ihren Grundsätzen! Sie sind nicht gut, das käme ihnen kindisch vor, sondern handeln gut; ein guter Mensch ist einer, der gute Grundsätze hat und gute Werke tut: es ist ein offenes Geheimnis, daß er dabei der größte Ekel sein kann!«
»Siehe Hagauer« ergänzte Agathe.
»Es steckt eine paradoxe Sinnlosigkeit in diesen guten Menschen« meinte Ulrich. »Sie machen aus einem Zustand eine Forderung, aus einer Gnade eine Norm, aus einem Sein ein Ziel! In dieser Familie der Guten gibt es lebenslang nur Reste zu essen, und dazu geht das Gerücht um, daß einmal ein Festtag gewesen sei, von dem sie herrühren! Gewiß, von Zeit zu Zeit werden ein paar Tugenden von neuem Mode, aber sobald das geschehen ist, verlieren sie auch schon wieder die Frische.«
»Du hast einmal gesagt, daß die gleiche Handlung gut oder bös sein kann, je nach dem Zusammenhang?« fragte nun Agathe.
Ulrich stimmte zu. Das war seine Theorie, daß die moralischen Werte nicht absolute Größen, sondern Funktionsbegriffe seien. Wenn wir aber moralisieren und verallgemeinern, so lösen wir sie aus ihrem natürlichen Ganzen: »Und wahrscheinlich ist schon das die Stelle, wo etwas auf dem Weg zur Tugend nicht in Ordnung ist« sagte er.
»Wie könnten auch sonst moralische Menschen so langweilig sein,« ergänzte Agathe »während doch ihre Absicht, gut zu sein, das Entzückendste, Schwierigste und Kurzweiligste sein müßte, was man sich nur vorstellen kann!«
Ihr Bruder schwankte; aber plötzlich ließ er sich die Behauptung entschlüpfen, durch die er und sie bald in ungewöhnliche Beziehungen gerieten. »Unsere Moral« erklärte er »ist die Auskristallisation einer inneren Bewegung, die von ihr völlig verschieden ist! Von allem, was wir sagen, stimmt überhaupt nichts! Nimm irgendeinen Satz, mir ist gerade der eingefallen: ›In einem Gefängnis soll Reue herrschen!‹ Es ist ein Satz, den man mit bestem Gewissen sagen kann; aber niemand nimmt ihn wörtlich, denn sonst käme man zum Höllenfeuer für die Eingekerkerten! Wie nimmt man ihn also dann? Sicher wissen wenige, was Reue ist, aber jeder sagt, wo sie herrschen soll. Oder denk bloß, etwas erhebt dich: woher ist denn das in die Moral geflogen? Wann sind wir so mit dem Gesicht im Staub gelegen, daß es uns beseligte, erhoben zu werden? Oder nimm es wörtlich, daß dich ein Gedanke ergreift: im Augenblick, wo du diese Begegnung so körperlich spürtest, wärst du schon in den Grenzen des Irrenreichs! Und so will jedes Wort wörtlich genommen werden, sonst verwest es zur Lüge, aber man darf keines wörtlich nehmen, sonst wird die Welt ein Tollhaus! Irgendein großer Rausch steigt als dunkle Erinnerung daraus auf, und man kommt zuweilen auf den Gedanken, daß alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines alten Ganzen sind, die man einmal falsch ergänzt hat.«
Das Gespräch, worin diese Bemerkung fiel, fand im Bibliotheks- und Arbeitszimmer statt, und während Ulrich vor einigen Werken saß, die er auf die Reise mitgenommen hatte, durchstöberte seine Schwester den juridischen und philosophischen Büchernachlaß, dessen Miterbin sie geworden war, und holte sich daraus zum Teil die Anregung zu ihren Fragen. Seit ihrem Ausflug hatten die Geschwister das Haus selten verlassen. Sie beschäftigten sich auf diese Weise. Zuweilen gingen sie im Garten spazieren, von dessen nacktem Gesträuch der Winter die Blätter geschält hatte, so daß überall darunter die von der Nässe aufgedunsene Erde zutage trat. Dieser Anblick war quälend. Die Luft war blaß wie etwas, das lange in Wasser gelegen hat. Der Garten war nicht groß. Die Wege liefen nach kurzem in sich selbst zurück. Der Zustand, in den die beiden auf diesen Wegen gerieten, trieb im Kreis, wie es eine Strömung vor einer Sperre tut, an der sie hochsteigt. Wenn sie ins Haus zurückkehrten, waren die Wohnzimmer dunkel und geschützt, und die Fenster glichen tiefen Lichtschächten, durch die der Tag so zart und starr hereinkam, als bestünde er aus dünnem Elfenbein. Agathe war jetzt, nach dem letzten, lebhaften Ausruf Ulrichs, von der Bücherleiter, auf der sie gesessen hatte, herabgestiegen und hatte ihren Arm um seine Schulter gelegt, ohne zu antworten. Das war eine ungewohnte Zärtlichkeit, denn außer den beiden Küssen, dem am Abend ihrer ersten Begegnung und dem vor wenigen Tagen, als sie den Heimweg aus der Schäferhütte antraten, hatte sich die natürliche geschwisterliche Sprödigkeit noch nicht zu mehr als Worten oder kleinen Freundlichkeiten gelöst, und auch jene beiden Male war die Wirkung der vertraulichen Berührung durch die des Unerwarteten wie des Übermütigen verdeckt worden. Diesmal aber dachte Ulrich gleich an das Strumpfband, das seine Schwester warm statt vieler Worte dem Toten mitgegeben hatte. Und es fuhr ihm auch durch den Kopf: »Es ist doch sicher, daß sie einen Liebhaber besitzt; aber sie scheint sich nicht viel aus ihm zu machen, denn sonst hielte sie sich nicht mit solcher Ruhe hier auf!« Es machte sich geltend, daß sie eine Frau war, die unabhängig von ihm ein Leben als Frau geführt habe und es auch weiter führen werde. Seine Schulter empfand schon an der ruhenden Gewichtsverteilung die Schönheit ihres Arms, und an der Seite, die seiner Schwester zugewandt war, fühlte er schattenhaft die Nähe ihrer blonden Achselhöhle und den Umriß ihres Busens. Um aber nicht so dazusitzen und widerstandslos der stillen Umarmung preisgegeben zu sein, umfaßte er mit seiner Hand die nahe dem Hals ruhenden Finger der ihren und übertönte mit dieser Berührung die andere. »Weißt du, es ist etwas kindisch, was wir da reden« sagte er nicht ohne Mißmut. »Die Welt ist voll tätiger Entscheidung, und wir sitzen da und reden in fauler Üppigkeit von der Süßigkeit des Gutseins und den theoretischen Töpfen, in die man sie füllen könnte!«
Agathe befreite ihre Finger, ließ aber die Hand wieder auf ihren Platz zurückkehren. »Was liest du da eigentlich all die Tage?« fragte sie.
»Du weißt es doch,« erwiderte er »siehst mir ja oft genug hinter dem Rücken ins Buch!«
»Aber ich werde nicht recht klug daraus.«
Er konnte sich nicht entschließen, darüber Rede zu stehn. Agathe, die nun einen Stuhl herangezogen hatte, kauerte hinter ihm und hatte ihr Gesicht einfach friedlich in sein Haar gelegt, als schliefe sie darin. Ulrich wurde davon wunderlich an den Augenblick erinnert, wo sein Feind Arnheim den Arm um ihn geschlungen hatte und die ungeregelt strömende Berührung eines anderen Wesens wie durch eine Bresche in ihn eingedrungen war. Aber diesmal drängte seine eigene Natur nicht die fremde zurück, sondern es drängte ihr etwas entgegen, das unter dem Geröll von Mißtrauen und Abneigungen begraben gewesen war, mit dem sich das Herz eines Menschen füllt, der längere Zeit gelebt hat. Agathes Verhältnis zu ihm, das zwischen Schwester und Frau, Fremder und Freundin schwebte, und mit keiner von allen gleichzusetzen war, bestand auch nicht, worüber er schon oft nachgedacht hatte, in einer Übereinstimmung der Gedanken oder Gefühle, die besonders weit gegangen wäre; aber es war, wie er in diesem Augenblick fast verwundert bemerkte, völlig eins mit der in verhältnismäßig wenigen Tagen aus unzähligen Eindrücken, die sich in Kürze nicht wiederholen ließen, entstandenen Tatsache geworden, daß Agathes Mund ohne jeden anderen Anspruch auf seinem Haar ruhte und daß das Haar warm und feucht von ihrem Atem wurde. Das war so geistig wie körperlich; denn, als Agathe ihre Frage wiederholte, überkam Ulrich ein Ernst, wie er ihn seit gläubigen Jugendtagen nicht mehr gefühlt hatte, und ehe sich diese Wolke schwerelosen Ernstes wieder verflüchtigte, die vom Raum hinter seinem Rücken bis zum Buch, worauf seine Gedanken ruhten, durch den ganzen Körper reichte, hatte er eine Antwort gegeben, die ihn mehr durch ihren völlig ironielosen Ton als den Inhalt überraschte: er sagte: »Ich unterrichte mich über die Wege des heiligen Lebens.«
Er hatte sich erhoben; aber nicht, um sich von seiner Schwester zu entfernen, indem er sich einige Schritte von ihr aufstellte, sondern um sie von dort sehen zu können. »Du brauchst nicht zu lachen« sagte er. »Ich bin nicht fromm; ich sehe mir den heiligen Weg mit der Frage an, ob man wohl auch mit einem Kraftwagen auf ihm fahren könnte!«
»Ich habe nur gelacht,« erwiderte Agathe »weil ich so neugierig bin, was du sagen wirst. Die Bücher, die du mitgebracht hast, sind mir unbekannt, aber es kommt mir vor, daß sie mir nicht ganz unverständlich sind.«
»Du kennst das?« fragte ihr Bruder, bereits davon überzeugt, daß sie es kenne: »Man kann mitten in der heftigsten Bewegung sein, aber plötzlich fällt das Auge auf das Spiel irgendeines Dings, das Gott und die Welt verlassen haben, und man kann sich nicht mehr von ihm losreißen?! Mit einemmal wird man von seinem kleinwenigen Sein wie eine Feder getragen, die aller Schwere und Kräfte bar im Wind fliegt?!«
»Bis auf die heftige Bewegung, die du so stark betonst, glaube ich es zu erkennen« meinte Agathe und mußte nun wieder über die gewalttätige Verlegenheit lächeln, die sich im Gesicht ihres Bruders abmalte und gar nicht zu seinen zarten Worten paßte. »Man vergißt manchmal das Sehen und Hören, und das Sprechen vergeht einem ganz. Und doch fühlt man gerade in solchen Minuten, daß man für einen Augenblick zu sich gekommen ist.«
»Ich würde sagen,« fuhr Ulrich lebhaft fort »es ist dem ähnlich, daß man auf eine große spiegelnde Wasserfläche hinausschaut: das Auge glaubt Dunkel zu erblicken, so hell ist alles, und jenseits am Ufer scheinen die Dinge nicht auf der Erde zu stehn, sondern schweben in der Luft mit einer zarten Überdeutlichkeit, die beinahe schmerzt und verwirrt. Es ist ebensowohl eine Steigerung wie ein Verlieren in diesem Eindruck. Man ist mit allem verbunden und kann an nichts heran. Du stehst hüben und die Welt drüben, überichhaft und übergegenständlich, aber beide fast schmerzhaft deutlich, und was die sonst Vermengten trennt und verbindet, ist ein dunkles Blinken, ein Überströmen und Auslöschen, ein Aus- und Einschwingen. Ihr schwimmt wie der Fisch im Wasser oder der Vogel in der Luft, aber es ist kein Ufer da und kein Ast und nichts als dieses Schwimmen!« Ulrich dichtete wohl; doch das Feuer und die Festigkeit seiner Sprache hoben sich von ihrem zarten und schwebenden Inhalt metallen ab. Er schien eine Vorsicht abgeworfen zu haben, die ihn sonst beherrschte, und Agathe sah ihn erstaunt an, aber auch mit unruhiger Freude.
»Und du meinst« fragte sie: »dahinter sei etwas? Mehr als eine ›Anwandlung‹ oder wie solche abscheulich beschwichtigende Worte heißen?«
»Und ob ich das meine!« Er setzte sich nun wieder an seinen früheren Platz und blätterte in den Büchern, die dort lagen, während Agathe aufstand, um ihm Raum zu lassen. Dann schlug er eine der Schriften mit den Worten auf: »Die Heiligen beschreiben es so« und las vor: »Während dieser Tage war ich überaus unruhig. Bald saß ich ein wenig, bald wandelte ich hin und wieder durchs Haus. Es war wie eine Pein und dennoch mehr eine Süßigkeit als eine Pein zu nennen, denn es war kein Verdruß dabei, sondern eine seltsame, ganz übernatürliche Annehmlichkeit. Ich hatte alle meine Vermögen überstiegen bis an die dunkle Kraft. Da hörte ich ohne Laut, da sah ich ohne Licht. Dann wurde mein Herz grundlos, mein Geist formlos und meine Natur wesenlos.« Es kam ihnen beiden vor, daß diese Worte Ähnlichkeit mit der Unruhe hätten, von der sie selbst durch Haus und Garten getrieben wurden, und zumal Agathe fühlte sich davon überrascht, daß auch die Heiligen ihr Herz grundlos und ihren Geist formlos nennten; aber Ulrich schien bald wieder von seiner Ironie befangen worden zu sein.
Er erklärte: »Die Heiligen sagen: einst war ich eingeschlossen, dann wurde ich aus mir herausgezogen und ohne Erkennen in Gott versenkt. Die Kaiser auf der Jagd, von denen wir aus unseren Lesebüchern gehört haben, beschreiben es anders: sie erzählen, daß ihnen ein Hirsch mit einem Kreuz im Geweih erschienen sei, so daß ihnen der Mordspeer entsank; und dann ließen sie an der Stelle eine Kapelle errichten, damit sie doch auch wieder weiter jagen konnten. Und die reichen, klugen Damen, mit denen ich verkehre, werden dir, wenn du sie so etwas fragen solltest, sofort zur Antwort geben, der letzte, der solche Erlebnisse gemalt habe, sei van Gogh gewesen. Vielleicht werden sie auch statt von einem Maler von den Gedichten Rilkes sprechen; doch im allgemeinen ziehen sie van Gogh vor, der eine ausgezeichnete Kapitalsanlage darstellt und sich die Ohren abgeschnitten hat, weil ihm sein Malen nicht genug tat neben der Inbrunst der Dinge. Die Mehrheit unseres Volks dagegen wird sagen, Ohrenabschneiden sei kein deutscher Gefühlsausdruck, sondern die unverkennbare Leere des Hochblicks sei einer, die man auf Berggipfeln erlebt. Für sie sind Einsamkeit, Blümelein und rauschende Wässerchen der Inbegriff menschlicher Erhebung: Und auch noch in diesem Edelochsentum des ungekochten Naturgenusses liegt die mißverstandene letzte Auswirkung eines geheimnisvollen zweiten Lebens, und alles in allem muß es dieses also doch wohl geben oder gegeben haben!«
»Dann solltest du lieber nicht darüber spotten« wandte Agathe ein, finster vor Wißbegierde und strahlend vor Ungeduld.
»Ich spotte nur, weil ich es liebe« entgegnete Ulrich kurz.

Es lag in der Folge immer eine große Anzahl von Büchern auf dem Tisch, die er teils von zu Hause mitgebracht, teils nachher gekauft hatte, und er sprach bald frei, bald schlug er zum Beweis, oder weil er einen Ausspruch wörtlich wiedergeben wollte, in ihnen eine der vielen Stellen auf, die er durch eingesteckte Zettel gekennzeichnet hatte. Es waren zumeist Lebensbeschreibungen und persönliche Äußerungen von Mystikern, was er vor sich hatte, oder wissenschaftliche Arbeiten über sie, und gewöhnlich zweigte er mit den Worten »Laß uns einmal so nüchtern wie möglich nachsehn, was hier vor sich geht« das Gespräch davon ab. Das war eine vorsichtige Haltung, die er freiwillig nicht so leicht aufgab, und so sagte er denn auch einmal: »Wenn du diese Beschreibungen ganz durchlesen könntest, die Männer und Frauen vergangener Jahrhunderte vom Zustand ihrer Gottesergriffenheit hinterlassen haben, so würdest du finden, daß zwischen allen Buchstaben Wahrheit und Wirklichkeit ist, und doch würden die aus diesen Buchstaben gebildeten Behauptungen deinem Gegenwartswillen aufs äußerste widerstreben.« Und er fuhr fort: »Sie sprechen von einem überflutenden Glanz. Von einer unendlichen Weite, einem unendlichen Lichtreichtum. Von einer schwebenden ›Einheit‹ aller Dinge und Seelenkräfte. Von einem wunderbaren und unbeschreiblichen Aufschwung des Herzens. Von Erkenntnissen, die so schnell sind, daß alles zugleich ist, und wie Feuertropfen sind, die in die Welt fallen. Und anderseits sprechen sie von einem Vergessen und Nichtmehrverstehn, ja auch von einem Untergehn der Dinge. Sie sprechen von einer ungeheuren Ruhe, die den Leidenschaften entrückt ist. Einem Stummwerden. Einem Verschwinden der Gedanken und Absichten. Einer Blindheit, in der sie klar sehen, einer Klarheit, in der sie tot und übernatürlich lebendig sind. Sie nennen es ein ›Entwerden‹ und behaupten doch, in vollerer Weise zu leben als je: Sind das nicht, wenn auch von der Schwierigkeit des Ausdrucks flimmernd verhüllt, dieselben Empfindungen, die man noch heute hat, wenn zufällig das Herz – ›gierig und gesättigt‹, wie sie sagen! – in jene utopischen Regionen gerät, die sich irgend- und nirgendwo zwischen einer unendlichen Zärtlichkeit und einer unendlichen Einsamkeit befinden?!«
In die kleine Überlegungspause, die Ulrich machte, mischte sich die Stimme Agathes: »Es ist das, was du einmal zwei Schichten genannt hast, die in uns übereinander liegen.«
»Ich – wann?«
»Du bist ohne Ziel in die Stadt gegangen, und es war dir, als ob du in ihr aufgelöst würdest, aber zugleich hast du sie nicht mögen; und ich habe dir gesagt, daß es mir oft so ergeht.«
»O ja! Du hast sogar darauf ›Hagauer‹ gesagt!« rief Ulrich aus. »Und wir haben gelacht: jetzt erinnere ich mich wohl. Aber das haben wir nicht ganz wirklich gemeint. Ich habe dir ja auch sonst schon vom gebenden und vom nehmenden Sehen, vom männlichen und weiblichen Prinzip, vom Hermaphroditismus der Urphantasie und Ähnlichem erzählt: ich kann viel davon reden! Als wäre mein Mund so fern von mir wie der Mond, der auch immer zur Stelle ist, wenn man in der Nacht einen Vertrauten zum Schwätzen braucht! Aber was diese Frommen von den Abenteuern ihrer Seele erzählen,« fuhr er fort, wobei sich in die Bitterkeit seiner Worte wieder Sachlichkeit und auch Bewunderung mischte, »das ist zuweilen mit der Kraft und rücksichtslosen Überzeugung einer Stendhalschen Untersuchung geschrieben. Allerdings nur,« – schränkte er das ein – »solange sie rein bei den Erscheinungen bleiben und nicht sich ihr Urteil dareinmengt, das von der schmeichelhaften Überzeugung verfälscht wird, sie wären von Gott ausersehen worden, ihn unmittelbar zu erleben. Denn von diesem Augenblick an erzählen sie uns natürlich nicht mehr ihre schwer beschreiblichen Wahrnehmungen, in denen es keine Haupt- und keine Tätigkeitsworte gibt, sondern sprechen in Sätzen mit Subjekt und Objekt, weil sie an ihre Seele und an Gott wie an zwei Türpfosten glauben, zwischen denen sich das Wunderbare öffnen wird. Und so kommen sie zu diesen Aussagen, daß ihnen die Seele aus dem Leib gezogen und in den Herrn versenkt werde, oder daß der Herr in sie eindringe wie ein Liebhaber; sie werden von Gott gefangen, verschlungen, geblendet, geraubt, vergewaltigt, oder ihre Seele weitet sich zu ihm, dringt in ihn ein, kostet von ihm, umfaßt ihn mit Liebe und hört ihn sprechen. Das irdische Vorbild ist dabei ja unverkennbar; und diese Beschreibungen gleichen jetzt nicht mehr ungeheuren Entdeckungen, sondern bloß noch den etwas gleichförmigen Bildern, mit denen ein Liebespoet seinen Gegenstand ausschmückt, über den es nur eine Meinung geben darf: mich wenigstens, der ich zur Zurückhaltung erzogen bin, spannen diese Berichte auf die Folter, weil die Auserwählten gerade in dem Augenblick, wo sie versichern, daß Gott zu ihnen gesprochen habe oder daß sie die Reden der Bäume und Tiere verstanden hätten, es unterlassen, mir noch zu sagen, was ihnen mitgeteilt worden sei; und tun sie es einmal, so kommen bloß persönliche Angelegenheiten heraus oder bekannte kirchliche Nachrichten. Es ist ewig schade, daß keine exakten Forscher Gesichte haben!« schloß er seine lange Erwiderung.
»Meinst du, daß sie es könnten?« versuchte ihn Agathe.
Ulrich zögerte einen Augenblick. Dann antwortete er wie ein Bekenner:
»Ich weiß es nicht; vielleicht könnte es mir geschehen!« Als er seine Worte hörte, lächelte er, um sie wieder einzuschränken.
Auch Agathe lächelte; sie schien nun die Antwort zu haben, nach der es sie gelüstete, und ihr Gesicht spiegelte den kleinen Augenblick ratloser Enttäuschung wider, der auf das plötzliche Aufhören einer Spannung folgt. So erhob sie vielleicht nur deshalb Widerspruch, weil sie ihren Bruder von neuem antreiben wollte. »Du weißt,« erklärte sie »daß ich in einem sehr frommen Institut erzogen worden bin: die Folge davon ist, daß sich in mir eine Lust an der Karikatur meldet, und einfach schändlich wird, sobald jemand von frommen Idealen spricht. Unsere Erzieherinnen haben ein Habit getragen, dessen zwei Farben ein Kreuz bildeten, und das erinnerte doch gewiß an einen der höchsten Gedanken, den wir auf diese Weise den ganzen Tag vor Augen haben sollten; aber wir haben keine Sekunde lang an ihn gedacht und nannten unsere Mütter bloß die Kreuzspinnen wegen ihres Aussehens und ihrer seidenweichen Reden. So war mir auch, während du vorgelesen hast, bald zum Weinen, bald zum Lachen zumute.«
»Weißt du, was das beweist?« rief Ulrich aus. »Doch nichts anderes, als daß die Kraft zum Guten, die auf irgendeine Weise wohl in uns vorhanden ist, sogleich die Wände durchfrißt, wenn man sie in eine feste Form einschließt, und durch das Loch sofort zum Bösen flieht! Das erinnert mich an die Zeit, wo ich Offizier war und mit meinen Kameraden Thron und Altar stützte: kein zweitesmal in meinem Leben habe ich so frei über diese beiden sprechen hören wie in unserem Kreis! Die Gefühle vertragen es nicht, angebunden zu werden, besonders aber gewisse Gefühle nicht. Ich bin überzeugt, daß eure braven Erzieherinnen selbst geglaubt haben, was sie euch predigten: aber Glaube darf nicht eine Stunde alt sein! Das ist es!«
Agathe begriff es selbst, obwohl sich Ulrich in Eile nicht zu seiner Zufriedenheit ausgedrückt hatte, daß der Glaube jener Nonnen, der ihr die Lust am Glauben genommen hatte, bloß etwas »Eingemachtes« gewesen sei. Zwar sozusagen in seiner eigenen Natur eingelegt und keiner Glaubenseigenschaft verlustig, aber trotzdem nicht frisch, ja in einer unnachweisbaren Art geradezu in einen anderen Zustand getreten als den ursprünglichen, der dem entlaufenen und widerspenstigen Zögling der Heiligkeit in diesem Augenblick wohl als Ahnung vorschwebte.
Es gehörte das mit allem anderen, was sie schon über Moral gesprochen hatten, zu den ergreifenden Zweifeln, die ihr Bruder in sie gesenkt hatte, und zu dem Zustand einer inneren Wiedererweckung, den sie seither fühlte, ohne sich über ihn klar geworden zu sein. Denn der Zustand der Indifferenz, den sie geflissentlich zur Schau trug und in sich begünstigte, hatte nicht immer ihr Leben beherrscht. Es hatte sich einmal etwas begeben, wobei dieses Bedürfnis nach Selbstbestrafung unmittelbar aus einer tiefen Niedergeschlagenheit hervorgegangen war, die sie als Unwürdige erscheinen ließ, weil sie es sich nicht vergönnt glaubte, hohen Empfindungen Treue zu halten, und sie verachtete sich seither wegen ihrer Herzensträgheit. Diese Begebenheit lag zwischen ihrem Leben als Mädchen im Hause ihres Vaters und der unverständlichen Heirat mit Hagauer und war so schmal begrenzt, daß es selbst der Teilnahme Ulrichs bisher entgangen war, nach ihr zu fragen. Was da geschah ist bald erzählt: Agathe hatte mit achtzehn Jahren einen Mann geheiratet, der nur um wenig älter war als sie selbst, und auf einer Reise, die mit ihrer Hochzeit begann und mit seinem Tode endete, wurde er ihr, ehe sie auch nur ihren zukünftigen Wohnsitz gewählt hatten, binnen einigen Wochen durch eine Krankheit wieder entrissen, die ihn unterwegs angesteckt hatte. Die Ärzte nannten das Typhus, und Agathe sprach es ihnen nach und fand darin einen Schein von Ordnung, denn das war nun die zum Weltgebrauch platt geschliffene Seite des Geschehnisses; aber auf der unabgeschliffenen war dieses anders: Agathe hatte bis dahin neben ihrem Vater gelebt, den alle Welt achtete, so daß sie zweifelnd annahm, sie tue Unrecht, wenn sie ihn nicht liebe, und das Ungewisse Harren im Institut auf sich selbst hatte durch das Mißtrauen, das es in ihr erweckte, ihre Beziehung zur Welt auch nicht gefestigt; später dagegen, als sie mit plötzlich erwachter Lebendigkeit und in gemeinsamer Anstrengung mit dem Jugendgespielen in wenigen Monaten alle Hindernisse überwand, die einer Heirat aus ihrer beider Jugend erwuchsen, obwohl die Familien der Liebesleute gegen einander nichts einzuwenden hatten, war sie mit einemmal nicht mehr vereinsamt gewesen und gerade dadurch sie selbst. Das ließ sich nun also wohl Liebe nennen; aber es gibt Verliebte, die in die Liebe wie in die Sonne blicken, sie werden bloß blind, und es gibt Verliebte, die das Leben zum ersten Mal staunend erblicken, wenn es von der Liebe beleuchtet wird: zu diesen gehörte Agathe und hatte noch gar nicht gewußt, ob sie ihren Gefährten oder etwas anderes liebe, als schon das kam, was in der Sprache unbeschienener Welt Infektionskrankheit hieß. Es war ein urplötzlich hereinbrechender Sturm von Grauen aus den fremden Gebieten des Lebens, ein Wehren, Flackern und Verlöschtwerden, die Heimsuchung zweier sich aneinander klammernden Menschen und der Untergang einer arglosen Welt in Erbrechen, Kot und Angst.
Agathe hatte dieses Geschehnis, das ihre Gefühle vernichtete, niemals anerkannt. Verwirrt von Verzweiflung, hatte sie vor dem Bett des Sterbenden auf den Knien gelegen und sich eingeredet, daß sie die Kraft wieder heraufzubeschwören vermöchte, mit der sie als Kind ihre eigene Krankheit überwunden habe; als der Verfall trotzdem fortschritt und schon das Bewußtsein geschwunden war, hatte sie, in den Zimmern eines fremden Hotels, unfähig zu verstehen, in das verlassene Gesicht gestarrt, hatte den Sterbenden ohne Achtung der Gefahr mit den Armen umfaßt gehalten und ohne Achtung der Wirklichkeit, für die eine empörte Pflegerin sorgte, nichts getan als ihm stundenlang ins ertaubende Ohr gemurmelt: »du darfst nicht, du darfst nicht, du darfst nicht!« Als alles vorbei war, war sie aber erstaunt aufgestanden, und ohne etwas Besonderes zu glauben und zu denken, bloß aus der Traumfähigkeit und Eigenwilligkeit einer einsamen Natur behandelte sie von dem Augenblick dieses leeren Staunens an das Geschehene innerlich so, wie wenn es nicht endgültig wäre. Einen Ansatz zu Ähnlichem zeigt ja wohl jeder Mensch schon, wenn er eine Unglücksbotschaft nicht glauben will oder Unwiderrufliches tröstlich färbt; das Besondere im Verhalten Agathens war aber die Stärke und Ausdehnung dieser Rückwirkung, ja eigentlich ihre plötzlich ausbrechende Mißachtung der Welt. Neues nahm sie seitdem geflissentlich nur noch so auf, als ob es weniger das Gegenwärtige als etwas höchst Ungewisses wäre, ein Verhalten, das ihr durch das Mißtrauen, das sie der Wirklichkeit seit je entgegengebracht hatte, sehr erleichtert wurde; das Gewesene dagegen war unter dem erlittenen Stoß erstarrt und wurde viel langsamer von der Zeit abgetragen, als es sonst mit Erinnerungen geschieht. Das hatte aber nichts von dem Schwalch der Träume, den Einseitigkeiten und schiefen Verhältnissen an sich, die den Arzt herbeirufen; Agathe lebte im Gegenteil äußerlich durchaus klar, anspruchslos tugendhaft und bloß ein wenig gelangweilt weiter, in einer leichten Gehobenheit des Lebensunwillens, die nun wirklich dem Fieber ähnlich war, woran sie als Kind so merkwürdig freiwillig gelitten hatte. Und daß in ihrem Gedächtnis, das ohnehin niemals seine Eindrücke leicht in Allgemeines auflöste, nun das Gewesene und Fürchterliche Stunde um Stunde gegenwärtig blieb wie ein Leichnam, der in ein weißes Tuch gehüllt ist, das beseligte sie trotz aller Qual, die mit solcher Genauigkeit der Erinnerung verbunden war, denn es wirkte ebenso wie eine geheimnisvoll verspätete Andeutung, daß noch nicht alles vorbei sei, und bewahrte ihr im Verfall des Gemüts eine ungewisse, aber edelmütige Spannung. In Wahrheit lief freilich alles das nur darauf hinaus, daß sie wieder den Sinn ihres Daseins verloren hatte und sich mit Willen in einen Zustand versetzte, der nicht zu ihren Jahren paßte; denn nur alte Menschen leben so, daß sie bei den Erfahrungen und Erfolgen einer vergangenen Zeit verharren und vom Gegenwärtigen nicht mehr berührt werden. Zu Agathens Glück faßt man aber in dem Alter, worin sie sich damals befand, seine Vorsätze wohl für die Ewigkeit, doch wiegt ein Jahr dafür beinahe schon wie eine halbe, und so konnte es ihr auch nicht daran fehlen, daß sich nach einiger Zeit die unterdrückte Natur und die gefesselte Phantasie gewaltsam befreiten. Wie das geschah, war in seinen Einzelheiten recht gleichgültig; einem Mann, dessen Bemühungen unter anderen Umständen wohl nie vermocht hätten, sie aus dem Gleichgewicht zu bringen, gelang es, er wurde ihr Geliebter, und dieser Versuch einer Wiederholung endete nach einer sehr kurzen Zeit fanatischer Hoffnung in leidenschaftlicher Ernüchterung. Agathe fühlte sich nun von ihrem wirklichen wie von ihrem unwirklichen Leben ausgespien und unwürdig hoher Vorsätze. Sie gehörte zu jenen heftigen Menschen, die sich lange reglos und abwartend verhalten können, bis sie an irgend einer Stelle mit einemmal in alle Verwirrungen geraten, und faßte darum in ihrer Enttäuschung bald einen neuen unüberlegten Entschluß, der, in Kürze gesagt, darin bestand, daß sie sich in entgegengesetzter Weise bestrafte, als sie gesündigt hatte, indem sie sich dazu verurteilte, das Leben mit einem Mann zu teilen, der ihr einen leichten Widerwillen einflößte. Und dieser Mann, den sie sich zur Strafe ausgesucht hatte, war Hagauer.
»Das war nun freilich weder gerecht, noch rücksichtsvoll gegen ihn gehandelt!« gestand sich Agathe ein, und es muß zugegeben werden, daß es sogar in diesem Augenblick zum ersten Mal geschah, denn Gerechtigkeit und Rücksicht sind bei jungen Leuten keine beliebten Tugenden. Immerhin war auch ihre »Selbstbestrafung« in diesem Zusammenleben keine unbeträchtliche gewesen, und Agathe prüfte nun diese Angelegenheit weiter. Sie war fernab gekommen, und auch Ulrich suchte irgend etwas in seinen Büchern und hatte scheinbar vergessen, das Gespräch fortzuführen. »In früheren Jahrhunderten« dachte sie »wäre ein Mensch in meiner Stimmung in ein Kloster eingetreten« – und daß sie statt dessen geheiratet hatte, war nicht frei von einer unschuldigen Komik, die ihr bisher entgangen war. Diese Komik, die ihr jugendlicher Sinn nicht früher bemerkt hatte, war allerdings keine andere als die der gegenwärtigen Zeit, die das Bedürfnis nach Weltflucht schlimmstenfalls in einem Touristengasthof, gewöhnlich aber in einem Alpenhotel befriedigt und sogar das Bestreben hat, die Strafanstalten nett zu möblieren. Es spricht daraus das tiefe europäische Bedürfnis, nichts zu übertreiben. Kein Europäer geißelt sich, beschmiert sich mit Asche, schneidet sich die Zunge ab, gibt sich wirklich hin oder zieht sich auch nur von allen Menschen zurück, vergeht vor Leidenschaft, rädert oder spießt heute noch; aber jeder hat zuweilen das Bedürfnis danach, so daß es schwer zu sagen ist, worin eigentlich das Vermeidenswerte liege, ob im Wünschen oder im Nichttun. Warum sollte also gerade ein Asket hungern; das bringt ihn nur auf störende Einbildungen?! Eine vernünftige Askese besteht in der Abneigung gegen das Essen bei ständig gut unterhaltener Ernährung! Eine solche Askese verspricht Dauer und erlaubt dem Geist jene Freiheit, die er nicht hat, wenn er in leidenschaftlicher Auflehnung vom Körper abhängig ist! Solche bitter-lustige Erklärungen, die sie von ihrem Bruder gelernt hatte, taten Agathe nun kräftig wohl, denn sie zerlegten das »Tragische«, woran starr zu glauben ihrer Unerfahrenheit lange wie eine Verpflichtung vorgekommen war, in Ironie und eine Leidenschaft, die weder einen Namen, noch ein Ziel hatte und schon darum keineswegs mit dem abgeschlossen war, was sie erlebt hatte.
Auf diese Weise machte sie überhaupt, seit sie mit ihrem Bruder beisammen war, die Wahrnehmung, daß in die große Spaltung zwischen verantwortungslosem Leben und gespenstiger Phantasie, die sie erlitten hatte, eine erlösende und das Gelöste von neuem bindende Bewegung kam. Sie besann sich zum Beispiel jetzt während des durch Bücher und Erinnerungen vertieften Schweigens, das zwischen ihr und ihrem Bruder herrschte, auf die Beschreibung, die ihr Ulrich davon gegeben hatte, wie er ziellos gehend durch die Stadt gedrungen und dabei von der Stadt durchdrungen worden sei: es erinnerte sehr genau an die wenigen Wochen ihres Glücks; und es war auch richtig, daß sie gelacht hatte, ja sie hatte ganz unbegründet und unsinnig gelacht, als er ihr das erzählte, weil sie bemerkte, daß etwas von diesem Verkehren der Welt, diesem seligen und komischen Umstülpen, von dem er sprach, selbst in den wulstigen Lippen Hagauers war, wenn sie sich zum Kuß wölbten. Freilich als Schauer; aber ein Schauer, dachte sie, ist auch im hellen Licht des Mittags, und irgendwie hatte sie daran gefühlt, daß noch nicht alle Möglichkeiten für sie vorbei wären. Irgendein Nichts, eine Unterbrechung, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart immer gelegen hatte, war in letzter Zeit fortgeflogen. Sie sah heimlich um sich. Das Zimmer, worin sie sich befand, hatte einen Teil der Räume gebildet, in denen ihr Schicksal entstanden war; daran dachte sie jetzt, solange sie hier war, zum ersten Mal. Denn hier war sie, wenn sie den Vater aus dem Haus wußte, mit ihrem Jugendgespielen zusammengekommen, als sie den großen Beschluß faßten einander zu lieben, hier hatte sie manchmal auch den »Unwürdigen« empfangen, war mit verstohlenen Tränen der Wut oder der Verzweiflung an den Fenstern gestanden, und hier hatte sich schließlich, väterlich gefördert, auch die Bewerbung Hagauers abgespielt. So lange bloß unbeachtete Rückseite der Geschehnisse, wurden die Möbel, Wände, das eigentümlich eingeschlossene Licht nun im Augenblick des Wiedererkennens wunderlich handfest, und das abenteuerlich darin Vergangene bildete eine so körperliche, gar nicht mehr zweideutige Vergangenheit, als wäre es Asche oder verkohltes Holz. Nur noch das komisch-schattenhafte Gefühl des Gewesenen, dieser wunderliche Kitzel, den man angesichts alter, zu Staub vertrockneter Spuren seiner selbst fühlt und im Augenblick, wo man ihn fühlt, weder verscheuchen, noch fassen kann, war zurückgeblieben und wurde fast unerträglich stark.
Agathe vergewisserte sich, daß Ulrich nicht auf sie achte, und öffnete vorsichtig ihr Kleid an der Brust, wo sie auf der Haut die Kapsel mit dem kleinen Bild verwahrte, das sie durch Jahre nicht von sich gelassen hatte. Sie ging ans Fenster und tat als sähe sie hinaus. Behutsam ließ sie den scharfen Rand der winzigen goldenen Auster aufspringen und betrachtete verstohlen ihren toten Geliebten. Er hatte volle Lippen und weiches, dichtes Haar, und der kecke Blick des Zwanzigjährigen sprang aus einem Gesicht, das noch halb in der Eischale stak. Sie wußte lange nicht, was sie dachte, aber mit einem Mal dachte sie: »Mein Gott, ein einundzwanzigjähriger Mensch!«
Was sprechen so junge Leute miteinander? Welche Bedeutung geben sie ihren Angelegenheiten? Wie komisch und anmaßend sind sie oft! Wie täuscht sie die Lebhaftigkeit ihrer Einfälle über deren Wert! Agathe wickelte neugierig alte Aussprüche aus Seidenpapier der Erinnerung, die sie als wunder wie klug darin aufbewahrt hatte: Mein Gott, das war ja beinahe bedeutend, dachte sie; aber eigentlich ließ sich selbst das nicht mit Sicherheit behaupten, wenn man sich nicht den Garten vorstellte, worin es gesprochen worden war, mit den sonderbaren Blumen, deren Bezeichnung sie nicht wußten, den Schmetterlingen, die sich wie müde Trunkenbolde auf jene setzten, und dem Licht, das über ihre Gesichter floß, als ob Himmel und Erde darin aufgelöst wären. Wenn sie sich daran maß, so war sie heute eine alte und erfahrene Frau, obwohl die Zahl der vergangenen Jahre nicht gar groß war, und sie bemerkte ein wenig verwirrt das Mißverhältnis, daß sie, die Siebenundzwanzigjährige, bis jetzt noch den Zwanzigjährigen geliebt hatte: er war viel zu jung für sie geworden! Sie fragte sich: »Welche Gefühle müßte ich eigentlich haben, wenn mir, in meinem Alter, dieser knabenhafte Mann wirklich das Wichtigste sein sollte?!« Es wären wohl recht sonderbare Gefühle gewesen; sie bedeuteten ihr nichts, sie vermochte sich nicht einmal eine deutliche Vorstellung von ihnen zu bilden. Eigentlich löste sich alles in nichts auf.
Agathe anerkannte in einer großen, schwellenden Empfindung, daß sie in der einzigen stolzen Leidenschaft ihres Lebens einem Irrtum erlegen war, und der Kern dieses Irrtums bestand aus einem feurigen Nebel, der sich nicht berühren und fassen ließ, mochte man nun sagen, daß Glauben nicht eine Stunde alt werden dürfe, oder es anders nennen; und immer war es das, wovon ihr Bruder sprach, seit sie beisammen waren, und immer war es sie selbst, von der er sprach, auch wenn er allerhand begriffliche Umstände machte und seine Vorsicht für ihre Ungeduld oft viel zu langsam war. Sie kamen immer wieder auf das gleiche Gespräch zurück, und Agathe brannte selbst vor Verlangen, daß sich seine Flamme nicht verkleinere.
Als sie nun Ulrich ansprach, hatte er die lange Dauer der Unterbrechung gar nicht bemerkt. Aber wer das, was zwischen diesen Geschwistern vorging, nicht schon an Spuren erkannt hat, lege den Bericht fort, denn es wird darin ein Abenteuer beschrieben, das er niemals wird billigen können: eine Reise an den Rand des Möglichen, die an den Gefahren des Unmöglichen und Unnatürlichen, ja des Abstoßenden vorbei, und vielleicht nicht immer vorbei führte; ein »Grenzfall«, wie das Ulrich später nannte, von eingeschränkter und besonderer Gültigkeit, an die Freiheit erinnernd, mit der sich die Mathematik zuweilen des Absurden bedient, um zur Wahrheit zu gelangen. Er und Agathe gerieten auf einen Weg, der mit dem Geschäfte der Gottergriffenen manches zu tun hatte, aber sie gingen ihn, ohne fromm zu sein, ohne an Gott oder Seele, ja ohne auch nur an ein Jenseits und Nocheinmal zu glauben; sie waren als Menschen dieser Welt auf ihn geraten und gingen ihn als solche: und gerade das war das Beachtenswerte. Ulrich, der in dem Augenblick, wo ihn Agathe wieder anredete, noch von seinen Büchern und den Fragen, die sie ihm aufgaben, in Anspruch genommen war, hatte trotzdem das Gespräch, das beim Widerstand seiner Schwester gegen die Frömmigkeit ihrer Lehrerinnen und seiner eigenen Forderung »exakter Gesichte« abgebrochen war, nicht für die kürzeste Zeit aus dem Gedächtnis verloren und erwiderte sogleich: »Man braucht durchaus kein Heiliger zu sein, um etwas davon zu erleben! Man kann auch auf einem umgestürzten Baum oder einer Bank im Gebirge sitzen und einer weidenden Rinderherde zusehn und schon dabei nichts Geringeres mitmachen, als wäre man mit einemmal in ein anderes Leben versetzt! Man verliert sich und kommt mit einemmal zu sich: du hast ja selbst schon davon gesprochen!«
»Aber was geht da vor sich?« fragte Agathe.
»Dazu mußt du dir vorerst klar machen, was das Gewöhnliche ist, Schwester Mensch!« erklärte Ulrich mit einem Versuch, den allzu rasch mitreißenden Gedanken durch einen Scherz zu bremsen. »Das Gewöhnliche ist, daß uns eine Herde nichts bedeutet als weidendes Rindfleisch. Oder sie ist ein malerischer Gegenstand mit Hintergrund. Oder man nimmt überhaupt kaum Kenntnis von ihr. Rinderherden an Gebirgswegen gehören zu den Gebirgswegen, und was man in ihrem Anblick erlebt, würde man erst merken, wenn an ihrer Stelle eine elektrische Normaluhr oder ein Zinshaus dastünde. Ansonsten überlegt man, ob man aufstehn oder sitzenbleiben soll; man findet die Fliegen lästig, von denen die Herde umschwärmt wird; man sieht nach, ob ein Stier unter ihr ist; man überlegt, wo der Weg weiterführt: das sind unzählige kleine Absichten, Sorgen, Berechnungen und Erkenntnisse, und sie bilden gleichsam das Papier, auf dem das Bild der Herde steht. Man weiß nichts von dem Papier, man weiß nur von der Herde darauf –«
»Und plötzlich zerreißt das Papier!« fiel Agathe ein.
»Ja. Das heißt: irgendeine gewohnheitsmäßige Verwebung in uns zerreißt. Nichts Eßbares grast dann mehr; nichts Malbares; nichts versperrt dir den Weg. Du kannst nicht einmal mehr die Worte grasen oder weiden bilden, weil dazu eine Menge zweckvoller, nützlicher Vorstellungen gehört, die du auf einmal verloren hast. Was auf der Bildfläche bleibt, könnte man am ehesten ein Gewoge von Empfindungen nennen, das sich hebt und senkt oder atmet und gleißt, als ob es ohne Umrisse das ganze Gesichtsfeld ausfüllte. Natürlich sind darin auch noch unzählige einzelne Wahrnehmungen enthalten, Farben, Hörner, Bewegungen, Gerüche und alles, was zur Wirklichkeit gehört: aber das wird bereits nicht mehr anerkannt, wenn es auch noch erkannt werden sollte. Ich möchte sagen: die Einzelheiten besitzen nicht mehr ihren Egoismus, durch den sie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen, sondern sie sind geschwisterlich und im wörtlichen Sinn ›innig‹ untereinander verbunden. Und natürlich ist auch keine ›Bildfläche‹ mehr da, sondern irgendwie geht alles grenzenlos in dich über.«
Nun übernahm wieder Agathe lebhaft die Beschreibung: »Jetzt brauchst du bloß statt Egoismus der Einzelheiten Egoismus der Menschen zu sagen,« rief sie aus »so ist es das, was man so schwer ausdrücken kann: ›Liebe deinen Nächsten!‹ heißt nicht, liebe ihn so, wie ihr seid, sondern es bezeichnet eine Art Traumzustand!«
»Alle Sätze der Moral« bestätigte Ulrich »bezeichnen eine Art Traumzustand, der aus den Regeln, in die man ihn faßt, bereits entflohen ist!«
»Eigentlich gibt es dann gar kein Gut und Bös, sondern nur Glaube – oder Zweifel!« rief Agathe aus, der jetzt der sich selbst tragende ursprüngliche Zustand des Glaubens so nahe zu sein schien und ebenso sein Verlust in der Moral, von dem ihr Bruder gesprochen hatte, als er sagte, Glaube könne nicht eine Stunde alt werden.
»Ja, es steht in dem Augenblick, wo man dem unwesentlichen Leben entschlüpft, alles in einer neuen Beziehung zu einander« stimmte Ulrich bei. »Fast möchte ich sagen, in gar keiner Beziehung. Denn sie ist eine gänzlich unbekannte, über die wir keinerlei Erfahrung haben, und alle anderen Beziehungen sind verlöscht; aber diese eine ist trotz ihrer Dunkelheit so deutlich, daß man sie nicht leugnen kann. Sie ist stark, aber sie ist unfaßbar stark. Man möchte auch sagen: Gewöhnlich blickt man etwas an, und der Blick ist wie ein Stäbchen oder ein gespannter Faden, woran sich Auge und Anblick gegenseitig stützen, und irgendein großes Gewirk von solcher Art stützt jede Sekunde; wogegen jetzt in dieser einen eher etwas Schmerzlich-Süßes die Augenstrahlen auseinanderzieht.«
»Man besitzt nichts auf der Welt, man hält nichts mehr fest, man wird von nichts festgehalten« sagte Agathe. »Es ist alles wie ein hoher Baum, an dem sich kein Blatt regt. Und man kann nichts Niedriges tun in diesem Zustand.«
»Man sagt, es könne in diesem Zustand nichts geschehn, was nicht mit ihm übereinstimmte« ergänzte Ulrich. »Ein Verlangen ›ihm anzugehören‹ ist der einzige Grund, die liebevolle Bestimmung und die einzige Form alles Tun und Denkens, die in ihm statthaben. Er ist etwas unendliches Ruhendes und Umfassendes, und alles, was in ihm geschieht, mehrt seine ruhig steigende Bedeutung; oder es mehrt sie nicht, dann ist es das Schlechte, aber das Schlechte kann nicht geschehn, weil im gleichen Augenblick die Stille und Klarheit zerreißt und der wunderbare Zustand aufhört.« Ulrich sah seine Schwester prüfend an, ohne daß sie es merken sollte; er hatte doch immer das Gefühl, man müßte jetzt bald aufhören. Aber Agathes Gesicht war verschlossen; sie dachte an lang Vergangenes. Sie antwortete: »Ich wundere mich über mich selbst, aber es hat wirklich eine kurze Zeit gegeben, wo ich Neid, Bosheit, Eitelkeit, Habsucht und ähnliches nicht kannte; es ist kaum noch zu glauben, aber mir kommt vor, sie wären damals mit einem Schlag nicht nur aus dem Herzen, sondern auch aus der Welt verschwunden gewesen! Man kann sich dann nicht bloß selbst nicht niedrig verhalten, sondern auch die anderen können es nicht. Ein guter Mensch macht alles gut, was mit ihm in Berührung kommt, die anderen mögen gegen ihn unternehmen, was sie wollen: in dem Augenblick, wo es in seinen Bereich eintritt, wird es von ihm verändert!«
»Nein,« fiel Ulrich ein »ganz so ist es nicht; im Gegenteil wäre es so eins der ältesten Mißverständnisse! Denn ein guter Mensch macht die Welt nicht im geringsten gut, er bewirkt überhaupt nichts an ihr, er sondert sich nur von ihr ab!«
»Er bleibt doch mitten in ihr!?«
»Er bleibt mitten in ihr, doch ist ihm so, als ob der Raum aus den Dingen gezogen würde oder irgend etwas Imaginäres geschähe: es ist das schwer zu sagen!«
»Ich habe trotzdem die Vorstellung, daß einem ›hochgemuten‹ Menschen – das Wort fällt mir nur so ein! – niemals etwas Niedriges in den Weg tritt; das mag ein Unsinn sein, aber es ist eine Erfahrung.«
»Es mag eine Erfahrung sein,« entgegnete Ulrich »aber es gibt auch die entgegengesetzte Erfahrung! Oder glaubst du, daß die Soldaten, die Jesus gekreuzigt haben, nicht niedrig fühlten? Und dabei waren sie Werkzeuge Gottes! Überdies gibt es selbst nach den Zeugnissen der Ekstatiker schlechte Gefühle: sie klagen, daß sie aus dem Stand der Gnade fallen und dann eine unsägliche Unlust empfinden, sie kennen Angst, Pein und Scham und vielleicht sogar Haß. Nur wenn das stille Brennen wieder beginnt, werden Reue, Zorn, Angst und Pein selig. Über all das ist so schwer zu urteilen!«
»Wann warst du so verliebt?« fragte Agathe unvermittelt.
»Ich? Oh! Ich habe dir das doch schon erzählt: ich war tausend Kilometer von der Geliebten fort geflohen, und als ich mich sicher vor jeder Möglichkeit ihrer wirklichen Umarmung fühlte, heulte ich sie an wie der Hund den Mond!«
Nun gestand ihm Agathe die Geschichte ihrer Liebe ein. Sie war erregt. Schon ihre letzte Frage hatte sie losgeschnellt wie eine übermäßig gespannte Saite, und das übrige folgte in der gleichen Weise. Ihr Inneres zitterte, als sie das jahrelang Verhohlene freigab.
Ihr Bruder war aber nicht sonderlich erschüttert davon. »Gewöhnlich altern die Erinnerungen zugleich mit den Menschen,« erklärte er ihr »und die leidenschaftlichsten Vorgänge werden mit der Zeit perspektivisch-komisch, als ob man sie am Ende von neunundneunzig hintereinander geöffneten Türen sähe. Aber manchmal, wenn sie mit sehr starken Gefühlen verknüpft waren, altern einzelne Erinnerungen nicht und halten ganze Schichten des Wesens bei sich fest. Das war dein Fall. Beinahe in jedem Menschen gibt es solche Punkte, die das psychische Ebenmaß ein wenig entstellen; sein Verhalten strömt so über sie hin wie ein Fluß über einen unsichtbaren Felsblock, und bei dir ist das bloß sehr stark gewesen, so daß es fast einem Stillstand gleichkam. Aber schließlich hast du dich dann doch befreit, du bist wieder in Bewegung!«
Er erklärte das mit der Ruhe eines fast beruflichen Denkens; er war leicht abzubringen! Agathe war unglücklich. Sie sagte eigensinnig: »Natürlich bin ich in Bewegung, aber davon spreche ich doch nicht! Ich will wissen, wohin ich damals beinahe gelangt wäre!« Sie war auch ärgerlich, ohne es zu wollen, bloß weil sich ihre Erregung irgendwie ausdrücken mußte; aber sie sprach trotzdem in der ursprünglichen Richtung ihrer Bewegung weiter, und es war ihr ganz schwindlig zu Mute zwischen der Zärtlichkeit ihrer Worte und dem Ärger im Hintergrund. So erzählte sie von dem eigentümlichen Zustand einer gesteigerten Empfänglichkeit und Empfindlichkeit, der ein Überquellen und Zurückquellen der Eindrücke bewirkt, woraus das Gefühl entsteht, wie in dem weichen Spiegel einer Wasserfläche mit allen Dingen verbunden zu sein und ohne Willen zu geben und zu empfangen; dieses wunderbare Gefühl der Entgrenzung und Grenzenlosigkeit des Äußeren wie des Inneren, das der Liebe und der Mystik gemeinsam ist! Agathe tat es natürlich nicht in solchen Worten, die schon eine Erklärung einschließen, sondern sie reihte bloß leidenschaftliche Bruchstücke ihrer Erinnerung aneinander; aber auch Ulrich, obwohl er schon oft darüber nachgedacht hatte, war keiner Erklärung dieser Erlebnisse mächtig, ja er wußte vor allem nicht, ob er eine solche in deren eigener Weise oder nach dem gewöhnlichen Verfahren der Vernunft versuchen solle, was ihm beides gleich nahe lag, nicht aber der fühlbaren Leidenschaft seiner Schwester. Was er in der Erwiderung ausdrückte, war darum bloß eine Vermittlung, eine Art Prüfung der Möglichkeiten. Er wies auf die merkwürdige Verwandtschaft hin, die in dem gehobenen Zustand, von dem sie sprächen, zwischen Denken und Moral bestehe, so daß jeder Gedanke als Glück, Ereignis und Geschenk empfunden werde und weder in die Vorratskammern wandere, noch sich überhaupt mit den Gefühlen des Aneignens und Bewältigens, des Festhaltens und Beobachtens verbinde, wodurch im Kopf nicht minder als im Herz der Genuß am Besitz seiner selbst durch ein grenzenloses sich Verschenken und Verschränken ersetzt werde. »Einmal im Leben« antwortete Agathe darauf schwärmerisch entschieden »geschieht alles, was man tut, für einen anderen. Man sieht für ihn die Sonne scheinen. Er ist überall, und selbst ist man nirgends. Und doch ist das kein ›Egoismus zu zweien‹, denn dem anderen muß es genau so gehn. Zuletzt sind beide kaum noch für einander da, und was übrig bleibt, ist eine Welt für lauter zwei Menschen, die aus Anerkennung, Hingabe, Freundschaft und Selbstlosigkeit besteht!«
Im Dunkel des Zimmers glühte ihre Wange vor Eifer wie eine Rose, die im Schatten steht. Und Ulrich bat: »Laß uns jetzt wieder nüchterner reden; in diesen Fragen wird viel zu viel Schwindel getrieben!« Da kam ihr auch das nicht unrichtig vor. Vielleicht machte es der Ärger, der noch immer nicht ganz verflogen war, daß ihre Entzückung von der hinzugerufenen Wirklichkeit etwas zurückgedrängt wurde; aber es war keine unangenehme Empfindung, dieses unsichere Zittern der Grenze.
Ulrich begann von dem Unfug zu sprechen, die Erlebnisse, denen ihr Gespräch galt, so auszulegen, als fände in ihnen nicht bloß eine eigentümliche Veränderung des Denkens statt, sondern es träte ein übermenschliches Denken an die Stelle des gewöhnlichen. Ob man es göttliche Erleuchtung nennte oder nach der Mode der Neuzeit bloß Intuition, er hielt es für das Haupthindernis wirklichen Verstehens. Nach seiner Überzeugung war nichts dadurch zu gewinnen, daß man Einbildungen nachgab, die einer überlegten Nachprüfung nicht standhielten. Das sei nur wie die Wachsflügel des Ikaros, die in der Höhe zerschmelzen, rief er aus; wolle man nicht bloß im Traum fliegen, dann müsse man es auf Metallflügeln erlernen.
Und auf die Bücher weisend, fuhr er nach einer kleinen Weile fort: »Das sind christliche, jüdische, indische und chinesische Zeugnisse; zwischen einzelnen von ihnen liegt mehr als ein Jahrtausend. Trotzdem erkennt man in allen den gleichen vom gewöhnlichen abweichenden, aber in sich einheitlichen Aufbau der inneren Bewegung. Sie unterscheiden sich von einander fast genau nur um das, was von der Verbindung mit einem Lehrgebäude der Theologie und Himmelsweisheit herrührt, unter dessen schützendes Dach sie sich begeben haben. Wir dürfen also einen bestimmten zweiten und ungewöhnlichen Zustand von großer Wichtigkeit voraussetzen, dessen der Mensch fähig ist und der ursprünglicher ist als die Religionen.
Anderseits haben die Kirchen,« schränkte er es ein »das heißt die zivilisierten Gemeinschaften religiöser Menschen, diesen Zustand stets mit einem ähnlichen Mißtrauen behandelt, wie es ein Bürokrat der privaten Unternehmungslust entgegenbringt. Sie haben dieses schwärmende Erleben niemals ohne Vorbehalt anerkannt, im Gegenteil, sie haben große und anscheinend berechtigte Anstrengungen darauf gerichtet, an seine Stelle eine geregelte und verständliche Moral zu setzen. So gleicht die Geschichte dieses Zustands einer fortschreitenden Verleugnung und Verdünnung, die an die Trockenlegung eines Sumpfes erinnert.
Und als das kirchliche Geistesregiment« schloß er »und sein Wortschatz veralteten, ist man begreiflicherweise dazu gekommen, unseren Zustand überhaupt nur noch für ein Hirngespinst zu halten. Warum hätte die bürgerliche Kultur, als sie an die Stelle der religiösen trat, religiöser sein sollen als diese?! Sie hat jenen anderen Zustand auf den Hund gebracht, der Erkenntnisse apportiert. Es gibt heute eine Menge Menschen, die sich über die Vernunft beklagen und uns einreden möchten, daß sie in ihren weisesten Augenblicken mit Hilfe einer besonderen, über dem Denken stehenden Fähigkeit dächten: das ist ein letzter, selbst schon ganz und gar rationalistischer, öffentlicher Rest; der letzte Rest der Trockenlegung ist Quatsch geworden! Also gestattet man den alten Zustand außer in Gedichten nur ungebildeten Personen in den ersten Wochen der Liebe als eine vorübergehende Verwirrung; das sind sozusagen verspätete grüne Blätter, die zuweilen am Holz der Betten und Katheder ausschlagen: wo er aber in sein ursprüngliches großes Wachstum zurückfallen möchte, wird er unnachsichtlich abgegraben und ausgerodet!«
Ulrich hatte ungefähr so lange gesprochen, wie sich ein Chirurg die Hände und Arme wäscht, um keine Keime ins Operationsfeld zu tragen; auch mit der Geduld, der Hingabe und dem Gleichmut, die in Widerspruch stehn zu der Aufregung, welche die bevorstehende Arbeit bringen wird. Nachdem er sich aber ganz sterilisiert hatte, dachte er beinahe sehnsüchtig an ein wenig Infektion und Fieber, denn er liebte die Nüchternheit ja nicht um ihrer selbst willen. Agathe saß auf einer Leiter, die dem Herabholen der Bücher diente, und gab, auch als ihr Bruder schwieg, kein Zeichen der Teilnahme; sie sah in das unendliche, meeresartige Grau des Himmels hinaus und hörte dem Schweigen ebenso zu wie zuvor den Worten. So sprach Ulrich mit einem wenigen an Trotz weiter, den er kaum unter einem scherzhaften Ton verbarg.
»Kehren wir zu unserer Bank im Gebirge mit der Rinderherde zurück« bat er. »Stell dir vor, irgendein Kanzleirat in fabrikneuen Lederhosen sitzt dort, mit grünen Hosenträgern, auf die ›Grüß Gott‹ gestickt ist: er vertritt den reellen Gehalt des Lebens, der sich auf Urlaub befindet. Dadurch ist das Bewußtsein, das er von seinem Dasein hat, natürlich für den Augenblick verändert. Wenn er die Rinderherde ansieht, so zählt er nicht, beziffert nicht, schätzt nicht das Lebendgewicht der vor ihm weidenden Tiere, verzeiht seinen Feinden und denkt milde von seiner Familie. Die Herde ist aus einem praktischen sozusagen ein moralischer Gegenstand für ihn geworden. Es kann natürlich auch sein, daß er doch ein wenig schätzt und ziffert und nicht ganz verzeiht, aber dann wird es wenigstens umspielt sein von Waldesrauschen, Bachesmurmeln und Sonnenschein. In einem Satz kann man das so sagen: Was sonst den Inhalt seines Lebens bildet, erscheint ihm ›fern‹ und ›eigentlich unwichtig‹.«
»Es ist eine Ferialstimmung« ergänzte Agathe mechanisch.
»Sehr richtig! Und wenn ihm das nichtferiale Dasein darin ›eigentlich unwichtig‹ vorkommt, so heißt das nur: auf Urlaubsdauer. Das ist also heute die Wahrheit: der Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins- und Denkzustände und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck, den ihm das einflößen müßte, auf die Weise, daß er die einen für den Urlaub von den anderen hält, für ihre Unterbrechung, Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik dagegen wäre verbunden mit der Absicht auf Dauerferien. Der Kanzleirat sollte das ehrlos nennen und augenblicklich, so wie er es gegen Ende des Urlaubs übrigens immer tut, empfinden, daß das wirkliche Leben in seiner ordentlichen Kanzlei ruhe. Und empfinden wir anders? Ob etwas in Ordnung zu bringen ist oder nicht, wird immer zuletzt darüber entscheiden, ob man es völlig ernst nimmt oder nicht; und da haben diese Erlebnisse eben wenig Glück, denn sie sind in Tausenden von Jahren über ihre uranfängliche Unordnung und Unfertigkeit nicht hinausgekommen. Und für so etwas steht der Begriff des Wahns bereit, – religiöser Wahn oder Liebeswahn, wie du willst; du kannst überzeugt sein: heute sind selbst die meisten religiösen Menschen so von der wissenschaftlichen Denkweise angesteckt, daß sie sich nicht nachzusehen trauen, was zu innerst in ihrem Herzen brennt, und jederzeit bereit wären, diese Inbrunst medizinisch einen Wahn zu nennen, auch wenn sie offiziell anders reden!«
Agathe sah ihren Bruder mit einem Blick an, darin es knisterte wie Feuer im Regen. »Nun hast du uns doch hinausmanövriert!« warf sie ihm vor, als er nicht mehr weitersprach.
»Da hast du recht« gab er zu. »Doch ist das Sonderbare: Wir haben alles das wie einen verdächtigen Brunnen verschalt, aber irgendein übrig gebliebener Tropfen dieses unheimlichen Wunderwassers brennt trotzdem ein Loch in alle unsere Ideale. Keines stimmt ganz, keines macht uns glücklich; sie weisen alle auf etwas hin, das nicht da ist: darüber haben wir heute ja genug gesprochen. Unsere Kultur ist ein Tempel dessen, was unverwahrt Wahn genannt würde, aber gleich auch seine Verwahrungsanstalt, und wir wissen nicht: leiden wir an einem Zuviel oder einem Zuwenig.«
»Vielleicht hast du dich niemals getraut, dich ganz darauf einzulassen« sagte Agathe bedauernd und stieg von ihrer Leiter herab; denn sie waren eigentlich mit dem Ordnen des schriftlichen Nachlasses ihres Vaters beschäftigt und hatten sich bloß von dieser mit der Zeit dringlich gewordenen Arbeit zuerst durch die Bücher und dann durch ihre Unterhaltung ablenken lassen. Nun fingen sie wieder an, die Verfügungen und Aufzeichnungen durchzumustern, die sich auf die Teilung ihres Vermögens bezogen, denn der Tag, auf den Hagauer vertröstet worden war, stand nahe bevor; ehe sie aber noch ernstlich damit begonnen hatten, richtete sich Agathe von den Papieren auf und fragte von neuem: »Bis zu welchem Grad glaubst du selbst an alles, was du mir erzählt hast?«
Ulrich antwortete, ohne aufzusehen. »Stell dir vor, unter der Herde befände sich, während sich dein Herz von der Welt abgewandt hat, ein böser Stier! Versuch, wirklich zu glauben, die tödliche Krankheit, von der du erzählt hast, wäre anders verlaufen, wenn dein Gefühl keine Sekunde nachgelassen hätte!« Dann hob er den Kopf und deutete auf die Papiere unter seinen Händen. »Und Gesetz, Recht, Maß? Meinst du, das sei ganz überflüssig?«
»Also bis zu welchem Grad glaubst du?« wiederholte Agathe.
»Ja und nein« sagte Ulrich. »Also nein« vollendete Agathe.
Da war es ein Zufall, der ins Gespräch eingriff; als Ulrich, der weder Lust hatte, die Unterredung neu aufzunehmen, noch ruhig genug war, geschäftlich zu denken, in diesem Augenblick die vor ihm ausgebreiteten Schriften zusammenraffte, fiel etwas zur Erde. Es war ein loser Packen von allerhand Dingen, der versehentlich mit dem Vermächtnis aus einer Ecke der Schreibtischlade hervorgekommen war, wo er wohl jahrzehntelang gelegen haben mochte, ohne daß es sein Besitzer wußte. Ulrich betrachtete zerstreut, was er von der Erde aufhob, und erkannte auf einzelnen Blättern die Handschrift seines Vaters; aber es war nicht die Altersschrift, sondern die der Mannesjahre, er sah genauer hin, nahm außer beschriebenen Papieren noch Spielkarten, Photographien und allerhand kleinen Kram wahr und begriff nun rasch, was er gefunden habe. Es war die »Giftlade« des Schreibtisches. Da fanden sich sorgsam aufgeschriebene, meist zotige Witze; Aktaufnahmen; unter Verschluß zu versendende Postkarten mit prallen Sennerinnen, denen man hinten die Hosen öffnen konnte; Kartenspiele, die ganz ordentlich aussahen, aber, gegen das Licht gehalten, fürchterliche Dinge zeigten; Männchen, die allerhand von sich gaben, wenn man sie auf den Bauch drückte; und dergleichen mehr. Sicher hatte der alte Herr gar nichts mehr von den Dingen gewußt, die da in der Lade lagen, denn sonst hätte er sie rechtzeitig vernichtet. Sie stammten offenbar noch aus den Mannesjahren, wo sich nicht wenige alternde Junggesellen und Witwer an solchen Schamlosigkeiten wärmen, aber Ulrich errötete vor der unverwahrt zurückgelassenen Phantasie seines Vaters, die der Tod vom Fleische gelöst hatte. Der Zusammenhang mit dem abgebrochenen Gespräch war ihm augenblicklich klar. Trotzdem war es sein erster Antrieb, diese Urkunden zu vernichten, ehe Agathe sie gesehen habe. Aber Agathe hatte schon gesehn, daß ihm etwas Ungewöhnliches in die Hand geraten sei, so daß er sich plötzlich anders besann und sie heranrief.
Er wollte abwarten, was sie sage. Mit einemmal war er wieder von dem Gedanken beherrscht, daß sie doch eine Frau sei, die Erfahrungen haben müsse, was während der tieferen Gespräche ganz aus dem Bewußtsein gewesen war. Aber ihrem Gesicht war nicht zu entnehmen, was sie denke; sie sah ernst und ruhig den illegalen Nachlaß ihres Vaters an, und zuweilen lächelte sie offen, aber doch auch wieder nicht lebhaft. So fing Ulrich trotz seines Vorsatzes selbst an. »Das ist der letzte Rest der Mystik!« sagte er ärgerlich-lustig. »In der gleichen Lade liegen da die strengen sittlichen Ermahnungen des Testaments und diese Jauche!« Er war aufgestanden und ging im Zimmer auf und ab. Und er hatte kaum zu sprechen begonnen, so riß ihn das Schweigen seiner Schwester zu neuen Worten hin.
»Du hast mich gefragt, was ich glaube« begann er. »Ich glaube, daß alle Vorschriften unserer Moral Zugeständnisse an eine Gesellschaft von Wilden sind.
Ich glaube, daß keine richtig sind.
Ein anderer Sinn schimmert dahinter. Ein Feuer, das sie umschmelzen sollte.
Ich glaube, daß nichts zu Ende ist.
Ich glaube, daß nichts im Gleichgewicht steht, sondern daß alles sich aneinander erst heben möchte.
Das glaube ich; das ist mit mir geboren worden oder ich mit ihm.«
Nach jedem Satz war er stehen geblieben, denn er sprach nicht laut und mußte doch durch irgend etwas seinem Bekenntnis Nachdruck geben. Sein Auge blieb jetzt an den klassischen Gipsgebilden hängen, die oben auf den Bücherborden standen; er sah eine Minerva, einen Sokrates; er erinnerte sich daran, daß Goethe einen überlebensgroßen Gipskopf der Juno in sein Zimmer gestellt hat. Beängstigend fern kam ihm diese Vorliebe vor: was einst blühende Idee gewesen, war seitdem zu einem toten Klassizismus eingegangen. War zur nachzüglerhaften Recht- und Pflichthaberei der Zeitgenossen seines Vaters geworden. War vergeblich gewesen. »Die Moral, die uns überliefert wurde, ist so, als ob man uns auf ein schwankendes Seil hinausschickte, das über einen Abgrund gespannt ist,« sagte er »und uns keinen anderen Rat mitgäbe als den: Halte dich recht steif!
Ich bin, wie es scheint, ohne mein Zutun mit einer anderen Moral geboren worden.
Du hast mich gefragt, was ich glaube! Ich glaube, man kann mir tausendmal aus den geltenden Gründen beweisen, etwas sei gut oder schön, es wird mir gleichgültig bleiben, und ich werde mich einzig und allein nach dem Zeichen richten, ob mich seine Nähe steigen oder sinken macht.
Ob ich davon zum Leben geweckt werde oder nicht.
Ob bloß meine Zunge davon redet und mein Gehirn oder der strahlende Schauder in meiner Fingerspitze.
Aber ich kann auch nichts beweisen.
Und ich bin sogar davon überzeugt, daß ein Mensch, der dem nachgibt, verloren ist. Er gerät in Dämmerung. In Nebel und Quatsch. In gliederlose Langeweile.
Wenn du das Eindeutige aus unserem Leben fortnimmst, so bleibt ein Karpfenteich ohne Hecht.
Ich glaube, daß das Hundsgemeine dann sogar unser guter Geist ist, der uns schützt!
Ich glaube also nicht!
Ich glaube aber vor allem nicht an die Bindung von Bös durch Gut, die unser Kulturgemisch darstellt: das ist mir widerwärtig!
Ich glaube also und glaube nicht!
Aber ich glaube vielleicht, daß die Menschen in einiger Zeit einesteils sehr intelligent, andernteils Mystiker sein werden. Vielleicht geschieht es, daß sich unsere Moral schon heute in diese zwei Bestandteile zerlegt. Ich könnte auch sagen: in Mathematik und Mystik. In praktische Melioration und unbekanntes Abenteuer!«
Er war seit Jahren nicht so offen aufgeregt gewesen. Die »Vielleicht« in seiner Rede empfand er nicht, die erschienen ihm nur natürlich.
Agathe hatte sich indessen vor den Ofen gekniet; sie hatte den Packen von Bildern und Schriften neben sich auf der Erde, sah jedes einzelne Stück noch einmal an und schob es dann ins Feuer. Sie war nicht ganz unempfindlich gegen die gemeine Sinnlichkeit dieser Unanständigkeiten, die sie betrachtete. Sie fühlte ihren Körper von ihnen erregt. Es kam ihr vor, daß sie das so wenig selbst sei, wie wenn man in einer starren Einöde irgendwo ein Kaninchen huschen fühlt. Sie wußte nicht, ob sie sich vor ihrem Bruder schämen müßte, wenn sie ihm das sagte; aber sie war zuinnerst müde und wollte nichts mehr reden. Sie hörte auch nicht auf das, was er sagte; ihr Herz war von diesem Auf und Ab schon zu sehr geschüttelt worden und konnte nicht mehr folgen. Immer hatten ja andere besser gewußt als sie, was recht wäre; daran dachte sie, aber es geschah, vielleicht weil sie sich schämte, mit einem geheimen Trotz. Einen unerlaubten oder geheimen Weg zu gehn: darin fühlte sie sich Ulrich überlegen. Sie hörte, wie er immer wieder vorsichtig alles zurücknahm, wozu er sich hinreißen ließ, und seine Worte schlugen wie große Tropfen von Glück und Traurigkeit an ihr Ohr.

Achtundvierzig Stunden später stand Ulrich in seiner verlassenen Wohnung. Es war früh am Vormittag. Die Wohnung war sorgfältig aufgeräumt, abgestaubt und blank; und genau so, wie er seine Bücher und Schriften bei seiner hastigen Abreise auf den Tischen liegen gelassen hatte, lagen sie, von dienender Hand erhalten, noch dort, aufgeschlagen oder von unverständlich gewordenen Lesezeichen durchpfeilt, dieses und jenes Papier sogar noch mit einem Bleistift zwischen den Seiten, den er aus der Hand gelegt hatte. Aber alles war ausgekühlt und erstarrt wie der Inhalt eines Schmelztiegels, unter dem man das Feuer zu nähren vergessen hat. Schmerzhaft ernüchtert und verständnislos blickte Ulrich auf den Abdruck einer vergangenen Stunde, Matrize heftiger Erregungen und Gedanken, von denen sie ausgefüllt worden. Er fühlte einen unsäglichen Widerwillen, mit diesen Resten seiner selbst in Berührung zu kommen. »Das erstreckt sich jetzt« dachte er »durch die Türen über das ganze Haus bis zu dem Blödsinn der Hirschgeweihe unten in der Halle. Welch ein Leben habe ich im letzten Jahr geführt!« Er schloß, so wie er stand, die Augen, um nichts sehen zu müssen. »Wie gut, daß sie mir bald nachkommen wird, wir werden hier alles anders machen!« dachte er. Und dann lockte es ihn doch, sich die letzten Stunden zu vergegenwärtigen, die er hier zugebracht hatte; es kam ihm vor, er sei unendlich lang weggewesen, und er wollte vergleichen. Clarisse: das war nichts. Aber vorher und nachher: die sonderbare Aufregung, in der er nach Hause geeilt war, und dann jenes übernächtige Zerschmelzen der Welt! »So, wie Eisen, wenn es unter einer ganz großen Kraft weich wird« überlegte er. »Es beginnt zu fließen und bleibt doch Eisen. Ein Mann dringt mit Kraft in die Welt ein,« schwebte ihm vor »aber plötzlich schließt sie sich um ihn, und alles sieht anders aus. Keine Zusammenhänge mehr. Kein Weg, den er gekommen ist und weitergehen muß. Ein schimmerndes Umschlossensein an der Stelle, wo er noch soeben ein Ziel oder eigentlich die nüchterne Leere sah, die vor jedem Ziel liegt.« Ulrich hielt noch immer die Augen geschlossen. Langsam, als Schatten, kehrte das Gefühl wieder. Das geschah so, als kehrte es auf den Platz zurück, wo er damals und auch jetzt stand, dieses Gefühl, das mehr im Raum außen war als im Bewußtsein innen; eigentlich war es überhaupt weder ein Gefühl noch ein Gedanke, sondern ein unheimlicher Vorgang. Wenn man so überreizt und einsam war, wie er damals, konnte man wohl glauben, es kehre sich das Wesen der Welt von innen heraus um; und plötzlich wurde ihm klar – unbegreiflich war bloß, daß es erst jetzt geschah – und lag wie ein ruhiger offener Rückblick da, daß ihm schon damals sein Gefühl die Begegnung mit seiner Schwester angekündigt hatte, denn von dem Augenblick an war sein Geist von wunderlichen Kräften gelenkt worden bis –: doch da wandte sich Ulrich, ehe er »gestern« zu denken vermochte, hastig und so handgreiflich geweckt von seinen Erinnerungen ab, als wäre er an eine Kante gestoßen; da gab es etwas, woran er noch nicht denken wollte!
Er trat an den Schreibtisch und musterte die dort liegende Post durch, ohne seine Reisekleidung abzulegen. Er war enttäuscht, als sich kein Telegramm seiner Schwester darunter befand, obgleich er keines zu erwarten hatte. Ein Berg von Beileidskundgebungen lag da vermengt mit wissenschaftlichen Mitteilungen und Buchhändleranzeigen. Zwei Briefe von Bonadea fanden sich vor, die sich so dick anfühlten, daß er sie gar nicht erst öffnete. Auch eine dringende Bitte des Grafen Leinsdorf, ihn zu besuchen, und zwei flötende Briefchen Diotimas waren dabei, die ihn ebenfalls einlud, daß er sich gleich nach seiner Rückkunft bei ihr zeige; aufmerksamer gelesen, enthielt das eine, das spätere, außeramtliche Nebentöne, die sehr freundschaftlich, wehmütig und fast ein wenig zärtlich waren. Ulrich wandte sich den telephonischen Anrufen zu, die während seiner Abwesenheit vermerkt worden waren: General von Stumm, Sektionschef Tuzzi, zweimal das Haussekretariat des Grafen Leinsdorf, mehrmals eine Dame, die ihren Namen nicht genannt hatte und wahrscheinlich Bonadea war, Bankdirektor Leo Fischel und sonst geschäftliche Mitteilungen. Während Ulrich das las und noch am Schreibtisch stand, klingelte der Apparat, und als Ulrich den Hörer aufnahm, meldete sich »Kriegsministerium, Bildungs- und Unterrichtsabteilung, Korporal Hirsch«, sehr betroffen davon, unerwartet auf Ulrichs eigene Stimme zu prallen, und eifrig versichernd, daß der Herr General Befehl gegeben habe, jeden Morgen um zehn Uhr anzurufen, und sofort selbst am Telefon sein werde.
Fünf Minuten später beteuerte Stumm, daß er noch am gleichen Vormittag »hervorragend wichtigen Konferenzen« beiwohnen und Ulrich unbedingt vorher sprechen müsse; auf die Frage, was es denn sei und warum es denn nicht am Fernsprecher erledigt werden könne, seufzte er in die Muschel und kündigte »Mitteilungen, Sorgen, Fragen« an, ohne daß aus ihm etwas Bestimmtes herauszubekommen war. Zwanzig Minuten später hielt aber ein Fiaker des Kriegsministeriums vor dem Tor, und General Stumm betrat das Haus, von einer Ordonnanz gefolgt, die eine große lederne Aktentasche an der Schulter hängen hatte. Ulrich, der dieses Behältnis der geistigen Sorgen des Generals recht wohl noch von den Aufmarschplänen und Grundbuchblättern der großen Gedanken kannte, runzelte fragend die Stirn. Stumm von Bordwehr lächelte, schickte die Ordonnanz zum Wagen zurück, öffnete den Rock, um den kleinen Schlüssel des Sicherheitsschlosses hervorzuholen, den er an einem Kettchen um den Hals trug, sagte kein Wort und hob aus der Tasche, die sonst nichts enthielt, zwei Laibe Kommißbrot ans Licht.
»Unser neues Brot,« erklärte er nach einer Kunstpause »ich hab es dir zum Kosten mitgebracht!«
»Das ist aber nett von dir,« meinte Ulrich »daß du mir nach einer durchreisten Nacht Brot bringst, statt mich schlafen zu lassen.«
»Wenn du Schnaps im Haus hast, was man wohl annehmen darf,« setzte der General dagegen »so sind Brot und Schnaps das beste Frühstück nach einer durchgebrachten Nacht. Du hast mir einmal erzählt, daß unser Kommißbrot das einzige ist, was dir an des Kaisers Dienst gefallen hat, und ich möchte wohl behaupten, daß die österreichische Armee im Broterzeugen allen anderen Armeen voraus ist, besonders seit die Intendanz dieses neue Muster »1914« herausgebracht hat! Darum hab ich es hier, das ist der eine Grund. Und dann, mußt du wissen, mach ich es jetzt auch grundsätzlich so. Ich muß natürlich nicht den ganzen Tag auf meinem Sessel sitzen und über jeden Schritt Rechenschaft ablegen, den ich aus dem Zimmer tu, das versteht sich von selbst; aber du weißt, daß der Generalstab nicht umsonst das Jesuitenkorps heißt, und geflüstert wird immer, wenn einer viel außer Haus ist, und Exzellenz von Frost, mein Chef, hat schließlich vielleicht doch noch keine ganz zutreffende Vorstellung vom Umfang des Geistes – des zivilen Geistes, meine ich – und darum nimm ich eben seit einiger Zeit immer die Tasche und eine Ordonnanz mit, wenn ich ein wenig ausgehn will, und damit sich die Ordonnanz nicht denkt, daß die Tasche leer ist, tu ich jedesmal zwei Laib Brot hinein.«
Ulrich mußte lachen, und der General lachte vergnügt mit. »Du scheinst weniger Freude an den großen Gedanken der Menschheit zu haben als früher?« fragte Ulrich.
»Alle haben jetzt weniger Freude daran« erklärte ihm Stumm, während er mit seinem Taschenmesser das Brot anschnitt. »Es ist jetzt die Parole der Tat ausgegeben worden.«
»Du wirst mir das erklären müssen.«
»Darum bin ich ja da. Du bist nicht der richtige Tatmensch!«
»Nein?«
»Nein.«
»Ich weiß nicht!?«
»Ich weiß es vielleicht auch nicht. Aber man sagt es.«
»Wer ist ›man‹?«
»Arnheim zum Beispiel.«
»Du stehst gut mit Arnheim?«
»Na natürlich! Wir stehen hervorragend miteinander. Wenn er kein gar so großer Geist wäre, könnten wir wirklich schon Du zueinander sagen!«
»Hast du auch mit den Öllagern zu tun?«
Der General trank von dem Korn, den Ulrich hatte auftragen lassen, und kaute Brot nach, um Zeit zu gewinnen. »Ausgezeichnet schmeckt das« brachte er mühsam hervor und kaute weiter.
»Natürlich hast du mit den Öllagern zu tun!« stellte Ulrich in plötzlicher Erleuchtung fest. »Das ist doch eine Frage, die eure Marinesektion angeht wegen der Schiffsfeuerung, und wenn Arnheim die Bohrfelder erwerben will, muß er euch das Zugeständnis machen, euch billig zu liefern. Andrerseits ist Galizien Aufmarschgebiet und Glacis gegen Rußland, also müßt ihr vorkehren, daß die Ölförderung, die er dort in Schwung bringen will, im Kriegsfall besonders geschützt wird. Also wird euch wieder seine Panzer-Blechfabrik bei den Kanonen entgegenkommen, die ihr haben wollt: Daß ich das nicht vorhergesehen habe! Ihr seid doch geradezu für einander geboren!«
Der General hatte vorsichtshalber noch ein zweites Stück Brot gekaut; jetzt konnte er sich aber nicht mehr zurückhalten und sagte unter gewaltigen Anstrengungen, den vollen Inhalt seines Mundes hinunterzuwürgen: »Entgegenkommen kannst du leicht [EA 176] sagen; du hast keine Ahnung, was das für ein Geizhals ist! Ich bitte um Verzeihung,« verbesserte er seinen Ausdruck »mit welcher sittlichen Würde der so ein Geschäft behandelt! Ich habe keine Ahnung gehabt, daß zum Beispiel zehn Heller pro Tonne-Eisenbahnkilometer eine Gesinnungsfrage sind, wegen der man im Goethe oder in einer Philosophiegeschichte nachlesen muß!«
»Du führst diese Verhandlungen?«
Der General trank einen Korn nach. »Ich habe überhaupt nicht gesagt, daß Verhandlungen geführt werden! Gedankenaustausch kannst du es meinethalben nennen.«
»Und damit bist du beauftragt?«
»Niemand ist beauftragt! Man spricht einfach. Man kann doch hie und da auch von etwas anderem als der Parallelaktion sprechen. Und wenn jemand beauftragt wäre, so gewiß nicht ich. Das ist doch keine Angelegenheit für die Unterrichts- und Bildungsabteilung. So etwas geht die Präsidialkanzlei an und höchstens noch die Intendanz. Wenn ich überhaupt dabei bin, so wäre ich es nur als eine Art Fachbeirat für zivile Geistesfragen, sozusagen als Dolmetsch, weil der Arnheim so gebildet ist.«
»Und weil du durch mich und Diotima fortwährend mit ihm zusammenkommst! Lieber Stumm, wenn du willst, daß ich dir weiter den Elefanten machen soll, mußt du mir die Wahrheit sagen!«
Aber darauf hatte sich Stumm inzwischen vorbereitet. »Was fragst du denn, wenn du sie ohnehin weißt!« erwiderte er entrüstet. »Glaubst du, du darfst mich pflanzen, und ich weiß nicht, daß dich der Arnheim ins Vertrauen zieht?!«
»Ich weiß gar nichts!«
»Aber du hast doch gerade erzählt, daß du’s weißt!«
»Das von den Ölfeldern weiß ich.«
»Und dann hast du gesagt, daß wir gemeinsame Interessen mit dem Arnheim an diesen Ölfeldern hätten. Gib mir dein Ehrenwort, daß du das weißt, und dann kann ich dir alles sagen.« Stumm von Bordwehr erfaßte Ulrichs zögernde Hand, blickte ihm ins Auge und sagte pfiffig: »Also, da du mir jetzt dein Ehrenwort gibst, daß du alles schon gewußt hast, geb ich dir das meine darauf, daß du alles weißt! Stimmt’s? Mehr gibt’s nicht. Der Arnheim möchte uns vorspannen, und wir ihn. Weißt du, ich hab ja manchmal die kompliziertesten Seelenkonflikte wegen Diotima!« rief er aus. »Aber du darfst nichts davon weitersagen, das ist ein militärisches Geheimnis!« Der General wurde vergnügt. »Weißt du überhaupt, was ein militärisches Geheimnis ist?« fuhr er fort. »Wie vor ein paar Jahren die Mobilisierung in Bosnien war, da haben sie mich im Kriegsministerium absägen wollen, ich war damals noch Oberst, und haben mich zum Kommandanten von einem Landsturmbataillon gemacht; eine Brigade hätte ich natürlich auch führen können, aber weil ich angeblich Kavallerist bin und weil sie mich eben absägen wollten, haben sie mich zu einem Bataillon geschickt. Und weil zum Kriegführen Geld gehört, hat man mir, als ich unten angekommen bin, auch eine Bataillonskasse gegeben. Hast du in deiner Militärzeit einmal so etwas gesehn? Es sieht halb wie ein Sarg und halb wie eine Futterkiste aus, ist aus dickem Holz gemacht und rundherum mit Eisenbändern beschlagen wie ein Burgtor. Daran sind drei Schlösser, und die Schlüssel dazu tragen drei Männer bei sich, jeder einen, damit keiner allein aufsperren kann: der Kommandant und die beiden Kassa-Mitsperrer. Also haben wir uns wie zu einem Gebet versammelt, als ich unten angekommen war, und haben einer nach dem andern ein Schloß geöffnet und die Banknotenpakete ehrfürchtig herausgehoben, und ich bin mir vorgekommen wie ein Erzpriester, dem zweie ministrieren, nur daß statt aus dem Evangelium aus ärarischen Protokollen die Ziffern vorgelesen worden sind. Wie wir aber damit fertig waren, haben wir die Kiste wieder zugemacht, die Eisenbänder darumgelegt, die Schlösser zugesperrt, alles in umgekehrter Reihenfolge wie zu Beginn, ich hab irgendetwas sagen müssen, woran ich mich nicht mehr erinnern kann, und dann war die Feier zu Ende –: Hab ich mir gedacht, und hättest du dir auch gedacht, und hab großen Respekt gehabt vor der unerschütterlichen Vorsicht der Militärverwaltung in Kriegszeiten! Aber ich hab damals einen Foxl gehabt, den Vorgänger von meinem jetzigen, das war ein sehr kluges Vieh, und es bestand auch keine Vorschrift, daß er nicht hätte dabeisein dürfen; nur daß er kein Loch hat sehen können, ohne gleich wie wild zu graben. Als ich gehn will, bemerk ich also, daß sich der Spot, so hat er geheißen, er war ein Engländer, an der Kiste zu schaffen macht, und war nicht wegzukriegen. Also man hat schon oft gehört, daß durch treue Hunde die geheimsten Verschwörungen aufgedeckt worden sind, und Krieg war beinahe auch, denk ich mir also, schaust du doch nach, was der Spot hat, – und was glaubst du, hat der Spot gehabt? Weißt du, für die Landsturmbataillone gibt die Intendanz ja nicht gerade die neuesten Sachen her, und so war auch unsere Bataillonskasse alt und ehrwürdig, aber das hätt’ ich doch nie gedacht, daß sie hinten, während wir vorn zu dreien zusperren, nahe am Boden ein Loch hat, daß man den Arm durchstecken kann! Da war ein Astknorren im Holz, und der war in einem der früheren Kriege herausgefallen. Aber was willst du machen; der ganze bosnische Alarm war gerade vorbei, als der angeforderte Ersatz gekommen ist, und bis dahin haben wir in jeder Woche unsere Feierlichkeit abhalten dürfen, und bloß den Spot hab ich zuhaus lassen müssen, damit er keinem das Geheimnis verrät. Also siehst du, so schaut halt ein militärisches Geheimnis unter Umständen aus!«
»Na, ich denke, ganz so offen wie deine Truhe bist du noch immer nicht« gab Ulrich zur Antwort. »Werdet ihr nun das Geschäft wirklich machen oder nicht?«
»Ich weiß es nicht. Ich gebe dir mein großes Generalstabsehrenwort: es ist noch nicht so weit.«
»Und Leinsdorf?«
»Der hat natürlich keine Ahnung. Er ist auch nicht für Arnheim zu gewinnen. Ich habe gehört, daß er sich furchtbar über die Demonstration ärgern soll, die du ja noch mitgemacht hast; er ist jetzt ganz gegen die Deutschen.«
»Tuzzi?« fragte Ulrich, das Verhör fortsetzend.
»Der ist der letzte, der etwas erfahren darf! Der würde den Plan sofort verderben. Wir wollen natürlich alle den Frieden, aber wir Militärs haben eine andere Art, ihm zu dienen, als die Bürokraten!« »Und Diotima?«
»Aber ich bitt’ dich! Das ist doch ganz und gar eine Männerangelegenheit, an so etwas kann sie nicht einmal mit Handschuhen denken! Ich bring es nicht über mich, sie mit der Wahrheit zu belästigen. Ich versteh auch, daß ihr der Arnheim nichts davon erzählt. Weißt du, er redet doch sehr viel und schön, da kann es schon ein Genuß sein, einmal über etwas zu schweigen. So wie einen stillen Magenbitter stell ich mir das vor!«
»Weißt du, daß du ein Schuft geworden bist?! Auf dein Wohl!« Ulrich trank ihm zu.
»Nein, kein Schuft« verteidigte sich der General. »Ich bin Mitglied einer ministeriellen Konferenz. Bei einer Konferenz bringt jeder vor, was er haben möchte und für das Richtige hält, und zum Schluß ergibt sich etwas daraus, das keiner ganz gewollt hat: eben das Ergebnis. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst, ich kann es nicht besser ausdrücken.«
»Natürlich versteh ich dich. Aber gegen Diotima benehmt ihr euch trotzdem gemein.«
»Das täte mir leid« sagte Stumm. »Aber weißt du, ein Henker ist ein unehrlicher Kerl, darüber ist nicht zu streiten; dagegen der Seilfabrikant, der bloß der Gefängnisverwaltung die Stricke liefert, kann Mitglied der Ethischen Gesellschaft sein. Das berücksichtigst du nicht genug.«
»Das hast du von Arnheim!«
»Kann sein. Ich weiß nicht. Man bekommt heutzutage einen so komplizierten Geist« beklagte sich der General ehrlich.
»Und was soll ich dabei tun?«
»Na, schau, ich hab mir gedacht, du bist doch ehemaliger Offizier –«
»Schon gut. Aber wie hängt das mit ›Tatmensch‹ zusammen?« fragte Ulrich beleidigt.
»Tatmensch?« wiederholte der General erstaunt.
»Du hast das alles doch damit eingeleitet, daß ich kein Tatmensch sei!?«
»Ach, so. Das hat damit natürlich gar nichts zu tun. Damit hab ich nur begonnen. Ich meine, der Arnheim hält dich nicht gerade für einen Tatmenschen; das hat er einmal gesagt. Du hast nichts zu tun, meint er, und das bringt dich auf Gedanken. Oder so ähnlich.«
»Das heißt, auf unnütze? Auf Gedanken, die sich nicht ›in Machtsphären tragen‹ lassen? Auf Gedanken um ihrer selbst willen? Mit einem Wort, auf richtige und unabhängige! Was? Oder vielleicht auf die Gedanken eines ›weltfernen Ästheten‹?«
»Ja« versicherte Stumm von Bordwehr diplomatisch. »So ähnlich.«
»Wem ähnlich? Was, glaubst du, ist dem Geist gefährlicher: Träume oder Ölfelder? Du brauchst dir nicht den Mund mit Brot zu verstopfen, laß das sein! Mir ist es ganz egal, was Arnheim von mir denkt. Aber du hast anfangs gesagt: ›zum Beispiel Arnheim‹; wer ist also noch da, für den ich nicht genug Tatmensch bin?«
»Na, weißt du,« versicherte Stumm »das sind nicht wenige. Ich habe dir ja erzählt, daß jetzt die Parole der Tat ausgegeben ist.«
»Was heißt das?«
»Das weiß ich auch nicht genau. Der Leinsdorf hat gesagt, es muß jetzt etwas geschehn!: damit hat es angefangen.«
»Und Diotima?«
»Diotima sagt, das ist ein neuer Geist. Und das sagen jetzt viele am Konzil. Ich möchte wissen, ob du das auch kennst: es wird einem geradewegs schwindlig im Bauch, wenn eine schöne Frau ein so bedeutender Kopf ist!?«
»Das glaub ich gern,« gab Ulrich zu, der sich Stumm nicht entwischen ließ »aber ich möchte nun hören, was Diotima von dem neuen Geist sagt.«
»Halt die Leute sagen« gab Stumm zur Antwort. »Die Leute am Konzil sagen, die Zeit bekommt einen neuen Geist. Nicht gleich, aber in ein paar Jahren; falls nicht früher etwas Besonderes geschieht. Und dieser Geist soll nicht viel Gedanken enthalten. Auch Gefühle sind jetzt nicht an der Zeit. Gedanken und Gefühle, das ist mehr für Leute, die nichts zu tun haben. Mit einem Wort, es ist halt ein Geist der Tat, mehr weiß ich auch nicht. Aber zuweilen« fügte der General nachdenklich hinzu »habe ich mir schon gedacht, ob das nicht am Ende ganz einfach der militärische Geist ist?!«
»Eine Tat muß einen Sinn haben!« forderte Ulrich, und als tiefer Ernst, weit hinter diesem narrenhaft gescheckten Gespräch, erinnerte ihn sein Gewissen an die erste Unterhaltung, die er mit Agathe darüber auf der Schwedenschanze gehabt hatte.
Aber auch der General sagte: »Das habe ich doch gerade ausgesprochen. Wenn man nichts zu tun hat und nicht weiß, was man mit sich anfangen soll, ist man tatkräftig. Dann brüllt man herum, säuft, schlägt sich und schikaniert Roß und Mann. Aber andrerseits wirst du zugeben: wenn man durchaus weiß, was man will, wird man ein Schleicher. Schau dir so einen jungen Generalstäbler an, wenn er die Lippen schweigsam aufeinander preßt und ein Gesicht macht wie der Moltke: zehn Jahre später hat er unter den Knöpfen einen Feldherrnhügel, aber keinen so wohlwollenden wie ich, sondern einen Giftbauch. Wieviel Sinn eine Tat haben darf, ist also schwer zu bestimmen.« Er überlegte und fügte hinzu: »Wenn man es richtig anpackt, kann man beim Militär überhaupt viel lernen, das wird jetzt immer mehr meine Überzeugung; aber meinst du nicht, daß es halt sozusagen das einfachste wäre, wenn doch noch die große Idee gefunden würde?«
»Nein« widersprach Ulrich. »Das war Unsinn.«
»Nun ja, aber dann bleibt wirklich nur die Tat« seufzte Stumm. »Das erkläre ich ja schon beinahe selbst. Erinnerst du dich übrigens, wie ich einmal davor gewarnt habe, daß alle diese übermäßigen Gedanken ja doch nur in Totschlag übergehn? Das müßte man eben verhindern!« stellte er fest. »Da müßte eben doch einer die Führung übernehmen!« lockte er.
»Und welche Aufgabe hat deine Güte dabei mir zugedacht?« fragte nun Ulrich und gähnte unverhohlen.
»Ich geh schon« versicherte Stumm. »Aber nachdem wir uns so gut ausgesprochen haben, hättest du, wenn du ein treuer Kamerad sein wolltest, noch eine wichtige Aufgabe: Zwischen Diotima und Arnheim ist einiges nicht in Ordnung!«
»Was du sagst!« Der Hausherr belebte sich ein wenig.
»Du wirst schon selbst sehen, da brauche ich dir nichts zu erzählen! Zudem vertraut sie dir ja noch mehr als mir.«
»Dir vertraut sie? Seit wann?«
»Sie hat sich etwas an mich gewöhnt« sagte der General stolz.
»Da gratuliere ich.«
»Ja. Aber dann mußt du auch bald zum Leinsdorf gehn. Wegen seiner Abneigung gegen die Preußen.«
»Das tu ich nicht.«
»Aber schau, ich weiß ja, daß du den Arnheim nicht magst. Aber tun mußt du’s trotzdem.«
»Nicht deshalb. Ich geh überhaupt nicht zum Leinsdorf.«
»Warum denn nicht? Er ist so ein feiner alter Herr. Arrogant, und ich kann ihn nicht ausstehn, aber zu dir ist er großartig.«
»Ich zieh mich von der ganzen Geschichte jetzt zurück!«
»Aber der Leinsdorf läßt dich ja nicht. Und Diotima auch nicht. Und ich schon gar nicht! Du wirst mich doch nicht allein lassen?!«
»Mir ist die ganze Geschichte zu dumm.«
»Da hast du ja, wie immer, hervorragend recht. Aber was ist denn nicht dumm?! Schau, ich bin ganz dumm; ohne dich. Also du gehst mir zu Liebe zum Leinsdorf?«
»Aber was ist mit Diotima und Arnheim?«
»Das sag ich dir nicht, sonst gehst du auch zu Diotima nicht!« Der General wurde plötzlich von einem Einfall erleuchtet: »Wenn du willst, kann dir ja der Leinsdorf einen Hilfssekretär aufnehmen, der dich in allem vertritt, was du nicht magst. Oder ich stell dir einen aus dem Kriegsministerium bei. Du ziehst dich so weit zurück, wie du nur willst, aber deine Hand bleibt über mir walten?!«
»Laß mich erst ausschlafen« bat Ulrich.
»Ich geh nicht früher weg, als du nicht ja sagst.«
»Also, ich werde es überschlafen« gestand Ulrich zu. »Vergiß nicht das Brot der Militärwissenschaft wieder in deine Tasche zu tun!«

Es war die Unruhe seines Zustands, die Ulrich gegen Abend bewog, zu Walter und Clarisse hinaus zu gehn. Unterwegs suchte er sich den Brief ins Gedächtnis zu rufen, den er unauffindbar zwischen seinem Gepäck verstaut oder verloren hatte, erinnerte sich aber an keine Einzelheiten mehr, sondern nur an den letzten Satz »Ich hoffe, du kommst bald zurück« und zusammenfassend an den Eindruck, er müßte dann eigentlich mit Walter sprechen, womit nicht nur Bedauern und Unbehagen, sondern auch Schadenfreude verknüpft war. Bei diesem flüchtigen und unwillkürlichen Gefühl, dem keine Bedeutung zukam, verweilte er nun, statt es zu verscheuchen, und empfand dabei etwas Ähnliches wie ein Schwindliger, den es beruhigt, wenn er sich niedrig machen kann.
Als er zum Haus einbog, sah er Clarisse an der Seitenwand in der Sonne stehn, wo das Pfirsichspalier war; sie hatte die Hände hinten, lehnte sich an das nachgiebige Gerank und blickte weit fort, ohne den Kommenden zu bemerken. Ihre Haltung hatte etwas Selbstvergessenes und Erstarrtes; zugleich aber etwas kaum merklich Schauspielerisches, das nur dem Freund bemerklich war, der ihre Eigenheiten kannte: sie sah aus, als spiele sie die bedeutenden Vorstellungen mit, die ihr Inneres beschäftigten, und sei dabei von einer festgehalten und nicht mehr losgelassen worden. Er erinnerte sich an ihre Worte: »Ich möchte das Kind von dir haben!« Sie waren ihm heute nicht so unangenehm wie damals; leise rief er die Freundin an und wartete.
Clarisse aber dachte: »Diesmal verwandelt sich Meingast bei uns!« Sein Leben enthielt ja mehrere sehr merkwürdige Verwandlungen, und ohne daß er auf Walters ausführliche Antwort noch etwas erwidert hätte, hatte er seine Ankündigung, daß er kommen werde, eines Tages verwirklicht. Clarisse war überzeugt, daß die Arbeit, die er dann bei ihnen sofort begonnen hatte, mit einer Verwandlung zusammenhinge. Die Erinnerung an einen indischen Gott, der vor jeder Läuterung irgendwo einkehrt, vermengte sich in ihr mit der Erinnerung, daß Tiere eine bestimmte Stelle wählen, um sich einzupuppen, und von diesem Gedanken, der ihr den Eindruck machte, ungeheuer gesund und erdsicher zu sein, war sie auf den sinnlichen Duft von Pfirsichhecken gekommen, die an einer sonnenbeschienenen Hausmauer reifen: das logische Ergebnis von alledem war, daß sie im glühenden Schein der sinkenden Sonne unter dem Fenster stand, während sich der Prophet in die dahinterliegende Schattenhöhle zurückgezogen hatte. Er hatte ihr und Walter tags zuvor erklärt, daß Knecht, knight dem Ursinn nach Jüngling, Knabe, Knappe, waffenfähiger Mann und Held bedeute; sie sagte nun zu sich: »Ich bin sein Knecht!« und diente ihm und schützte seine Arbeit: es bedurfte dazu weiter keiner Worte, sie hielt bloß mit dem geblendeten Gesicht reglos den Sonnenstrahlen stand.
Als Ulrich sie ansprach, drehte sich ihr Antlitz langsam der unerwarteten Stimme zu, und er entdeckte, daß sich etwas geändert habe. Die Augen, die ihm entgegensahen, enthielten eine Kälte, wie die Farben der Natur sie nach dem Erlöschen des Tags ausstrahlen, und er wußte sofort: Sie will nichts mehr von dir! Keine Spur davon war mehr in ihrem Blick, daß sie ihn »aus dem Steinblock hinauszwingen« gewollt, daß er ein großer Teufel oder Gott gewesen, daß sie mit ihm durch das »Loch in der Musik« entfliehen gemocht, daß sie ihn hatte ermorden wollen, wenn er sie nicht liebe. Es war ihm ja gleichgültig; es mag auch ein sehr gewöhnliches kleines Erlebnis sein, diese verlöschte Wärme des Eigennutzes in einem Blick; trotzdem war es wie ein kleiner Riß im Schleier des Lebens, durch den das teilnahmslose Nichts schaut, und es wurde damals der Grund zu manchem gelegt, was später geschah.
Ulrich erfuhr, daß Meingast da sei, und verstand. Sie gingen leise ins Haus, um Walter zu holen, und ebenso leise zu dritt zurück ins Freie, den Schaffenden nicht zu stören. Ulrich erhaschte dabei zweimal durch eine offenstehende Tür einen Blick auf Meingasts Rücken. Er hauste in einem abgetrennten, leeren Zimmer, das zur Wohnung gehörte; irgendwo hatten Clarisse und Walter eine eiserne Bettstatt aufgetrieben, ein Küchenschemel und eine Blechschüssel dienten als Waschtisch und Bad, und außer diesen Einrichtungsstücken befanden sich in dem Raum, der keine Fenstervorhänge hatte, nur noch ein alter Geschirrschrank, worin Bücher lagen, und ein kleiner Tisch aus ungestrichenem weichem Holz. An diesem Tisch saß Meingast und schrieb, ohne den Kopf nach den Vorbeigehenden zu wenden. Alles das hatte Ulrich teils gesehen, teils erfuhr er es von seinen Freunden, die sich kein Gewissen daraus machten, daß sie den Meister viel dürftiger untergebracht hatten, als sie selbst wohnten, sondern im Gegenteil aus irgendeiner Ursache stolz darauf waren, daß er es sich genügen ließ. Es war rührend und für sie bequem; Walter versicherte, daß dieser Raum, wenn man ihn in Meingasts Abwesenheit beträte, jenes Unbeschreibliche besäße, das ein abgetragener alter Handschuh besitze, der auf einer edlen und energischen Hand getragen worden sei! Und wirklich fühlte sich Meingast mit großem Vergnügen in dieser Umgebung arbeiten, deren kriegerische Einfachheit ihm schmeichelte. Er begriff darin seinen Willen, der die Worte auf dem Papier formte. Stand noch dazu Clarisse wie vorhin unter seinem Fenster oder oben auf dem Treppenabsatz, oder saß sie auch nur in ihrem Zimmer – »von dem Mantel eines unsichtbaren Nordlichts eingehüllt« wie sie ihm gestanden hatte –, so erhöhte diese ehrgeizige, von ihm gelähmte Schülerin seine Freude. Die Feder trieb dann die Einfälle vor sich her, und die großen, dunklen Augen über der scharfen, bebenden Nase begannen zu glühn. Es sollte einer der bedeutendsten Abschnitte seines neuen Buchs werden, den er unter diesen Umständen zu beenden gedachte, und man sollte dieses Werk nicht ein Buch nennen dürfen, sondern einen Rüstungsbefehl für den Geist neuer Männer! Als von Clarissens Standplatz eine fremde Männerstimme zu ihm emporgedrungen war, hatte er sich unterbrochen und vorsichtig hinuntergeguckt; er erkannte Ulrich nicht wieder, aber er entsann sich seiner dunkel und fand in den die Treppe heraufkommenden Schritten weder eine Ursache, seine Tür zu schließen, noch den Kopf von seiner Arbeit zu wenden. Er trug eine dicke Wolljacke unter dem Rock und zeigte seine Unempfindlichkeit gegen Wetter und Menschen.
Ulrich wurde spazieren geführt und durfte die Begeisterung über den Meister anhören, indes dieser seinem Werk oblag.
Walter sagte: »Wenn man mit einem wie Meingast befreundet ist, begreift man erst, daß man immer unter der Abneigung gegen die anderen gelitten hat! Im Verkehr mit ihm ist alles, möchte ich sagen, wie in reinen Farben ganz ohne Grau gemalt.« Clarisse sagte: »Man hat im Verkehr mit ihm das Gefühl, daß man ein Schicksal hat; man steht ganz persönlich und voll beleuchtet da.« Walter ergänzte: »Heute zerlegt sich alles in hundert Schichten, wird undurchsichtig und verwischt: sein Geist ist wie Glas!« Ulrich erwiderte ihnen: »Es gibt Sünden- und Tugendböcke; außerdem gibt es Schafe, die ihrer bedürfen!«
Walter gab es ihm zurück: »Es ist zu erwarten gewesen, daß dir dieser Mensch nicht passen wird!«
Clarisse rief aus: »Du hast einmal behauptet, daß man nicht nach der Idee leben kann: erinnerst du dich? Meingast kann es!« Walter sagte bedächtiger: »Ich könnte natürlich manches gegen ihn einwenden –« Clarisse unterbrach ihn: »Man fühlt Lichtschauder in sich, wenn man ihm zuhört.« Ulrich entgegnete: »Besonders schöne Männerköpfe sind gewöhnlich dumm; besonders tiefe Philosophen sind gewöhnlich flache Denker; in der Dichtung werden gewöhnlich Begabungen, die wenig über der Mittelgröße liegen, von den Zeitgenossen für groß gehalten.«
Sie ist eine merkwürdige Erscheinung, die der Bewunderung. Im Leben des Einzelnen bloß auf »Anfälle« beschränkt, bildet sie in dem der Gesamtheit eine dauernde Einrichtung. Eigentlich würde es Walter befriedigender gefunden haben, in seiner und Clarissens Achtung selbst an Meingasts Stelle zu stehn, und begriff in keiner Weise, daß es nicht so war; aber irgendein kleiner Vorzug lag doch auch darin. Und das so ersparte Gefühl kam Meingast ähnlich zugute, wie wenn einer ein fremdes Kind als eigen annimmt. Und anderseits war sie gerade darum kein reines und heiles Gefühl, diese Bewunderung für Meingast, das wußte Walter selbst; eher war sie ein übertrieben gereiztes Verlangen, sich dem Glauben an ihn hinzugeben. Etwas Geflissentliches war in ihr. Sie war ein »Klaviergefühl«, das ohne volle Überzeugung tobt. Das fühlte auch Ulrich heraus. Eines der ursprünglichen Bedürfnisse nach Leidenschaft, die das Leben heute in kleine Stücke bricht und bis zur Unkenntlichkeit vermengt, suchte sich da einen Rückweg, denn Walter lobte Meingast mit einer ähnlichen Wut, wie eine Zuhörerschaft im Theater über alle Grenzen ihrer eigentlichen Meinung hinaus Gemeinplätzen applaudiert, durch die man ihr Beifallsbedürfnis reizt; er lobte ihn in einem jener Notzustände der Bewunderung, für die sonst die Feste und Feiern, die großen Zeitgenossen oder Ideen und die Ehren da sind, die ihnen erwiesen werden, wobei man mittut und keiner richtig weiß, für wen oder wofür, und jeder innerlich bereit ist, am nächsten Tag doppelt so gemein zu sein als sonst, um sich nichts vorwerfen zu müssen. So dachte Ulrich über seine Freunde und hielt sie durch spitze Bemerkungen in Bewegung, die er von Zeit zu Zeit gegen Meingast richtete; denn wie jeder Mensch, der es besser weiß, hatte er sich schon unzählige Male über die Begeisterungsfähigkeit seiner Zeitgenossen ärgern müssen, die fast immer fehlgreift und so auch noch das vernichtet, was die Gleichgültigkeit übrig läßt.
Es hatte schon gedämmert, als sie unter solchen Gesprächen ins Haus zurückkehrten.
»Dieser Meingast lebt davon, daß heute Ahnen und Glauben verwechselt wird« sagte Ulrich schließlich. »Beinahe alles, was nicht Wissenschaft ist, kann man ja nur ahnen, und das ist etwas, wozu man Leidenschaft und Vorsicht braucht. So wäre eine Methodenlehre dessen, was man nicht weiß, beinahe das gleiche wie eine Methodenlehre des Lebens. Ihr aber ›glaubt‹, sobald euch einer bloß wie Meingast kommt! Und alle tun das. Und dieses ›Glauben‹ ist ungefähr ein ebensolches Verhängnis, wie wenn ihr es euch mit eurer ganzen werten Person einfallen ließet, euch in einen Eierkorb zu setzen, um seinen unbekannten Inhalt auszubrüten!«
Sie standen am Fuß der Treppe. Und mit einemmal wußte Ulrich, warum er hieher gegangen sei und wieder mit den beiden sprach wie früher. Es wunderte ihn nicht, daß ihm Walter antwortete: »Und die Welt soll wohl stillstehn, bis du mit einer Methodenlehre fertig bist?!« Sie hielten offenbar alle nichts von ihm, weil sie nicht verstanden, wie verwahrlost dieses Gebiet des Glaubens ist, das sich zwischen der Sicherheit des Wissens und dem Dunst des Ahnens breit macht! Alte Ideen ballten sich in seinem Kopf zusammen; das Denken erstarb beinahe an ihrem Andrang. Aber da wußte er doch, daß es nun nicht mehr notwendig sei, wieder von vorn anzufangen wie ein Teppichwirker, dem ein Traum den Sinn geblendet hat, und daß er nur deshalb wieder hier stehe. Es war alles in letzter Zeit viel einfacher geworden. Die letzten vierzehn Tage hatten alles Frühere außer Kraft gesetzt und die Linien der inneren Bewegung mit einem kräftigen Knoten zusammengefaßt.
Walter erwartete, daß ihm Ulrich etwas erwidern werde, worüber er sich ärgern könne. Er wollte es ihm dann doppelt heimzahlen! Er hatte sich vorgenommen, ihm zu sagen, daß Menschen wie Meingast Heilbringer seien: »Heil heißt doch ursprünglich soviel wie ganz« dachte er. Und: »Heilbringer mögen sich irren, aber sie machen uns ganz!« wollte er sagen. Und: »Du kannst dir so etwas vielleicht gar nicht vorstellen?« wollte er dann auch noch sagen. Er empfand dabei gegen Ulrich eine ähnliche Abneigung, wie er sie hatte, wenn er zum Zahnarzt gehen mußte.
Aber Ulrich fragte bloß zerstreut, was Meingast eigentlich in den letzten Jahren geschrieben und getrieben habe.
»Siehst du!« sagte Walter enttäuscht. »Siehst du, das weißt du nicht einmal, aber du schimpfst!«
»Ach,« meinte Ulrich »das brauche ich doch auch nicht zu wissen, dazu genügen schon ein paar Zeilen!« Er setzte den Fuß auf die Treppe.
Aber da hielt ihn Clarisse am Rock zurück und flüsterte: »Aber er heißt doch gar nicht Meingast!«
»Natürlich heißt er nicht so: ist denn das ein Geheimnis?«
»Er ist einmal Meingast geworden, und jetzt bei uns verwandelt er sich wieder!« flüsterte Clarisse heftig und geheimnisvoll, und dieses Flüstern hatte etwas mit einer Stichflamme gemeinsam. Walter stürzte sich darüber, um es zu ersticken. »Clarisse!« beschwor er sie »Clarisse, laß diesen Unsinn!«
Clarisse schwieg und lächelte. Ulrich ging voran die Treppe hinauf; er wollte nun endlich diesen Sendboten sehn, der sich aus Zarathustras Bergen auf das Familienleben von Walter und Clarisse niedergesenkt hatte, und als sie oben ankamen, war Walter nicht nur auf ihn, sondern auch auf Meingast schlecht zu sprechen.
Dieser empfing seine Bewunderer in ihrer dunklen Wohnung. Er hatte sie kommen gesehn, und Clarisse trat gleich zu ihm vor die graue Fensterfläche, ein kleiner, spitzer Schatten neben seinem hageren, großen; eine Vorstellung gab es nicht, oder doch nur eine einseitige, indem Ulrichs Name dem Meister ins Gedächtnis gerufen wurde. Dann schwiegen alle; Ulrich, weil er neugierig war, wie sich das weiter entwickeln werde, stellte sich an das freie zweite Fenster, und Walter gesellte sich überraschenderweise zu ihm, wahrscheinlich bloß, bei augenblicklich gleichen Abstoßungskräften, vom Helligkeitsreiz der weniger verdeckten Scheibe angezogen, der dämmrig ins Zimmer leuchtete.
Man schrieb März. Aber die Meteorologie ist nicht immer verläßlich, manchmal macht sie einen Juniabend früher oder später: dachte Clarisse, während ihr das Dunkel vor dem Fenster wie eine Sommernacht vorkam. Dort, wohin das Licht der Gaslaternen fiel, war diese Nacht hellgelb lackiert. Das Gebüsch daneben bildete eine flutende schwarze Masse. Wo es ins Licht hing, wurde es grün oder weißlich – das ließ sich eigentlich nicht recht bezeichnen –, zackte sich in Blätter aus und schwebte im Laternenschein wie Wäschestücke, die in einem leicht dahinfließenden Wasser ausgeschwemmt werden. Ein schmales Eisenband auf zwerghaften Pfählen – nichts als eine Erinnerung und Ermahnung, der Ordnung zu gedenken – lief eine Weile längs des Rasens, worauf das Gebüsch stand, und verschwand dann im Dunkel: Clarisse wußte, daß es dort überhaupt aufhörte; man hatte vielleicht einmal geplant, dieser Gegend etwas gärtnerischen Schmuck zu geben, und hatte es bald wieder aufgegeben. Clarisse rückte eng an Meingast heran, um von seinem Fensterwinkel aus dem Weg möglichst weit entgegenblicken zu können; ihre Nase lag platt an der Scheibe, und die beiden Körper berührten sich so hart und mannigfaltig, als hätte sie sich auf einer Treppe ausgestreckt, was manchmal auch vorkam; um ihren rechten Arm, der Platz geben mußte, legten sich sodann beim Ellenbogen Meingasts lange Finger wie die sehnigen Fänge eines höchst zerstreuten Adlers, der etwa ein Seidentüchlein zerknüllte. Clarisse hatte schon seit einer Weile einen Mann erblickt, mit dem etwas nicht in Ordnung war, das sie nicht herausbekommen konnte: er ging bald zögernd, bald ging er achtlos; es machte den Eindruck, daß sich etwas um seinen Willen zu gehen wickle, und jedesmal, nachdem er es zerrissen hatte, ging er ein Stück wie jeder andere, der nicht gerade Eile hat, aber auch nicht stockt. Der Rhythmus dieser ungleichmäßigen Bewegung hatte Clarisse ergriffen; wenn der Mann an einer Laterne vorbeikam, suchte sie sein Gesicht zu erkennen, und es kam ihr ausgehöhlt und gefühllos vor. Bei der vorletzten meinte sie, daß es ein unbedeutendes, ungutes und scheues Gesicht sei; als er aber auf die letzte zukam, die beinahe unter ihrem Fenster stand, war sein Gesicht sehr blaß, und es schwamm im Licht hin und her, wie das Licht auf dem Dunkel hin und her schwamm, so daß sich daneben der dünne Eisenpfahl der Laterne sehr aufrecht und erregt ausnahm und sich mit einem eindringlicheren Hellgrün, als ihm eigentlich zugekommen wäre, ins Auge stellte.
Alle vier hatten sie nach und nach diesen Mann zu beobachten begonnen, der sich ungesehen wähnte. Er bemerkte jetzt das Gebüsch, das im Licht badete, und es erinnerte ihn an die Zacken eines Frauenunterrocks, so dick, wie er noch keinen gesehen hatte, wohl aber einen sehen mochte. In diesem Augenblick hatte ihn sein Entschluß gefaßt. Er stieg über die niedere Einzäunung, er stand auf dem Rasen, der ihn an die grüne Holzwolle unter den Bäumen einer Spielzeugschachtel erinnerte, sah eine kurze Weile fassungslos vor seine Füße, wurde von seinem Kopf geweckt, der sich vorsichtig umblickte, und verbarg sich im Schatten, wie es seine Gewohnheit war. Ausflügler kehrten heim, die das warme Wetter ins Freie gelockt hatte, man hörte ihren Lärm und ihre Lustbarkeit schon von weitem; es erfüllte den Mann mit Angst, und er suchte Genugtuung dafür unter dem Blätterunterrock. Clarisse wußte noch immer nicht, was der Mann habe. Er kam jedesmal hervor, wenn ein Trupp Menschen vorbeizog und die Augen durch den Laternenschein für das Dunkel blind wurden. Er schob sich dann, ohne Schritte zu machen, nahe an diesen Lichtkreis heran wie einer, der an einem seichten Ufer nicht über die Sohlenränder ins Wasser geht. Es fiel Clarisse auf, wie bleich der Mann war, sein Gesicht war zu einer blassen Scheibe verzerrt. Sie empfand heftiges Mitleid mit ihm. Aber er führte sonderbare kleine Bewegungen aus, die sie lange Zeit nicht verstand, bis sie plötzlich ganz entsetzt Halt für ihre Hand suchen mußte; und weil Meingast noch immer ihren Arm festhielt, so daß sie keine weiten Bewegungen machen konnte, erfaßte sie seine breite Hose und klammerte sich Schutz suchend an das Tuch, das am Bein des Meisters zerrte wie eine Fahne im Sturm. So standen die beiden, ohne loszulassen.
Ulrich, der es als erster bemerkt zu haben glaubte, daß der Mann unter den Fenstern einer jener Kranken sei, die durch die Regelwidrigkeit ihres Geschlechtslebens die Neugierde der Regelmäßigen lebhaft beschäftigen, machte sich eine Weile überflüssigerweise Sorgen, wie Clarisse, da sie doch so unsicher sei, diese Entdeckung aufnehmen werde. Dann vergaß er das und hätte nun selbst gern gewußt, was in solch einem Menschen eigentlich vorgehe. Die Veränderung, dachte er, müsse wohl schon in dem Augenblick, wo dieser über das Gitter steige, so vollständig sein, daß sie sich im einzelnen gar nicht beschreiben lasse. Und so natürlich, als wäre das ein passender Vergleich, fühlte er sich alsbald an einen Sänger erinnert, der soeben noch gegessen und getrunken hat, dann aber ans Klavier tritt, die Hände über den Bauch faltet und, den Mund zum Liede öffnend, teils ein anderer ist, teils nicht. Auch an Se. Erlaucht Graf Leinsdorf, der sich in einen religiös-ethischen und in einen bankweltlich-vorurteilslosen Stromkreis einschalten konnte, dachte Ulrich. Die völlige Vollständigkeit dieser Verwandlung, die sich innen vollzieht, aber außen durch das Entgegenkommen der Welt ihre Bestätigung findet, hatte es ihm angetan: es war ihm gleichgültig, wie dieser Mann da unten psychologisch dazukam, aber er mußte sich vorstellen, wie sich dessen Kopf allmählich mit Spannung fülle, gleich einem Ballon, in den das Gas gelassen wird, wahrscheinlich tagelang und nach und nach, aber noch immer an den Seilen schwankend, die ihn an festen Boden binden, bis ein unhörbares Kommando, eine zufällige Ursache oder einfach der Ablauf der bestimmten Zeit, der nun das Nächstbeste zur Ursache macht, diese Seile löse, und der Kopf ohne Verbindung mit der Menschenwelt in der Leere des Unnatürlichen schwebe. Und wirklich stand der Mann mit seinem ausgehöhlten und unbedeutenden Gesicht im Schutz der Büsche und lauerte wie ein Raubtier. Er hätte, um seine Vorsätze auszuführen, eigentlich warten sollen, bis die Ausflügler spärlicher würden und dadurch die Gegend für ihn sicherer erschiene; aber sobald zwischen den Gruppen eine einzelne Frau vorbeikam, ja manchmal schon, wenn eine, lebhaft lachend und geschützt, inmitten so einer Gruppe dahintanzte, waren das keine Menschen mehr für ihn, sondern Puppen, die sich sein Bewußtsein unsinnig zurechtschnitt. Es erfüllte ihn eine so grausame Rücksichtslosigkeit gegen sie wie einen Mörder, und ihre Todesangst sollte ihm nichts ausgemacht haben; aber zu gleicher Zeit litt er selbst leichte Qualen durch die Vorstellung, daß sie ihn entdecken und wie einen Hund davonjagen könnten, ehe er noch ganz auf der Höhe der Besinnungslosigkeit wäre, und die Zunge zitterte ihm im Maule vor Angst. Mit blödem Kopf wartete er, und allmählich erlosch der letzte Schimmer der Dämmerung. Nun näherte sich eine alleingehende Frau seinem Versteck, und er konnte schon, als ihn noch die Laternen von ihr trennten, abgelöst von aller Umgebung wahrnehmen, wie sie in den Wogen des Hell-Dunkel auf und ab tauchte und ein schwarzer Klumpen war, der von Licht triefte, ehe sie nahe kam. Auch Ulrich bemerkte, daß es eine formlose Frau in mittleren Jahren sei, die sich da nähere. Die hatte einen Leib wie ein Sack, der mit Schottersteinen gefüllt ist, und ihr Gesicht verbreitete keine Sympathie, sondern war herrschsüchtig und zänkisch. Aber der schmächtige Blasse im Gebüsch wußte ja wohl ihr beizukommen, ohne daß sie es merken sollte, ehe es zu spät wäre. Die stumpfen Bewegungen ihrer Augen und ihrer Beine zuckten wahrscheinlich schon in seinem Fleisch, und er bereitete sich vor, sie zu überfallen, ohne daß sie sich zur Verteidigung herzurichten vermöchte, mit seinem Anblick zu überfallen, der in die Überraschte eindringen und für ewig in ihr stecken bleiben sollte, wie sie sich auch wenden mochte. Diese Erregung sauste und drehte in Knien, Händen und Kehlkopf; so kam es wenigstens Ulrich vor, während er beobachtete, wie sich der Mann durch den Teil des Gebüschs tastete, auf dem schon Halblicht ruhte, und seine Vorbereitungen traf, um im entscheidenden Augenblick hervorzutreten und sich zu zeigen. Entgeistert heftete der Unglückliche, an den leichten letzten Widerstand der Zweige gelehnt, seine Augen auf das häßliche Gesicht, das nun schon im vollen Licht auf und ab stampfte, und sein Atem keuchte folgsam im Rhythmus der fremden Person. »Ob sie aufschreien wird?« dachte Ulrich. Diese grobe Person konnte durchaus fähig sein, statt zu erschrecken, in Zorn zu geraten und zum Angriff überzugehn: dann müßte der verrückte Feigling die Flucht ergreifen, und die gestörte Wollust stieße ihm ihre Messer mit dem stumpfen Griff voran ins Fleisch! In diesem spannenden Augenblick hörte Ulrich aber die unbefangenen Stimmen zweier den Weg entlangkommenden Männer, und so, wie er sie durch das Glas vernahm, mochten sie auch unten gerade noch das Zischen der Erregung durchdrungen haben, denn der Mann unter dem Fenster ließ den fast schon geöffneten Schleier der Büsche vorsichtig wieder zufallen und zog sich lautlos in die Mitte des Dunkels zurück.
»Dieses Schwein!« flüsterte im gleichen Augenblick Clarisse kraftvoll ihrem Nachbarn zu, aber gar nicht empört. Bevor sich Meingast verwandelt hatte, hatte er oftmals solche Worte von ihr zu hören bekommen, die damals seinem aufregend freien Benehmen galten, und das Wort durfte sonach als historisch gelten. Clarisse setzte voraus, daß sich auch Meingast trotz seiner Verwandlung noch daran erinnern müsse, und wirklich kam ihr vor, daß sich als Antwort seine Finger auf ihrem Arm ganz leise rührten. Überhaupt war an diesem Abend nichts zufällig; auch jener Mann hatte nicht bloß zufällig Clarissens Fenster auserwählt, um sich darunter zu stellen: Ihre Meinung, daß sie Männer, mit denen etwas nicht in Ordnung sei, grausam anziehe, war fest und hatte sich schon oft als wahr erwiesen! Nahm man alles in allem, so waren ihre Ideen nicht sowohl wirr, als daß sie vielmehr Zwischenglieder ausließen, oder an manchen Stellen von Affekten getränkt wurden, wo andere Menschen keine solche innere Quelle haben. Ihre Überzeugung, daß sie es gewesen sei, die es seinerzeit Meingast ermöglicht habe, sich gründlich zu ändern, war an und für sich nicht unglaubwürdig; erwog man überdies, wie unzusammenhängend, weil in der Ferne und in Jahren ohne Berührung, sich diese Veränderung vollzogen habe, und auch ihre Größe – denn sie hatte aus einem oberflächlichen Lebemann einen Propheten gemacht –, am Ende aber gar noch, daß sich bald nach Meingasts Abschied die Liebe zwischen Walter und Clarisse zu jener Höhe der Kämpfe erhoben habe, auf der sie sich noch befand, so hatte auch Clarissens Vermutung, Walter und sie hätten die Sünden des noch unverwandelten Meingast auf sich nehmen müssen, um diesem den Aufstieg zu ermöglichen, keine schlechtere Begründung für sich als unzählige angesehene Gedanken, die heute geglaubt werden. Daraus ergab sich aber das ritterlich dienende Verhältnis, worin sich Clarisse zu dem Zurückgekehrten stehen fühlte, und wenn sie nun von seiner neuen »Verwandlung« sprach, statt einfach von einer Veränderung, so drückte sie nur angemessen die Gehobenheit aus, in der sie sich seither befand. Das Bewußtsein, sich in einer bedeutsamen Beziehung zu befinden, konnte Clarisse im wörtlichen Sinn erheben. Man weiß nicht recht, ob man die Heiligen mit einer Wolke unter den Füßen malen soll oder ob sie einen Finger breit über dem Erdboden einfach in nichts stehen, und geradeso stand es jetzt um sie, seit Meingast ihr Haus erwählt hatte, um darin seine große Arbeit zu verrichten, die wahrscheinlich einen ganz tiefen Hintergrund hatte. Clarisse war nicht in ihn verliebt wie eine Frau, sondern eher so wie ein Knabe, der einen Mann bewundert; beseligt, wenn es ihm gelingt, in der gleichen Weise seinen Hut aufzusetzen wie jener, und von dem heimlichen Wetteifer erfüllt, ihn noch zu übertreffen.
Und das wußte Walter. Er konnte weder hören, was Clarisse mit Meingast flüsterte, noch vermochte sein Auge mehr von den beiden wahrzunehmen als eine im Dämmerlicht des Fensters schwer verschmolzene Schattenmasse, aber er durchschaute alles ohne Ausnahme. Auch er hatte erkannt, was mit dem Mann in den Büschen los war, und die Stille, von der das Zimmer beherrscht wurde, lastete auf ihm am schwersten. Er vermochte auszunehmen, daß Ulrich, der reglos neben ihm stand, gespannt aus dem Fenster sah, und er setzte voraus, daß die beiden an dem anderen Fenster das gleiche täten. »Warum löst keiner dieses Schweigen?!« dachte er. »Warum öffnet keiner das Fenster und verscheucht diesen Unhold?!« Es fiel ihm ein, daß man verpflichtet wäre, die Polizei anzurufen, aber es befand sich kein Fernsprecher im Hause, und er hatte nicht den Mut, etwas zu unternehmen, das auf die Geringschätzung seiner Gefährten stoßen könnte. Er wollte ja überhaupt kein »entrüsteter Philister« sein, er war nur so gereizt! Das »ritterliche Verhältnis«, in dem seine Frau zu Meingast stand, konnte er sogar sehr gut begreifen, denn Clarisse war es auch in der Liebe unmöglich, sich eine Erhebung ohne Anstrengung vorzustellen: sie empfing ihre Erhebungen nicht von der Sinnlichkeit, sondern nur vom Ehrgeiz. Er erinnerte sich, wie unheimlich lebendig sie manchmal in seinen Armen hatte sein können, als er sich noch mit Kunstwerken abgab; aber anders als auf solchem Umweg gelang es niemals, sie zu erwärmen. »Vielleicht empfangen alle Menschen wirksame Erhebungen nur vom Ehrgeiz?« überlegte er zweifelnd. Es war ihm nicht entgangen, daß Clarisse »Wache stand«, wenn Meingast arbeitete, um seine Gedanken mit ihrem Leib zu schützen, obwohl sie diese Gedanken nicht einmal kannte. Schmerzlich betrachtete Walter den einsamen Egoisten in seinem Busch, und dieser Unglückliche gab ihm ein warnendes Beispiel für die Verheerungen ab, die in einem allzu vereinzelten Gemüt angerichtet werden. Dabei marterte ihn die Vorstellung, daß er genau wisse, was Clarisse jetzt, während sie zusehe, empfinde. »Sie wird in einer leichten Erregung sein, als ob sie rasch eine Treppe gestiegen wäre« dachte er. Er empfand selbst in dem Bild, das vor seinen Augen stand, einen Druck, als ob etwas darin eingepuppt wäre, das seine Hülle zerreißen wolle, und er spürte, wie sich in diesem geheimnisvollen Druck, den auch Clarisse fühlte, der Wille bewegte, nicht bloß zuzusehn, sondern gleich, bald, irgendwie etwas zu tun und sich selbst in das Geschehende hineinzustürzen, um es zu befrein. Bei anderen Menschen ergeben sich wohl doch die Gedanken aus dem Leben, aber bei Clarisse entstand das, was sie erlebte, jedesmal aus den Gedanken: das war so beneidenswert verrückt! Und Walter neigte mehr zu den Übertreibungen seiner vielleicht geisteskranken Frau als etwa zu dem Denken seines Freundes Ulrich, der sich einbildete, vorsichtig und kühn zu sein: irgendwie war ihm das Unsinnigere angenehmer, es ließ ihn vielleicht selbst unangetastet, es wandte sich an sein Mitleid, jedenfalls ziehen ja viele Menschen verrückte Gedanken schwierigen vor, und es bereitete ihm sogar eine gewisse Genugtuung, daß Clarisse im Dunkel mit Meingast flüsterte, während Ulrich verurteilt war, als stummer Schatten neben ihm zu stehn; er gönnte ihm die Niederlage durch Meingast. Aber von Zeit zu Zeit marterte ihn die Erwartung, daß Clarisse plötzlich das Fenster aufreißen oder über die Treppe zu den Büschen hinuntereilen werde: dann verabscheute er beide männlichen Schatten und ihr unanständig schweigendes Dabeistehn, das die Lage für den armen, kleinen von ihm behüteten Prometheus, der jeder Versuchung des Geistes ausgesetzt war, von Minute zu Minute bedenklicher machte.
In dieser Zeit waren Scham und verhinderte Lust in dem Kranken, der sich in seinen Busch zurückgezogen hatte, zu einer Einheit der Enttäuschung zusammengeschmolzen, die seine hohle Figur wie eine bittere Masse ausgoß. Als er ins innerste Dunkel gelangt war, knickte er zusammen, ließ sich zur Erde fallen, und sein Kopf hing wie ein Blatt vom Hals hinab. Die Welt stand strafend vor ihm, und er sah seine Lage ungefähr so, wie sie den beiden vorübergehenden Männern erschienen wäre, wenn sie ihn entdeckt hätten. Aber nachdem dieser Mann eine Weile trockenen Auges über sich geweint hatte, ging wieder die ursprüngliche Veränderung mit ihm vor sich, diesmal sogar mit einem Mehr an Trotz und Rache vermischt. Und noch einmal mißlang es. Ein Mädchen, das ungefähr fünfzehn Jahre alt sein mochte und sich offenbar irgendwo verspätet hatte, kam vorbei und erschien ihm schön, ein kleines, hastendes Ideal: der Verdorbene fühlte, daß er nun eigentlich ganz hervortreten und sie freundlich ansprechen müßte, aber das stürzte ihn augenblicklich in wilden Schrecken. Seine Phantasie, die bereit war, ihm jede Möglichkeit vorzuspiegeln, an die eine Frau nur zu erinnern vermag, wurde ängstlich unbeholfen vor der einzigen natürlichen Möglichkeit, dieses schutzlos daherkommende kleine Geschöpf in seiner Schönheit zu bewundern. Es bereitete seinem Schattenich desto weniger Vergnügen, je mehr es geeignet war, seinem Tagesich zu gefallen, und vergeblich suchte er es zu hassen, wenn er es schon nicht lieben konnte. So stand er ungewiß an der Grenze von Schatten und Licht und bot sich dar. Als die Kleine sein Geheimnis bemerkte, war sie schon an ihm vorbeigegangen und etwa acht Schritte von ihm entfernt; sie hatte zuerst bloß auf die unruhige Stelle in den Blättern gesehn, ohne zu erkennen, was los wäre, und als sie es durchschaute, konnte sie sich bereits so weit in Sicherheit fühlen, daß sie nicht mehr tödlich erschrak: wohl blieb ihr Mund eine Weile offen stehn, aber dann kreischte sie hell auf und begann zu laufen, dem Racker schien es sogar Spaß zu machen, sich umzusehn, und der Mann fühlte sich mit Beschämung stehen gelassen. Er hoffte zornig, daß ihr doch ein Tropfen Gift in die Augen gefallen sein und sich später ins Herz durchfressen möge.
Dieser verhältnismäßig arglose und komische Ausgang bedeutete einige Erleichterung für die Menschlichkeit der Zuschauer, die diesmal wohl Partei genommen hätte, wäre der Auftritt nicht auf solche Weise verflüchtigt worden; und unter diesem Eindruck stehend, bemerkten sie kaum, wie die Angelegenheit unten zu Ende kam, sie mußten sich, daß es geschehen sei, erst an der Beobachtung bestätigen, daß die männliche »Hyäne«, wie Walter dann sagte, mit einemmal verschwunden blieb. Es war ein in jeder Hinsicht mittleres Wesen, an dem des Mannes Vorsatz gelang, sah ihn entgeistert und mit Widerwillen an, hielt unwillkürlich einen Augenblick erschrocken im Gehn inne und suchte dann so zu tun, als ob es nichts bemerkt hätte. In dieser Sekunde fühlte er sich samt dem Blätterdach und der ganzen umgestülpten Welt, aus der er hervorgegangen war, tief in den widerstrebenden Blick der Wehrlosen hineingleiten. So mochte es gewesen sein oder auch anders. Clarisse hatte nicht achtgegeben. Tief aufatmend richtete sie sich aus ihrer vorgebeugten Haltung auf, nachdem Meingast und sie einander schon vor einer Weile losgelassen hatten. Es kam ihr vor, daß sie plötzlich mit den Sohlen auf dem Holzboden lande, und ein Wirbel unaussprechlicher, grauenvoller Lust beruhigte sich in ihrem Körper. Sie war fest überzeugt, daß alles, was sich abgespielt habe, eine besondere, auf sie gemünzte Bedeutung besitze; und so seltsam es klingen mag, hatte sie von dem abstoßenden Vorgang den Eindruck, daß sie eine Braut sei, der man ein Ständchen dargebracht habe, und in ihrem Kopf tanzten Vorsätze, die sie abschließen wollte, mit solchen, die sie neu faßte, wild durcheinander.
»Komisch!« sagte plötzlich Ulrich ins Dunkel und brach als erster das Schweigen der vier. »Es ist doch eigentlich ein lächerlich verzwickter Gedanke, daß diesem Burschen der ganze Spaß verdorben wäre, wenn er bloß wissen könnte, daß er ohne sein Wissen beobachtet wird!« Aus dem Nichts löste sich der Schatten Meingasts und blieb in der Richtung auf Ulrichs Stimme als schmale Verdichtung der Finsternis stehn. »Man mißt dem Sexuellen viel zu große Bedeutung bei« sagte der Meister. »Das sind in Wahrheit Bockspiele des Zeitwollens.« Sonst sagte er nichts. Aber Clarisse, die bei Ulrichs Sprache unwillig zusammengezuckt war, fühlte, daß sie durch Meingasts Worte, wenn man auch in ihrem Dunkel nicht wußte, wohin es ging, vorwärtsgebracht wurde.

Als Ulrich nach Hause zurückkehrte, von dem, was er erlebt hatte, in noch größere Unzufriedenheit als zuvor versetzt, wollte er einer Entscheidung nicht länger ausweichen und rief sich, so genau er sich nur zu erinnern vermochte, den »Zwischenfall« ins Gedächtnis, mit welchem Wort er mildernd das bezeichnete, was sich in den letzten Stunden seines Beisammenseins mit Agathe und wenige Tage nach dem großen Gespräch ereignet hatte.
Ulrich war reisefertig gewesen, um einen Schlafwagenzug zu benützen, der spät durch die Stadt kam, und die Geschwister hatten sich zum letzten Abendbrot getroffen; es war vorher ausgemacht worden, daß ihm Agathe in kurzer Zeit nachfolgen solle, und sie schätzten diese Trennung etwas ungewiß auf fünf bis vierzehn Tage.
Bei Tisch sagte Agathe: »Wir haben aber vorher noch etwas zu tun!«
»Was?« fragte Ulrich.
»Wir müssen das Testament ändern.«
Ulrich erinnerte sich, daß er seine Schwester ohne Überraschung angesehen habe: trotz allem, was sie schon miteinander gesprochen hatten, war er der Erwartung gewesen, daß nun ein Scherz kommen werde. Aber Agathe blickte auf ihren Teller und hatte die wohlbekannte Falte des Nachdenkens über der Nasenwurzel. Langsam sagte sie: »Er soll nicht so viel von mir in seinen Fingern behalten, als hätte man einen Wollfaden dazwischen abgebrannt...!«
Es mußte in den letzten Tagen etwas in ihr heftig gearbeitet haben. Ulrich wollte ihr sagen, daß er diese Überlegungen, wie man Hagauer schädigen könne, für unerlaubt halte und nicht wieder darüber zu sprechen wünsche: in diesem Augenblick trat aber der alte Haus- und Amtsdiener seines Vaters ein, der die Speisen auftrug, und sie konnten sich nur noch verhüllt und in Andeutungen ausdrücken.
»Tante Malwine –« sagte Agathe und lächelte ihren Bruder an »erinnerst du dich an Tante Malwine? – Sie hatte ihr ganzes Vermögen unserer Kusine bestimmt; das war eine ausgemachte Sache, von der alle wußten! Und dafür ist diese im elterlichen Erbe zugunsten ihres Bruders auf den Pflichtteil beschränkt worden, damit keines der Geschwister, die von ihrem Vater gleich zärtlich geliebt wurden, mehr bekäme als das andere. Daran mußt du dich wohl erinnern? Die Jahresrente, die Agathe – Alexandra, deine Kusine,« verbesserte sie sich lachend »seit ihrer Heirat bekam, ist bis auf weiteres gegen diesen Pflichtteil verrechnet worden, das war eine komplizierte Angelegenheit, um Tante Malwine mit dem Sterben Zeit zu lassen –«
»Ich verstehe dich nicht« hatte Ulrich gemurrt.
»Aber das ist doch einfach zu verstehn! Tante Malwine ist heute tot, aber noch vor ihrem Tod hatte sie ihr ganzes Vermögen verloren; sie mußte sogar unterstützt werden. Jetzt braucht Papa nur noch aus irgendeinem Grund vergessen zu haben, daß er seine eigene Testamentsabänderung rückgängig mache, so bekommt Alexandra überhaupt nichts, auch wenn bei ihrer Heirat Gütergemeinschaft vereinbart worden sein sollte!«
»Das weiß ich nicht, ich glaube, das wäre sehr ungewiß!« sagte Ulrich unwillkürlich. »Und dann werden doch wohl auch bestimmte Zusicherungen des Vaters dagewesen sein. Vater kann das alles doch nicht ohne irgendwelche Auseinandersetzung mit seinem Schwiegersohn gemacht haben!« Ja, er erinnerte sich allzugut, so geantwortet zu haben, weil er bei dem gefährlichen Irrtum seiner Schwester einfach nicht stillsein konnte. Auch das Lächeln, mit dem sie ihn danach angesehen hatte, war ihm noch ganz gegenwärtig: »So ist er!« schien sie zu denken. »Man braucht ihm eine Sache nur so darzulegen, als ob sie nicht Fleisch und Blut, sondern etwas Allgemeines wäre, und man kann ihn am Nasenring führen!« Und dann hatte sie kurz gefragt: »Waren solche Vereinbarungen schriftlich da?« und gab selbst die Antwort: »Davon habe ich nie etwas gehört, und ich müßte es doch eigentlich wissen! Papa war eben in allen Dingen sonderbar.«
In diesem Augenblick wurde serviert, und sie benutzte Ulrichs Wehrlosigkeit um beizufügen: »Mündliche Vereinbarungen kann man jederzeit abstreiten. Ist aber das Testament nach Tante Malwines Verarmung noch einmal abgeändert worden, so spricht alles dafür, daß diese zweite Abänderung verloren gegangen ist!«
Und wieder ließ sich Ulrich zu einer Verbesserung verleiten und sagte: »Immerhin bleibt dann noch der nicht unbeträchtliche Pflichtteil; den kann man leiblichen Kindern doch nicht wegnehmen!«
»Aber ich habe dir schon gesagt, daß der noch bei Lebzeiten ausbezahlt worden ist! Alexandra war doch überhaupt zweimal verheiratet!« Sie waren einen Augenblick allein, und hastig fügte Agathe hinzu: »Ich habe mir diese Stelle genau angesehn: Man braucht nur einige Worte zu ändern, dann sieht es so aus, als ob mir der Pflichtteil schon früher ausgezahlt worden wäre. Wer weiß denn das heute?! Als uns Papa nach den Verlusten der Tante wieder auf gleiche Teile setzte, ist das in einem Nachtrag geschehn, den man vernichten kann; außerdem könnte ich ja auch auf meinen Pflichtteil verzichtet haben, um ihn aus irgendwelchen Gründen dir zu lassen!«
Ulrich sah verblüfft seine Schwester an und versäumte darüber die Gelegenheit, auf ihre Erfindungen die Antwort zu geben, zu der er verpflichtet war; als er damit beginnen wollte, befanden sie sich schon wieder zu dritt, und er mußte seine Worte verschleiern:
»Man sollte wirklich« begann er zögernd »so etwas auch nicht denken!«
»Weshalb denn nicht?!« entgegnete Agathe.
Solche Fragen sind sehr einfach, wenn sie ruhen; aber sobald sie sich aufrichten, sind sie eine ungeheuerliche Schlange, die zu einem harmlosen Fleck zusammengerollt gewesen ist: Ulrich erinnerte sich, daß er zur Antwort gegeben habe: »Sogar Nietzsche schreibt den ›freien Geistern‹ vor, um der Freiheit des Inneren willen gewisse äußere Regeln zu achten!« Er hatte das mit einem Lächeln geantwortet, hatte aber dabei gefühlt, daß es etwas feige sei, sich hinter die Worte eines anderen zu verstecken.
»Das ist ein lahmer Grundsatz!« entschied Agathe kurz. »Nach diesem Grundsatz war ich verheiratet!«
Und Ulrich dachte: »Ja, es ist wirklich ein lahmer Grundsatz.« Es scheint, daß Menschen, die auf besondere Fragen etwas Neues und Umgestaltendes zu antworten haben, dafür mit allem anderen ein Kompromiß schließen, das sie eine brave Moral in Pantoffeln leben läßt; zumal da ein solches Verfahren, das alle Bedingungen konstant zu halten trachtet bis auf die eine, die es zu verändern wünscht, ganz und gar der schöpferischen Ökonomie des Denkens entspricht, die ihnen vertraut ist. Auch Ulrich war das stets eher streng als nachlässig vorgekommen, aber damals, als dieses Gespräch zwischen ihm und seiner Schwester stattfand, fühlte er sich getroffen; er ertrug nicht mehr die Unentschiedenheit, die er geliebt hatte, und es schien ihm, daß gerade Agathe die Aufgabe gehabt habe, ihn soweit zu bringen. Und während er ihr trotzdem noch die Regel der Freien Geister vorhielt, lachte sie und fragte ihn, ob er nicht bemerke, daß in dem Augenblick, wo er allgemeine Regeln zu bilden suche, ein anderer Mensch an seine Stelle trete.
»Und obgleich du ihn sicher mit Recht bewunderst, ist er dir im Grunde ganz gleichgültig!« behauptete sie. Sie sah ihren Bruder mutwillig und herausfordernd an. Er fühlte sich wieder gehindert, ihr zu antworten, schwieg, jeden Augenblick eine Störung erwartend, und mochte sich doch nicht entschließen, das Gespräch abzubrechen. Diese Lage machte ihr Mut. »Du hast mir in der kurzen Zeit unseres Beisammenseins« fuhr sie fort »so wunderbare Ratschläge für mein Leben gegeben, wie ich sie mir nie auszudenken gewagt hätte, aber dann hast du jedesmal gefragt, ob sie auch wahr seien! Mir scheint, die Wahrheit ist in deinem Gebrauch eine Kraft, die den Menschen mißhandelt!?«
Sie wußte nicht, woher sie das Recht nahm, ihm solche Vorwürfe zu machen; ihr eigenes Leben erschien ihr doch so wertlos, daß sie hätte schweigen müssen. Aber sie schöpfte ihren Mut aus ihm selbst, und das war ein so wunderlich weiblicher Zustand, der sich auf ihn stützte, während sie ihn angriff, daß er es auch fühlte.
»Du hast kein Verständnis für das Verlangen, Gedanken zu großen, gegliederten Massen zusammenzufassen, die Kampferlebnisse des Geistes sind dir fremd; du siehst darin nur irgend einen Gleichschritt ziehender Kolonnen, das Unpersönliche vieler Füße, die die Wahrheit wie eine Staubwolke aufwirbeln!« sagte Ulrich.
»Aber hast du mir denn nicht selbst die zwei Zustände, in denen du leben kannst, so genau und klar beschrieben, wie ich es nie vermöchte?!« antwortete sie.
Eine Glutwolke, deren Grenzen sich rasch veränderten, flog über ihr Gesicht. Sie hatte das Verlangen, ihren Bruder so weit zu bringen, daß er nicht mehr umkehren könne. Sie fieberte bei dieser Vorstellung, wußte aber noch nicht, ob sie genug Mut haben werde, und verzögerte das Ende des Mahls.
Das alles wußte Ulrich, er erriet es; aber er hatte sich nun aufgerüttelt und sprach auf sie ein. Er saß vor ihr, die Augen abwesend, den Mund gewaltsam zum Sprechen gezwungen, und hatte den Eindruck, er sei nicht bei sich, sondern eigentlich hinter sich zurückgeblieben und rufe sich das nach, was er sage. »Nimm an, ich möchte« sagte er »auf der Reise einem Fremden die goldene Zigarettendose stehlen: ich frage dich, ob das nicht einfach undenkbar ist?! Also will ich jetzt auch nicht erst darüber reden, ob eine Entscheidung, wie sie dir vorschwebt, mit höherer Geistesfreiheit zu rechtfertigen sei oder nicht. Möge es sogar recht sein, Hagauer ein Leid zuzufügen. Aber stell dir vor, ich im Hotel sei weder in Not, noch ein Berufsdieb, noch ein geistig Minderwertiger mit Deformationen am Kopf oder am Körper, noch habe ich eine Hysterikerin zur Mutter oder einen Trinker zum Vater, noch sei ich von irgendetwas anderem verwirrt oder stigmatisiert, stähle aber trotzdem: ich wiederhole dir, daß es diesen Fall auf der ganzen Welt nicht gibt! Er kommt einfach nicht vor! Er ist geradezu mit wissenschaftlicher Sicherheit für unmöglich zu erklären!«
Agathe lachte hell auf. »Aber Ulo! Was ist dann, wenn man es trotzdem tut?!«
Bei dieser Antwort, die er nicht vorgesehen hatte, mußte Ulrich selbst lachen; er sprang auf und schob seinen Stuhl hastig zurück, damit er sie durch seine Zustimmung nicht ermutige. Agathe erhob sich von Tisch. »Du darfst das nicht tun!« bat er sie. »Aber Uli,« erwiderte sie »denkst du denn selbst im Traum, oder träumst du da etwas, das geschieht?!«
Diese Frage erinnerte ihn an seine eigene vor wenig Tagen aufgestellte Behauptung, daß alle Forderungen der Moral auf eine Art Traumzustand hinwiesen, der aus ihnen entflohen sei, wenn sie fertig dastünden. Aber Agathe war, nachdem sie das gesagt hatte, in das Arbeitszimmer ihres Vaters gegangen, das sich nun hinter zwei geöffneten Türen beleuchtet darbot, und Ulrich, der ihr nicht gefolgt war, sah sie in diesem Rahmen stehn. Sie hielt ein Papier ans Licht und las darin. »Hat sie keine Vorstellung von dem, was sie da auf sich nimmt?!« fragte er sich. Doch der Schlüsselbund zeitgenössischer Begriffe wie nervöse Minderwertigkeit, Ausfallserscheinung, Debilität und dergleichen wollte nicht passen, und in dem schönen Anblick, den Agathe während ihres Vergehens bot, war auch weder von Habsucht, noch von Rache oder einer anderen inneren Häßlichkeit eine Spur zu entdecken. Und obwohl mit Hilfe solcher Begriffe selbst die Handlungen eines Verbrechers oder Halbirren Ulrich noch verhältnismäßig gezähmt und zivilisiert vorgekommen wären, denn da schimmern die verzerrten und verschobenen Beweggründe des gewöhnlichen Lebens in der Tiefe, machte ihn seiner Schwester wildsanfte Entschlossenheit, worin sich Reinheit und Verbrechen unterschiedslos mischten, in diesem Augenblick völlig fassungslos. Er vermochte nicht, dem Gedanken Raum zu geben, daß dieser Mensch, der ganz offen begriffen war, eine schlechte Handlung zu begehn, ein schlechter Mensch sein könne, und mußte dabei zusehn, wie Agathe ein Papier nach dem anderen aus dem Schreibtisch nahm, durchlas, zur Seite legte und ernstlich nach bestimmten Aufzeichnungen suchte. Ihre Entschlossenheit machte den Eindruck, aus einer anderen Welt auf die Ebene gewöhnlicher Entscheidungen herabgestiegen zu sein.
Während dieser Beobachtungen beunruhigte Ulrich überdies die Frage, warum er Hagauer überredet habe, gutgläubig abzureisen. Es dünkte ihn, er habe von allem Anfang an so gehandelt, als ob er das Werkzeug des Willens seiner Schwester wäre, und bis zuletzt hatte er ihr, auch wenn er widersprach, Antworten gegeben, die ihr vorwärtshalfen. Die Wahrheit mißhandle den Menschen, hatte sie gesagt: »Sehr gut gesagt, aber sie weiß doch gar nicht, was Wahrheit bedeutet!« überlegte Ulrich. »Mit den Jahren bekommt man die steife Gicht davon, aber in der Jugend ist es ein Jagd- und Segelleben!« Er hatte sich wieder gesetzt. Jetzt kam ihm plötzlich vor, daß Agathe nicht nur das, was sie von Wahrheit sage, irgendwie von ihm abgenommen habe, sondern daß ihr auch das, was sie im Nebenzimmer tue, von ihm vorgezeichnet worden sei. Er hatte doch gesagt, daß es im höchsten Zustand eines Menschen kein Gut und Böse gebe, sondern nur Glaube oder Zweifel; daß feste Regeln dem innersten Wesen der Moral widersprächen und der Glaube höchstens eine Stunde alt werden dürfe; daß man im Glauben nichts Niedriges tun könne; daß Ahnung ein leidenschaftlicherer Zustand sei als Wahrheit: Und Agathe war jetzt im Begriff, das Gebiet der moralischen Umfriedung zu verlassen und sich auf jene grenzenlose Tiefe hinauszuwagen, wo es keine andere Entscheidung gibt als die, ob man steigen wird oder fällt. Sie führte das so aus, wie sie seinerzeit die Orden aus seiner zögernden Hand genommen hatte, um sie zu vertauschen, und in diesem Augenblick liebte er sie unerachtet ihrer Gewissenlosigkeit mit dem merkwürdigen Gefühl, daß es seine eigenen Gedanken seien, die von ihm zu ihr gegangen wären und nun von ihr wieder zu ihm zurückkehrten, ärmer an Überlegung geworden, aber wie ein Wildwesen balsamisch nach Freiheit duftend. Und während er unter der Mühe, sich zu bändigen, zitterte, schlug er ihr vorsichtig vor: »Ich werde meine Abreise um einen Tag verschieben und beim Notar oder bei einem Rechtsanwalt Erkundigungen einholen. Vielleicht ist das furchtbar durchsichtig, was du tun willst!«
Aber Agathe hatte schon herausgefunden, daß der Notar, dessen sich ihr Vater seinerzeit bedient hatte, nicht mehr am Leben sei. »Kein Mensch weiß mehr von der Sache,« sagte sie »rühr nicht daran!«
Ulrich bemerkte, daß sie ein Blatt Papier genommen hatte und Versuche anstellte, die Handschrift ihres Vaters nachzuahmen.
Angezogen davon, war er nahegekommen und hinter sie getreten. Da lagen nun in Haufen die Blätter, auf denen die Hand seines Vaters gelebt hatte, deren Bewegung man beinahe noch nachfühlen konnte, und dort zauberte Agathe wie in schauspielerischer Nachahmung fast das Gleiche hervor. Es war seltsam, dem zuzusehn. Der Zweck, zu dem das geschah, der Gedanke, daß es einer Fälschung diene, verschwand. Und in Wahrheit hatte sich das Agathe auch gar nicht überlegt. Es schwebte eine Gerechtigkeit mit Flammen statt mit Logik um sie. Güte, Anständigkeit und Rechtlichkeit waren ihr, wie sie diese Tugenden an Menschen, die sie kannte, und zumal an Professor Hagauer kennen gelernt hatte, immer nur so vorgekommen, als ob man einen Fleck aus einem Kleid entfernt hätte; aber das Unrecht, das in diesem Augenblick um sie selbst schwebte, war so, wie wenn die Welt im Licht eines Sonnenaufgangs ertrinkt. Es kam ihr vor, es wären Recht und Unrecht nicht mehr allgemeine Begriffe und ein für Millionen von Menschen angerichtetes Kompromiß, sondern zauberhafte Begegnung von Mir und Dir, Irrsinn erster, noch mit nichts vergleichlicher und an keinem Maß zu messender Schöpfung. Eigentlich machte sie Ulrich ein Verbrechen zum Geschenk, indem sie sich in seine Hand gab, voll Vertrauen, daß er ihre Unbesonnenheit verstehen müsse, und ähnlich wie Kinder, die, wenn sie schenken wollen und nichts besitzen, auf die unerwartetsten Einfälle kommen. Und Ulrich erriet das meiste davon. Wenn seine Augen ihren Bewegungen folgten, bereitete es ihm eine Annehmlichkeit, die er noch nie erlebt hatte, denn es hatte etwas von märchenhafter Sinnlosigkeit in sich, einmal ganz und ohne Warnung dem nachzugeben, was ein anderes Wesen tat. Auch wenn die Erinnerung hineinfiel, daß doch einem Dritten gleichzeitig Böses geschehe, blinkte sie nur für eine Sekunde wie ein Beil auf, und er beruhigte sich rasch damit, daß es eigentlich doch noch niemand etwas angehe, was seine Schwester dort tue; es war nicht ausgemacht, daß diese Schriftversuche wirklich benutzt würden, und was Agathe in ihren vier Wänden trieb, blieb ihre Sache, solang die Wirkung nicht aus dem Haus drang.
Sie rief jetzt nach ihrem Bruder, wandte sich um und war überrascht, weil er hinter ihr stand. Sie wachte auf. Sie hatte alles geschrieben, was sie schreiben wollte, und bräunte es nun entschlossen, an einer Kerzenflamme, um der Schrift ein altes Aussehen zu geben. Sie streckte ihre freie Hand Ulrich entgegen, der nahm sie nicht, vermochte aber auch nicht, sein Gesicht ganz in finstere Falten zu verschließen. Darauf sagte sie: »Höre! Wenn etwas ein Widerspruch ist, und du liebst ihn nach seinen beiden Seiten – liebst ihn wirklich! – hebst du ihn damit nicht schon auf, ob du es willst oder nicht?!«
»Diese Frage ist viel zu leichtfertig gestellt« murrte Ulrich. Aber Agathe wußte, wie er in seinem »zweiten Denken« darüber urteilen werde. Sie nahm ein reines Papierblatt und schrieb übermütig in den altmodischen Schriftzügen, die sie so gut nachzuahmen verstand: »Meine böse Tochter Agathe bietet keinen Grund, diese einmal getroffenen Bestimmungen zuungunsten meines guten Sohnes Ulo zu ändern!« Damit war sie noch nicht zufrieden und schrieb auf ein zweites Blatt: »Meine Tochter Agathe soll von meinem guten Sohn Uli noch eine Weile erzogen werden.«
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So hatte es sich also zugetragen, aber nachdem Ulrich es bis ins einzelne wieder erweckt hatte, wußte er am Ende ebensowenig, was zu tun sei, wie vor Beginn.
Er hätte nicht abreisen dürfen, ohne die Lage wieder ins Lot zu bringen: das stand wohl außer Zweifel! Und offenbar hatte ihm der zeitgenössische Aberglaube, daß man nichts zu ernst nehmen dürfe, einen Streich gespielt, als er ihm einflüsterte, vorderhand das Feld zu räumen und den Wert des strittigen Zwischenfalls nicht durch empfindungsvollen Widerstand zu vergrößern. Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird; es entsteht aus den heftigsten Übertreibungen, wenn man sie sich selbst überläßt, mit der Zeit eine neue Mittelmäßigkeit; man könnte sich in keinen Zug setzen und müßte auf der Straße immer eine entsicherte Pistole zur Hand haben, wenn man nicht dem Gesetz des Durchschnitts vertrauen dürfte, das die überstiegenen Möglichkeiten von selbst unwahrscheinlich macht: diesem europäischen Erfahrungsglauben hatte Ulrich gehorcht, als er trotz aller Bedenken nach Hause gereist war. Im Grunde freute es ihn sogar, daß sich Agathe anders gezeigt hatte.
Trotzdem durfte der Abschluß dieser Angelegenheit rechtlichermaßen kein anderer sein, als daß Ulrich nun, und so bald wie möglich, das Versäumte nachhole. Er hätte seiner Schwester ohne zu zögern einen Expreßbrief oder eine Depesche schicken müssen, und er vergegenwärtigte sich, daß darin ungefähr stehen müßte: »Ich lehne jede Gemeinschaft ab, solange du nicht...!« Aber das zu schreiben, war er ganz und gar nicht gesonnen, es war ihm einfach im Augenblick völlig unmöglich.
Überdies war jenem verhängnisvollen Auftritt der Beschluß vorangegangen, daß sie in den nächsten Wochen zusammen leben oder doch wenigstens wohnen wollten, und in der kurzen dann noch bis zum Abschied übriggebliebenen Zeit hatten sie hauptsächlich davon sprechen müssen. Sie waren zunächst »für die Dauer der Scheidung« übereingekommen, damit Agathe Rat und Schutz habe. Aber nun erinnerte sich Ulrich, während er sich das ins Gedächtnis rief, auch einer älteren Bemerkung seiner Schwester, daß sie »Hagauer umbringen« wolle, und offenbar hatte dieser »Plan« in ihr gearbeitet und eine neue Gestalt angenommen. Sie hatte lebhaft darauf bestanden, das Familiengrundstück rasch zu verkaufen, und das mochte wohl schon den Sinn gehabt haben, daß sich der Besitz verflüchtige, wenngleich es auch aus anderen Gründen ratsam erscheinen konnte; jedenfalls hatten die Geschwister beschlossen, eine Maklerfirma zu beauftragen, und hatten die Bedingungen festgesetzt. Also mußte Ulrich jetzt auch darüber nachdenken, was mit seiner Schwester eigentlich geschehen solle, nachdem er in sein nachlässig-einstweiliges und von ihm selbst nicht anerkanntes Leben zurückgekehrt wäre. Die Lage, in der sie sich befand, konnte unmöglich andauern. So überraschend nah sie einander auch in der kurzen Zeit gekommen waren – der Anschein einer Schicksalskreuzung, dachte Ulrich, wenn auch wahrscheinlich aus allerhand unabhängigen Einzelheiten zustandegekommen; während Agathe vielleicht eine abenteuerlichere Auffassung davon hatte – so wenig wußten sie von einander in den mannigfachen oberflächlichen Beziehungen, von denen ein gemeinsames Leben abhängt. Wenn er unbefangen über seine Schwester nachdachte, fand Ulrich sogar viele ungelöste Fragen, und selbst über ihre Vergangenheit vermochte er sich kein sicheres Urteil zu bilden; den meisten Aufschluß schien ihm noch die Vermutung zu geben, daß sie alles, was durch sie oder mit ihr geschehe, sehr nachlässig behandle und daß sie sehr ungewiß und vielleicht phantastisch in Erwartungen lebe, die neben ihrem wirklichen Leben herliefen, denn eine solche Erklärung wurde auch dadurch nahegelegt, daß sie so lange mit Hagauer gelebt und so schnell mit ihm gebrochen habe. Und auch die Unüberlegtheit, womit sie die Zukunft behandelte, paßte dazu: sie war von Hause fortgegangen, das schien ihr einstweilen zu genügen, und Fragen, was weiter geschehen werde, wich sie aus. Und auch Ulrich vermochte weder die Vorstellung zu bilden, daß sie nun ohne Mann bleiben und unbestimmt wie ein junges Mädchen harren werde, noch konnte er sich vorstellen, wie der Mann aussehen müßte, zu dem seine Schwester passe; das hatte er auch ihr kurz vor dem Abschied gesagt.
Sie aber hatte ihm erschrocken – und wahrscheinlich ein wenig mit närrisch gespieltem Schreck – ins Gesicht gesehn und dann ruhig mit der Gegenfrage geantwortet: »Kann ich denn in der nächsten Zeit nicht einfach bei dir wohnen, ohne daß wir alles entscheiden?«
So, und um nichts bestimmter, war also der Beschluß, daß sie zusammenzögen, bekräftigt worden. Aber Ulrich begriff, daß mit diesem Versuch der Versuch seines »Lebens auf Urlaub« abschließen müsse. Er wollte nicht überlegen, welche Folgen das haben werde, aber daß sein Leben fortab gewissen Einschränkungen unterworfen wäre, war ihm nicht unwillkommen, und zum erstenmal dachte er wieder an den Kreis und zumal an die Frauen der Parallelaktion. Die Vorstellung, sich von allem abzuschließen, die mit der neuen Veränderung verbunden war, dünkte ihn wundervoll. So wie an Räumen oft nur eine Kleinigkeit zu ändern ist, damit aus einem lustlosen Schallen eine herrliche Resonanz entsteht, veränderte sich in seiner Phantasie sein kleines Haus zu einer Muschel, in der man wie einen fernen Strom das Rauschen der Stadt hörte.
Und dann hatte es doch wohl in dem letzten Teil dieses Gesprächs auch noch ein besonderes kleines Gespräch gegeben:
»Wir werden wie die Eremiten leben,« sagte Agathe mit einem lustigen Lächeln »aber in Liebesfragen bleibt natürlich jeder frei. Du wenigstens bist ungehindert!« versicherte sie.
»Weißt du,« gab Ulrich darauf zur Antwort »daß wir in das Tausendjährige Reich einziehn?«
»Was ist das?«
»Wir haben schon so viel von jener Liebe gesprochen, die nicht wie ein Bach zu einem Ziel fließt, sondern wie das Meer einen Zustand bildet! Sei nun ehrlich: Wenn man dir in der Schule erzählt hat, die Engel im Paradies täten nichts, als im Angesicht des Herrn zu verweilen und ihn zu lobpreisen, hast du dir dieses selige Nichtstun und Nichtsdenken vorstellen können?«
»Ich habe es mir immer etwas langweilig vorgestellt, was gewiß an meiner Unvollkommenheit liegt« war die Antwort Agathes.
»Aber nach allem, worüber wir uns verständigt haben,« erklärte Ulrich »mußt du dir jetzt vorstellen, daß dieses Meer eine Reglosigkeit und Abgeschiedenheit ist, die von immerwährenden kristallisch reinen Begebenheiten erfüllt wird. Alte Zeiten haben versucht, sich ein solches Leben schon auf Erden vorzustellen: das ist das Tausendjährige Reich, geformt nach uns selbst und doch keins der Reiche, wie wir sie kennen! Und so werden wir leben! Wir werden alle Selbstsucht von uns abtun, wir werden weder Güter, noch Erkenntnisse, noch Geliebte, noch Freunde, noch Grundsätze, noch uns selbst sammeln: demnach wird sich unser Sinn öffnen, auflösen gegen Mensch und Tier und so in einer Weise erschließen, daß wir gar nicht mehr wir bleiben können und uns nur in alle Welt verflochten aufrecht erhalten werden!«
Dieses kleine Zwischengespräch war ein Scherz gewesen. Er hatte dabei Papier und Blei zur Hand, machte Vormerkungen und besprach dazwischen mit seiner Schwester, was ihrer warte, wenn sie den Verkauf des Hauses und seiner Einrichtung durchführe. Er war auch noch böse und wußte selbst nicht, ob er lästere oder phantasiere. Und über dem allen waren sie nicht mehr dazugekommen, sich wegen des Testaments gewissenhaft auseinanderzusetzen.
Auch heute lag wohl in diesem mannigfaltigen Zustandekommen der Grund dafür, daß Ulrich keineswegs bis zur tätigen Reue gelangte. Der Handstreich seiner Schwester hatte viel an sich, das ihm gefiel, obgleich er selbst der Geschlagene war; er mußte sich eingestehn, daß dadurch der »nach der Regel der freien Geister« dahinlebende Mensch, dem er in sich allzuviel Bequemlichkeit zugebilligt hatte, mit einem Schlag in einen gefährlichen Widerspruch zu dem tief unbestimmten geraten war, von dem der wirkliche Ernst ausgeht. Er wollte auch diesem Geschehen nicht ausweichen, indem er es schnell und in gewöhnlicher Weise gutmache: Aber dann gab es keine Regel, und man mußte das Geschehnis sich entwickeln lassen.

Der Morgen traf Ulrich nicht klarer an, und spät am Nachmittag entschloß er sich – in der Absicht, den Ernst, der ihn bedrückte, zu erleichtern – seine mit der Befreiung der Seele von der Zivilisation beschäftigte Kusine aufzusuchen.
Zu seiner Überraschung wurde er, ehe noch Rachel aus Diotimas Zimmer zurückgekehrt war, von Sektionschef Tuzzi in Empfang genommen, der ihm entgegenkam. »Meine Frau fühlt sich heute nicht wohl« erläuterte der geübte Ehegatte mit jenem gedankenlosen Zartgefühl in der Stimme, dessen Klang durch allmonatlichen Gebrauch schon zu einer Formel geworden ist, in der das häusliche Geheimnis offen daliegt. »Ich weiß nicht, ob sie Ihren Besuch wird empfangen können.« Er war zum Ausgehen angekleidet, leistete Ulrich aber bereitwillig Gesellschaft.
Dieser benutzte die Gelegenheit, sich nach Arnheim zu erkundigen.
»Arnheim ist in England gewesen und befindet sich jetzt in Petersburg« erzählte Tuzzi. Ulrich war bei dieser bedeutungslosen und nur natürlichen Nachricht unter dem Eindruck seiner bedrückenden Erlebnisse so zumute, als strömte Welt, Fülle und Bewegung auf ihn zu.
»Es ist ganz gut so« meinte der Diplomat. »Er soll nur recht viel hin und her reisen. Man kann daran seine Beobachtungen machen und erfährt allerhand.«
»Sie glauben also immer noch, daß er mit einem pazifistischen Auftrag des Zaren reist?« fragte Ulrich erheitert.
»Ich glaube das mehr denn je« versicherte schlicht der für die Ausführung der österreichisch-ungarischen Politik verantwortliche Amtsleiter. Aber plötzlich zweifelte Ulrich, ob Tuzzi wirklich so ahnungslos sei oder sich nur so stelle und ihn zum Besten habe; etwas verärgert ließ er von Arnheim ab und erkundigte sich: »Ich habe gehört, daß inzwischen hier die Parole der Tat ausgegeben worden ist?«
Wie immer schien es Tuzzi Vergnügen zu machen, gegenüber der Parallelaktion den Unschuldigen und Schlauen zu spielen; er zuckte die Achseln und grinste: »Ich will meiner Frau nicht vorgreifen, Sie werden es ja doch von ihr hören, sobald Sie von ihr empfangen werden können!« Aber nach einer kleinen Weile begann das Bärtchen auf seiner Oberlippe zu zucken, und die großen dunklen Augen in dem lederbraunen Gesicht glänzten von einem unsicheren Leid. »Sie sind doch auch solch ein Schriftgelehrter,« sagte er zögernd »können Sie mir vielleicht erklären, was es heißt, wenn ein Mann Seele hat?«
Es schien, daß Tuzzi wirklich über diese Frage sprechen wolle, und offenbar rief seine Unsicherheit den Eindruck, daß er leide, hervor. Als Ulrich nicht gleich antwortete, fuhr er fort: »Wenn man sagt: ›eine Seele von einem Menschen‹, so meint man einen treuen, pflichtgeduldigen, aufrichtigen Kerl, – ich habe so einen Kanzleidirektor: aber da hat man es doch schließlich mit einer subalternen Eigenschaft zu tun! Oder es ist Seele eine Eigenschaft von Frauen: das ist dann ungefähr soviel wie daß sie leichter weinen als Männer und leichter rot werden –«
»Ihre Frau Gemahlin hat Seele« verbesserte ihn Ulrich so ernst, als stellte er fest, sie habe nachtblaues Haar.
Eine leichte Blässe eilte über Tuzzis Gesicht. »Meine Frau hat Geist,« sagte er langsam »sie gilt mit Recht für eine geistvolle Frau. Ich plage sie manchmal und werfe ihr vor, daß sie ein Schöngeist sei. Dann ärgert sie sich. Aber das ist noch nicht Seele –« Er dachte ein wenig nach. »Waren Sie schon einmal bei einer Mystikerin?« fragte er dann. »Sie liest aus der Hand oder aus einem Haar die Zukunft, unter Umständen verblüffend richtig: Das sind so Gaben oder Tricks. Aber können Sie sich etwas Sinnvolles vorstellen, wenn jemand beispielsweise sagt, daß Anzeichen für das Heraufkommen einer Zeit vorhanden sein sollen, wo sich unsere Seelen quasi ohne Vermittlung der Sinne erblicken werden? Ich will gleich hinzufügen,« ergänzte er rasch »daß das nicht etwa nur bildlich zu verstehen ist, sondern wenn Sie nicht gut sind, Sie mögen machen, was Sie wollen, so soll man es heute, da das bereits eine Zeit der erwachenden Seele ist, viel deutlicher spüren als in früheren Jahrhunderten! Glauben Sie das?«
Man wußte bei Tuzzi nie, wo sein Sticheln ihm selbst oder dem Zuhörer galt, und Ulrich antwortete auf alle Fälle: »Ich würde es an Ihrer Stelle eben auf den Versuch ankommen lassen!«
»Machen Sie keine Witze, Verehrtester, das ist unvornehm, wenn man sich in Sicherheit befindet« beklagte sich Tuzzi. »Aber meine Frau verlangt von mir das ernsthafte Verständnis solcher Sätze, auch wenn ich ihnen nicht beipflichten sollte, und ich muß da kapitulieren, ohne daß ich mich überhaupt verteidigen kann. So habe ich mich in meiner Not erinnert, daß Sie doch auch so ein Schriftgelehrter sind –?«
»Die beiden Behauptungen sind von Maeterlinck, wenn ich mich nicht irre« half Ulrich.
»So!? Von –? Ja, das könnte schon sein. Das ist dieser –? Sehen Sie, sehr gut: dann ist er vielleicht auch der, der behauptet, daß es keine Wahrheit gibt? Außer für den liebenden Menschen! sagt er. Wenn ich einen Menschen liebe, so soll ich unmittelbar an einer geheimnisvollen Wahrheit teilhaben, die tiefer ist als die gewöhnliche. Dagegen wenn wir etwas auf Grund genauer Menschenkenntnis und Beobachtung aussprechen, so soll es natürlich wertlos sein. Das soll also auch von diesem Ma – Mann herrühren?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Vielleicht. Es würde zu ihm passen.«
»Ich habe mir eingebildet, daß das von Arnheim ist.«
»Arnheim hat viel von ihm angenommen, und er viel von anderen; beide sind sie begabte Eklektiker.«
»So? Also dann sind das alte Sachen? Aber dann erklären Sie mir, um Himmelswillen, wie man so etwas heute drucken lassen darf!?« bat Tuzzi. »Wenn mir meine Frau antwortet: ›Verstand beweist gar nichts, Gedanken reichen nicht bis an die Seele!‹ oder: ›Über der Genauigkeit gibt es ein Reich der Weisheit und Liebe, das man durch überlegte Worte nur entweiht!‹ so verstehe ich, wie sie dazu kommt: sie ist eben eine Frau, sie verteidigt sich in dieser Weise gegen die Logik des Mannes! Aber wie kann das ein Mann sagen?!« Tuzzi rückte näher und legte Ulrich die Hand aufs Knie: »Die Wahrheit schwimmt wie ein Fisch in einem unsichtbaren Prinzip; sobald man sie herausgreift, ist sie tot: was sagen Sie dazu? Hängt das vielleicht mit dem Unterschied zwischen einem ›Erotiker‹ und einem ›Sexualiker‹ zusammen?«
Ulrich lächelte. »Soll ich es Ihnen wirklich sagen?«
»Ich brenne darauf!«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
»Sehen Sie! Unter Männern bringt man so etwas nicht über die Lippen. Wenn Sie aber eine Seele hätten, würden Sie jetzt meine Seele einfach betrachten und bewundern. Wir würden in eine Höhe gelangen, wo es keine Gedanken, Worte und Taten gibt. Dagegen geheimnisvolle Mächte und ein erschütterndes Schweigen! Darf eine Seele rauchen?« fragte er und zündete sich eine Zigarette an; dann erst erinnerte er sich seiner Hausherrenpflicht und hielt auch Ulrich die Tabatiere hin. Im Grunde war er etwas stolz darauf, daß er die Bücher Arnheims nun gelesen hatte, und gerade weil sie ihm unausstehlich blieben, schmeichelte es ihm als eine persönliche Entdeckung, daß er den möglichen Nutzen ihrer quellenden Ausdrucksweise für die undurchdringlichen Absichten der Diplomatie erkannt habe. Wirklich hätte auch kein anderer eine so schwere Arbeit vergeblich leisten wollen, und jeder hätte sich an seiner Stelle wohl noch eine Weile nach Bedürfnis lustig gemacht, wäre dann aber bald der Sehnsucht erlegen, probeweise ein oder das andere Zitat anzubringen oder etwas, das man ohnehin nicht genau sagen kann, in einen der ärgerlich unklaren neuen Gedanken zu kleiden. Das geschieht widerstrebend, weil man den neuen Anzug noch als lächerlich empfindet, aber man gewöhnt sich rasch an ihn, und so ändert sich unmerklich der Geist der Zeit in seinen Anwendungsformen, und im Besonderen könnte Arnheim einen neuen Verehrer gewonnen haben. Sogar Tuzzi gab schon zu, daß man sich unter der Forderung, Seele und Wirtschaft zu vereinen, trotz aller grundsätzlichen Gegnerschaft, etwas wie eine Wirtschaftspsychologie vorstellen könne, und was ihn unerschütterlich vor Arnheim schützte, war eigentlich nur Diotima. Denn zwischen ihr und Arnheim hatte damals – allen unbekannt – schon eine Erkaltung Platz zu greifen begonnen, die alles, was Arnheim je über Seele gesagt hatte, mit dem Verdacht belastete, nur eine Ausrede zu sein, was zur Folge hatte, daß Tuzzi diese Aussprüche mit größerer Gereiztheit denn je vorgeworfen bekam. Es war verzeihlich, daß er unter diesen Umständen annahm, die Beziehung seiner Gattin zu dem Fremden sei noch im Ansteigen; die keine Liebe war, gegen die ein Ehemann seine Maßnahmen treffen konnte, sondern ein »Zustand der Liebe« und »liebendes Denken« und so erhaben über jeden niederen Verdacht, daß Diotima selbst offen von dem sprach, was sie ihr an Gedanken eingab, ja in letzter Zeit sogar ziemlich unnachsichtig von Tuzzi forderte, daß er geistig daran teilnehme.
Er fühlte sich ungemein verständnislos und empfindlich, von diesem Zustand umgeben, der ihn blind machte wie ein allseitiges Sonnenlicht ohne einen festen Sonnenstand, nach dem man sich richten könnte, um Schatten und Schonung zu finden.
Und er hörte Ulrich reden. »Aber ich möchte Ihnen das Folgende zu bedenken geben. In uns ist gewöhnlich ein stetiger Zu- und Abfluß des Erlebens. Die Erregungen, die sich in uns bilden, werden von außen angestiftet und fließen als Handlungen oder Worte wieder nach außen ab. Denken Sie sich das wie ein mechanisches Spiel. Und dann denken Sie es sich gestört: So muß sich eine Stauung ergeben? Irgendeine Art aus den Ufern zu treten? Unter Umständen mag es auch bloß eine Aufblähung sein –«
»Sie reden wenigstens vernünftig, wenn es auch Unsinn ist...« äußerte Tuzzi anerkennend. Er begriff nicht gleich, daß da wirklich eine Erklärung heranreifen sollte, aber er hatte seine Haltung bewahrt, und während er sich innen im Elend verlor, war auf seinen Lippen das kleine boshafte Lächeln so stolz liegen geblieben, daß er nur wieder hineinzuschlüpfen brauchte.
»Ich glaube, die Physiologen sagen,« fuhr Ulrich fort »daß das, was wir bewußtes Handeln nennen, daraus entsteht, daß der Reiz sozusagen nicht einfach durch einen Reflexbogen ein- und ausfließt, sondern zu einem Umweg gezwungen wird; dann gleichen also die Welt, die wir erleben, und die Welt, in der wir handeln, obwohl sie uns als ein- und dieselbe vorkommen, eigentlich dem Ober- und Unterwasser in einem Mühlgang und sind durch eine Art Bewußtseinsstausee verbunden, von dessen Höhe, Kraft und ähnlichem die Regelung des Zu- und Abflusses abhängt. Oder mit anderen Worten: wenn auf einer der beiden Seiten eine Störung eintritt – eine Entfremdung der Welt, oder eine Unlust zu handeln –, so könnte man doch ganz gut annehmen, daß sich auf diese Weise auch ein zweites, höheres Bewußtsein zu bilden vermöchte? Oder meinen Sie, nicht?«
»Ich?« sagte Tuzzi. »Ich muß sagen, ich glaube, mir ist das ganz egal. Das sollen die Professoren einstweilen unter sich ausmachen, wenn sie es wichtig finden. Aber praktisch gesprochen –« er bohrte nachdenklich die Zigarette in den Aschenbecher und blickte dann ärgerlich auf: »entscheiden die Menschen mit zwei Stauungen oder die mit einer Stauung über die Welt?«
»Ich dachte, daß Sie von mir nur zu hören wünschen, wie ich mir solche Gedanken entstanden denke?«
»Wenn Sie mir das gesagt haben sollten, habe ich Sie leider nicht verstanden« meinte Tuzzi.
»Aber sehr einfach: Sie besitzen die zweite Stauung nicht, also besitzen Sie das Prinzip der Weisheit nicht und verstehen kein Wort von dem, was Menschen reden, die eine Seele besitzen. Und ich wünsche Ihnen Glück dazu!«
Es war Ulrich allmählich bewußt geworden, daß er in schimpflicher Form und wunderlicher Gesellschaft Gedanken ausspreche, die gar nicht ungeeignet sein mochten, die Gefühle zu erklären, von denen sein eigenes Herz unsicher bewegt worden war. Die Vermutung, daß bei sehr gesteigerter Empfänglichkeit ein Über- und Zurückquellen der Erlebnisse entstehen könne, das die Sinne grenzenlos und weich wie ein Wasserspiegel mit allen Dingen verbinde, rief in ihm die Erinnerung an die großen Gespräche mit Agathe zurück, und sein Gesicht nahm unwillkürlich einen teils verhärteten, teils verlorenen Ausdruck an. Tuzzi betrachtete ihn unter träg gehobenen Augendeckeln und merkte an der Art von Ulrichs Sarkasmus etwas davon, daß er selbst hier nicht der einzige sei, dessen »Stauungen« nicht seinen Wünschen entsprächen.
Es war den beiden kaum aufgefallen, wie lange Rachel ausblieb, die von Diotima zurückgehalten worden war, um ihr rasch zu helfen, sich selbst und das Krankenzimmer in eine Ordnung des Leidens zu bringen, die zwar frei sein sollte, aber doch schicklich, Ulrich zu empfangen: Nun überbrachte das Mädchen die Meldung, daß er nicht fortgehen, sondern sich noch ein wenig gedulden möge, und kehrte eilig wieder zur Herrin zurück.
»Alle Sätze, die Sie mir genannt haben, sind natürlich Allegorien« setzte Ulrich nach dieser Unterbrechung das Gespräch fort, um den Hausherrn für die Aufmerksamkeit zu entschädigen, daß er ihm Gesellschaft leiste. »Eine Art Schmetterlingssprache! Und ich habe von Leuten wie Arnheim ungefähr den Eindruck, daß sie sich mit diesem hauchdünnen Nektar einen Bauch ansaufen! Das heißt,« fügte er rasch hinzu, denn es fiel ihm noch rechtzeitig ein, daß er nicht auch Diotima mitbeleidigen dürfe »gerade von Arnheim habe ich diesen Eindruck, ebenso wie ich trotzdem von ihm auch den Eindruck habe, daß er seine Seele gleich einer Brieftasche am Busen trägt!« Tuzzi legte Aktenmappe und Handschuhe wieder hin, die er bei Rachels Eintritt an sich genommen hatte, und erwiderte heftig: »Wissen Sie, was es ist? Ich meine, was Sie mir so interessant erklärt haben. Das ist nichts als der Geist des Pazifismus!« Er machte eine Pause, damit sich diese Eröffnung auswirke. »Der Pazifismus in den Händen von Dilettanten schließt ohne Zweifel eine große Gefahr ein« fügte er bedeutsam hinzu.
Ulrich wollte lachen, aber Tuzzi meinte es tödlich ernst, und er hatte da zwei Dinge zusammengebracht, die wirklich entfernt verwandt waren, so komisch es auch sein mochte, Liebe und Pazifismus dadurch verbunden zu sehn, daß beide in ihm den Eindruck einer dilettantischen Ausschweifung hervorriefen. So wußte Ulrich nicht, was er antworten solle, und benutzte die Gelegenheit bloß, um auf die Parallelaktion zurückzukommen, indem er einwandte, daß in ihr doch gerade eine Parole der Tat ausgegeben worden sei.
»Das ist eine Leinsdorf-Idee!« äußerte Tuzzi wegwerfend. »Erinnern Sie sich noch an die letzte Besprechung hier bei uns kurz vor Ihrer Abreise? Leinsdorf hat gesagt: ›Irgendetwas muß geschehn!‹: das ist jetzt das Ganze, das nennt man jetzt die Parole der Tat! Und natürlich sucht Arnheim dem seinen russischen Pazifismus zu unterschieben. Erinnern Sie sich, wie ich davor gewarnt habe? Ich fürchte, man wird noch an mich denken! Nirgends ist die Außenpolitik so schwierig wie bei uns, und ich habe schon damals gesagt: Wer sich heute zumutet, grundlegende politische Ideen zu verwirklichen, muß ein Stück Bankrotteur und Verbrecher in sich haben!« – Diesmal ging Tuzzi ordentlich aus sich heraus, wohl weil Ulrich schon im nächsten Augenblick zu seiner Gattin gerufen werden konnte oder weil er in dieser Unterredung nicht allein der Belehrte bleiben wollte. »Die Parallelaktion erregt internationales Mißtrauen,« berichtete er »und ihre innerpolitische Wirkung, daß man sie sowohl für deutschfeindlich wie für slawenfeindlich hält, ist auch außenpolitisch zu spüren. Damit Sie aber ganz den Unterschied zwischen dilettantischem und fachmännischem Pazifismus verstehn, werde ich Ihnen etwas erklären: Österreich könnte auf mindestens dreißig Jahre jeden Krieg verhindern, wenn es der Entente cordiale beiträte! Und beim Regierungsjubiläum könnte es das natürlich mit einer unerhört schönen pazifistischen Gebärde tun und dabei Deutschland seiner Bruderliebe versichern, auf daß es ihm nachfolge oder nicht. Die Mehrheit unserer Nationalitäten würde begeistert sein. Wir könnten mit französischen und englischen billigen Krediten unsere Armee so stark machen, daß uns Deutschland nicht einschüchtern kann. Italien wären wir los. Frankreich könnte ohne uns nichts machen: Mit einem Wort, wir wären der Schlüssel zu Frieden und Krieg und machten das große politische Geschäft. Ich verrate Ihnen damit kein Geheimnis: das ist eine einfache diplomatische Rechnung, die jeder Handelsattaché anstellen kann. Warum läßt sie sich nicht ausführen? Imponderabilien des Hofs: Man kann dort Es Em so wenig ausstehn, daß man es unanständig fände, dem nachzugeben; Monarchien sind heute im Nachteil, weil sie mit Anständigkeit belastet sind! Sodann Imponderabilien des sogenannten öffentlichen Geistes: da bin ich bei der Parallelaktion. Warum erzieht sie nicht den öffentlichen Geist?! Warum bringt man ihm nicht eine sachliche Auffassung bei? Sehen Sie,« – aber hier verloren Tuzzis Darlegungen von ihrer Glaubwürdigkeit und machten eher den Eindruck verhehlter Mühsal – »dieser Arnheim macht mir ja wirklich Spaß mit seinem Schreiben! Das hat nicht er erfunden, und neulich, als ich spät eingeschlafen bin, habe ich Zeit gehabt, darüber ein wenig nachzudenken. Es hat immer Politiker gegeben, die Romane geschrieben oder Theaterstücke gemacht haben, zum Beispiel Clemenceau oder gar Disraeli; Bismarck nicht, aber Bismarck war ein Zerstörer. Und nun sehen Sie sich diese französischen Advokaten an, die heute am Ruder sind: Beneidenswert! Politische Plusmacher, aber beraten von einer ausgezeichneten Berufsdiplomatie, die ihnen die Richtlinien gibt, und alle haben sie irgendeinmal auf das ungenierteste Theaterstücke oder Romane geschrieben, zumindest in ihrer Jugend, und schreiben noch heute Bücher. Glauben Sie, daß diese Bücher etwas wert sind? Ich glaube nicht. Aber ich schwöre Ihnen, daß ich mir gestern abend gedacht habe: unserer eigenen Diplomatie geht etwas ab, weil sie nicht auch Bücher hervorbringt, und ich werde Ihnen sagen, warum: Erstens gilt es natürlich für einen Diplomaten gerade so wie für einen Sportsmann, daß er sein Wasser ausschwitzen muß. Und zweitens erhöht es die öffentliche Sicherheit. Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist? –« Sie wurden durch Rachel unterbrochen, die mit der Meldung kam, daß Diotima Ulrich erwarte. Tuzzi ließ sich Hut und Mantel reichen. »Wenn Sie ein Patriot wären –« sagte er, indes er in die Ärmel schlüpfte und Rachel den Mantel hielt.
»Was sollte ich dann tun?« fragte Ulrich und sah die schwarzen Augensterne Rachels an.
»Wenn Sie ein Patriot wären, würden Sie meine Frau oder Graf Leinsdorf ein wenig auf diese Schwierigkeiten aufmerksam machen. Ich kann das nicht, bei einem Ehemann wirkt das leicht als engherzig.«
»Aber mich nimmt hier ja doch niemand ernst« entgegnete Ulrich ruhig.
»Ach, sagen Sie das nicht!« rief Tuzzi lebhaft aus. »Man nimmt Sie nicht in der Weise ernst wie andere Menschen, aber schon lange Zeit haben alle große Angst vor Ihnen. Man befürchtet, daß Sie dem Leinsdorf einen ganz verrückten Rat geben könnten. Wissen Sie, was das europäische Gleichgewicht ist?!« forschte der Diplomat dringend.
»Ich denke: ungefähr wohl« meinte Ulrich.
»Dann ist Ihnen Glück zu wünschen!« entgegnete Tuzzi aufgebracht und unglücklich. »Wir Berufsdiplomaten wissen es alle nicht. Es ist das, was man nicht stören darf, damit nicht alle übereinander herfallen. Aber was man nicht stören darf, weiß keiner genau. Erinnern Sie sich doch so ein bißchen, was es rings um Sie in den letzten Jahren gegeben hat und gibt: Italienisch-türkischen Krieg, Poincaré in Moskau, Bagdadfrage, bewaffnete Intervention in Libyen, österreichisch-serbische Spannung, das Adriaproblem: ... Ist das ein Gleichgewicht? Unser unvergeßlicher Baron Ährenthal – aber ich will Sie nicht länger aufhalten!«
»Schade« versicherte Ulrich. »Wenn man das europäische Gleichgewicht so auffassen darf, dann drückt sich in ihm ja aufs beste der europäische Geist aus!«
»Ja, das ist das Interessante« gab Tuzzi, schon in der Türe, ergeben lächelnd, zurück. »Und in diesem Sinne ist die geistige Leistung unserer Aktion nicht zu unterschätzen!«
»Warum hindern Sie das nicht?«
Tuzzi zuckte die Achseln. »Wenn bei uns ein Mann in der Stellung Seiner Erlaucht etwas will, so kann man nicht dagegen auftreten. Man kann bloß Obacht geben!«
»Und wie geht es Ihnen?« fragte Ulrich, nachdem Tuzzi gegangen war, die kleine schwarz-weiße Schildwache, die ihn jetzt zu Diotima führte.

»Lieber Freund sagte Diotima, als Ulrich bei ihr eintrat »ich wollte Sie nicht gehen lassen, ohne Sie gesprochen zu haben, aber ich muß Sie so empfangen!« – Sie trug ein Hauskleid, worin die Majestät ihrer Form durch eine Zufallsstellung ein wenig an Schwangerschaft erinnerte, was dem stolzen Körper, der noch nie geboren hatte, etwas von der zuweilen lieblichen Schamlosigkeit der Mutterleiden verlieh; ein Pelzkragen lag neben ihr auf dem Sofa, mit dem sie sich offenbar gerade den Leib gewärmt hatte, und um die Stirn trug sie einen Umschlag gegen Migräne, der auf seinem Platz hatte bleiben dürfen, weil sie wußte, daß er sie ähnlich kleide wie eine griechische Binde. Obwohl es spät war, brannte kein Licht, und der Geruch von Heil- und Erfrischungsmitteln gegen ein unbekanntes Leid lag in der Luft vermischt mit einem kräftigen Wohlgeruch, der über alle einzelnen Gerüche wie eine Decke geworfen worden war.
Ulrich beugte sein Gesicht tief, während er Diotimas Hand küßte, als wollte er am Duft des Arms die Veränderungen wahrnehmen, die während seiner Abwesenheit vorsichgegangen seien. Aber die Haut strömte nur den vollen, satten, gebadeten Geruch aus wie alle Tage. »Ach, lieber Freund,« wiederholte Diotima »es ist gut, daß Sie zurückkommen – Oh!« stöhnte sie plötzlich lächelnd »ich habe so heftige Magenschmerzen!«
Diese Mitteilung, die, von einem natürlichen Menschen gemacht, so natürlich ist wie ein Wetterbericht, gewann im Munde Diotimas den ganzen Nachdruck eines Zusammenbruchs und Geständnisses.
»Kusine?!« rief Ulrich aus und beugte sich lächelnd vor, um ihr ins Gesicht zu sehn. Es hatte sich in ihm, was Tuzzi zart über das üble Befinden seiner Gattin angedeutet hatte, in diesem Augenblick mit der Vermutung verwirrt, daß Diotima schwanger geworden sei und die Entscheidung nun über das Haus hereingebrochen.
Matt wehrte sie ab, die ihn halb erriet. Sie hatte in Wahrheit bloß Menstruationskrämpfe, was früher allerdings nie vorgekommen war und dunkel ahnbar mit ihrem Schwanken zwischen Arnheim und ihrem Gatten zusammenhing, das seit einigen Monaten von solchen Beschwerden begleitet wurde. Als sie von Ulrichs Rückkehr hörte, bedeutete es ihr einen Trost, und sie begrüßte in ihm den Vertrauten ihrer Kämpfe, weshalb sie ihn vorgelassen hatte. Sie lag da, wahrte nur halb die Haltung des Sitzens und war in seiner Gesellschaft, den Schmerzen preisgegeben, die in ihr wühlten, ein offenes Stück Natur ohne Zäune und Verbotstafeln, was selten genug bei ihr vorkam. Immerhin hatte sie angenommen, daß es glaubhaft sein werde, wenn sie nervöse Magenschmerzen vorschütze, und geradezu ein Zeichen empfindsamer Naturanlage; sonst hätte sie sich ihm nicht gezeigt.
»Nehmen Sie doch etwas ein« schlug Ulrich vor.
»Ach,« seufzte Diotima »das kommt nur von den Erregungen. Meine Nerven werden es nicht mehr lange aushalten!«
Es entstand eine kleine Pause, weil sich Ulrich nun eigentlich hätte nach Arnheim erkundigen müssen, aber neugierig war, etwas von den Vorgängen zu erfahren, die ihn selbst angingen, und nicht gleich einen Ausweg fand. Schließlich fragte er: »Die Befreiung der Seele von der Zivilisation macht wohl Schwierigkeiten?« und fügte hinzu: »Ich darf mir leider schmeicheln, Ihnen schon lange vorhergesagt zu haben, daß ihre Bemühungen, dem Geist eine Gasse in die Welt zu bahnen, schmerzlich zusammenbrechen werden!«
Diotima erinnerte sich, wie sie aus der Gesellschaft geflohen war und mit Ulrich auf der Schuhbank im Vorzimmer gesessen hatte: ihre Niedergeschlagenheit war fast die gleiche gewesen wie heute, und doch lagen unzählige Hoffnungsauf- und -niedergänge dazwischen. »Wie war es doch herrlich,« sagte sie »mein Freund, als wir noch an die große Idee glaubten! Heute darf ich wohl sagen, daß die Welt aufgehorcht hat, aber wie sehr bin ich selbst enttäuscht!«
»Warum eigentlich?« fragte Ulrich.
»Ich weiß es nicht. Es liegt wohl an mir.«
Sie wollte etwas von Arnheim anfügen, aber Ulrich wünschte zu wissen, wie man sich mit der Demonstration abgefunden habe; seine letzte Erinnerung daran war, daß er Diotima nicht angetroffen hatte, als ihn Graf Leinsdorf zu ihr schickte, um sie auf ein entschlossenes Eingreifen vorzubereiten und gleichzeitig zu beruhigen.
Diotima machte eine hochmütige Gebärde. »Die Polizei hat einige junge Leute verhaftet und wieder freigelassen: Leinsdorf ist sehr verärgert, aber was hätte man sonst tun sollen?! Er hält jetzt erst recht an Wisnieczky fest und sagt, daß etwas geschehen müsse: aber Wisnieczky kann keine Propaganda entfalten, wenn man nicht weiß, wofür!«
»Ich habe gehört, daß dies die Parole der Tat sein soll« schaltete Ulrich ein. Der Name des Barons Wisnieczky, der als Minister am Widerstand der deutschen Parteien gescheitert war und darum an der Spitze des Ausschusses, der für die unbekannte große patriotische Idee der Parallelaktion um Teilnahme warb, heftiges Mißtrauen erregen mußte, rief ihm lebendig das politische Walten Sr. Erlaucht vor Augen, dessen Erfolg das war. Wie es schien, hatte der unbefangene Gang der gräflich Leinsdorfschen Gedanken – vielleicht bekräftigt durch das erwartete Versagen aller Bemühungen, den Geist der Heimat und in weiterem Umkreis den Europas durch das Zusammenwirken seiner bedeutendsten Männer aufzuschrecken – nun zu der Erkenntnis geführt, daß es das Beste sei, diesem Geist einen Stoß zu geben, gleichgültig, von wo dieser komme. Möglicherweise stützte sich das in den Überlegungen Sr. Erlaucht auch auf die Erfahrungen, die man mit Besessenen gemacht hat, denen es zuweilen gut bekommen sein soll, wenn man sie rücksichtslos anschrie oder rüttelte; aber diese Mutmaßung, zu der Ulrich in Eile gelangte, ehe Diotima erwidern konnte, wurde nun durch deren Antwort unterbrochen.
Diesmal bediente sich die Leidende wieder der Anrede: Lieber Freund. »Lieber Freund,« sagte sie »es ist etwas Wahres daran! Unser Jahrhundert dürstet nach einer Tat. Eine Tat –«
»Aber welche Tat! Welche Art Tat?!« unterbrach Ulrich.
»Ganz gleich! In der Tat liegt ein großartiger Pessimismus gegenüber den Worten: Leugnen wir nicht, daß in der Vergangenheit immer nur geredet worden ist: Wir haben für ewige und große Worte und Ideale gelebt; für eine Steigerung des Menschlichen; für unsere innerste Eigenart; für eine wachsende Gesamtfülle des Daseins. Wir haben eine Synthese angestrebt, wir haben für neue Schönheitsgenüsse und Glückswerte gelebt, und ich will nicht leugnen, daß das Suchen nach Wahrheit ein Kinderspiel ist gegen den ungeheuren Ernst, selbst eine Wahrheit zu werden: Aber es war eine Überspannung gegenüber dem gegenwärtigen geringen Wirklichkeitsgehalt der Seele, und wir haben in einer traumhaften Sehnsucht sozusagen für nichts gelebt!« Diotima hatte sich eindringlich am Ellbogen aufgerichtet. »Es ist etwas Gesundes daran, wenn man heute darauf verzichtet, den verschütteten Eingang zur Seele zu suchen, und lieber danach trachtet, mit dem Leben fertig zu werden, wie es ist!« schloß sie.
Nun besaß Ulrich also neben der vermuteten Leinsdorfschen auch noch eine beglaubigte andere Auslegung der Parole der Tat. Diotima schien ihre Lektüre gewechselt zu haben; er erinnerte sich, daß er sie bei seinem Eintritt von vielen Büchern umgeben gesehen habe, aber es war schon zu finster geworden, um deren Titel zu entziffern, und es lag auch auf einem Teil von ihnen der Körper der nachdenklichen jungen Frau wie eine dicke Schlange, die sich nun noch höher aufgerichtet hatte und ihn erwartungsvoll ansah. Diotima war, nachdem sie sich seit ihren Mädchenjahren mit Vorliebe von sehr empfindsamen und subjektiven Büchern genährt hatte, offenbar, wie Ulrich aus ihren Worten schloß, von jener geistigen Erneuerungskraft ergriffen worden, die immerwährend am Werke ist, das, was sie mit den Begriffen der letzten zwanzig Jahre nicht gefunden hat, mit den Begriffen der nächsten zwanzig Jahre auch nicht zu finden; woraus zuletzt vielleicht sogar jene großen Stimmungswechsel der Geschichte entstehen, die zwischen Humanität und Grausamkeit, Sturm und Gleichgültigkeit oder anderen Widersprüchen schwanken, für die es keinen ganz ausreichenden Grund gibt. Es fuhr Ulrich durch den Kopf, daß jener kleine, unaufgeklärte Rest von Unbestimmtheit, der in jeglichem moralischen Erlebnis übrigbleibt, worüber er mit Agathe so viel gesprochen hatte, wohl eigentlich die Ursache dieser menschlichen Unsicherheit sein müsse; aber weil er sich das Glück, das in der Erinnerung an diese Gespräche lag, nicht gestatten wollte, zwang er seine Gedanken, sich davon ab- und lieber dem General zuzuwenden, der ihm als erster davon erzählt hatte, daß die Zeit jetzt einen neuen Geist bekomme, und in einer Weise erzählt hatte, deren gesunde Ärgerniskraft keinen Raum für die Lust an bezaubernden Zweifeln übrigließ. Und weil er nun schon einmal an den General dachte, fiel ihm auch dessen Bitte ein, daß er sich zwischen seiner Kusine und Arnheim um die gestörte Ordnung kümmern möge, und so gab er schließlich auf die Abschiedsrede Diotimas an die Seele schlicht zur Antwort: »Die ›grenzenlose Liebe‹ ist Ihnen wohl nicht gut bekommen?!«
»Ach Sie, Sie bleiben sich immer gleich!« seufzte die Kusine und ließ sich in die Kissen zurückfallen, und dort schloß sie die Augen; denn durch Ulrichs Abwesenheit solcher geraden Fragen entwöhnt, mußte sie sich erst besinnen, wieviel sie ihm anvertraut habe. Und mit einem Mal brachte seine Nähe das Vergessene in Bewegung. Dunkel entsann sie sich eines Gesprächs mit Ulrich über »maßloses Lieben«, das bei ihrem letzten oder vorletzten Beisammensein noch eine Fortsetzung gefunden hatte, worin sie sich verschwor, daß die Seelen aus dem Gefängnis des Leibes hervortreten könnten, oder sich wenigstens sozusagen mit halbem Körper hinausbeugen, und Ulrich hatte ihr darauf zur Antwort gegeben, dies seien Delirien des Liebeshungers und sie möge doch Arnheim oder ihm oder irgendwem irgend ein »Gewähren« gewähren; sogar Tuzzi hatte er in solchem Zusammenhang genannt, auch das kam ihr nun wieder ins Gedächtnis: an Vorschläge von dieser Art erinnert man sich eben wohl leichter als an das Übrige, was ein Mensch wie Ulrich redet. Und wahrscheinlich hatte sie es mit Recht damals als eine Frechheit empfunden; aber da vergangener Schmerz im Vergleich mit gegenwärtigem ein harmloser alter Freund ist, genoß es heute des Vorzugs, eine kameradschaftlich-vertraute Erinnerung zu sein. Diotima schlug also die Augen wieder auf und sagte: »Man kann wahrscheinlich auf Erden nicht vollkommen lieben!«
Sie lächelte dazu, aber unter ihrer Stirnbinde lagen Sorgenfalten, die dem Gesicht im Dämmer einen merkwürdig verzogenen Ausdruck gaben. Diotima war in Fragen, die ihr persönlich nahegingen, nicht abgeneigt, an überirdische Möglichkeiten zu glauben. Sogar das unerwartete Auftreten des Generals von Stumm am Konzil hatte sie wie das Werk von Geistern erschreckt, und als Kind hatte sie darum gebetet, daß sie niemals sterben möge. Das hatte es ihr erleichtert, auch ihrer Beziehung zu Arnheim einen überirdischen Glauben zu schenken oder, richtiger gesagt, jenen nicht vollendeten Unglauben, jenes Nicht-für-ausgeschlossen-Halten, die heute die grundlegende Glaubensbeziehung geworden sind. Wenn Arnheim nicht nur imstande gewesen wäre, aus ihrer und seiner Seele etwas Unsichtbares zu ziehen, das sich, bei fünf Meter Entfernung von ihr und ihm, in der Luft berührte, oder wenn ihre Blicke das so imstande gewesen wären zu tun, daß hinterdrein davon eine Kaffeebohne, ein Grießkorn, ein Tintenfleck, irgendeine Gebrauchsspur oder auch nur ein Fortschritt zurückgeblieben wäre, so hätte Diotima als das nächste erwartet, daß es eines Tags noch höher gehen werde, in irgendeinen von jenen überirdischen Zusammenhängen, die man sich so wenig genau vorstellen kann wie die meisten irdischen. Sie hatte auch damit Geduld, daß Arnheim in letzter Zeit öfter verreist und länger fortgeblieben war als früher und sogar an den Tagen seiner Anwesenheit überraschend stark von Geschäften in Anspruch genommen wurde. Sie gestattete sich keinen Zweifel daran, daß die Liebe zu ihr noch immer das große Ereignis in seinem Leben sei, und wenn sie wieder einmal allein zusammenkamen, so war die Erhöhung der Seelenlage augenblicklich so groß und die Berührung so wesenhaft, daß die Gefühle erschrocken verstummten, ja wenn sich nicht Gelegenheit bot, über etwas Unpersönliches zu reden, ein Vakuum entstand, das eine bittere Erschöpfung hinterließ. So wenig es ausgeschlossen war, daß dies Leidenschaft sei, so wenig mochte sie also – von der Zeit, in der sie lebte, daran gewöhnt, daß alles, was nicht praktisch sei, ohnehin nur einen Gegenstand des Glaubens, eben jenes unsicheren Unglaubens, bedeute – es ausschließen, daß noch etwas folgen werde, das allen vernünftigen Voraussetzungen widerspreche. Aber in dieser Minute, wo sie ihre Augen aufgeschlagen hatte und offen auf Ulrich gerichtet ließ, von dem nur ein dunkler Umriß wahrzunehmen war, der keine Antwort gab, fragte sie sich: »Worauf warte ich? Was soll eigentlich geschehn?«
Endlich erwiderte Ulrich: »Arnheim wollte Sie aber doch heiraten?!«
Diotima richtete sich wieder auf ihren Arm auf und sagte: »Kann man denn das Problem der Liebe lösen, indem man sich scheiden läßt oder heiratet?!«
»Mit der Schwangerschaft habe ich mich geirrt« nahm Ulrich still zu Kenntnis, da er auf den Ausruf seiner Kusine durchaus nichts zu erwidern wußte. Plötzlich sagte er aber, vom Zaun gebrochen: »Ich habe Sie vor Arnheim gewarnt!« Vielleicht fühlte er sich in diesem Augenblick verpflichtet, ihr mitzuteilen, was er davon wüßte, daß der Nabob ihrer beider Seelen mit seinen Geschäften verbunden habe, doch ließ er gleich wieder davon ab; denn er fand, daß in diesem Gespräch geradeso jedes Wort seinen alten Platz besaß wie die Gegenstände in seinem Zimmer, die er sorgsam abgestaubt nach seiner Rückkehr angetroffen hatte, als wäre er eine Minute lang tot gewesen. Diotima tadelte ihn: »Sie dürfen das nicht so leicht nehmen. Zwischen Arnheim und mir besteht eine tiefe Freundschaft; und wenn es trotzdem zuweilen auch etwas zwischen uns gibt, das ich eine große Angst nennen möchte, so kommt es gerade von der Aufrichtigkeit. Ich weiß nicht, ob Sie das je erlebt haben oder dessen fähig sind: zwischen zwei Menschen, die eine gewisse Höhe der Empfindung erreichen, kann jede Lüge derart unmöglich werden, daß man überhaupt kaum noch miteinander sprechen kann!«
Mit feinem Ohr hörte Ulrich aus diesem Tadel, daß der Eingang zu seiner Kusine Seele für ihn offener stand als sonst und weil ihn überaus erheitert hatte, was sie unfreiwillig davon gestand, daß sie mit Arnheim nicht reden könne, ohne zu lügen, empfahl er seine Aufrichtigkeit eine Weile dadurch, daß auch er nichts sagte, und beugte sich dann, da sich Diotima inzwischen wieder hingelegt hatte, über ihren Arm, um in freundschaftlich sanfter Weise dessen Hand zu küssen. Leicht wie Hollundermark ruhte sie in der seinen und blieb nach dem Kuß dort liegen. Der Puls rann über seine Fingerspitzen. Der puderzarte Geruch der Nähe blieb wie ein Wölkchen an seinem Gesicht hängen. Und obgleich dieser Handkuß bloß ein galanter Scherz gewesen war, hatte er mit einer Untreue jene bittere Hinterlassenschaft der Lust gemeinsam, sich so nah an eine andere Person gebeugt zu haben, daß man aus ihr trank wie ein Tier und das eigene Bild nicht mehr aus dem Wasser zurückkommen sah. »Was denken Sie?« fragte Diotima. Ulrich schüttelte bloß den Kopf und gab ihr dadurch – im Dunkel, das nur noch von einem letzten samtenen Schimmer erhellt wurde – von neuem Gelegenheit, vergleichende Studien über Schweigen anzustellen. Ein wundervoller Satz kam ihr ins Gedächtnis: »Es gibt Menschen, mit denen sich der größte Held nicht zu schweigen getraute.« Oder es war der richtige Wortlaut dem ähnlich. Sie glaubte sich zu erinnern, daß es ein Zitat sei; Arnheim hatte es gebraucht, und sie hatte es auf sich bezogen. Und außer Arnheims Hand hatte sie seit den ersten Wochen ihrer Ehe keines anderen Mannes Hand länger als zwei Sekunden in der ihren gehalten, nur mit Ulrichs Hand geschah das jetzt. Sie übersah in ihrer Selbstbefangenheit, wie das weiterging, fand sich aber einen Augenblick später angenehm überzeugt davon, daß sie völlig recht gehabt habe, als sie die vielleicht noch kommende, vielleicht unmögliche Stunde der höchsten Liebe nicht tatenlos abwartete, sondern die Zeit der zaudernden Entscheidung dazu benutzte, sich etwas mehr ihrem Gatten zu widmen. Verheiratete Menschen haben es sehr gut: wo andere ihren Geliebten die Treue brächen, dürfen sie sagen, daß sie sich auf ihre Pflicht besännen; und weil sich Diotima sagte, sie habe, was immer kommen möge, auf dem Platz, wohin sie vom Schicksal gestellt worden sei, einstweilen ihre Pflicht zu tun, hatte sie den Versuch unternommen, die Fehler ihres Gatten auszugleichen und ihm etwas mehr Seele beizubringen. Wieder fiel ihr ein Dichterwort ein: ungefähr besagte es, daß es keine schlimmere Verzweiflung gebe, als mit einem Menschen in ein gemeinsames Schicksal verflochten zu sein, den man nicht liebe, und auch das bewies, daß sie sich bemühen mußte, etwas für Tuzzi zu empfinden, solange ihr Schicksal sie noch nicht getrennt hätte. In verständigem Gegensatz zu den unberechenbaren Geschehnissen der Seele, die sie ihn nicht länger entgelten lassen wollte, hatte sie das systematisch begonnen; und mit Stolz fühlte sie die Bücher, auf denen sie lag, denn sie beschäftigten sich mit der Physiologie und Psychologie der Ehe, und irgendwie ergänzte es sich gegenseitig, daß es dunkel war, daß sie diese Bücher bei sich hatte, daß Ulrich ihre Hand hielt, daß sie ihm den großartigen Pessimismus zu verstehen gegeben hatte, den sie nun vielleicht auch in ihrer öffentlichen Tätigkeit bald durch einen Verzicht auf ihre Ideale ausdrücken werde, und Diotima drückte Ulrichs Hand von Zeit zu Zeit bei diesen Gedanken so, als ob die Koffer gepackt stünden, um von allem Gewesenen Abschied zu nehmen. Sie stöhnte dann leise, und eine ganz leichte Welle von Schmerz rann zur Entschuldigung durch ihren Körper; Ulrich aber erwiderte begütigend den Druck mit seinen Fingerspitzen, und nachdem sich das einigemal wiederholt hatte, dachte Diotima wohl, daß es eigentlich zuviel sei, doch sie wagte nicht mehr ihre Hand zurückzuziehn, weil diese so leicht und trocken in der seinen lag, und zuweilen sogar zitterte, daß es ihr selbst wie ein unzulässiger Hinweis auf die Physiologie der Liebe vorkam, den sie nun um keinen Preis durch eine ungeschickte Fluchtbewegung verraten wollte.
Es war »Rachelle«, die sich im Nebenzimmer zu schaffen gemacht hatte und, seit einiger Zeit eigenartig ungezogen geworden, diesem Auftritt ein Ende bereitete, indem sie jenseits der offenen Verbindungstür plötzlich das Licht einschaltete. Diotima zog rasch ihre Hand aus der Ulrichs zurück; ein von Schwerlosigkeit ausgefüllt gewesener Raum blieb einen Augenblick lang in dieser liegen. »Rachelle,« rief Diotima flüsternd »mache auch hier Licht!« Als es geschehen war, hatten die beleuchteten Köpfe etwas Aufgetauchtes, wie wenn das Dunkel noch nicht ganz von ihnen weggetrocknet wäre. Schatten lagen um Diotimas Mund und gaben ihm Nässe und Schwellung; die perlmutterfarbenen kleinen Wülste am Hals und unter den Wangen, die sonst für die Liebhaber üppiger Feinkost geschaffen zu sein schienen, waren hart wie ein Linoleumschnitt und wild mit Tinte schattiert. Auch Ulrichs Kopf ragte schwarz und weiß bemalt wie der eines auf dem Kriegspfad befindlichen Urmenschen ins ungewohnte Licht. Er blinzelte und trachtete die Aufschriften der Werke zu entziffern, von denen Diotima umgeben war, und mit Erstaunen erkannte er nun die seelen- und körperhygienische Wissensbegierde seiner Kusine, die sich in der Wahl dieser Bücher ausdrückte. »Er wird mir einmal noch etwas antun!« dachte sie plötzlich, die seinem Blick gefolgt war und von ihm beunruhigt wurde, aber es kam ihr nicht in der Form dieses Satzes zu Bewußtsein; sie fühlte sich ihrem Vetter bloß zu sehr ausgeliefert, wie sie nun im Licht unter seinen Augen lag, und hatte das Bedürfnis, sich ein sicheres Ansehen zu geben. Mit einer Gebärde, die recht überlegen sein sollte, wie es einer von allem, was es gibt, »unabhängigen« Frau zukommt, wies sie umfassend auf ihre Lektüre hin und sagte mit möglichst sachlicher Betonung: »Werden Sie es glauben, daß mir der Ehebruch manchmal als eine viel zu einfache Lösung der ehelichen Konflikte erscheint?!«
»Er ist jedenfalls die schonendste!« gab Ulrich zur Antwort und ärgerte sie durch seinen spöttischen Ton. »Ich möchte sagen, er schadet auf keinen Fall.«
Diotima warf ihm einen Blick des Vorwurfs zu und gab ihm ein Zeichen, daß Rachel vom Nebenzimmer her zuhören könne. Dann sagte sie laut: »So meine ich es gewiß nicht!« und rief ihre Zofe an, die störrisch zum Vorschein kam und mit bitterer Eifersucht zur Kenntnis nahm, daß sie hinausgewiesen werde. Durch diesen Zwischenfall hatten sich aber die Gefühle geordnet; die vom Dunkel begünstigte Einbildung, gemeinsam eine kleine Untreue zu begehn, wenn auch sozusagen unbezeichenbar und an niemandem, verflog in der Helligkeit, und Ulrich trachtete nun, zur Sprache zu bringen, was noch geschäftlich zu sagen war, um aufbrechen zu können.
»Ich habe Ihnen noch nicht mitgeteilt, daß ich meine Sekretärstelle niederlege« begann er.
Diotima zeigte sich aber unterrichtet und erklärte, er müsse bleiben, es ginge nicht anders. »Die Arbeit, die wir leisten sollen, ist noch immer enorm« bat sie. »Haben Sie nur noch ein wenig Geduld, es muß bald die Lösung kommen! Man wird Ihnen einen richtigen Sekretär zur Verfügung stellen.«
Dieses unbestimmte »Man wird« fiel Ulrich auf, und er wollte Näheres wissen.
»Arnheim hat sich angeboten, Ihnen seinen Sekretär zu leihen.«
»Nein, danke« erwiderte Ulrich. »Ich habe das Gefühl, das wäre nicht ganz selbstlos.« Er hatte in diesem Augenblick wieder nicht übel Lust, Diotima den schlichten Zusammenhang mit den Ölfeldern zu erklären, aber ihr war der zweifelhafte Ausdruck seiner Antwort nicht einmal aufgefallen, und sie berichtete einfach weiter:
»Überdies hat sich auch mein Mann bereit erklärt, Ihnen einen Angestellten aus seinen Büros zu überlassen.«
»Wäre Ihnen das recht?«
»Offen gestanden, es wäre mir nicht ganz lieb« äußerte sich Diotima diesmal bestimmter. »Zumal da wir keinen Mangel leiden: Auch Ihr Freund, der General, hat mir eröffnet, daß er Ihnen mit Vergnügen eine Hilfskraft aus seiner Abteilung zur Verfügung stellen könnte.«
»Und Leinsdorf?« »Diese drei Möglichkeiten sind mir freiwillig angeboten worden, darum hatte ich keine Ursache, Leinsdorf zu fragen: aber sicher würde er ein Opfer nicht scheuen.«
»Man verwöhnt mich.« Mit diesen Worten faßte Ulrich die überraschende Bereitwilligkeit Arnheims, Tuzzis und Stumms zusammen, sich in billiger Weise eine gewisse Kontrolle über alle Vorgänge der Parallelaktion zu sichern. »Aber vielleicht wäre es doch das Klügste, ich nähme den Vertrauensmann Ihres Gatten zu mir.«
»Lieber Freund –?« wehrte Diotima das noch immer ab, aber sie wußte nicht recht, wie sie fortfahren solle, und wahrscheinlich kam darum etwas sehr Verwickeltes heraus. Sie stützte sich wieder auf den Ellbogen und sagte lebhaft: »Ich lehne Ehebruch als eine zu plumpe Lösung ehelicher Konflikte ab: das habe ich Ihnen gesagt! Aber trotzdem: es ist nichts so schwer, wie mit einem Menschen in ein Schicksal verflochten zu sein, den man nicht genügend liebt!«
Das war ein höchst unnatürlicher Naturlaut. Aber ungerührten Sinnes beharrte Ulrich auf seinem Entschluß. »Ohne Frage möchte Sektionschef Tuzzi auf diese Weise Einfluß auf das gewinnen, was Sie unternehmen: aber das möchten die anderen auch!« erklärte er ihr. »Alle drei Männer lieben Sie, und jeder muß das irgendwie mit seiner Pflicht vereinen.« Er wunderte sich geradezu darüber, daß Diotima weder die Sprache der Tatsachen noch die der Bemerkungen verstand, die er dazugab, und schloß, während er aufstand, um sich zu verabschieden, noch ironischer: »Der einzige, der Sie selbstlos liebt, bin ich; weil ich durchaus nichts zu tun und keine Pflichten habe. Aber Gefühle ohne Ablenkung sind zerstörend: das haben Sie inzwischen selbst erfahren, und Sie haben mir immer ein berechtigtes, wenn auch nur instinktives Mißtrauen entgegengebracht.«
Diotima wußte zwar nicht warum, doch geschah es vielleicht gerade aus diesem manchmal so sympathischen Grund, daß es ihr angenehm war, Ulrich in der Frage des Sekretärs die Partei ihres Hauses nehmen zu sehen, und sie ließ seine Hand, die er ihr dargeboten hatte, nicht los.
»Und wie steht damit Ihr Verhältnis mit ›jener‹ Frau in Einklang?« fragte sie, übermütig an seine Bemerkung anknüpfend – soweit Diotima des Übermuts fähig war, was ungefähr so aussah, wie wenn ein Schwerathlet mit einer Feder spielt.
Ulrich verstand nicht, wen sie meinen könne.
»Mit der Frau des Gerichtspräsidenten, die Sie mir vorgestellt haben!«
»Das haben Sie bemerkt, Kusine?!«
»Doktor Arnheim hat mich darauf aufmerksam gemacht.«
»So? Sehr schmeichelhaft, daß er glaubt, mir bei Ihnen damit schaden zu können. Aber natürlich sind meine Beziehungen zu dieser Dame völlig einwandfrei!« verteidigte Ulrich in der herkömmlichen Weise die Ehre Bonadeas.
»Sie war während Ihrer Abwesenheit bloß zweimal in Ihrer Wohnung!« Diotima lachte. »Wir haben sie das eine Mal zufällig beobachtet, und das zweite Mal haben wir es anders erfahren. Ihre Verschwiegenheit ist also zwecklos. Dagegen möchte ich Sie begreifen! Ich kann es nicht!«
»Mein Gott, wie könnte man gerade Ihnen das erklären!«
»Tun Sie es!« befahl Diotima. Sie hatte die Miene ihrer »amtlichen Unkeuschheit« aufgesetzt, eine Art bebrillten Ausdrucks, den sie annahm, wenn ihr Geist ihr befahl, Dinge anzuhören oder zu sagen, die ihrer Seele als Dame eigentlich verboten waren. Aber Ulrich weigerte sich und wiederholte, daß er über das Wesen Bonadeas nur auf Mutmaßungen angewiesen wäre.
»Gut« gestand Diotima zu. »Ihre Freundin hat zwar selbst nicht mit Andeutungen gespart! Sie scheint zu glauben, mir gegenüber irgend ein Unrecht verteidigen zu müssen! Aber sprechen Sie, wenn Sie es vorziehen, nur so, als ob Sie bloß mutmaßten!«
Nun fühlte Ulrich Wissensdurst und erfuhr, daß Bonadea schon einigemal von Diotima empfangen worden sei, und nicht nur in Angelegenheiten, die mit der Parallelaktion und der Stellung ihres Gatten zusammenhingen. »Ich muß gestehn, daß ich diese Frau schön finde« räumte Diotima ein. »Und sie ist ungewöhnlich ideal gesinnt. Ich bin eigentlich böse darüber, daß Sie mein Vertrauen beanspruchen und mir das Ihre immer vorenthalten haben!«
In diesem Augenblick hatte Ulrich ungefähr den Wunsch: »Hol euch alle –!« Er wollte Diotima schrecken und Bonadea ihre Aufdringlichkeit entgelten lassen oder fühlte für einen Augenblick die volle Entfernung zwischen sich und dem Leben, das zu führen er sich gewährt hatte. »Also hören Sie« gab er Auskunft und sah scheinbar finster drein: »Diese Frau ist Nymphomanin, und dem kann ich nicht widerstehn!«
Diotima wußte »amtlich«, was Nymphomanie sei. Es trat eine Pause ein, dann erwiderte sie gedehnt: »Die arme Frau! Und so etwas lieben Sie?!«
»Es ist so idiotisch!« meinte Ulrich.
Diotima wollte »Näheres« wissen; er mußte ihr die »beklagenswerte Erscheinung« erläutern und »menschlich machen«. Er tat es nicht gerade eingehend, und trotzdem bemächtigte sich ihrer dabei allmählich das Gefühl einer Genugtuung, deren Grundlage wohl der bekannte Dank an den Herrn bildete, daß sie nicht so sei wie jene, deren Spitze sich aber in Schreck und Neugierde verlor und auf ihre späteren Beziehungen zu Ulrich nicht ohne Einfluß bleiben sollte. Nachdenklich sagte sie: »Es muß doch einfach entsetzlich sein, einen Menschen zu umarmen, wenn man nicht innerlich von ihm überzeugt ist!«
»Finden Sie das?« gab ihr Vetter treuherzig zurück. Diotima empfand, wie ihr bei dieser Anzüglichkeit Entrüstung und Kränkung zu Kopf stiegen, aber sie durfte es nicht zeigen; sie begnügte sich damit, seine Hand loszulassen und mit einer verabschiedenden Bewegung in die Kissen zurückzusinken. »Sie hätten mir das nie erzählen dürfen!« sagte sie von dort. »Sie haben sich soeben sehr unschön gegen diese arme Frau betragen und sind indiskret!«
»Nie bin ich indiskret!« verwahrte sich Ulrich und mußte über seine Kusine lachen. »Sie sind wirklich ungerecht. Sie sind die erste Frau, der ich Geständnisse über eine andere mache, und Sie haben mich dazu verleitet!«
Diotima war geschmeichelt. Sie wollte etwas dem Ähnliches sagen, daß man sich ohne geistige Verwandlung um das Beste betröge; nur brachte sie es nicht fertig, weil es ihr plötzlich persönlich nahe ging. Schließlich verhalf ihr aber die Erinnerung an eins der sie umgebenden Bücher zu einer unverfänglichen, gleichsam durch Amtsschranken geschützten Erwiderung: »Sie begehen den Fehler aller Männer« tadelte sie. »Sie behandeln den Liebespartner nicht als gleichberechtigt, sondern bloß als Ergänzung für Sie selbst und sind dann enttäuscht. Haben Sie sich nie die Frage vorgelegt, ob nicht vielleicht der Weg zu einer beschwingten und harmonischen Erotik nur durch härtere Selbsterziehung führe?!«
Ulrich blieb beinahe der Mund offen; aber in unwillkürlicher Abwehr dieses gelehrten Angriffs gab er die Antwort: »Wissen Sie, daß mich heute auch Sektionschef Tuzzi schon nach den Erziehungs- und Entstehungsmöglichkeiten der Seele gefragt hat?!«
Diotima fuhr in die Höhe: »Wie, Tuzzi spricht mit Ihnen über Seele?« fragte sie erstaunt.
»Ja, natürlich; er will sich unterrichten, was das sei« versicherte Ulrich, war aber durch nichts mehr in seinem Aufbruch aufzuhalten und versprach bloß, vielleicht ein anderes Mal die Pflicht der Verschwiegenheit zu brechen und auch das zu erzählen.

Mit diesem Besuch bei Diotima hatte der unruhige Zustand, worin sich der Zurückgekehrte befand, ein Ende genommen; schon am nächsten Tag setzte sich Ulrich gegen Abend an seinen Schreibtisch, der ihm durch diese Handlung sogleich wieder vertraut wurde, und begann, Agathe einen Brief zu schreiben.
Es war ihm klar – so leicht und klar, wie es manchmal ein windstiller Tag ist, – daß ihr unüberlegtes Unternehmen äußerst gefährlich sei; noch mochte das, was geschehen war, nichts bedeuten als einen gewagten Scherz, der nur ihn und sie anging, aber das hing ganz davon ab, daß es rückgängig gemacht werde, ehe es Beziehungen zur Wirklichkeit gewinne, und mit jedem Tag wurde solche Gefahr größer. So weit hatte Ulrich geschrieben, als er sich unterbrach und zunächst Bedenken fühlte, einen Brief, der das unverschleiert erörterte, der Post zu übergeben. Er sagte sich, daß es wohl in jeder Weise angemessener wäre, er reiste selbst mit dem nächsten Zug an Stelle des Briefs; aber natürlich kam es ihm auch ungereimt vor, das zu tun, nachdem er sich doch der Angelegenheit tagelang überhaupt nicht angenommen hatte, und er wußte, daß er es unterlassen werde.
Er bemerkte, daß dem etwas zugrundelag, das beinahe so fest wie ein Beschluß war: er hatte Lust, es darauf ankommen zu lassen, was aus dem Zwischenfall entstehe. Die ihm aufgegebene Frage war also bloß die, wie weit er das wirklich und klar wollen könne, und es gingen ihm dabei allerhand weitläufige Gedanken durch den Kopf.
So machte er gleich anfangs die Wahrnehmung, daß er sich bisher noch allemal, wenn er sich »moralisch« verhielt, in einer schlechteren geistigen Lage befunden habe, als bei Handlungen oder Gedanken, die man üblicherweise »unmoralisch« nennen durfte. Es ist das eine allgemeine Erscheinung: denn in Geschehnissen, die sie in Gegensatz zu ihrer Umgebung bringen, entfalten alle ihre Kräfte, während sie sich dort, wo sie nur ihre Schuldigkeit tun, begreiflicherweise nicht anders verhalten, als beim Steuerzahlen; woraus es sich ergibt, daß alles Böse mit mehr oder weniger Phantasie und Leidenschaft vollbracht wird, wogegen sich das Gute durch eine unverkennbare Affektarmut und Kläglichkeit auszeichnet. Ulrich erinnerte sich, daß seine Schwester diese moralische Notlage sehr unbefangen durch die Frage ausgedrückt hatte, ob Gutsein denn nicht mehr gut sei. Daß es schwierig und atemraubend sein müßte, hatte sie behauptet und sich darüber gewundert, daß trotzdem moralische Menschen fast immer langweilig wären.
Er lächelte befriedigt und führte diesen Gedanken nun in der Weise weiter, daß Agathe und er sich gemeinsam in einem besonderen Gegensatz zu Hagauer befänden, den man ungefähr als den von Menschen, die auf eine gute Art schlecht seien, zu einem Manne bezeichnen könnte, der auf eine schlechte Art gut ist. Und wenn man von der großen Mitte des Lebens absieht, die billigermaßen von Menschen eingenommen wird, in deren Denken die allgemeinen Worte Gut und Bös überhaupt nicht mehr vorkommen, seit sie sich von ihrer Mutter Rock losgemacht haben, so bleiben die Randbreiten, wo es noch absichtlich moralische Anstrengungen gibt, heute wirklich solchen bösguten und gutbösen Menschen überlassen, von denen die einen das Gute niemals fliegen gesehn und singen gehört haben und darum von allen Mitmenschen verlangen, daß sie mit ihnen für eine Natur der Moral schwärmen sollen, in der ausgestopfte Vögel auf leblosen Bäumen sitzen; worauf dann die zweiten, die gut-bösen Sterblichen, gereizt von ihren Nebenbuhlern, mit Fleiß wenigstens in Gedanken eine Neigung für das Böse hervorkehren, als ob sie überzeugt wären, daß nur noch in bösen Taten, die nicht ganz so abgenutzt seien wie die guten, ein wenig moralischer Lebendigkeit zucke. Auf diese Weise hatte die Welt – natürlich ohne daß sich Ulrich dieser Voraussicht ganz bewußt gewesen wäre – also damals die Wahl, ob sie an ihrer lahmen Moral oder an ihren beweglichen Immoralisten zugrundegehen wolle, und weiß wohl bis zum heutigen Tag nicht, wofür sie sich schließlich mit überwältigendem Erfolg entschieden hat, es wäre denn, daß jene Zahlreichsten, die niemals Zeit haben, sich mit der Moral im allgemeinen zu befassen, dies einmal im besonderen getan hätten, weil sie das Vertrauen in den sie umgebenden Zustand verloren und in weiterer Folge dann freilich auch noch manches andere; denn bös-böse Menschen, die man so leicht für alles verantwortlich machen kann, gab es schon damals so wenig wie heute, und die gut-guten bedeuteten eine so entrückte Aufgabe wie ein weit entfernter Sternnebel. Aber gerade an sie dachte Ulrich, während ihm alles andere, woran er scheinbar dachte, ganz gleichgültig war.
Und er gab seinen Gedanken eine noch allgemeinere und unpersönlichere Form, indem er das Verhältnis, das zwischen den Forderungen »Tu!« und »Tu nicht!« besteht, an die Stelle von Gut und Böse setzte. Denn solange sich eine Moral – und das gilt ebenso für den Geist der Nächstenliebe wie für den einer Hunnenschar – im Aufstieg befindet, ist das »Tu nicht!« nur die Kehrseite und natürliche Folge des »Tu!«; das Tun und Lassen glüht, und was es an Fehlern einschließt, macht nicht viel aus, denn es sind die Fehler von Helden und Märtyrern. In diesem Zustand sind Gut und Böse gleich mit Glück und Unglück des ganzen Menschen. Sobald das Umstrittene jedoch zur Herrschaft gelangt ist, sich ausgebreitet hat und seine Erfüllung nicht mehr mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft ist, durchschreitet das Verhältnis zwischen Forderung und Verbot mit Notwendigkeit einen entscheidenden Zustand, wo nun die Pflicht nicht mehr jeden Tag neu und lebendig geboren wird, sondern, ausgelaugt und in Wenn und Aber zerlegt, zu mannigfaltigem Gebrauch bereitgehalten werden muß; und es beginnt damit ein Vorgang, in dessen weiterem Verlauf Tugend und Laster durch die Herkunft aus den gleichen Regeln, Gesetzen, Ausnahmen und Einschränkungen einander immer ähnlicher werden, bis schließlich jener wunderliche, aber im Grunde unerträgliche Selbstwiderspruch entsteht, von dem Ulrich ausgegangen war, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse alle Bedeutung verliert gegenüber dem Wohlgefallen an einer reinen, tiefen und ursprünglichen Handlungsweise, das wie ein Funke ebensowohl aus erlaubten wie aus unerlaubten Geschehnissen hervorschlagen kann. Ja, wer sich unbefangen danach fragt, wird wahrscheinlich erkennen, daß der verbietende Teil der Moral stärker mit dieser Spannung geladen ist als der fordernde: Während es verhältnismäßig natürlich erscheint, daß bestimmte, als »böse« bezeichnete, Handlungen nicht begangen werden dürfen oder, wenn man sie trotzdem begeht, wenigstens nicht begangen werden sollten, wie etwa die Aneignung fremden Eigentums oder die Schrankenlosigkeit im Genuß, sind die ihnen entsprechenden bejahenden Überlieferungen der Moral – in diesem Fall wäre das also die volle Hingabe des Schenkens oder die Lust, das Irdische abzutöten – fast schon verlorengegangen, und wo sie noch ausgeübt werden, sind sie das Geschäft von Narren und Grillenfängern oder bleichhäutigen Tugendbolden. Und in einem solchen Zustand, wo die Tugend bresthaft ist und das moralische Verhalten hauptsächlich in der Einschränkung des unmoralischen besteht, kann es wohl leicht so kommen, daß dieses nicht nur ursprünglicher und kraftvoller erscheint als jenes, sondern geradezu moralischer, sofern es erlaubt ist, dieses Wort nicht im Sinn von Recht und Gesetz, sondern als Maß aller Leidenschaft zu gebrauchen, die überhaupt noch durch Gewissensfragen erregt wird. Aber kann es wohl auch etwas Widerspruchvolleres geben, als das Böse innerlich zu begünstigen, weil man mit dem Rest an Seele, den man noch hat, das Gute sucht?!«
Diesen Widerspruch hatte Ulrich noch nie so stark empfunden wie in dem Augenblick, wo ihn der ansteigende Bogen, den seine Überlegung durchmessen hatte, wieder auf Agathe zurückführte. Die in ihrer Natur liegende Bereitwilligkeit, sich einer – wenn er das flüchtige Wort noch einmal anwandte: – gut-bösen Ausdrucksform zu bedienen, was sich in dem Eingriff in das väterliche Testament gewichtig verkörpert hatte, verletzte die in seiner eigenen Natur liegende gleiche Bereitwilligkeit, die bloß eine gedankenmäßige Gestalt, man könnte sagen, die einer geradezu seelsorgerischen Teufelsbewunderung, angenommen hatte, während er als Person nicht nur schlecht und recht zu leben vermochte, sondern, wie er sah, darin auch nicht gern gestört sein wollte. Mit ebensoviel schwermütiger Befriedigung wie ironischer Klarheit stellte er fest, daß seine ganze theoretische Beschäftigung mit dem Bösen im Grunde darauf hinauslaufe, daß er die bösen Geschehnisse am liebsten gegen die bösen Menschen in Schutz nehmen möchte, die sich an sie heranmachen, und er fühlte plötzlich ein Verlangen nach Güte, so wie einer, der sich nutzlos in der Fremde umgetrieben hat, es sich vorstellen mag, einmal nach Hause zu kommen und geradewegs hinzugehn, um das Wasser aus dem Brunnen seines Dorfs zu trinken. Wäre ihm aber nicht dieser Vergleich davorgekommen, so würde er vielleicht bemerkt haben, daß sein ganzer Versuch, sich Agathe unter dem Begriff eines moralisch gemischten Menschen vorzustellen, wie ihn die Gegenwart reichlich hervorbringt, nur ein Vorwand war, um sich vor einer Aussicht zu schützen, die ihn weit mehr erschreckte. Denn merkwürdigerweise übte ja das Verhalten seiner Schwester, das man tadeln mußte, wenn man es bewußt untersuchte, eine betörende Lockung aus, sobald man es mitträumte; denn dann entschwand alles Strittige und Geteilte, und es bildete sich der Eindruck einer leidenschaftlichen, bejahenden, zum Handeln drängenden Güte, die ganz leicht neben ihren entkräfteten alltäglichen Formen wie ein uraltes Laster aussehen mochte.
Ulrich gestattete sich solche Erhöhung seiner Empfindungen nicht leicht, und schon gar nicht wollte er es angesichts des Briefes tun, den er zu schreiben hatte, so daß er seine Gedanken nun von neuem ins Allgemeine hinauslenkte. Sie wären unvollständig gewesen, wenn er sich nicht daran erinnert hätte, wie leicht und oft in den von ihm miterlebten Zeiten das Verlangen nach einer aus dem Vollen kommenden Pflicht dazu geführt hatte, daß aus dem vorhandenen Vorrat einzelner Tugenden bald die eine, bald die andere hervorgeholt und in den Mittelpunkt einer lärmenden Verehrung gestellt wurde. Nationale Tugenden, christliche, humanistische waren an der Reihe gewesen, einmal Edelstahl und ein andermal Güte, bald Persönlichkeit und bald Gemeinschaft, heute die Zehntelsekunde und tags vorher historische Gelassenheit: der Stimmungswechsel des öffentlichen Lebens beruht im Grunde auf dem Austausch solcher Leitvorstellungen: aber das hatte Ulrich immer gleichgültig gelassen und nur dahin geführt, daß er sich abseits stehen fühlte. Auch jetzt bedeutete es ihm bloß eine Ergänzung des allgemeinen Bilds, denn nur halbe Einsicht vermag glauben zu machen, daß man der moralischen Unausdeutbarkeit des Lebens, die sich auf einer Stufe zu groß gewordener Komplikationen eingestellt hat, mit einer der Ausdeutungen beikommen könne, die in ihr schon enthalten sind. Solche Versuche gleichen bloß den Bewegungen eines Kranken, der unruhig die Lage wechselt, während die Lähmung, die ihn an sein Lager fesselt, unaufhaltsam fortschreitet. Ulrich war überzeugt, daß der Zustand, worin sie aufträten, unvermeidlich sei und die Stufe bezeichne, von der jede Zivilisation wieder abwärts gestiegen ist, weil bisher keine fähig war, an die Stelle der verlorenen inneren Spannung eine neue zu setzen. Er war auch überzeugt, daß ein Gleiches, wie es jeder gewesenen Moral widerfahren ist, jeder kommenden bevorstehe. Denn das moralische Erschlaffen liegt nicht am Bereich der Gebote und ihrer Befolgung, es ist unabhängig von ihren Unterschieden, es ist unzugänglich für äußere Strenge, es ist ein ganz innerer Vorgang, gleichbedeutend mit einem Nachlassen des Sinns aller Handlungen und des Glaubens an die Einheit ihrer Verantwortung.
Und so fanden sich Ulrichs Gedanken, ohne daß er es vorher beabsichtigt hatte, wieder bei jener Vorstellung, die er, spöttisch an Graf Leinsdorf gewandt, als das »Generalsekretariat der Genauigkeit und Seele« bezeichnet hatte; und obwohl er auch sonst nie anders als übermütig und im Scherz davon gesprochen hatte, sah er nun ein, daß er sich, seit er ein Mann war, nicht anders betragen hatte, als ob ein solches »Generalsekretariat« im Bereich des Möglichen läge. Vielleicht, das konnte er sich zu seiner Entschuldigung sagen, trägt jeder denkende Mensch eine solche Idee der Ordnung in sich, geradeso wie erwachsene Männer unter den Kleidern das Heiligenbild tragen, das ihnen ihre Mutter an die Brust gehängt hat, als sie Kind waren, und dieses Bild der Ordnung, das keiner sich ernst zu nehmen, noch abzulegen getraut, kann nicht viel anders aussehen als so: Auf der einen Seite stellt es dunkel die Sehnsucht nach einem Gesetz des rechten Lebens dar, das ehern und natürlich ist, das keine Ausnahme zuläßt und keinen Einwand ausläßt, das lösend ist wie ein Rausch und nüchtern wie die Wahrheit; auf der andern Seite aber bildet sich darin die Überzeugung ab, daß die eigenen Augen niemals ein solches Gesetz erblicken, die eigenen Gedanken niemals es denken werden, daß es nicht durch Botschaft und Gewalt eines einzelnen herbeizuführen sein wird, sondern nur durch eine Anstrengung aller, wenn es nicht überhaupt ein Hirngespinst ist. Einen Augenblick zögerte Ulrich. Ohne Zweifel war er ein gläubiger Mensch, der bloß nichts glaubte: seiner größten Hingabe an die Wissenschaft war es niemals gelungen, ihn vergessen zu machen, daß die Schönheit und Güte der Menschen von dem kommen, was sie glauben, und nicht von dem, was sie wissen. Aber der Glaube war immer mit Wissen verbunden gewesen, wenn auch nur mit einem eingebildeten, seit den Urtagen seiner zauberhaften Begründung. Und dieser alte Wissensteil ist längst vermorscht und hat den Glauben mit sich in die gleiche Verwesung gerissen: es gilt also heute, diese Verbindung neu aufzurichten. Und natürlich nicht etwa bloß in der Weise, daß man den Glauben »auf die Höhe des Wissens« bringt; doch wohl aber so, daß er von dieser Höhe auffliegt. Die Kunst der Erhebung über das Wissen muß neu geübt werden. Und da dies kein einzelner vermag, müßten alle ihren Sinn darauf richten, wo immer sie ihn auch sonst noch haben mögen; und wenn Ulrich in diesem Augenblick an einen Jahrzehnt-, Jahrhundert- oder Jahrtausendplan dachte, den sich die Menschheit zu geben hätte, um ihre Anstrengungen auf das Ziel zu richten, das sie ja in der Tat noch nicht kennen kann, so brauchte er nicht viel zu fragen, um zu wissen, daß er sich das schon seit langem unter vielerlei Namen als das wahrhaft experimentelle Leben vorgestellt habe. Denn er meinte mit dem Wort Glauben ja nicht sowohl jenes verkümmerte Wissenwollen, die gläubige Unwissenheit, die man gemeinhin darunter versteht, als vielmehr die wissende Ahnung, etwas, das weder Wissen, noch Einbildung ist, aber auch nicht Glaube, sondern eben »jenes andere«, das sich diesen Begriffen entzieht.
Rasch zog er seinen Brief an sich, schob ihn aber sogleich wieder fort. Sein Gesicht, soeben noch streng erglüht, verlosch wieder, und sein gefährlicher Lieblingsgedanke kam ihm lächerlich vor. Wie mit einem Blick durch ein rasch geöffnetes Fenster fühlte er, was ihn wirklich umgab: die Kanonen, die Geschäfte Europas. Die Vorstellung, daß sich Menschen, die in dieser Weise lebten, je zu einer überlegten Navigation ihres geistigen Schicksals zusammentun könnten, war einfach nicht zu bilden, und Ulrich mußte einsehen, daß sich auch die geschichtliche Entwicklung niemals in einer solchen planenden Verbindung der Ideen vollzogen habe, wie sie im Geist des einzelnen Menschen zur Not möglich ist, sondern stets vergeudend und so verschwenderisch, als hätte sie die Faust eines groben Spielers auf den Tisch geworfen. Er schämte sich sogar ein wenig. Alles, was er in dieser Stunde gedacht hatte, erinnerte verdächtig an eine gewisse »Enquete zur Fassung eines leitenden Beschlusses und Feststellung der Wünsche der beteiligten Kreise der Bevölkerung«, ja daß er überhaupt moralisierte, dieses Denken nach theoretischer Art, das die Natur bei Kerzenlicht betrachtet, kam ihm völlig unnatürlich vor, während doch der einfache, ans Sonnenklare gewöhnte Mensch stets nur nach dem Nächsten greift und sich nie mit einer anderen Frage abgibt als der ganz bestimmten, ob er diesen Griff ausführen und wagen könne.
In diesem Augenblick strömten Ulrichs Gedanken wieder aus dem Allgemeinen zu ihm selbst zurück, und er fühlte die Bedeutung seiner Schwester. Ihr hatte er jenen wunderlichen und uneingeschränkten, unglaubwürdigen und unvergeßlichen Zustand gezeigt, worin alles ein Ja ist. Den Zustand, worin man keiner anderen geistigen Bewegung fähig ist als der moralischen, also auch den einzigen, worin es eine Moral ohne Unterbrechung gibt, selbst wenn sie nur darin bestehen sollte, daß alle Handlungen grundlos in ihm schweben. Und Agathe tat doch nichts, als daß sie die Hand danach ausstreckte. Sie war der Mensch, der die Hand ausstreckt, und an die Stelle von Ulrichs Überlegungen traten Körper und Gebilde der wirklichen Welt. Alles, was er gedacht hatte, erschien ihm jetzt bloß als Verzögerung und Übergang. Er wollte »es darauf ankommen lassen«, was aus Agathes Einfall entstünde, und es war ihm in diesem Augenblick ganz gleichgültig, daß die geheimnisvolle Verheißung mit einer nach gemeinen Begriffen schimpflichen Handlung begonnen hatte. Man konnte nur abwarten, ob sich die Moral des »Steigens und Sinkens« daran ebenso anwendbar zeigen werde wie die einfache der Ehrlichkeit. Und er erinnerte sich der leidenschaftlichen Frage seiner Schwester, ob er selbst das glaube, was er ihr erzähle, aber er konnte sie auch jetzt ebensowenig bejahen wie damals. Er gestand sich ein, daß er auf Agathe warte, um diese Frage zu beantworten.
Da schrillte der Fernsprecher, und Walter, der am Apparat war, sprach plötzlich auf ihn ein, mit überstürzten Begründungen und in eilig zusammengerafften Worten. Ulrich hörte gleichgültig und bereitwillig zu, und als er den Hörer weglegte und sich aufrichtete, empfand er noch immer das Klingelzeichen, das nun endlich aufhörte; Tiefe und Dunkelheit strömten wohltuend in die Umgebung zurück, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, ob das in Tönen oder Farben geschah, es war wie eine Tiefe aller Sinne. Lächelnd nahm er das Blatt Papier, auf dem er seiner Schwester zu schreiben begonnen hatte, und zerriß es, ehe er das Zimmer verließ, langsam in kleine Stücke.

Zur gleichen Zeit saßen Walter, Clarisse und der Prophet Meingast um eine Schüssel, die mit Radieschen, Mandarinen, Krachmandeln, Streichkäse und großen türkischen Dörrpflaumen gefüllt war, und verzehrten dieses köstliche und gesunde Abendbrot. Der Prophet trug über dem etwas dürren Oberkörper wieder nur seine Wolljacke und lobte von Zeit zu Zeit die natürlichen Genüsse, die ihm dargeboten wurden, indes Clarissens Bruder Siegmund in Hut und Handschuhen abseits des Tisches saß und von einer Rücksprache berichtete, deren er abermals mit Dr. Friedenthal, dem Assistenten der psychiatrischen Klinik, »gepflogen« hatte, um es seiner »völlig verrückten« Schwester zu ermöglichen, daß sie Moosbrugger sehe. »Friedenthal beharrt darauf, daß er es nur mit einer Erlaubnis des Landesgerichts möglich machen könne,« schloß er unbefangen »und beim Landesgericht begnügt man sich nicht mit der Eingabe des Fürsorgevereins ›Letzte Stunde‹, die ich euch beschafft habe, sondern verlangt eine Empfehlung der Gesandtschaft, da wir leider gelogen haben, Clarisse sei Ausländerin. Da hilft nun nichts anderes mehr: Dr. Meingast muß morgen zur Schweizer Gesandtschaft!«
Siegmund sah seiner Schwester ähnlich, nur war sein Gesicht ausdrucksloser, obwohl er der ältere war. Wenn man die Geschwister nebeneinander betrachtete, wirkten Nase, Mund und Augen in Clarissens fahlem Gesicht wie Risse in einem trockenen Boden, während die gleichen Züge in Siegmunds Antlitz die weichen, etwas verwischten Linien eines rasenbedeckten Geländes hatten, obwohl er bis auf ein Schnurrbärtchen glatt rasiert war. Die Bürgerlichkeit war von seinem Aussehen bei weitem nicht in dem gleichen Maß abgetragen worden wie von dem seiner Schwester und gab ihm eine ahnungslose Natürlichkeit auch in dem Augenblick, wo er so unverschämt über die kostbare Zeit eines Philosophen verfügte. Es würde niemand gewundert haben, wenn darauf aus der Radieschenschüssel Blitz und Donner gebrochen wären; aber der große Mann nahm die Zumutung freundlich hin – was seine Bewunderer als ein äußerst anekdotisches Ereignis betrachteten – und nickte mit dem Auge wie ein Adler, der einen Sperling neben sich auf der Stange duldet.
Immerhin bewirkte die plötzlich entstandene und nicht breit genug abgeleitete Spannung, daß Walter nicht länger an sich hielt. Er zog seinen Teller zurück, war rot wie ein Morgenwölkchen und behauptete mit Nachdruck, daß ein gesunder Mensch, wenn er nicht Arzt oder Wärter sei, in einem Irrenhaus nichts zu suchen habe. Auch ihm pflichtete der Meister mit einem kaum merklichen Nicken bei. Siegmund, der es sah und sich im Lauf des Lebens manches angeeignet hatte, ergänzte diese Zustimmung mit den hygienischen Worten: »Es ist zweifellos eine ekelhafte Angewohnheit des wohlhabenden Bürgertums, daß es in Geisteskranken und Verbrechern etwas Dämonisches sieht.« »Aber dann erklärt mir doch endlich,« rief Walter »warum ihr alle Clarisse behilflich sein wollt, etwas zu tun, das von euch nicht gebilligt wird und sie nur noch nervöser machen kann!?«
Seine Gattin selbst würdigte das keiner Antwort. Sie machte ein unangenehmes Gesicht, vor dessen der Wirklichkeit fernem Ausdruck man Angst hätte fühlen können; zwei hochmütig lange Linien liefen darin längs der Nase hinab, und das Kinn zeigte eine harte Spitze. Siegmund glaubte weder verpflichtet noch ermächtigt zu sein, für die anderen das Wort zu führen. So trat auf Walters Frage eine kurze Stille ein, bis Meingast leise und gleichmütig sagte: »Clarisse hat einen zu starken Eindruck erlitten, das darf man nicht auf sich beruhen lassen.«
»Wann?« fragte Walter laut.
»Unlängst; abends am Fenster.«
Walter wurde blaß, weil er der einzige war, der das erst jetzt erfuhr, während sich Clarisse offensichtlich Meingast anvertraut hatte und sogar ihrem Bruder. Aber so sei sie! dachte er.
Und obwohl es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, hatte er plötzlich – über die Schüssel mit Grünzeug weg – das Gefühl, sie wären alle ungefähr um zehn Jahre jünger. Das war die Zeit, wo Meingast, noch der alte, unverwandelte Meingast, Abschied nahm und Clarisse sich für Walter entschied. Später hatte sie ihm gestanden, daß Meingast damals, obwohl er schon verzichtet hatte, sie doch noch manchmal geküßt und berührt hätte. Die Erinnerung war wie die große Bewegung einer Schaukel. Immer höher war Walter emporgehoben worden, und alles gelang ihm damals, wenn auch manche Tiefen dazwischen lagen. Und auch damals hatte Clarisse, wenn Meingast in der Nähe war, nicht mit Walter sprechen gekonnt; er mußte oft erst durch andere erfahren, was sie dachte und tat. In seiner Nähe wurde sie starr. »Wenn du mich anrührst, werde ich ganz starr!« hatte sie zu ihm gesagt. »Mein Körper wird ernst, das ist etwas anderes als mit Meingast!« Und als er sie zum erstenmal küßte, sagte sie zu ihm: »Ich habe Mama versprochen, so etwas nie zu tun!« Obwohl sie ihm später gestand, daß Meingast damals immer unter dem Speisetisch mit den Füßen heimlich ihre Füße berührt hätte. Das machte Walters Einfluß! Der Reichtum innerer Entwicklung, den er in ihr emporgerufen habe, hindere sie an der zwanglosen Bewegung, so erklärte er es sich.
Und es fielen ihm die Briefe ein, die er damals mit Clarisse gewechselt hatte: er glaubte noch heute, daß sich ihnen an Leidenschaft und Eigenart nicht leicht etwas an die Seite stellen ließe, wenn man auch die ganze Literatur durchsuche. Er strafte in jenen stürmischen Zeiten Clarisse damit, daß er weglief, wenn sie Meingast erlaubte, bei ihr zu sein, und dann schrieb er ihr einen Brief; und sie schrieb ihm Briefe, worin sie ihn ihrer Treue versicherte und ihm aufrichtig mitteilte, daß sie von Meingast noch einmal durch den Strumpf aufs Knie geküßt worden sei. Walter hatte diese Briefe als Buch herausgeben wollen, und noch jetzt dachte er zuweilen, daß er es einmal doch tun werde. Leider war aber bisher nichts daraus entstanden als gleich zu Anfang ein folgenreiches Mißverständnis mit Clarissens Erzieherin: Zu der hatte nämlich Walter eines Tags gesagt: »Sie werden sehen, in kürzester Zeit mache ich alles gut!« Er hatte das in seinem Sinn gemeint und sich den großen Rechtfertigungserfolg vorgestellt, den er vor der Familie haben werde, sobald ihn die Herausgabe der »Briefe« berühmt mache; denn, genau genommen, war ja damals zwischen Clarisse und ihm manches nicht so, wie es sollte. Clarissens Erzieherin – ein Familienerbstück, das sein Ausgeding unter dem Ehrenvorwand erhielt, eine Art Zwischenmutter abzugeben – verstand das aber falsch und in ihrer Weise, wodurch alsbald in der Familie das Gerücht entstand, Walter wolle etwas tun, das es ihm ermögliche, um Clarissens Hand zu bitten; und als das einmal ausgesprochen war, entstanden daraus ganz eigentümliche Glücke und Zwänge. Das wirkliche Leben war sozusagen mit einem Schlag erwacht: Walters Vater erklärte, nicht länger für seinen Sohn sorgen zu wollen, wenn dieser nicht selbst etwas verdiene; Walters zukünftiger Schwiegervater ließ ihn ins Atelier bitten und sprach dort von den Schwierigkeiten und Enttäuschungen der reinen, nichts als heiligen Kunst, sei diese nun die bildende, Musik oder Dichtung; Walter selbst endlich und Clarisse juckte der mit einemmal leibhaft gewordene Gedanke an selbständige Wirtschaft, Kinder und öffentlich-gemeinsames Schlafzimmer wie ein Riß in der Haut, der nicht heilen kann, weil man unwillkürlich an ihm immer weiter kratzt. So geschah es, daß Walter wenige Wochen nach seinem vorangeeilten Ausspruch wirklich mit Clarisse verlobt wurde, was beide sehr glücklich machte, aber auch sehr aufgeregt, denn nun begann jenes Suchen nach einem bleibenden Ort im Leben, das dadurch alle Schwierigkeiten Europas auf sich lud, daß die von Walter in unbeständigem Irren gesuchte Stellung ja nicht nur durch das Einkommen bestimmt war, sondern auch durch die sechs sich ergebenden Rückwirkungen auf Clarisse, ihn, die Erotik, die Dichtung, die Musik und die Malerei. Eigentlich waren sie aus den verketteten Wirbeln, die an den Augenblick anknüpften, wo ihn angesichts der alten Mademoiselle die Gesprächigkeit übermannt hatte, erst vor kurzem erwacht, als er die Stellung im Denkmalamt annahm und mit Clarisse dieses bescheidene Haus bezog, wo das Schicksal sich nun weiter entscheiden mußte.
Und im Grunde dachte Walter, es wäre recht annehmbar, wenn sich das Schicksal nun zufrieden gäbe; dann wäre das Ende zwar nicht gerade das, was der Anfang hatte sein wollen, aber die Äpfel fallen ja, wenn sie reif sind, auch nicht den Baum hinauf, sondern zur Erde.
So dachte Walter, und währenddes schwebte über dem seinem Platz gegenüberliegenden Durchmesserende der bunten Schüssel mit gesunder Pflanzenkost der kleine Kopf seiner Gattin, und Clarisse war bemüht, so sachlich wie möglich, ja ebenso sachlich wie Meingast selbst, dessen Erklärung zu ergänzen. »Ich muß etwas tun, um den Eindruck zu zerkleinern; der Eindruck ist zu stark für mich gewesen, sagt Meingast« erläuterte sie und fügte aus eigenem hinzu: »Es ist ja auch gewiß nicht bloß Zufall, daß sich der Mann gerade unter meinem Fenster in die Büsche gestellt hat!«
»Unsinn!« wehrte Walter das ab wie ein Schläfer eine Fliege: »Es war doch auch mein Fenster!«
»Also unser Fenster!« verbesserte Clarisse, mit ihrem Lippenspaltlächeln, an dem bei dieser Anzüglichkeit nicht zu unterscheiden war, ob es Bitternis oder Hohn ausdrücke. »Wir haben ihn angezogen. Soll ich dir aber sagen, wie man das nennen kann, was – der Mann getan hat? Er hat Geschlechtslust gestohlen!«
Walter tat das im Kopf weh: Der war dicht voll Vergangenheit, und die Gegenwart keilte sich ein, ohne daß der Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit überzeugend gewesen wäre. Da waren noch Büsche, die sich in Walters Kopf zu hellen Laubmassen schlossen, mit Radfahrwegen, die hindurchführten. Die Kühnheit langer Fahrten und Spaziergänge war wie heute am Morgen erlebt. Mädchenkleider schwangen wieder, die in jenen Jahren zum erstenmal verwegen den Fußknöchel freigegeben und den Saum weißer Unterröcke in der neuen sportlichen Bewegung schäumen gelassen hatten. Daß Walter damals glaubte, zwischen ihm und Clarisse sei manches »nicht so, wie es solle«, war ja wohl eine sehr beschönigende Fassung gewesen, denn genau genommen, war bei diesen Radfahrten im Frühling ihres Verlobungsjahrs alles vorgefallen, wobei ein junges Mädchen gerade noch Jungfrau bleiben kann. »Fast unglaublich bei einem anständigen Mädchen« dachte Walter, während er sich mit Entzücken daran erinnerte. Clarisse hatte es: »Die Sünden Meingasts auf sich nehmen« genannt, der zu jener Zeit noch anders hieß und gerade ins Ausland gegangen war. »Es wäre jetzt eine Feigheit, nicht sinnlich zu sein, weil er es gewesen ist!« So erklärte es Clarisse und hatte verkündet: »Aber wir wollen es ja geistig!« Wohl hatte sich Walter zuweilen Sorge darüber gemacht, daß diese Vorgänge doch noch zu nahe mit dem erst vor kurzem Verschwundenen zusammenhingen, aber Clarisse erwiderte: »Wenn man etwas Großes will, wie doch zum Beispiel wir in der Kunst, dann ist es einem verboten, sich über anderes Sorge zu machen«; und so konnte sich Walter entsinnen, mit welchem Eifer sie die Vergangenheit vernichteten, indem sie sie in neuem Geist wiederholten, und mit wie großem Vergnügen sie die magische Fähigkeit entdeckten, unerlaubte körperliche Annehmlichkeiten dadurch zu entschuldigen, daß man ihnen eine überpersönliche Aufgabe zuspricht. Eigentlich habe Clarisse zu jener Zeit in der Lüsternheit die gleiche Art von Tatkraft entwickelt wie später in der Verweigerung, gestand sich Walter ein, und den Zusammenhang für einen Augenblick verlassend, sagte ihm ein widerspenstiger Gedanke, daß ihre Brüste heute noch genau so starr seien wie damals. Alle konnten es sehn, auch durch die Kleider. Meingast blickte sogar gerade auf die Brust hin; vielleicht wußte er es nicht. »Ihre Brüste sind stumm!« deklamierte Walter in sich so beziehungsreich, als wäre das ein Traum oder ein Gedicht; und beinahe ebenso drang durch die Polsterung des Gefühls währenddem auch die Gegenwart:
»Sagen Sie doch, Clarisse, was Sie denken!« hörte er Meingast wie einen Arzt oder Lehrer Clarisse aufmuntern; aus irgendeinem Grund fiel der Zurückgekehrte zuweilen ins »Sie« zurück.
Walter nahm ferner wahr, daß Clarisse Meingast fragend ansah.
»Sie haben mir von einem Moosbrugger erzählt, daß er ein Zimmermann sei...«
Clarisse schaute.
»Wer war noch ein Zimmermann? Der Erlöser! Haben Sie das denn nicht gesagt?! Sie haben mir doch sogar erzählt, daß Sie an irgendeine einflußreiche Person deswegen einen Brief geschrieben haben?«
»Hört auf!« bat Walter heftig. Sein Kopf drehte sich innen. Er hatte aber kaum seinen Unwillen ausgerufen, als ihm klar wurde, daß er auch von diesem Brief noch nie etwas gehört hätte, und schwach werdend fragte er: »Welch ein Brief ist das?!«
Er erhielt von niemand eine Antwort. Meingast überging die Frage und sagte: »Es ist das eine der zeitgemäßesten Ideen. Wir sind nicht imstande, uns selbst zu befreien, daran kann kein Zweifel bestehn; wir nennen das Demokratie, aber diese ist bloß der politische Ausdruck für den seelischen Zustand des ›Man kann so, aber auch anders‹. Wir sind das Zeitalter des Stimmzettels. Wir bestimmen ja schon jedes Jahr unser sexuelles Ideal, die Schönheitskönigin, mit dem Stimmzettel, und daß wir die positive Wissenschaft zu unserem geistigen Ideal gemacht haben, heißt nichts anderes als den Stimmzettel den sogenannten Tatsachen in die Hand zu drücken, damit sie an unser Statt wählen. Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht! Nebenbei bemerkt, ist das ja einer der ehrlosesten Zirkelschlüsse, die es in der Geschichte unserer Rasse bisher gegeben hat.«
Der Prophet hatte ärgerlich eine Nuß aufgebrochen und enthäutet und schob nun ihre Bruchstücke in den Mund. Niemand hatte ihn verstanden. Er unterbrach seine Rede zugunsten einer langsam kauenden Bewegung seiner Kinnbacken, an der auch die etwas aufgebogene Spitze der Nase teilnahm, während das übrige Gesicht asketisch reglos blieb, ließ aber den Blick nicht von Clarisse, der in der Gegend ihrer Brust aufruhte. Unwillkürlich verließen auch die Augen der beiden anderen Männer das Gesicht des Meisters und folgten diesem abwesenden Blick. Clarisse fühlte einen saugenden Zug, als könnte sie, wenn man sie noch lange anblickte, von diesen sechs Augen aus sich hinaus gehoben werden. Aber der Meister schluckte den letzten Rest der Nuß gewaltsam hinunter und setzte seine Belehrung fort:
»Clarisse hat entdeckt, daß die christliche Legende den Erlöser einen Zimmermann sein läßt: stimmt nicht einmal ganz; nur seinen Ziehvater. Es stimmt natürlich auch nicht im geringsten, wenn Clarisse dann daraus, daß ein Verbrecher, der ihr auffällt, zufällig ein Zimmermann ist, einen Schluß ziehen will. Intellektuell ist das unter jeder Kritik. Moralisch ist es leichtfertig. Aber es ist mutig von ihr: das ist es!« Meingast machte eine Pause, um das hart gesprochene Wort »mutig« wirken zu lassen. Dann fuhr er wieder in Ruhe fort: »Sie hat unlängst, was uns andern auch widerfahren ist, einen exhibierenden Psychopathen gesehn; sie überschätzt das, überhaupt wird das Sexuelle heute durchaus überschätzt, aber Clarisse sagt: Es ist nicht Zufall, daß dieser Mann unter mein Fenster kam, – und das wollen wir jetzt recht verstehn! Es ist ja falsch, denn kausal bleibt das Zusammentreffen natürlich ein Zufall. Trotzdem sagt sich Clarisse: Wenn ich alles als erklärt ansehe, so wird der Mensch niemals etwas an der Welt ändern. Sie betrachtet es als unerklärlich, daß ein Mörder, der, wenn ich nicht irre, Moosbrugger heißt, gerade ein Zimmermann sei; sie betrachtet es als unerklärlich, daß sich ein unbekannter Kranker, der an sexuellen Störungen leidet, gerade unter ihrem Fenster aufstellt; und so hat sie sich angewöhnt, auch manches andere, das ihr begegnet, als unerklärlich zu betrachten, und –« wieder ließ Meingast seine Zuhörer einen Augenblick warten; seine Stimme hatte zuletzt an die Bewegungen eines entschlossenen Mannes erinnert, der mit äußerster Vorsicht auf den Zehenspitzen daherkommt, nun aber griff dieser Mann zu: »Und sie wird darum etwas tun!« erklärte Meingast mit Festigkeit.
Clarisse wurde es kalt.
»Ich wiederhole,« sagte Meingast »daß man das nicht intellektuell kritisieren darf. Aber die Intellektualität ist, wie wir wissen, nur der Ausdruck oder das Werkzeug eines ausgetrockneten Lebens; dagegen kommt das, was Clarisse ausdrückt, wahrscheinlich schon aus einer anderen Sphäre: der des Willens. Clarisse wird das, was ihr zustößt, voraussichtlich niemals erklären können, wohl aber wird sie es vielleicht lösen können; und sie nennt das schon ganz richtig ›erlösen‹, sie gebraucht instinktiv das rechte Wort dafür. Denn es könnte ja leicht einer von uns auch sagen, daß ihm das wie Wahnideen vorkomme, oder daß Clarisse ein nervenschwacher Mensch sei; aber das hätte gar keinen Zweck: die Welt ist zur Zeit so wahnfrei, daß sie bei nichts weiß, ob sie es lieben oder hassen soll, und weil alles zweiwertig ist, darum sind auch alle Menschen Neurastheniker und Schwächlinge. Mit einem Wort,« schloß der Prophet plötzlich »es fällt dem Philosophen nicht leicht, auf die Erkenntnis zu verzichten, aber es ist wahrscheinlich die große werdende Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts, daß man es tun muß. Mir, in Genf, ist es heute geistig wichtiger, daß es dort einen französischen Boxlehrer gibt, als daß der Zergliederer Rousseau dort geschaffen hat!«
Meingast hätte noch mehr gesprochen, da er einmal im Zug war. Erstens davon, daß der Erlösungs-Gedanke immer anti-intellektuell gewesen sei. »Also ist nichts der Welt heute mehr zu wünschen als ein guter kräftiger Wahn«: diesen Satz hatte er sogar schon auf der Zunge gehabt, dann aber zugunsten der anderen Schlußwendung hinuntergeschluckt. Zweitens von der körperlichen Mitbedeutung der Erlösungsvorstellung, die schon durch den Wortkern »lösen«, verwandt mit »lockern«, gegeben sei; eine körperliche Mitbedeutung, die darauf hinweist, daß nur Taten erlösen können, das heißt Erlebnisse, die den ganzen Menschen mit Haut und Haaren einbeziehn. Drittens hatte er davon sprechen wollen, daß wegen der Über-Intellektualisierung des Mannes unter Umständen die Frau die instinktive Führung zur Tat übernehmen werde, wovon Clarisse eines der ersten Beispiele sei. Endlich von der Wandlung des Erlösungsgedankens in der Geschichte der Völker überhaupt und davon, wie gegenwärtig in dieser Entwicklung die jahrhundertealte Vorherrschaft des Glaubens, daß Erlösung bloß ein vom religiösen Gefühl geschaffener Begriff sei, der Erkenntnis Platz mache, daß sie durch die Entschlossenheit des Willens, ja, wenn nötig, sogar durch Gewalt herbeigeführt werden müsse. Denn die Erlösung der Welt durch Gewalt war augenblicklich der Mittelpunkt seiner Gedanken. Aber Clarisse hatte inzwischen den saugenden Zug der ihr zugewendeten Aufmerksamkeit unerträglich werden gefühlt und dem Meister das Wort verlegt, indem sie sich Siegmund als der Stelle des geringsten Widerstandes zuwandte und zu ihm überlaut sagte: »Ich habe dir ja gesagt: man kann nur das verstehen, was man mitmacht: darum müssen wir selbst ins Irrenhaus gehn!«
Walter, der, um an sich zu halten, eine Mandarine schälte, schnitt in diesem Augenblick zu tief, und ein ätzender Strahl spritzte ihm ins Auge, so daß er zurückfuhr und nach dem Taschentuch suchte. Siegmund, wie immer sorgfältig gekleidet, betrachtete zuerst mit Liebe zur Sache die Wirkung der Reizung auf seines Schwagers Auge, dann die Wildlederhandschuhe, die als Stilleben der Ehrbarkeit mitsamt einem runden steifen Hut auf seinem Knie ruhten, und erst als der Blick seiner Schwester nicht von seinem Gesicht wich, und niemand durch eine Antwort für ihn eintrat, sah er mit einem ernsten Kopfnicken auf und murmelte gelassen: »Ich habe niemals bezweifelt, daß wir alle in ein Irrenhaus gehören.«
Clarisse wandte sich darauf zu Meingast und sagte: »Von der Parallelaktion habe ich dir ja erzählt: das wäre wohl auch eine ungeheure Möglichkeit und Pflicht, mit dem ›Gewährenlassen des So – und auch – Anders‹ aufzuräumen, das die Sünde des Jahrhunderts ist!«
Der Meister winkte lächelnd ab.
Clarisse, überströmt vom Enthusiasmus der eigenen Wichtigkeit, rief ziemlich abgerissen und starrköpfig aus: »Eine Frau, die einen Mann gewähren läßt, dessen Geist das schwächt, ist auch ein Lustmörder!«
Meingast mahnte: »Wir wollen nur an die Allgemeinheit denken! Übrigens kann ich dich in der einen Frage beruhigen: bei jenen etwas lächerlichen Beratungen, in denen die sterbende Demokratie noch eine große Aufgabe gebären möchte, habe ich schon seit langem meine Beobachter und Vertrauensleute!«
Clarisse fühlte einfach Eis an den Haarwurzeln.
Vergeblich versuchte Walter noch einmal, das, was sich entwickelte, zu hemmen. Mit großer Achtung gegen Meingast ankämpfend, in einer völlig anderen Tonart, als er etwa zu Ulrich gesprochen hätte, wandte er sich mit den Worten an ihn: »Was du sagst, ist wohl das gleiche, wie wenn ich selbst seit langem sage, daß man nur in reinen Farben malen solle. Man muß Schluß machen mit dem Gebrochen-Verwischten, den Zugeständnissen an die leere Luft, an die Feigheit des Blicks, der nicht mehr zu sehen gewagt hat, daß jedes Ding einen festen Umriß und eine Lokalfarbe hat: ich sage es malerisch, und du sagst es philosophisch. Aber, wenn wir auch einer Meinung sind...« er wurde plötzlich verlegen und fühlte, daß er es vor den anderen nicht aussprechen könne, warum er Clarissens Berührung mit den Geisteskranken fürchte: »Nein, ich wünsche nicht, daß Clarisse das tut,« rief er aus »und mit meinem Einverständnis wird es nicht geschehn!«
Der Meister hatte freundlich zugehört, und dann erwiderte er ihm ebenso freundlich, als wäre nicht eines der wichtig vorgebrachten Worte in sein Ohr gedrungen: »Clarisse hat übrigens noch etwas sehr schön ausgedrückt: sie hat behauptet, daß wir alle außer der ›Sündengestalt‹, in der wir lebten, noch eine ›Unschuldsgestalt‹ besäßen; man könnte das in der schönen Bedeutung auffassen, daß unsere Vorstellung unabhängig von der jämmerlichen sogenannten Erfahrungswelt einen Zugang zu einer Welt der Großartigkeit besitze, worin wir in hellen Augenblicken unser Bild nach einer tausendmal anderen Dynamik bewegt fühlen! Wie haben Sie das gesagt, Clarisse?« fragte er aufmunternd, indem er sich zu ihr wandte. »Haben Sie denn nicht behauptet, wenn es Ihnen gelänge, sich ohne Abscheu zu diesem Unwürdigen zu bekennen, bei ihm einzudringen und in seiner Zelle Tag und Nacht Klavier zu spielen ohne zu erlahmen, so müßten Sie seine Sünden gleichsam aus ihm ziehn, auf sich nehmen und mit ihnen aufsteigen?! Das ist natürlich auch nicht« bemerkte er, nun sich wieder zu Walter zurückwendend »wörtlich zu verstehn, sondern ist ein Tiefenvorgang der Zeitseele, der sich, in die Parabel von diesem Mann verkleidet, ihrem Willen eingibt...«
Er war in diesem Augenblick unsicher, ob er nicht doch noch etwas über Clarissens Beziehung zur Geschichte des Erlösungsgedankens sagen solle oder ob es reizvoller wäre, ihr unter vier Augen noch einmal ihre Mission der Führung zu erklären; aber da war sie von ihrem Platz wie ein übermäßig ermuntertes Kind aufgesprungen, stieß den Arm mit der geballten Faust in die Höhe, lächelte verschämt-gewalttätig und schnitt ihr weiteres Lob mit dem schrillen Ausruf ab: »Vorwärts zu Moosbrugger!«
»Aber es ist ja noch keiner da, der uns Einlaß verschafft...« ließ sich Siegmund vernehmen.
»Ich gehe nicht mit!« versicherte Walter fest.
»Ich darf keine Gefälligkeit von einem Staat der Freiheit und Gleichheit in jeder Preis- und Höhenlage in Anspruch nehmen!« erklärte Meingast.
»Dann muß uns Ulrich die Erlaubnis besorgen!« rief Clarisse aus.
Gerne stimmten die anderen dieser Entscheidung zu, durch die sie sich nach zweifellos schwerer Anstrengung bis auf weiteres beurlaubt fühlten, und selbst Walter mußte trotz seines Widerstrebens schließlich die Aufgabe übernehmen, vom nächsten Kaufmannsgeschäft den zur Hilfe ausersehenen Freund anzurufen. Als er es tat, geschah es, daß Ulrich in dem Brief, den er Agathe schreiben wollte, endgültig unterbrochen wurde. Erstaunt vernahm er Walters Stimme und hörte er die Botschaft. Man könne wohl verschieden darüber denken, fügte Walter aus eigenem hinzu, aber so gänzlich nur eine Laune sei es gewiß nicht. Vielleicht müsse man wirklich mit irgend etwas einen Anfang machen, und es sei weniger wichtig, womit. Natürlich bedeute auch das Auftreten der Person Moosbruggers in diesem Zusammenhang nur einen Zufall; aber Clarisse habe ja eine so merkwürdige Unmittelbarkeit; ihr Denken sehe immer aus wie die neuen Bilder, die in unvermischten reinen Farben gemalt seien, hart und ungefüge, aber wenn man auf diese Art eingeht, oft überraschend richtig. Er könne das am Telefon nicht ausreichend erklären; Ulrich möge ihn nicht im Stich lassen...
Ulrich war es willkommen, daß er abgerufen wurde, und er nahm die Aufforderung an, obwohl sich die Dauer des Weges in schlechtem Verhältnis zu der knappen Viertelstunde befand, die er mit Clarisse sollte reden können; denn diese war von ihren Eltern eingeladen, mit Walter und Siegmund zum Abendbrot zu erscheinen. Auf der Fahrt wunderte sich Ulrich darüber, daß er so lange nicht an Moosbrugger gedacht habe und immer erst durch Clarisse wieder an ihn erinnert werden müsse, obwohl dieser Mensch früher doch fast beständig in seinen Gedanken wiedergekehrt wäre. Selbst in dem Dunkel, durch das Ulrich von der Endstelle der Straßenbahn dem Haus seiner Freunde zuschritt, war jetzt kein Platz für solchen Spuk; eine Leere, worin er vorgekommen, hatte sich geschlossen. Ulrich nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis und mit jener leisen Ungewißheit über sich selbst, die eine Folge von Veränderungen ist, deren Größe deutlicher ist als ihre Ursachen. Wohlgefällig durchschnitt er die lockere Finsternis mit dem festeren Schwarz seines eigenen Körpers, als ihm Walter unsicher entgegenkam, der sich in der einsamen Gegend fürchtete, aber gern ein paar Worte gesagt haben wollte, ehe sie zu den anderen stießen. Lebhaft setzte er seine Mitteilungen fort, wo sie abgebrochen worden waren. Er schien sich und dazu auch Clarisse gegen Mißdeutungen verteidigen zu wollen. Überall stoße man, wenn ihre Einfälle auch unzusammenhängend wirkten, dahinter auf einen Krankheitsstoff, der wirklich in der Zeit gäre; dies sei die wunderlichste Fähigkeit, die sie besäße. Sie sei wie eine Rute, die verborgenes Vorkommen anzeige. In diesem Fall die Notwendigkeit, daß man an die Stelle des passiven, bloß intellektuellen und sensiblen, Verhaltens des Gegenwartsmenschen wieder »Werte« setzen müsse; die Intelligenz der Zeit habe nirgends mehr einen festen Punkt übrig gelassen, und da könne also nur noch der Wille, ja, wenn es nicht anders ginge, sogar nur die Gewalt, eine neue Rangordnung der Werte schaffen, in der der Mensch Anfang und Ende für sein Inneres finde...: er wiederholte zögernd und doch begeistert, was er von Meingast gehört hatte.
Ulrich, der das erriet, fragte ihn unwillig: »Warum drückst du dich denn so geschwollen aus? Das macht wohl euer Prophet? Früher hast du doch nicht genug an Einfachheit und Natürlichkeit haben können?!«
Walter litt es Clarissens wegen, damit der Freund nicht seine Hilfe verweigere; aber wenn bloß ein Strahl Licht in der mondlosen Nacht gewesen wäre, würde man seine Zähne aufblinken gesehn haben, die er ohnmächtig öffnete. Er erwiderte nichts, aber der zurückgehaltene Ärger machte ihn schwach und die Nähe des muskulösen Gefährten, der ihn gegen die etwas beängstigende Einsamkeit schützte, weich. Plötzlich sagte er: »Stell dir vor, daß du eine Frau liebst, und du triffst einen Mann, den du bewunderst, und erkennst, daß ihn auch deine Frau bewundert und liebt, und ihr fühlt nun beide mit Liebe, Eifersucht und Bewunderung die unerreichbare Überlegenheit dieses Mannes –«
»Das mag ich mir nicht vorstellen!« Ulrich hätte ihn anhören sollen, aber er wölbte lachend die Schultern, während er ihn unterbrach.
Walter blickte giftig in seiner Richtung. Er hatte fragen wollen: »Was tätest du in diesem Fall?« Aber das alte Spiel der Jugendfreunde wiederholte sich. Sie schritten durch die Halbhelle des Treppenflurs, und er rief aus: »Verstell dich nicht: so bis zur Unempfindlichkeit eingebildet bist du doch gar nicht!« Und dann mußte er laufen, um Ulrich einzuholen und leise noch auf der Treppe von allem zu unterrichten, was er wissen müßte.
»Was hat dir Walter erzählt?« fragte oben Clarisse.
»Das kann ich schon tun,« gab Ulrich ohne Umschweife zur Antwort »aber ich bezweifle, daß es vernünftig ist.«
»Hörst du, sein erstes Wort ist ›vernünftig‹!?« rief Clarisse lachend zu Meingast. Sie war in voller Fahrt zwischen Kleiderschrank, Waschtisch, Spiegel und der Tür, die halboffen ihr Zimmer mit dem verband, darin sich die Männer befanden. Von Zeit zu Zeit war sie zu sehn; mit nassem Gesicht und darüberhängendem Haar, mit hochgebürstetem Haar, mit nackten Beinen, in Strümpfen ohne Schuh, den Unterleib schon im langen Gesellschaftskleid, den Oberleib noch in einer Frisierjacke, die wie ein weißer Anstaltskittel aussah...: dieses Auf- und Abtauchen tat ihr wohl. Seit sie ihren Willen durchgesetzt hatte, waren alle ihre Gefühle in eine leichte Wollust getaucht. »Ich tanze auf Lichtseilen!« rief sie in das Zimmer hinein. Die Männer lächelten; nur Siegmund sah nach der Uhr und trieb geschäftsmäßig zur Eile. Er betrachtete das Ganze wie eine Turnübung.
Dann glitt Clarisse auf einem »Lichtstrahl« in die Zimmerecke, um eine Brosche zu holen, und feuerte die Lade des Nachtkästchens zu. »Ich ziehe mich rascher an als ein Mann!« rief sie ins Nebenzimmer zu Siegmund zurück, stockte aber plötzlich über dem Doppelsinn von »anziehen«, da es für sie in diesem Augenblick ebensowohl Ankleiden bedeutete wie das Anziehen geheimnisvoller Schicksale. Sie vollendete rasch ihre Kleidung, steckte ihren Kopf durch die Tür und sah mit ernstem Gesicht einen nach dem anderen ihrer Freunde an. Wer das nicht auch für einen Scherz hielt, hätte darüber erschrecken können, daß in diesem ernsten Antlitz etwas erloschen war, das zum Ausdruck eines gewöhnlichen, gesunden Gesichts gehört hätte. Sie verbeugte sich vor ihren Freunden und sagte feierlich: »Jetzt habe ich also mein Schicksal angezogen!«; aber als sie sich wieder aufrichtete, sah sie wie gewöhnlich aus, sogar sehr reizend, und ihr Bruder Siegmund rief: »Vorwärts, marsch! Papa hat es nicht gern, wenn man zu Tisch zu spät kommt!«
Als sie zu viert zur Straßenbahn gingen, Meingast war vor dem Abschied verschwunden, blieb Ulrich mit Siegmund etwas zurück und fragte ihn, ob ihm seine Schwester nicht in letzter Zeit Sorge mache. Siegmunds glimmende Zigarette beschrieb im Dunkel einen flach aufsteigenden Bogen. »Sie ist ohne Zweifel anomal« erwiderte er. »Aber ist Meingast normal? Oder selbst Walter? Ist Klavierspielen normal? Es ist ein ungewöhnlicher Erregungszustand, verbunden mit einem Tremor in den Hand- und Fußgelenken. Für einen Arzt gibt es nichts Normales. Aber wenn Sie mich ernst fragen: Meine Schwester ist etwas überreizt, und ich denke, daß sich das bessern wird, sobald der Großmeister abgereist sein wird. Was halten Sie von ihm?« Er betonte die beiden »wird« mit einer leichten Bosheit.
»Ein Schwätzer!« meinte Ulrich.
»Nicht wahr?!« rief Siegmund erfreut aus. »Widerwärtig, widerwärtig!«
»Aber als Denker interessant, das möchte ich doch nicht ganz leugnen!« fügte er nach einer Atempause nachträglich hinzu.